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Eine junge Marketenderin auf der Flucht vor einem Mörder: Der historische Roman »Des Teufels Sanduhr« von Simone Neumann jetzt als eBook bei dotbooks. Westfalen im 17. Jahrhundert – schwer gezeichnet durch die Schrecken des 30-jährigen Krieges. Nach dem brutalen Tod ihrer Schwester bleibt der Bauerstochter Anna nur ein Weg, um zu überleben: Sie muss sich dem Tross eines Heeres anschließen, das ruhelos durch die Lande zieht. Hier findet sie in der Marketenderin Liese eine gütige Freundin – doch dann versetzt eine Mordserie die Soldaten und das einfache Volk in Angst. Was hat es mit den Sanduhren auf sich, die bei den Opfern gefunden werden? Wie ein verheerendes Feuer breitet sich das Gerücht aus, dass dies nur Hexenwerk bedeuten kann. Schon bald werden Liese und Anna verdächtig, mit dem Teufel im Bunde zu stehen – und tatsächlich: der Mörder scheint Annas Nähe zu suchen … Aber wie soll die junge Frau dieser tödlichen Gefahr entkommen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: der historische Roman »Des Teufels Sanduhr« von Simone Neumann – spannend wie ein Krimi und so lebensecht geschrieben, dass man sich in die Frühe Neuzeit versetzt fühlt, die Epoche des prachtvollen Barocks und der verheerenden Kriege. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 601
Veröffentlichungsjahr: 2022
Über dieses Buch:
Westfalen im 17. Jahrhundert – schwer gezeichnet durch die Schrecken des 30-jährigen Krieges. Nach dem brutalen Tod ihrer Schwester bleibt der Bauerstochter Anna nur ein Weg, um zu überleben: Sie muss sich dem Tross eines Heeres anschließen, das ruhelos durch die Lande zieht. Hier findet sie in der Marketenderin Liese eine gütige Freundin – doch dann versetzt eine Mordserie die Soldaten und das einfache Volk in Angst. Was hat es mit den Sanduhren auf sich, die bei den Opfern gefunden werden? Wie ein verheerendes Feuer breitet sich das Gerücht aus, dass dies nur Hexenwerk bedeuten kann. Schon bald werden Liese und Anna verdächtig, mit dem Teufel im Bunde zu stehen – und tatsächlich: der Mörder scheint Annas Nähe zu suchen … Aber wie soll die junge Frau dieser tödlichen Gefahr entkommen?
Über die Autorin:
Simone Neumann, geboren 1977 in Höxter, lebt heute in München. Nach ihrem Studium der Geschichte und Slavistik arbeitete sie zunächst bei einem Verlag als Lektorin und machte sich nach der Geburt ihrer Kinder als Redakteurin und Autorin selbstständig.
Bei dotbooks erschienen Simone Neumanns fundiert recherchierten historischen Romane, die sie stets mit einer fesselnden Spannungsnote würzt: »Die Schlüsselträgerin«, »Das Geheimnis der Gewürzhändlerin« (ursprünglich unter dem Titel »Das Geheimnis der Magd« erfolgreich) und »Die Flucht der Gauklerin«.
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eBook-Neuausgabe Januar 2022
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen, unter Verwendung verschiedener Bildmotive von shutterstock/Martina Janina und shutterstock/faestock sowie und eines Gemäldes von Hendrick de Meijer
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96655-756-6
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Simone Neumann
Des Teufels Sanduhr
Historischer Roman
dotbooks.
Meinem lieben Großvater Hans Bahmann.
Noch einmal lässt des Dichters Phantasie
Die düstre Zeit an euch vorüberführen,
Und blicket froher in die Gegenwart
Und in der Zukunft hoffnungsreiche Ferne.
Friedrich Schiller
Nirgendwo kann das Böse besser gedeihen als auf dem Boden allgegenwärtiger Grausamkeit. Und einen solchen Nährboden bot vor einigen hundert Jahren ein Krieg, der ein ganzes Menschenalter andauern sollte.
Dreißig Jahre lang regierte in Deutschland der Schrecken. An den Weggabelungen fanden Krähen eine willkommene Mahlzeit in erhängten Deserteuren, zahllose Dörfer lagen in Schutt und Asche, kaum eine Stadt entging Raub und Plünderung. Täglich wurden Männer gefoltert, Frauen geschändet, Kinder ermordet. Und so wurde der Tod zum ständigen Begleiter, den zu fürchten man schnell verlernte.
In einer solchen Zeit der Gewalt ist es ein Leichtes für das Böse, sich inmitten all dieser Schrecken zu verbergen. Still und heimlich findet es, umgeben von Brutalität und Verwüstung, Gelegenheit, seine ganz eigenen unglaublichen Taten zu vollbringen.
So geschah es damals, dass bereits seit mehr als zehn Jahren zahlreiche Frauen auf ungeheuerliche Weise den Tod fanden, ohne dass ihre verstümmelten Leichen Aufsehen zu erregen vermochten. Um manche von ihnen weinten hinterbliebene Männer und Kinder, andere wiederum wurden von ihren Freiern vermisst, und wieder andere ernteten nichts weiter als den mitleidigen Blick des Totengräbers, wenn sie überhaupt die Gnade erführen, begraben zu werden. Kaum jemand jedoch sah in diesen toten Frauen mehr als nur die Opfer eines Krieges, der unweigerlich Vergewaltigung und Mord mit sich brachte.
Doch tatsächlich hatten die Toten ihre ganz eigene Geschichte zu erzählen – eine Geschichte, hinter der sich ein mörderisches Wesen verbarg, das den Krieg als willkommene Bühne benutzte, um ungehindert seine grausamen Taten zu vollbringen. Und so führte es sein Weg im Jahre 1629 auch in ein kleines Dorf im Osten Westfalens.
Dumpf drangen die Geräusche aus dem Haupthaus in den engen Verschlag, in welchem sich Anna Pippel versteckt hielt. Seit Stunden saß sie nun in diesem stinkenden Verlies und wartete darauf, dass das Wüten und Toben bald ein Ende finden würde und sie mit ihrem gewohnten Tagwerk fortfahren konnte. Sie war ein geduldiger Mensch, konnte vieles über sich ergehen lassen, doch die Enge ihrer winzigen Notherberge und vor allem der grausige Geruch wurden langsam unerträglich.
Es war schon viele Jahre her – Anna wusste selbst nicht mehr genau, wie viele –, da hatte sie noch zusammen mit ihrem Mann Friedrich dieses Loch gegraben, in dem sie nun hockte. Damals war der tolle Christian, wie man den Herzog von Braunschweig nannte, immer und immer wieder mit seinen Soldaten in die Dörfer der Gegend eingefallen und hatte auch das ihre so manches Mal heimgesucht.
Anna selbst hatte die Idee gehabt, den Eingang des Schlupflochs, in welchem sie sich bei weiteren Überfällen zu dritt verstecken wollten, unter dem Misthaufen zu verbergen. Dieser Vorschlag reute sie nun sehr, denn derselbe Misthaufen war es, der ihr im Moment die ohnehin spärliche Luft zusätzlich bestialisch verpestete. Wollte man unter Mist lediglich die Reste tierischer Auswürfe verstehen, so war diese Ansammlung von Unrat mehr als das: Hier tummelte sich alles, was Tier wie Mensch an Übelriechendem tagtäglich produzierte, und das seit Monaten. So war es kein Wunder, dass Anna in ihrem Verlies nicht allein war. Außer ihr fanden dort unzählige Insekten aller Art Unterschlupf und vermehrten sich in seinem feuchtwarmen Klima seit Jahren prächtig. Ganz so gut wie ihnen ging es Anna nicht, denn außer an eingeschlafenen Gliedern, unmöglich zu linderndem Juckreiz und erdrückender Atemnot litt sie auch unter zunehmender Angst.
Und wieder war dieses schreckliche, grausame Quieken zu hören, begleitet von dröhnendem Männergelächter. Zunächst hatte sie angenommen, dass die einfallenden Horden damit begonnen hätten, die Schweine des Bauern zu schlachten. Doch dann wurde immer unverkennbarer, dass diese abscheulichen Geräusche von Katharina, der drallen Magd des Bauern, stammen mussten.
Zwar war Katharina kein Kind von Traurigkeit, das wusste mindestens jeder zweite Mann im Dorf, den Bauern und den Pfarrer nicht ausgenommen. Doch was da jetzt mit ihr geschah, das passierte eindeutig gegen ihren Willen. Aber was sollte man tun? Helfen konnte Anna ihr nicht, das hätte nichts genutzt. Und eigentlich dachte sie auch gar nicht darüber nach, denn letztendlich wären sie dann alle beide zu Opfern geworden.
Diese Lektion hatte sie in den letzten Jahren gelernt, immer dann, wenn sich Katholische oder Evangelische über ihr Dorf mit all seinem Vieh und seinen Frauen hergemacht hatten. Sie würde einfach in ihrem stinkenden Loch bleiben und hoffen, dass sich niemand für diese heruntergekommene Kate interessierte, in der nichts zu finden war außer einer betagten Ziege und ihr – einer Frau, die allmählich kein ganz so frisches Mädchen mehr war wie Katharina. Nur Feuer legen, dachte Anna, Feuer legen, das durften sie nicht.
Feuer war Annas größte Sorge, denn elendig verbrennen wollte sie in ihrem Versteck auf keinen Fall. Ihre zweitgrößte Sorge galt ihrer Schwester Mine. Heute Morgen, schon in aller Frühe, war sie in den Wald aufgebrochen, um Holz zu sammeln. Doch sie war nicht zurückgekehrt, und dann waren die fremden Reiter ins Dorf gekommen. Es waren mindestens zwölf, und so, wie einige von ihnen gerade mit Katharina umgingen, waren die ganz und gar nicht zimperlich.
Mine war der einzige Mensch, der Anna noch geblieben war. Sie war nicht ganz richtig im Kopf, und ihre Mutter hatte immer erzählt, dass Mine schon bei der Geburt den Teufel gesehen habe, denn bereits als kleines Kind litt sie an der Fallsucht. Dabei hatte sie sich irgendwann so sehr den Kopf angeschlagen, dass sie tagelang nicht aufwachen wollte und die Eltern beim Pfarrer schon das Begräbnis bestellten. Dann kam sie aber doch wieder zu sich. Doch seitdem sprach sie kein einziges Wort mehr. Nur laut lachen und Melodien summen, das konnte sie. Jetzt war Mine hoffentlich im Wald geblieben und hatte sich gut versteckt, bis dieser Spuk hier vorüber war.
Die lustige Katharina schrie nun nicht mehr. Ganz still war sie geworden, und auch das Gegröle der Männer war verstummt. Stattdessen hörte Anna nun Hämmern, Schlagen, Brechen und Gackern. Wahrscheinlich nahmen sie gerade das schöne große Haus des Bauern auseinander und jagten sein Federvieh über den Hof. Wo wohl der Bauer geblieben war? Und wo war seine Frau, die noch immer im Wochenbett lag? Und auch den fünf Kindern war doch wohl nichts geschehen?
Anna lebte nun schon seit mehr als zehn Jahren in dem kleinen Häuschen auf dem großen Hof des Bauern Schulz. Damals war sie mit ihrem Mann Friedrich hier eingezogen, und als ihre Eltern gestorben waren, hatte sie auch ihre Schwester Mine aufgenommen. Alle drei arbeiteten für den Bauern, pflügten, säten, ernteten, fütterten, melkten, butterten, putzten, fegten, hackten Holz, holten Wasser und ertrugen die Launen ihres Arbeitgebers, weil er ihnen dafür ein kleines Häuschen mit einem winzigen Stall und einem Gemüsegarten zur Verfügung stellte. Das war ein hartes Leben, doch Anna beschwerte sich nicht, denn es war nun einmal ihr Los, als fünftes Kind einer armen Tagelöhnerfamilie zur Welt gekommen zu sein. Und so hatte sie nach zwölfstündiger Arbeit für den Bauern Schulz die Abende am Spinnrad als herrliche Entspannung empfunden, für die sie Gott dankte. Ja, sie hatte einmal ein eigenes Spinnrad besessen und sich damit ein Zubrot verdient, doch das war lange her. Irgendwann, als wieder einmal Marodeure ihr Unwesen trieben, war es von diesen Banausen zu Brennholz zerschlagen worden, während Anna, Mine und Friedrich zitternd, aber unentdeckt in ihrem Versteck gesessen hatten.
Friedrich war ein guter Mann. Beide kamen sie aus einem kleinen Nachbarort und kannten sich schon seit Annas Kindheit. Weil er der jüngste Sohn eines Kleinbauern war, war Friedrich nichts anderes übriggeblieben, als sich auf einem großen Hof als Knecht zu verdingen. Er war viel älter als Anna gewesen, um die zwölf Jahre. Doch das hatte ihn nicht davon abgehalten, das junge Mädchen eines Tages hinter einen Heuschober zu ziehen und sie, ehe sie sichs versah, ihrer Jungfräulichkeit zu berauben. Aber da Friedrich trotz alledem recht anständig war, heiratete er das mittellose Ding, welches von dem einen Male gleich ein Kind unter dem Herzen trug. Einen Tag nach der Hochzeit zogen die beiden in ein Nachbardorf, um dort als Erntehelfer und Tagelöhner zu leben. Zwei Tage nach der Hochzeit verlor Anna ihr Kind, es fiel einfach tot aus ihr heraus.
Während sich Friedrich und Anna mehr schlecht als recht ihrem neuen entbehrungsreichen Leben zu zweit fügten, ereigneten sich viele hundert Meilen entfernt Dinge, deren Auswirkungen von schicksalhafter Tragweite für nahezu einen jeden Menschen in den deutschen Ländern werden sollten, so auch für Anna und Friedrich Pippel. Drei Tage nach ihrer Vermählung wurden in einer weit entfernten Stadt namens Prag zwei Statthalter des Kaisers unrühmlich zum Fenster hinausgeworfen. Sie überlebten, so hieß es, nur, weil sie – von den Armen der Mutter Gottes getragen – weich in einen dampfenden Misthaufen fielen. Diese merkwürdige Episode sollte der Beginn eines dreißig Jahre währenden Krieges werden, und Anna war eines seiner Opfer – ein Opfer, das nun nicht auf, sondern unter einem Misthaufen saß und wieder einmal wartete und bangte.
Sie kannte diese elendig langen Stunden nur zu gut, und jedes Mal, wenn sie sich verbergen und stillsitzen musste, bis eine Gefahr wieder vorüber war oder sich als falscher Alarm herausgestellt hatte, zählte sie. Sie zählte – von eins bis hundert und dann wieder von vorn. Und jedes Mal, wenn sie bei hundert angekommen war, hob sie einen Finger ihrer verkrampften Faust. So lange, bis alle zehn Finger ausgestreckt waren, danach fing sie von Neuem an. Zählen konnte sie, das hatte ihr ihre erblindete Großmutter beigebracht, und Anna war immer stolz auf dieses Können gewesen.
Doch nun war es zu einer schrecklichen Plage geworden, und sie musste sich beherrschen, nicht laut zu sprechen, so sehr hatten sich die Zahlen in ihrem Ohr festgesetzt und schienen sie voll und ganz zu beherrschen. Sie versuchte sich mit anderen Gedanken von dieser Sucht abzulenken. Doch sosehr sie sich bemühte, schweiften ihre Erinnerungen immer nur zurück zu einem Tag, an den zu denken ihr noch mehr Leid verschaffte als das lästige Zählen.
Es war auf einem der häufigen Durchzüge des Halberstädters – wie der tolle Christian auch genannt wurde – passiert, als ein Reiter, ein bulliger, stinkender Mensch, über Anna hergefallen war. Dieser Überfall war nicht ohne Folgen geblieben, wieder war Anna schwanger geworden. Damals war sie zur Kohlenmarie in den Wald gegangen. Die Köhlersfrau verstand sich gut aufs Engelmachen. Tagelang hatte Anna dann fiebrig im Bett gelegen, und seitdem konnte sie keine Kinder mehr bekommen, sosehr sie sich das auch wünschte.
Friedrich hatte zu dieser Zeit damit begonnen, häufiger ins Wirtshaus zu gehen. Dort hatte er Karten gespielt und Bier getrunken, immer öfter auch Weinbrand. Eines Tages war ein Werber des Halberstädters ins Wirtshaus gekommen und hatte seinen Tisch aufgeschlagen. In Begleitung eines lustigen Flötenspielers, der fröhliche Tanzmusik gespielt hatte, hatte er eine Runde nach der anderen geworfen.
Als Friedrich spät in der Nacht nach Hause gekommen war, stellte sich heraus, dass er sich hatte anwerben lassen. Und schon am nächsten Tag hatte er zusammen mit drei anderen Burschen aus dem Dorf zum Musterplatz marschieren müssen. Das war vor nunmehr sieben Jahren gewesen, und seitdem hatte Anna ihn nicht wiedergesehen.
Das Poltern kam nun immer näher. Waren die Halunken etwa im Haus? Seit einigen Wochen trieben sich auch Kaiserliche in der Gegend herum. Sie waren katholisch, genauso wie Anna und alle Bewohner des Dorfes. Doch das kümmerte die Soldaten nur wenig. Das Dorf gehörte zu einem großen Kloster ganz im Osten Westfalens, und obwohl dieses Kloster katholisch war, gab es in der Umgebung auch viele Protestantische; besonders in Höxter, der nächsten Stadt. Und das kam den durchziehenden Truppen gerade recht. Denn ganz gleich, ob sie papistisch oder evangelisch waren, sie fanden immer einen Grund, den Menschen Leid anzutun, ihnen ihre Tiere, ihre Habe und ihr Leben zu nehmen.
Die Reiter, die soeben die Magd Katharina zum Schweigen gebracht hatten, waren Kaiserliche, und nun waren mindestens zwei von ihnen in Annas Hütte. Ein Poltern und Schlagen war zu hören. Sie suchten etwas, doch Anna in ihrem Verschlag wusste, dass sie nichts finden würden. Es gab nichts zu finden. Dann war wieder ein lauter, elender Schrei zu vernehmen, und daraufhin ein dumpfer Knall. Das war die arme Ziege, wahrscheinlich hatten sie ihr den Schädel eingeschlagen. Sie mussten nun den Weg in den Stall und somit auch bald zur Hintertür und zum Misthaufen gefunden haben.
Anna hätte niemals gedacht, dass es ihr in ihrem brütend heißen Versteck noch heißer werden konnte, doch da hatte sie sich getäuscht. Der stechende Geruch ihres eigenen Schweißes vertrieb sogar den Gestank der verwesenden Hühnerdärme. Und all ihre Gliedmaßen waren eingeschlafen, nachdem sie nun stundenlang eingeengt in diesem schrecklichen Verschlag hockte, in dem sie sich nicht bewegen konnte und aus Angst auch nicht bewegen wollte.
Die Männer sprachen eine seltsame Sprache, doch das war nichts Besonderes in diesem Krieg, in dem man Bekanntschaft mit den außergewöhnlichsten Völkern machen konnte. Noch immer wühlten sie lautstark herum, warfen alles um, was ihnen im Wege stand. Aber dann war von der Straße her lautes Rufen zu vernehmen, und mit einem Mal hörte Anna, dass sich die schweren Schritte der Eindringlinge entfernten. Sie waren verschwunden und hatten sie nicht aufgespürt. Dieses Mal war sie mit dem Schrecken davongekommen.
Zur Sicherheit verharrte sie noch zwei Stunden in ihrem Versteck, zwei ewige Stunden, bis der Hunger und ihre schmerzenden Knochen sie heraustrieben. Sie wollte ja nicht so enden wie die alte Jungfer Fine, die sich vor drei Jahren unter einem umgestülpten Schweinetrog versteckt hatte und aus Angst um ihre nun schon 53 Jahre währende Unberührtheit nicht mehr herausgekommen und unter demselben verhungert war. Erst der Verwesungsgestank hatte die Dorfbewohner auf die tote Jungfrau aufmerksam gemacht.
Anna stand nun auf wackeligen Beinen vor dem leblosen Körper ihres einzigen Nutztieres. Mühsam schleppte sie sich mit ihren eingeschlafenen Gliedern in die Wohnstube. Nichts in dem kleinen Häuschen war mehr an seinem Platz, irdene Schüsseln waren zerschlagen, die drei Schemel zerbrochen, die einzige Truhe zerhackt, aber wenigstens hatte die Räuberbande kein Feuer gelegt.
Rotes Haar hat sie, schönes rotes Haar und ganz weiße Haut. Und wie wunderbar sie singen kann, so ganz ohne Worte.
Jetzt kommt sie immer näher. Nein, das darf nicht sein. Wo soll man sich nur verstecken, damit sie einen nicht sieht?
Dort hinten, hinter der Baumwurzel. Ja, das ist ein guter Platz. Man darf nur keine Laute machen, sonst hört sie einen, und dann läuft sie weg, und man kann sie nicht mehr anschauen.
Was macht sie jetzt? Sie kniet sich nieder und hebt ihren Rock, muss sicherlich ihr Geschäft erledigen. Was für schöne weiße Haut sie hat, am ganzen Körper.
Ja, das ist ein guter Tag, das sieht man nicht allemal, so ein schönes Mädchen, ganz allein im Wald, und dazu hat sie eine so liebliche Stimme.
Jetzt steht sie wieder auf. Kann sie denn das ganze Holz tragen? Da fällt ihr schon wieder ein Zweig herunter. Immer mehr Holz sucht sie hier im Wald. Ja, such weiter, bleib noch hier, geh noch nicht wieder zurück ins Dorf.
Wie mag sie wohl heißen? Wie alt wird sie wohl sein? Soll man sich zeigen? Soll man ihr beim Tragen helfen? Nein, besser nicht. Nein, dann bekommt sie es noch mit der Angst zu tun. Besser, man bleibt in seinem Versteck und verhält sich ruhig.
Diese liebliche Stimme und diese schöne Haut. Ach, wie schön wäre es doch, sie zu berühren …
Was ist das? Woher kennt sie diese Melodie? Warum summt sie dieses Lied? Was soll das? Das ist nicht ihr Lied. Nicht ihr Lied. Nur die liebe Mama darf dieses Lied singen, nur sie. Woher kennt diese hier das Lied? Woher kennt sie es? Es ist Mamas Melodie. Nur Mama, Mama hat sie erfunden und einem vorgesungen.
Immer wieder vorgesungen, so schön. So schön,wie diese es jetzt singt, aber mit Worten. Mama hat es mit Worten gesungen. Doch diese kann es auch gut. Man will sich hinsetzen und lauschen. Will dabei an Mama denken, an die liebe Mama.
Anna versuchte, ihre Beine, die sie noch immer nicht richtig spüren konnte, zu bewegen und sich langsam aus ihrer Hütte zu schleichen. Schritt für Schritt setzte sie ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Grell schien ihr die Sonne ins Gesicht, als sie auf den Hof hinaustrat. Sie glaubte fast erblinden zu müssen, so schmerzhaft war der Lichtunterschied zwischen dem Erdloch und der Mittagssonne, die erbarmungslos hell, aber herrlich warm und erschreckend unbekümmert auf Anna und das Elend hinunterschien, das sich auf dem Hof offenbarte.
Als Annas Augen sich endlich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, was diese wütende Bande angerichtet hatte. Auf dem gesamten Hof verteilt lag reglos das Federvieh. Alle Hühner, Gänse und Enten des Bauern Schulz waren nicht mehr. Ein Kadaver fand sich neben dem anderen, die einen ohne Kopf, andere mit ausgerissenen Beinen und Flügeln.
Das gute Vieh, dachte Anna, wer soll das nur alles essen, bevor es verdirbt? Und inmitten von blutigen Federn lag auch die gutmütige Fee, der Hofhund. Sie hatte erst vor wenigen Tagen Welpen geworfen, doch von den Kleinen war weit und breit nichts zu hören und nichts zu sehen.
Vorsichtig ging Anna auf das Haupthaus zu, wo der Bauer mit seiner Familie wohnte und von wo vermutlich auch das entsetzliche Geschrei der frivolen Katharina zu hören gewesen war. Die riesige Dielentür stand weit offen, und als Anna langsam näher kam, da erblickte sie den Bauern Schulz.
Aufgeknüpft hatten sie ihn. Dort, wo immer die herrlichen Mettwürste und der duftende Schinken an einer Stange über dem Feuer gehangen hatten, hing nun er. Die Zunge quoll dick und blau aus dem Mund heraus, und mit weit hervorstehenden Augen blickte er auf Anna hinab. Grausig sah er aus, der Bauer, wie er nun so da hing.
Sie hatte ihn nie gemocht, er war laut und geizig gewesen. Doch Arbeit hatte er immer für sie gehabt. Nun war er dahin. Anna bekreuzigte sich schnell, bevor sie sich weiter umsah. Auch hier im Haus war alles verwüstet, und als ihr Blick die offene Tür zu der kleinen Schlafkammer neben der Küche streifte, da konnte sie dort im Innern zwei nackte Frauenfüße erkennen.
Anna traute sich nicht, näher hinzugehen. Zwar hatte sie schon in ihrer Kindheit ständig tote Menschen gesehen. Aufgebahrt mit Kerzen und Blumen, deren Duft den Leichengeruch überdecken sollte, hatten sie friedlich in ihren Häusern gelegen, bevor sie zum Kirchhof gebracht worden waren. So war das bei ihren Großeltern und auch bei all ihren zu früh gestorbenen Geschwistern gewesen – ganz ruhig hatten sie ausgesehen, als ob sie schliefen. Die Toten, die Anna jedoch in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen hatte, hatten selten einen solch friedlichen Anblick geboten – das brachte der Krieg mit sich. Doch gewöhnen konnte Anna sich nicht daran. Denn ein friedlicher Tod kannte nur ein Gesicht, ein grausamer hingegen hatte zahllose verschiedene Gesichter. Und die Leiche dort in der Kammer, das war sicherlich die Katharina.
Die ganze Zeit über war Anna ruhig gewesen, hatte ihre schreckliche Furcht überwunden, war aus ihrem Loch gekrochen, hatte dem Bauern Schulz ins Gesicht geblickt, hatte sich bekreuzigt und an sein Seelenheil gedacht. Doch als sie nun die nackten Füße der Magd sah und als dann im selben Moment in den Wohnräumen der Bauersfamilie ein Säugling zu schreien begann, da verlor sie die Fassung. Wie ein wild gewordenes Pferd stürzte sie auf und davon, sie rannte um ihr Leben, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie rannte fort von dem zerstörten Hof, fort von den toten Hühnern und dem toten Hund, fort von dem Bauern mit der blauen Zunge und der Magd mit den nackten Füßen, fort von dem schreienden Neugeborenen und fort von dem Dorf, in dem nichts mehr war, das sie zum Bleiben gezwungen hätte – außer ihrer Schwester.
Wie himmlisch still und traumhaft schön doch der Wald war. Ganz, als ob es der Natur vollkommen gleichgültig wäre, ja als ob sie es sogar heimlich befürworte, dass die Menschen vor nunmehr elf Jahren damit begonnen hatten, sich in ihren Städten, Dörfern und auf ihren Feldern abzuschlachten. Der Wald schien eine Welt für sich zu sein, hier rauschten leise die Blätter, zwitscherten lieblich die Vögel, und manchmal raschelte es im Gehölz. Doch Angst hatte Anna auch hier.
Hatte ihre Furcht im Dorf einen wirklichen Grund gehabt, so war es hier eine andere, eine nicht fassbare Angst vor dieser ganz eigenen Welt des Waldes, in der es so viele Geheimnisse gab. Hinter jeder umgestürzten Baumwurzel konnte ein Troll hocken, unter dem Laub hausten winzige Zwerge, und in Höhlen trieben Hexen und Hexenmeister ihr Unwesen. Nichts von alldem war sichtbar, und viele glaubten auch nicht mehr an böse Geister, doch Anna war sich immer sicher gewesen, dass der Wald ein gottloses Gebiet war. Hier regierten die Mächte der Vorzeit, einer Zeit, zu der die Lehren des Herrn noch keinen Eingang in die Köpfe und Herzen der Menschen dieser Gegend gefunden hatten.
Anna war völlig außer Atem. Mehr als eine halbe Stunde war sie gelaufen, so schnell ihre Beine sie tragen konnten, und nun war sie hier im Wald, irgendwo tief im Wald. Erschöpft ließ sie sich auf einem Baumstamm nieder. Doch erholen konnte sie sich nicht, denn all ihre Sinne waren weiterhin geschärft. Sie registrierte jedes Geräusch, bemerkte jeden sich bewegenden Schatten und spürte jeden noch so leichten Luftzug.
Nun saß sie hier, war davongelaufen, hatte nichts mehr, kein Haus, keine Habe, keine Arbeit, nur noch ihre Schwester, die sie unbedingt finden musste. Doch was hatte sie schon verloren? Eine kinderlose Landarme war sie gewesen. Sitzengelassen von ihrem Mann und mit einer schwachsinnigen Schwester am Hals, hatte sie ohnehin keinen guten Stand im Dorf gehabt. Die Frauen am Brunnen redeten nicht einmal mit ihr. Wenn sie wenigstens über sie geredet hätten. Doch Anna war einfach ein Nichts, einsam, arm und harmlos. Nicht einmal das Interesse der Männer, zumindest das der Männer im Dorf, konnte sie auf sich ziehen. Nicht dass sie das gewollt hätte, Gott bewahre – dennoch war es seltsam, denn Anna war keineswegs hässlich.
Mittelgroß mit aschblondem Haar und nicht auffällig schönen, aber ebenmäßigen Gesichtszügen, war es allein die rosafarbene Narbe, die sie ein wenig entstellte. Sie reichte von der Stirn über die Nase bis hin zum linken Mundwinkel und rührte daher, dass einer der Jagdhunde des alten Abtes Anna als Kind mit einem Frischling oder Rehbock verwechselt haben musste. Das Schönste an ihr waren ihre Augen. Groß und graubraun, mit langen dichten Wimpern, lenkten sie – blickte man nur tief genug hinein – von all ihren äußeren Nachteilen ab. Doch kaum jemand blickte ihr jemals tief in die Augen. Selbst ihr Mann Friedrich hatte das nie wirklich getan. Und so hielt auch Anna sich selbst für eine unschöne Frau.
Was sollte sie nun tun? Sie wollte nicht zurück ins Dorf. Der Bann war gebrochen, sie war fortgelaufen, und jetzt gab es auch keinen Weg zurück. Doch wohin? Annas Überlegungen wurden immer wieder von ihrer schrecklichen Angst unterbrochen, die sie ständig über die Schulter blicken ließ. Selbst hoch in die Baumwipfel schaute sie, als ob dort, in für Menschen unerreichbarer Höhe, eine Gefahr lauern könnte. Stunden verstrichen, vielleicht auch nur Minuten, doch Anna kam es vor wie eine Ewigkeit. Sie fühlte sich wie an einem Morgen, an dem man plötzlich krank und schwach aufwachte, aufstehen musste, aber nicht aufstehen konnte, immer wieder eindöste, sich zwingen wollte, das Bett zu verlassen, sich aber eine um die andere Minute gönnte und dann erst am Mittag mit hohem Fieber wirklich erwachte. All ihre Glieder waren schwer, ein dumpfes, erdrückendes Gefühl von Furcht und gleichzeitig von Trägheit umgab sie, und es kostete sie unendliche Kraft, sich schließlich aufzuraffen, sich von ihrem Baumstamm zu erheben und auf die Suche nach ihrer Schwester zu gehen.
Der Bauer sollte nicht der einzige erhängte Mensch sein, den Anna an diesem schönen Sommertag finden würde.
Über Baumwurzeln und Geäst stolpernd, versuchte sie sich wieder in Richtung des Dorfes durchzuschlagen, an den Waldrand, wo ihre Schwester auf Brennholzsuche gegangen war. Annas Lungen schmerzten, und ihr Blut rauschte derartig laut in ihren Ohren, dass sie kaum noch die Geräusche des Waldes wahrnehmen konnte. Vor Angst, Hunger und Erschöpfung konnte sie nur noch weiße und schwarze Punkte vor den Augen sehen, doch sie musste weiter, um dann zusammen mit Mine so schnell wie möglich von hier fortzukommen.
Endlich – dort hinten konnte sie den verschwommenen Umriss der alten Eiche erkennen, die schon seit Hunderten von Jahren am Waldrand stand und einen jeden begrüßte, der sich vom Dorf in den Wald begab. Hier suchte Mine immer das Brennholz, und hier musste sie sich irgendwo versteckt haben.
Sollte Anna nach ihr rufen? Besser nicht, wer wusste schon, wer und was sich hier im Wald verbarg. Vielleicht waren auch die Marodeure nicht weit. Der Wald war immer ein guter Ort, um in Ruhe die frische Beute zu begutachten und aufzuteilen. Nein, Anna wollte keine Aufmerksamkeit erregen, sie wollte sich so still und leise wie möglich auf die Suche nach Mine machen. Hinter jeden Baum wollte sie schauen, jeden Stein umdrehen, doch auffallen wollte sie nicht. Niemand sollte sie sehen, denn niemand sollte ihr wehtun, niemals mehr wollte sie auch nur einer Menschenseele begegnen.
Dort drüben zwischen dem Geröll ist ein gutes Versteck, keiner wird einen dort finden. Dort kann man bleiben, dort kann man verschnaufen und vielleicht auch die Nacht verbringen.
Und dann könnte man sich immer und immer wieder an alles erinnern, was soeben geschehen ist. Jeden einzelnen Moment könnte man sich wieder vor Augen rufen, jede Bewegung, jedes Geräusch, jedes Gefühl erneut erleben.
Es war nicht schön gewesen, grausam war es gewesen, abscheulich und ekelhaft. Warum nur hatte das schon wieder geschehen müssen? Hätte man es verhindern können? Dabei hat sie so schön gesungen. Mamas Lied gesungen.
Und die andere Frau? Was sollte man mit ihr nur tun? Durch den Wald war sie gelaufen. Angst hatte sie gehabt. Sollte man umdrehen, sollte man ihr folgen, oder sollte man sich besser hier verstecken und warten?
Da, was war das? Ein Schrei. Die Frau. Jetzt hat sie alles gesehen.
Vor wenigen Stunden noch war Anna vor dem an einem Strick baumelnden Bauern, den nackten Füßen der Magd und den Schreien eines Säuglings davongelaufen, und nun stand sie hier – wie angewurzelt, bewegungslos, fassungslos. Wieder ein Strick, wieder nackte Frauenfüße, und wieder das Wimmern eines Neugeborenen. Nur war es dieses Mal kein Menschenkind, sondern ein kleiner Hund.
Der Welpe war festgebunden am rechten Fuß ihrer Schwester, von dessen großem Zeh immerzu Blut auf das hilflose Lebewesen tropfte. Das Blut kam aus Mines Kehle. Sie war durchtrennt worden, und durch die tiefe Wunde zog sich ein Seil, mit dem die Schwester an einen der unteren dicken Äste der alten Eiche gehängt worden war. Der Hals mit der tiefen Wunde würde das Gewicht des schlaffen, toten Körpers nicht mehr lange halten können. Bald würde er reißen, und die arme Mine würde in zwei Teilen auf dem Waldboden liegen.
Anna wurde übel. Sie wankte erst nach vorn, dann fiel sie nach hinten, fiel weich auf Moosboden und kam nach wenigen Sekunden wieder zu sich, weil sie sich an ihrem eigenen Erbrochenen derartig verschluckte, dass sie minutenlang husten musste. Mühsam versuchte sie auf die Knie zu kommen, krabbelte auf allen vieren nach vorn und knotete mit zitternden Händen den kleinen Hund von den Füßen ihrer Schwester. Dann suchte sie nach dem Messer, welches sie immer im Unterrock trug, holte es hervor, kam mit letzter Kraft auf ihren Füßen zu stehen, stellte sich sogar auf die Zehenspitzen und schnitt das Seil, an dem die liebe Mine hing, ab. Auch Mine fiel weich auf den Moosboden.
Sie war ein so schönes Mädchen gewesen, viel schöner als Anna, und immer fröhlich. Nie hatte sie gemurrt oder sich beschwert, immerzu gelacht und sich an allem erfreuen können. Anna kamen die Tränen, als sie so neben ihrer toten Schwester stand. Sie setzte sich neben Mine auf den weichen Moosboden, strich ihr sanft über ihr rotes Haar und begann zu singen. Ja, Anna vergaß für einen Moment ihre Angst und sang, sang das Lieblingslied ihrer Schwester, das wunderschöne Lied, welches ihre geliebte Großmutter so oft den Enkelkindern hatte Vorsingen müssen:
»Weiß mir ein Blümlein blaue, von himmelklarem Schein
Es steht in grüner Aue und heißt Vergissnichtmein
Ich kunnt es nimmer finden, war mir verschwunden gar;
Von Reif und kalten Winden ist es mir worden fahl.
Das Blümlein, das ich meine, ist braun, steht auf dem Ried. Von Art ist es so kleine, es heißt: Nun hab mich lieb!
Das ist mir abgemäht wohl in dem Herzen mein.
Mein Lieb hat mich verschmäht. Wie mag ich fröhlich sein?«
Danach bekreuzigte sie Mines Stirn, bekreuzigte auch sich, stand auf, suchte genügend Reisig zusammen, um Mine notdürftig zu bedecken, und verschwand im Wald, tief im Wald.
Das sind die richtigen Worte zu dem Lied. Mamas Worte. Die Frau kennt Mamas Lied und Mamas Worte. Hat das Lied gesungen. Genau wie Mama es gesungen hat.
Man muss die Frau suchen. Sie soll noch einmal singen. Noch einmal singen, wie Mama gesungen hat. Wie Mama immer in dem dunklen Wagen gesungen hat. So soll auch die Frau wieder singen. Immer wieder, weil es so schön ist. Ihr darf nichts passieren. Das darf ihr nicht passieren. Nicht, was der anderen Frau passiert ist. Sie muss weitersingen, immer wieder weitersingen. Sie singt wie die liebe Mama, wie die liebe, arme Mama. So wie die Mama gesungen hat, im dunklen Wagen, bevor das große Feuer kam.
Tagelang war Anna nun durch die Wälder gestreift und hatte versucht, in der Einsamkeit Schutz zu suchen. Sie hatte sich notdürftig von Wurzeln und Beeren ernährt und aus Bächen getrunken und war nur selten einmal am späten Abend an den Waldrand gegangen, um einen Blick auf die Dörfer zu werfen. Das Licht, das aus den kleinen Fenstern der Bauernhäuser drang, nahm ihr ein wenig von ihrer Furcht. Doch niemals hätte sie sich getraut, an eine der Türen zu klopfen, nach einem Nachtlager und etwas Essbarem zu fragen.
Nur ein einziges Mal hatte sie es gewagt, sich auf den Hof eines außerhalb gelegenen Bauernhauses zu schleichen. Der Welpe, den sie bei ihrer toten Schwester gefunden hatte, war drei Tage lang ihr treuer Begleiter gewesen. Der kleine, warme Körper hatte ihr des Nachts Geborgenheit gespendet und ihr ein wenig von ihrer Angst genommen. Doch der Kleine brauchte Milch und wurde immer schwächer, sodass Anna schweren Herzens beschloss, ihn auf dem Bauernhof auszusetzen. Sie hoffte für das unschuldige Tierchen, dass es Menschen finden würde, die sich seiner annahmen.
Sie selbst jedoch wollte keine Hilfe. Sie wollte sich weiter verstecken, wollte allein sein und fürchtete sich gleichzeitig vor der Einsamkeit.
Sie wusste ja nicht, dass sie nicht allein war, obwohl sie es so manches Mal, wenn sie des Nachts zusammengekauert zwischen den Wurzeln eines großen Baumes saß, spürte. Dann hörte sie ein Rascheln im Gebüsch, und hin und wieder glaubte sie sogar ein Atmen zu vernehmen, das nicht von einem Tier stammen konnte. Leise fing sie an zu zählen, schlang ihre Arme um die Knie und vergrub den Kopf in ihrem Schoß. So verging langsam Sekunde für Sekunde, Minute für Minute und schließlich auch Stunde für Stunde, bis sich die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Baumwipfel bahnten.
Anna ging ziellos umher, oft auch im Kreis, mal tiefer, mal weniger tief in den Wald hinein, manchmal kehrte sie einfach um und kam an Stellen zurück, die sie schon Tage zuvor passiert hatte. Ganz selten begegnete sie einer Menschenseele: Da waren einmal zwei Männer, die Holz hacken gingen, und dann Kinder, die Kräuter sammelten. Immer aber versteckte sie sich.
Am zwölften Tag dann, als sie sich gerade am Waldrand aufhielt, um nach Essbarem zu suchen, erblickte sie am Horizont etwas, das sie niemals zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Dort kroch eine riesige, nicht enden wollende Schlange langsam über Hügel, Felder und Wiesen. Fasziniert starrte Anna auf dieses apokalyptische Gebilde, welches stetigen Kurs auf die Stelle hielt, an der sie stand. Und je näher das seltsame Phänomen kam, desto deutlicher konnte Anna erkennen, worum es sich bei dem schwarzen Lindwurm tatsächlich handelte: Ein riesengroßes Heer bahnte sich dort seinen Weg, und in wenigen Stunden würde es auch an dem Wald vorüberkommen, in dem Anna hauste.
»Was meinst du? Was kann sie dafür verlangen?«
»Na ja, ein bis zwei Taler ist s schon wert.«
»Der alte Lumpen? Du steckst doch mit der krummen Hexe unter einer Decke. Erzähl mir nichts.«
»Ich erzähl dir gar nix. Denk nur an den roten Heinrich, der hat auch nen Tag zu lang mit ihr verhandelt, und dann hat ihn das Fleckfieber gepackt.«
»Na, siehst du. Das Weib hat Zauberkräfte. Wer nicht auf ihre Wucherpreise eingeht, dem zaubert sie die Pest an den Hals.«
»Wenn du’s nicht haben willst, dann kauf s doch einfach nich’. Ich sag dir nur, dass ich meins schon zwanzig Jahre hab. Zwanzig Jahre! Ne, ne, und wohin hat s mich nich’ schon alles begleitet, erst nach Polen, dann nach Böhmen, und in ganz Deutschland gibt’s kaum ’nen Flecken, den ich in den letzten Jahren nich’ gesehen hätte. So viele Jahre Krieg – und kuck an, ich lebe immer noch. Dutzende großer Schlachten, am Weißen Berg, in Wiesloch, Wimpfen, Höchst, Stadtlohn …«
»Ja, ja, das habe ich jetzt schon hundertmal gehört, und jedes Mal kommt eine neue Schlacht dazu. Dir glaube ich langsam kein Wort mehr, du alter Geschichtenerzähler.«
Ein Geschichtenerzähler, das war Hans Mergel wirklich, und deshalb war er auch der beste Kamerad der Lumpenliese, einer der tüchtigsten Marketenderinnen in den Wallensteinschen Regimentern. Lumpenliese bot Dinge feil, die es nirgendwo sonst zu kaufen gab. Bei ihr gab es mitunter sogar Rauchwaren aus der neuen Welt und allerlei Zeug, das seinen Besitzer in der Schlacht unverwundbar machte. Dem kahlen Josef, der erst kürzlich zum Regiment gestoßen war, wollte sie gerade ein Nothemd verkaufen. Ein Hemd, das jede Kugel und jeden Lanzenhieb abfangen konnte, weil es von den geschickten Händchen vier kleiner Jungfrauen von fünf Jahren gesponnen und gewebt worden war. Tatsächlich hatte die Liese den Fetzen bei einem der letzten Streifzüge durch westfälische Dörfer in einem Bauernhaus gefunden. Es war der ungewaschene Unterrock einer alten Bäuerin, die sich auf dem Heuboden versteckt hatte, während Liese zusammen mit einer Handvoll Marodeuren alles mitgehen ließ, was nicht niet- und nagelfest war.
Und genau von diesem Hemd war soeben die Rede gewesen, als der kahle, noch kaufunschlüssige Josef und der alte Hans Mergel nebeneinander marschierten. Die beiden waren wie zwei kleine Ameisen in dieser riesigen Armee. Wie ein bedrohlicher Insektenschwarm bewegte diese sich schwarz und langsam auf Anna zu, die sich inzwischen hinter einem Busch am Wegesrand versteckt hielt.
Da sind sie ja wieder. All die Soldaten mit ihren Weibern und Kindern. Ja, da sind sie. Man hat gar nicht so lange auf sie warten müssen. Jetzt kann man sich wieder heimlich einreihen, kann sich verkleiden, sich gut verhüllen und mit ihnen ziehen.
Wohin der Weg wohl diesmal geht? Ob die Frau auch mitkommt?
Dort drüben hockt sie. Hat sich ebenfalls im Gebüsch versteckt. Ist gar nicht so anders als man selbst. Versteckt sich immerzu. Will nicht gesehen werden. Hat sich so viele Tage lang versteckt. Hat nicht mehr gesungen. Muss schlimmen Hunger haben.
Vielleicht kommt sie ja mit. Das wäre schön. Kann nicht gut auf sich allein aufpassen, braucht Schutz, die Frau. Soll wieder singen. Soll wieder singen, wie die arme Mama gesungen hat.
Sie soll mitkommen. Man kann auch nicht immer hinter ihr durch den Wald laufen. Das geht nicht für lange Zeit. Man muss selbst mal wieder richtig essen.
Da sitzt sie und schaut auf all die Beine. Die vielen, vielen Beine. Menschenbeine und Pferdebeine. So viele, so laut, und stinken tun sie, diese vielen Menschen auf einem Haufen. Schrecklich stinken tun sie.
Man kann sie gar nicht zählen, die ganzen Menschen und Pferde. So lange marschieren sie schon an der Frau im Gebüsch vorbei, und so lange verpesten sie nun schon die Luft. Gleich, zum Schluss, kommen die Frauen und Kinder und die ganzen Händler, dann kann man selbst einfach mitlaufen. Dann kann man aus seinem Versteck kommen und mitlaufen. Sie werden schon nichts bemerken. Sie haben noch nie etwas bemerkt. So viele auf einem Haufen, da bemerken sie einen nicht.
Aber wird die Frau auch mitgehen? Sie soll doch wieder singen.
Wollte dieser kolossale Wurm denn gar kein Ende nehmen? Zunächst waren Hunderte von Reitern an Anna vorübergezogen. Einige von ihnen mit gepflegten Bärten und schönen Hüten, andere wiederum gänzlich verwahrlost, auf alten klapprigen Schindmähren, die nicht einmal zum Schlachten getaugt hätten. Ihnen war eine unendliche Schar an Fußvolk gefolgt, und dann waren Dutzende Ochsengespanne vorbeigerollt. Sie waren mit dicken und weniger dicken Kanonen, mit anderen Geschützen, Schießpulver und Proviant beladen gewesen. Und nun – es war bereits Abend geworden, und die Sonne wollte schon bald hinter einem Berg verschwinden – kamen die Frauen, die Kinder und all das Gesinde und Gesindel, welches einem jeden Regiment wie ein viel zu langer und dicker Rattenschwanz anhing.
Im Schutz eines Dornenbusches beobachtete Anna, vorsichtig durch Blätter und Zweige blickend, das bunte Treiben. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass Menschen in der Lage waren, so viel auf einmal zu tragen.
Sie hatte in ihrem kurzen Leben schon seit der frühen Kindheit immer hart arbeiten müssen, hatte bereits mit fünf Jahren eimerweise Wasser aus dem Brunnen herbeigetragen, hatte später dann Holz sammeln, auf dem Feld arbeiten, schlachten, kochen, waschen, putzen und nähen müssen. Und das oft zwanzig Stunden am Tag, an jedem Tag und zu jeder Jahreszeit. Sie wusste bei Gott, was es hieß, ihrem Körper auch noch den letzten Rest an Kraft und Anstrengung abzugewinnen. Doch niemals, selbst wenn sie jeden Tag Butter und Fleisch essen dürfte, würde sie solche Lasten schleppen können wie einige der Frauen, die gerade an ihr vorbeizogen.
Mit staunenden Augen verfolgte Anna eine Mutter mit drei kleinen Kindern und einem runden Kugelbauch, in dem ganz offensichtlich das vierte heranwuchs. Diese Frau mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein, vielleicht war sie jünger, doch älter sicher nicht, obwohl sie alt aussah. Die beiden großen Kinder von drei und vier Jahren gingen neben ihr, wobei das ältere das kleinere an der Hand hielt und es immer wieder zum Weitermarschieren auffordern musste, indem es sein Geschwisterchen von Zeit zu Zeit äußerst unsanft am Ohrläppchen zog. Das jüngste Kind war noch nicht ganz dem Säuglingsalter entwachsen und wurde in einer kunstvollen Tuchkonstruktion auf dem Kopf der Mutter transportiert. Auf den Rücken hatte die Frau sich einen riesigen Korb geschnallt, in dem außer einem lebenden Huhn auch noch verschiedener Hausrat verstaut war. Einen offensichtlich schweren Beutel schleifte sie mit der linken Hand durch den Staub hinter sich her, während sie mit der rechten einen alten Handkarren zog, der so überladen war, dass die Räder von der Last zur Seite gebogen wurden und sich nur noch äußerst mühselig über den buckligen und steinigen Weg rollen ließen.
Derartig vollgepackt, kam die Frau trotz brütender Sommerhitze erstaunlich gut voran und konnte ohne weiteres mit einem Eselkarren Schritt halten, der, ebenfalls völlig überladen, von einer uralten Greisin geführt wurde. Knochig und krumm ging die Alte, ihren Esel am Halfter ziehend, neben der jungen Mutter her und unterhielt sich mit ihr. Was die beiden Frauen sprachen, konnte Anna jedoch nicht verstehen, denn es war sehr laut um sie herum.
Wenn ein solch riesiger Tross in Bewegung war, dann konnte man die verschiedensten Dinge sehen, riechen und hören. Da gab es Menschen jeden Alters, die einen waren vollkommen gesund und wohlgenährt, andere wiederum hatten nur ein Bein und gingen an Krücken, wieder andere waren dürr und abgemagert und mussten auf Wagen transportiert werden. Sie alle erfüllten zusammen mit ihren unzähligen Haustieren die Luft mit einem Duftgemisch aus Schweiß, Kot, Urin und sonstigen Gerüchen, die ungewaschene Körper verströmten.
Doch war der Gestank nichts gegen den ohrenbetäubenden Lärm. Da war das Quietschen von ungeölten Achsen und Rädern, das Klappern von Hufen, das Bellen von Hunden, das Schreien von Kindern und das Murmeln aus Tausenden von Mündern zu vernehmen, die auf ihrem Marsch durch die Wiesen, Felder, Wälder und Dörfer Westfalens miteinander schwatzten, lachten, stritten, verhandelten oder einfach Lieder sangen.
Und all diese vielen, vielen Menschen zogen nun Stunde um Stunde in einem unendlichen Zug an Anna vorüber. Erst als der allerletzte Wagen, beladen mit etwa zwanzig verkrüppelten, aber schon wieder grölenden und einander neckenden Soldaten, Annas Gebüsch passiert hatte, erst als von dieser unendlich langen Schlange nichts weiter als eine riesige Staubwolke übrig geblieben war – erst da kam Anna der Gedanke, sich diesem Koloss anzuschließen.
Wieso auch nicht? Den besten Schutz, so dachte sie sich, hat die Maus, wenn sie sich im Fell des Katers versteckt. Seitdem sie erwachsen war, tobte nun dieser Krieg, und er hatte mehr oder weniger schlimme Zeiten mit sich gebracht. Sie hatte versucht, sich an ihn zu gewöhnen. Manchmal hatte sie wochen-, sogar monatelang ganz vergessen, dass Krieg war. Dann hatte sie mit ihrer Schwester im Winter am Spinnrad gesessen, und beide hatten Lieder gesungen. Das heißt, sie hatte gesungen, und Mine hatte gesummt.
Doch dann, eigentlich jedes Jahr im Frühjahr, war der Krieg zurückgekehrt. Evangelische und katholische Soldaten waren durch ihre Heimat gezogen, und nach und nach, Jahr für Jahr hatte der Krieg ihr schließlich alles genommen, was sie besaß. Zuerst war es hier und da ein Huhn oder ein Topf, der zerschlagen wurde, dann wurde ihr ihre Fruchtbarkeit genommen, bald darauf ihr Mann und schließlich ihre liebe Schwester, die ihr – das spürte sie erst jetzt, da Mine nicht mehr da war – mehr bedeutet hatte als alles andere zusammen.
Ja, der Krieg hatte alles genommen. Ein Krieg, der eigentlich gar keiner war, denn von einer wirklichen Schlacht hatte Anna nie etwas gehört. Vielmehr, so sprachen auch die Leute im Dorf, kämpften nicht protestantische gegen papistische Soldaten auf dem Schlachtfeld, sondern beide kämpften gegen all die braven Leute, die nichts anderes wollten, als friedlich in ihren Städten und Dörfern zu leben. Wie die Heuschrecken fielen mal die einen, dann wieder die anderen über die Menschen her, fraßen all ihr Getreide und schlachteten all ihr Vieh. Die einen nahmen sich alles, weil sie glaubten, der Feind zu sein und sich deshalb alles nehmen zu dürfen, und die anderen nahmen sich alles, weil sie glaubten, der Freund zu sein und deshalb versorgt werden zu müssen.
Und weil Anna nun nach zehn Jahren endlich gelernt hatte, dass der Krieg nur nahm und die Menschen in den Dörfern und Städten nur gaben, entschied sie sich, beim Krieg mitzumachen. Sie beschloss, sich dem Regiment anzuschließen, das heute den ganzen Tag über an ihrem Dornengebüsch vorbeigezogen war und nicht weit von ihr bald Quartier beziehen musste. Anna beschloss also, fortan nicht mehr Gebende, sondern Nehmende zu sein.
Etwa einen Tagesmarsch von Annas Heimatdorf entfernt hatte sich die schwarze Schlange zur Nachtruhe begeben. Ihr Kopf ließ sich in den reichen Bauernhäusern zweier kleiner Orte nieder, ihr mittlerer Teil nahm mit weniger großen Höfen vorlieb, und der lange Schwanz, der mehr als die Hälfte dieses ungeheuren Tieres ausmachte, schlief auf Feldern und Wiesen in der Umgebung.
Allein das Errichten der Schlaflager hatte bis tief in die Nacht gedauert. Es war eine schöne klare Nacht, der Mond stand hell und voll am Himmel, und die Sterne leuchteten in unendlicher Zahl auf all die Menschen mit ihren Waffen, Zelten, Wagen und ihrem Vieh herab.
Auch Anna, die sich noch immer im Verborgenen hielt, konnte von ihrem neuen Versteck aus weitere Beobachtungen anstellen. Noch wagte sie es nicht, sich bemerkbar zu machen, noch hatte sie Angst, dass diese Leute, die dort Würfel spielten, Wäsche trockneten, Bier tranken, Kinder stillten, Feuer machten, Lieder sangen oder Waffen polierten – dass diese Menschen ihr ein Leid antun könnten. Immerhin gehörten sie zu diesem riesigen Lindwurm, von dem sich vor zwei Wochen ein Teil gelöst hatte und raubend, schändend und mordend in ihr Dorf eingefallen war. Hier unter diesen Menschen, da war sich Anna sicher, waren die, die den Bauern Schulz aufgeknüpft, die Katharina zu Tode gequält und auch ihre liebe Schwester Mine so bestialisch ermordet hatten.
Doch so wild und grausam sie in ihrem Dorf gewütet hatten, so zahm und fröhlich waren sie hier. Anna beobachtete bis zu achtköpfige Familien, die sich in mitgebrachten Töpfen ein Süppchen kochten, sie lauschte den Liedern von drei alten Männern, die es sich um ein Lagerfeuer gemütlich gemacht hatten, und war fasziniert vom Anblick zweier junger Frauen, die mit hohen Stiefeln und kunstvollen Frisuren lächelnd an einer Gruppe Soldaten vorbeistolzierten. Hin und wieder waren von den Bier und Schnaps trinkenden Würfelspielern derbe Schimpfworte zu hören, und hier und da kam es auch einmal zu einer lautstarken Auseinandersetzung, doch alles in allem war es innerhalb eines solchen Kriegsheeres friedlicher, als Anna es sich vorgestellt hatte. Von brutalen, blutrünstigen Burschen jedenfalls war nichts zu sehen.
Doch wie sollte sie es nur anstellen, dass auch sie ein Teil dieses großen Wurmes wurde? Schon seit sie den Entschluss gefasst hatte, sich dem Tross dieses Regiments anzuschließen, seit sie also von ihrem Dornenbuschversteck aus die Staubwolke verfolgt hatte, welche die vielen Füße, Hufe und Räder hinterlassen hatten, seitdem suchte sie nach einem geeigneten Zeitpunkt, auf sich aufmerksam zu machen. Anna wollte wieder gesehen werden. Sie wollte nicht mehr allein sein.
»Ich kann es nur immer wiederholen: Du bist nicht der Einzige, der Interesse daran hat, Josef. Verhandeln lass ich nich’ mit mir. Da wär ich ja schön blöd, wo doch so viele andere das gute Stück haben wollen.«
Liese Kroll, im Tross besser als Lumpenliese bekannt, nähte gerade im Licht eines kleinen Lagerfeuers an einem alten dänischen Offizierswams, das sie wieder auf Vordermann bringen wollte, um es dann über Wert zu verkaufen. Der kahle Josef stand vor ihr, wurde jedoch keines Blickes gewürdigt. Liese wusste, wie sie sich verhalten musste, damit ihr der Fisch ins Netz ging. Bloß nicht den Eindruck vermitteln, dass sie es nötig hatte, ihre Ware um jeden Preis loszuwerden.
Obwohl Liese von vielen als Wucherin und Hexe bezeichnet wurde, fand sie dennoch immer wieder Käufer für ihre überteuerten Waren, die angeblich Wunder vollbringen konnten. Liese selbst glaubte, dass ihr Verkaufsgeschick der einzige Grund für diesen zuweilen großen Ansturm auf all den Krempel war, von dem man sich Glück, Gesundheit, Manneskraft oder gar Unsterblichkeit versprach.
Sicher trug Lieses Talent, wertlosen Plunder durch das Erfinden fantasievoller Geschichten interessant zu machen, sehr dazu bei, all das Zeug an den Mann zu bringen, und ihr alter Begleiter Hans Mergel unterstützte sie seit Jahren tatkräftig dabei. Tatsächlich jedoch glaubte keiner ihrer Kunden wirklich an die Zauberkraft ihrer Waren, und die meisten wussten auch, dass sie das ganze Zeug irgendwo zusammengestohlen oder billig eingekauft hatte. Die meisten verschlossen einfach ihre Augen vor der wahren Biografie eines gefroren, also unverletzbar machenden Nothemdes, wie es nun der kahle Josef erwerben wollte.
Auch Josef war sich sicher, dass es sich bei dem schmutzigen Fetzen niemals um das Erzeugnis kleiner Jungfrauenfinger handelte, doch er zwang sich dazu, es zu glauben. Seit mehr als sieben Jahren war er nun Soldat, ihm war zweimal durchs linke Bein geschossen worden und einmal durch den rechten Arm, er humpelte und hatte lernen müssen, alle Geschäfte des Lebens mit nur einer Hand zu erledigen.
Josef hatte sich, so dachte er, an den Krieg gewöhnt, immerhin war das Soldatenleben dem eines armen Tagelöhners vorzuziehen, denn von Zeit zu Zeit konnte man als Soldat aus dem Vollen schöpfen. Von Zeit zu Zeit nämlich kam es vor, dass man reiche Städte belagerte und sie, sobald die Belagerung erfolgreich beendet war, plündern durfte – zur Strafe für die Stadtherren und ihre Bevölkerung. Dann gab es tagelang so viel zu essen und zu trinken, dass sich so mancher seiner Kumpel schon totgesoffen hatte. Viele ergatterten auch Geld, Schmuck und andere Wertsachen, welche die reichen Bürger zwar gut versteckt hatten, aber mit ein wenig Feuer unterm Hintern dann doch gern hergaben. Solche Tage gab es im Soldatenleben, doch sie gingen schnell vorbei und kamen auch nicht oft wieder.
Meistens hieß es, bei Wind und Wetter marschieren, mal in den Westen, dann in den Osten, dann hoch in den Norden und wieder hinunter in den Süden – ganz so, wie es dem Kaiser oder besser dem Wallenstein beliebte. Auf diesen Märschen holten sich viele die Pest, die Ruhr oder irgendein Fieber und starben dann wie die Fliegen. Entweder war es drückend heiß oder klirrend kalt, so trocken, dass man nirgends auch nur einen Tropfen Wasser fand, oder so feucht, dass man des Nachts in Pfützen schlafen musste. Und dann kamen auch noch die Schlachten hinzu, in denen man sich, oft krank und hungrig, stundenlang gegenseitig die Köpfe einschlug.
Der Tod war also ein ständiger Begleiter, und tagtäglich galt es ihm ein Schnippchen zu schlagen, ihm von der Schippe zu springen und weiterzuleben. Und dafür tat man alles, denn niemand – das hörte man des Abends auch in den Gesprächen an den Lagerfeuern – hatte wirklich Lust, ihm ins Auge zu blicken.
Und weil der kahle Josef noch lange nicht an den Frieden glaubte, auch wenn man davon munkelte, und weil er noch öfters eine Nacht in den weißen Laken eines reichen Bürgerbettes verbringen und den italienischen Rotwein eines Pfaffen – eines evangelischen, verstand sich – trinken wollte, entschloss er sich, einen ganzen Taler, also fast den Sold eines ganzen Monats, für das Nothemd auszugeben, welches Liese feilbot und welches ihn unverletzlich machen sollte.
Zwar wusste Josef nicht, wie er nun in den nächsten Wochen über die Runden kommen sollte, aber das interessierte eigentlich keinen der Soldaten. Man lebte im Hier und Jetzt, verprasste, was man gerade besaß, und ließ den nächsten Tag auf sich zukommen. Wie man überlebte, das war egal, doch dass man überlebte, das war den meisten wichtig. Und deshalb verdiente die Lumpenliese viel Geld.
So ein Geschäft macht man nicht alle Tage, dachte Liese bei sich, als sie sich aufmachte, um sich außerhalb des Lagers mit einer alten Böhmerin zu treffen, die es wunderbar verstand, ein herrliches Kräutergemisch zu sammeln, das Liese dann trocknete und als Tabak verkaufte. Natürlich wusste die Alte nicht, was Liese mit dem Zeug anstellte, und natürlich wussten auch Lieses Kunden nicht, dass die Rauchwaren, die sie ihnen verhältnismäßig günstig anbot, gar nicht aus der Neuen Welt stammten. Sie waren nicht von niederländischen oder portugiesischen Händlern monatelang über See transportiert worden, sondern wurden regelmäßig von einer alten Frau am hiesigen Wegesrand gepflückt. Bei einer solch jungen Mode wie dem Rauchen, so dachte Liese zu Recht, fiel doch keinem der betrunkenen Kerle auf, ob sie nun Tabak oder getrockneten Löwenzahn qualmten.
Liese und die Böhmerin trafen sich immer am Anfang eines Monats, sobald das Nachtlager errichtet war, etwa dreihundert Schritte hinter dem letzten Zelt oder dem letzten Wagen. Meist war die Alte schon vor Liese da und überreichte ihr dann einen Sack voller Kräuter. Frisch waren die nicht, doch das war egal, denn Liese musste sie ohnehin trocknen und dann fein zermahlen. Wieso dieses Geschäft heimlich verrichtet wurde, darum scherte sich die Alte nicht. Ihr war nur wichtig, dass sie ihr Säckchen Mehl und ihre fünf Eier dafür bekam.
Heute jedoch war die Böhmerin nicht da. Das passte der Lumpenliese gar nicht, denn eines besaß sie nicht, und das war Geduld. Einige Male ging Liese auf und ab, schaute hinter den ein oder anderen Baum, pfiff ein Lied und fing schließlich sogar zu rufen an. Doch entweder hatte die Böhmerin ihren Termin vergessen, oder sie war gestorben. Das wäre bedauerlich gewesen, aber auch nicht verwunderlich. Ein wenig wollte Liese doch noch warten, denn vielleicht hatte sich das Kräuterweiblein auch nur verspätet.
Anna nahm all ihren Mut zusammen und ging auf die Frau zu, die sie nun schon seit einiger Zeit beobachtet hatte, wie sie den Weg auf und ab ging und ganz offensichtlich auf jemanden wartete, der nicht kam. Es war eine Frau mittleren Alters, sehr groß gewachsen und dazu unwahrscheinlich mager. Ihr Gesicht, soweit Anna es im blauen Licht des Vollmondes erkennen konnte, war nicht schön, aber dennoch interessant. Sie hatte eine lange gerade Nase und einen spitzen Mund, dessen Lippen sie vollkommen verschwinden lassen konnte, wenn sie sich ärgerte. Und im Moment schien sie sich zu ärgern, das sah man ihr deutlich an.
Dennoch sprach Anna sie ganz vorsichtig und furchtbar leise von hinten an. Wie eine Furie drehte sich die Frau um, sodass die arme Anna vor Schreck aufschrie. Auch die Frau schrie laut auf, doch nur ganz kurz, um Anna dann aus kleinen, giftigen Augen anzuschauen und ihr die Laterne, die sie dabeihatte, mitten ins Gesicht zu halten.
»Was fällt dir ein, mich derartig zu erschrecken!«
»Aber … aber …«
»Aber, aber … Komm heraus mit der Sprache, du Bauernweib. Was hast du hier zu suchen? Wolltest mir wohl von hinten die Kehle durchschneiden, was?«
»Nein, das wollte ich nicht.«
»Was dann? Hast doch um diese Zeit hier nichts verloren. Oder gehörst du zum Tross? Wäre mir neu, hab dein Narbengesicht hier noch nie gesehen.«
»Ich möchte mit euch reisen. Ich kann nähen, kochen, Wäsche waschen. Wurst kann ich auch machen, und es gibt kein Tier, das ich nicht schlachten kann.«
»Ja, schlachten, das tut man hier gerne, da bist du richtig.« Liese lachte laut und sah auf einmal nicht mehr so furchtbar aus. »Komm mit, Mädel. Hab im Moment viel zu tun, die Geschäfte laufen gut, da kann ich eine Hilfskraft gebrauchen. Wie heißt du denn?«
»Anna heiß ich.«
»Und wie alt bist du?«
»Fünfundzwanzig Jahre war ich im Januar.«
»Siehst älter aus. Na, wer tut das nicht in diesen Zeiten.«
Anna war erleichtert. Sie hatte es nicht nur gewagt, endlich einen Menschen anzusprechen, sondern hatte gleich Arbeit und somit die Aussicht erhalten, noch in dieser Nacht endlich wieder eine richtige Mahlzeit zu sich nehmen zu können.
Als Liese zusammen mit ihrer neuen Begleitung an ihrem Ochsenkarren ankam, vor dem schon das Schlafzelt errichtet war, saß der alte Hans Mergel zusammen mit vier anderen Männern und einer jungen Frau an einem kleinen Feuer und erzählte einmal wieder Geschichten.
Es war eine schöne Sommernacht. Die Tage waren in diesem Jahr ausgesprochen heiß und die Nächte angenehm warm, sodass man Feuer nur zum Kochen benötigte oder um besser sehen zu können. Die Gruppe, die einmal wieder einer der schaurigen Gruselgeschichten des Erzählers Mergel lauschte, bemerkte zunächst nicht, dass sich die beiden Frauen genähert hatten.
»Was erzählst du wieder für ein dummes Zeug, Hans? Solltest doch den Kessel flicken und die neuen Stiefel putzen.«
»Ach, Liese, da bist du ja schon wieder.«
»Ja, da bin ich schon wieder, brauchst gar nicht so scheinheilig tun. Weiß genau, dass du mich am liebsten von Weitem siehst. Nun, was steht heute an? Doch nicht etwa der Geist des großen Cäsar? Wisst ihr«, wandte sie sich mit einem Augenzwinkern an die Zuhörer, »das ist ein seltsamer Kauz, der alte Römer, wendet sich in der Nacht vor jeder Schlacht ausgerechnet an den Mergel, um ihm zu berichten, wie alles verlaufen wird. Das ist doch vergebliche Liebesmüh. Der Mergel kann doch mit solch einem Wissen nichts anfangen. Soll er dem Wallenstein erscheinen oder einem Offizier. Aber doch nicht dem armen Mergel.«
»Ja, ja, Liese, ich weiß. Ich hör ja schon auf und vertage meine Geschichte auf ’nen anderen Abend. Auf dass wir noch mal in dieser fröhlichen Runde Zusammenkommen. Gott möge uns beistehen!«
So schloss Hans Mergel seine rüde unterbrochene Erzählung und schaute in den Sternenhimmel. Nicht dass er ein strenggläubiger Mensch gewesen wäre, nein, das hatte ihm der Krieg ausgetrieben. Vielmehr gehörte eine gewisse Frömmigkeit zu dem Gesamtbild, das er selbst von sich geschaffen hatte und welches nahezu täglich durch neue Floskeln, Gesten und Merkwürdigkeiten erweitert wurde.
»Übrigens, das ist Anna. Hab sie gerade auf der Straße aufgelesen. Ist ein Bauernmädel aus der Gegend und möchte jetzt lieber mit uns mitziehen, statt in ihrer verlausten Bude sitzen.«
Lieses Einführung der verschüchterten Anna, die kaum ihren Blick vom Boden heben konnte, löste weder Begeisterung noch Ärgernis aus. So wie Anna es in ihrem bisherigen Leben gewohnt war, regierte auch hier am Lagerfeuer angesichts ihrer Erscheinung nichts weiter als pure Gleichgültigkeit. Hans Mergel grinste zwar und nickte dem Neuankömmling kurz zu, doch offensichtlich kreisten seine Gedanken immer noch um die Geschichte, die weiterzuerzählen ihm soeben verboten worden war. Einer der Männer, ein dicker Mensch, der nur aus Haaren zu bestehen schien, grunzte etwas Unverständliches und widmete sich dann wieder seinem Becher. Zwei jüngere Männer kramten derweil in ihren Taschen nach Würfeln und schienen Lieses Worte gar nicht gehört zu haben. Der vierte Mann jedoch, ein seltsamer Kerl von etwa dreißig Jahren, an dem alles außergewöhnlich lang und dünn erschien, musterte Anna immerhin kurz von oben bis unten, um sich dann weiter auf eine Schnitzerei zu konzentrieren. Und die junge Frau hatte die ganze Zeit nicht eine Sekunde lang damit aufgehört, ununterbrochen ins Feuer zu starren.
Nun gut, Anna war es recht. Sie ärgerte sich nicht über diesen Empfang, sondern war froh, dass sie nicht reden musste, denn reden mochte sie, im Gegensatz zu Liese und ihrem Begleiter Mergel, gar nicht gerne. Der einzige Laut, den sie von sich gab, kam nicht über ihre Lippen, sondern aus ihrem Magen: Ein unüberhörbares, langes und grollendes Knurren ließ keinen Zweifel an Annas dringendstem Bedürfnis.