Die Schlüsselträgerin - Simone Neumann - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Schlüsselträgerin E-Book

Simone Neumann

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Welt im Umbruch – eine Frau in großer Gefahr: Der historische Roman »Die Schlüsselträgerin« von Simone Neumann jetzt als eBook bei dotbooks. Sachsen im Jahre 825: Seit sie zur Ehe gezwungen und gewaltsam auf den Hof gebracht wurde, wird Inga von der Familie ihres Mannes verachtet – und doch ist Rothgers Sippschaft auf die schlaue Haushaltsführung der neuen Schlüsselträgerin angewiesen. Inga fügt sich in ihr Schicksal; wie anders sollte sie sonst als Frau in einer Welt überleben, in der alle Entscheidungsgewalt bei den Männern liegt? Aber dann werden Rothger und seine Geliebte ermordet … und natürlich fällt der Verdacht auf Inga. Nur der sonst so strenge Mönch Agius scheint auf ihrer Seite zu stehen – aber darf sie, eine Kräuterkundige, die noch immer an die alten Götter glaubt, dem Christen wirklich vertrauen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: der historische Roman »Die Schlüsselträgerin« von Simone Neumann – spannend wie ein Krimi und so lebensecht geschrieben, dass man sich in die Epoche des Frühmittelalters versetzt fühlt, jene Zeit, in der im heutigen Deutschland die Heiden zum Christentum bekehrt werden sollten. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 615

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Sachsen im Jahre 825: Seit sie zur Ehe gezwungen und gewaltsam auf den Hof gebracht wurde, wird Inga von der Familie ihres Mannes verachtet – und doch ist Rothgers Sippschaft auf die schlaue Haushaltsführung der neuen Schlüsselträgerin angewiesen. Inga fügt sich in ihr Schicksal; wie anders sollte sie sonst als Frau in einer Welt überleben, in der alle Entscheidungsgewalt bei den Männern liegt? Aber dann werden Rothger und seine Geliebte ermordet … und natürlich fällt der Verdacht auf Inga. Nur der sonst so strenge Mönch Agius scheint auf ihrer Seite zu stehen – aber darf sie, eine Kräuterkundige, die noch immer an die alten Götter glaubt, dem Christen wirklich vertrauen?

Über die Autorin:

Simone Neumann, geboren 1977 in Höxter, lebt heute in München. Nach ihrem Studium der Geschichte und Slavistik arbeitete sie zunächst bei einem Verlag als Lektorin und machte sich nach der Geburt ihrer Kinder als Redakteurin und Autorin selbstständig.

Bei dotbooks erschienen Simone Neumanns fundiert recherchierten historischen Romane, die sie stets mit einer fesselnden Spannungsnote würzt: »Des Teufels Sanduhr«, »Das Geheimnis der Gewürzhändlerin« (ursprünglich unter dem Titel »Das Geheimnis der Magd« erfolgreich) und »Die Flucht der Gauklerin«.

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2021

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen, unter Verwendung verschiedener Bildmotive von shutterstock/Martina Janina und shutterstock/Dudaeva sowie eines Gemäldes von Jacob van Ruisdael: »Bentheim«

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96655-908-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html (Versand zweimal im Monat – unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Schlüsselträgerin« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Simone Neumann

Die Schlüsselträgerin

Historischer Roman

dotbooks.

Meinen lieben Eltern,

Rita und Dietmar Bahmann

Irren wir? Vielleicht; was atmet,

Irrt und tappt in Finsternissen

Blöden Auges; die Lebendgen

Glauben – und die Toten wissen.

Friedrich Wilhelm Weber, aus: Dreizehnlinden

Prolog

Land der Sachsen im Jahre 782, nahe dem Süntelgebirge

Es war eine grausame Schlacht, ein Gemetzel, ein blutiges Niederhauen und Niederstechen. Und zum ersten Male in diesem nun schon seit zehn Jahren währenden Krieg war es den Sachsen unter der Führung ihres Herzogs Widukind gelungen, die fränkischen Eindringlinge vernichtend zu schlagen.

Deren König, der Franke Karl, hatte nicht gekämpft. Er weilte im Süden, machte Eroberungen in Spanien, doch zahlreiche Edle und Vornehme der Franken waren getötet worden; zwei von ihnen durch das Schwert des Hilger, eines Frilingssohns aus dem Augau in der Herrschaft der Engern.

An der Seite seiner Freunde Bero und Hatho war er in den Kampf gezogen, um die verhassten fränkischen Eroberer zu vertreiben, die von ihnen errichteten Kirchen zu zerstören und die von ihnen gesandten Gottesmänner zu meucheln. Freiheit und Ehre galt es zu verteidigen, und deshalb hatte sich Hilger auf die Seite Widukinds gestellt, des Rebellen gegen den christlichen König, den großen Karl.

Der Schmied Hatho sowie Bero, ebenfalls Freier und Herr über den Meinradschen Hof, sahen es ebenso. Tapfer hatte auch Hatho am Süntelgebirge gekämpft und schon bald einen Berg an feindlichen Schilden angehäuft. Bero hingegen war plötzlich verschwunden, inmitten des blutigen Treibens hatte sich seine Spur verloren.

Zunächst hatte Hilger geglaubt, der Freund sei gefallen. Doch wenige Tage nach dem Gefecht hatte er ihn erblickt, zufällig, aus einem Versteck heraus. Zusammen mit Edlen aus dem Engernland war er geritten, Edlen von der Sorte, die es schon lange vorgezogen hatten, sich auf die Seite der feindlichen Eroberer zu schlagen.

Und diese sächsischen Edlen waren nun unterwegs, um ihre eigenen, siegreichen Leute einzufangen und auszuliefern. Sie fürchteten sich vor der Rache des mächtigen Karl, den man jeden Moment zurückerwartete und der rasend über den Verlust seiner Mannen sein würde. Besser war es, ihm die Aufständischen zu präsentieren, damit er seine Wut nicht am gesamten Sachsenvolk ausließe.

Aus diesem Grund hielt auch Hilger sich versteckt. Anstatt triumphierend in die Heimat zu ziehen, sich von seiner Sippe und den Nachbarn feiern zu lassen, musste er in einem Erdloch sitzen, sich verbergen wie ein Strauchdieb. Und mit ihm all die anderen tapferen Burschen, die vor wenigen Tagen einen unglaublichen Sieg errungen hatten.

Hilger war wütend, diese Lage kratzte empfindlich am Ehrgefühl des bulligen jungen Mannes. Am liebsten wäre er aus dem Loch gesprungen und hätte sie allesamt angefallen, diese Edlen der Engern, West- und Ostfalen, die dort ihr verräterisches Unwesen trieben. Zahlreiche sächsische Krieger hatten sie bereits eingefangen, und Hilger konnte nur hoffen, dass sie das Versteck, in dem er sich zusammen mit einem Dutzend weiterer freier Bauern aus dem Augau und dessen Umgebung verbarg, nicht fanden.

Es wurde bereits Nacht, aber die Luft war noch immer nicht rein. Die Bäume des kleinen Hains, in dem sich die Mulde befand, rauschten, und mit jedem herbstlichen Windstoß verloren sie mehr Blätter, sodass ihr Zufluchtsort bei Sonnenaufgang sehr viel nackter daliegen würde als noch am Vortag. Hilger hatte die Männer in diesen Hain geführt. Er kannte das Versteck, hatte es zusammen mit Bero und Hatho schon Tage vor der Schlacht entdeckt. Es hatte den Freunden als verborgener Lagerplatz gedient, bevor sie zu den Männern des Widukind gestoßen waren. Doch nun fühlte Hilger sich nicht mehr sicher, denn Bero war bei den Verrätern, und Bero kannte diesen Unterschlupf.

Und tatsächlich: Da kam jemand.

Alle griffen sie gleichzeitig und möglichst lautlos zu ihren Waffen.

In der Dunkelheit schlich ein Schatten zwischen den Bäumen entlang. Groß, ja hünenhaft mit breiten Schultern, aber dennoch wieselflink.

»Haltet ein!«, zischte Hilger den anderen zu, denn er hatte ihn erkannt, den Schmied Hatho. Ehe sie sichs versahen, sprang Hatho auch schon in die Grube, und ohne Rast scheuchte er die Männer hinaus.

»Flieht! Flieht, so schnell euch eure Beine tragen können. Sie kommen, sie werden jeden Augenblick hier sein«, vernahm man seine dunkle, energische, aber dennoch möglichst leise gehaltene Stimme.

Hatho und Hilger kletterten gemeinsam aus der Mulde und rannten davon, doch es war zu spät. Ein Pfeil sauste bereits herbei und bohrte sich in Hilgers Schulter. Ein zweiter schoss heran und traf ihn in der Kniekehle. Hilger brach zusammen.

Obwohl Hilger dem Hatho an Größe und Gewicht kaum nachstand, schulterte dieser den verwundeten Freund und lief mit ihm davon. Wenige Schritte vom Hain entfernt warf er Hilger hinter einen mannshohen Felsbrocken, hinter welchem auch er sich sogleich verbarg. In der Dunkelheit konnte Hatho verfolgen, wie die Häscher alle Männer einfingen. Alle außer Hilger und ihn.

Erst im Morgengrauen war die Luft rein, um die Flucht fortzusetzen. Vier Tage benötigte Hatho, um seinen verwundeten Freund zurück ins heimatliche Augau an der Weser zu bringen.

Und es vergingen noch Wochen, bis sich Hilger von seiner Verwundung erholt hatte. Er sprach nur wenig. Seine Frau, seine Mutter und seine Schwestern wachten Tag und Nacht an seinem Lager, und hin und wieder kam Hatho herbei, der junge Schmied aus dem Tal am südlichen Rande des heiligen Berges, um nach dem Freund zu sehen.

»Ich habe Kunde davon, was mit ihnen allen geschehen ist«, berichtete Hatho eines Tages.

»Auch an mich ist es bereits herangetragen worden«, erwiderte Hilger ruhig, aber mit eiskalter Stimme. »Die Seherin Wanda hatte es schon vor der Schlacht vorausgesagt. Wir haben ihr nicht geglaubt.«

Hatho nickte, dann murmelte er folgende Worte vor sich hin: »Siegreich werden sie sein und dennoch nicht siegen. Wiederkehren werden drei, aber dennoch nicht bleiben. Einer jedoch wird Rache üben.«

Mit leerem Blick starrte Hilger an die rußgeschwärzte Wand. »Es heißt, man habe die Gefangenen wie Vieh zusammengetrieben. Die Waffen hat man ihnen genommen. Und dann hat man ihnen die Köpfe abgeschlagen.«

»Was für ein Sieg«, fügte Hatho hinzu.

»Ja, was für ein Sieg. Verrat im Moment des Triumphes. Und das von den eigenen Leuten.«

Hilger zog sein verletztes Bein zu sich heran und ließ es mit schmerzverzerrtem Gesicht sinken. Dann drehte er sich zur Wand und sprach drei Tage lang kein Wort mehr.

Am vierten Tage erhob er sich plötzlich und humpelte davon.

Sein Weg führte ihn durch den Wald seiner Väter in Richtung Süden, er durchquerte das Tal, ignorierte die große Siedlung zu seiner Linken und hinkte den nächsten Berg hinauf – den, welchen man schon seit Urzeiten den heiligen Berg hieß. Das Haus des Schmieds ließ er hinter sich, ohne dort vorbeizuschauen, und schleppte sich weiter fort, in den Wald, der schon bald am Hang des Berges begann und Meinradscher Wald genannt wurde. Bald hatte er eine große Lichtung erreicht, und in dieser Lichtung lag der Meinradsche Hof.

Der alte Meinrad war seit wenigen Jahren tot, und sein Sohn Bero war nun Herr im Hause. Hilger blieb vor dem dichten, aus Weidenruten geflochtenen Zaun stehen, der das Gehöft umgab. Das Tor war geöffnet, doch den Grund des Bero wollte er nicht betreten. Stattdessen starrte er von außerhalb auf das Langhaus. Nach wenigen Augenblicken kam ein kleiner Junge zu ihm gelaufen, vier oder fünf Jahre mochte er zählen.

»Wohin willst du? Willst du zu meinem Vater?«

»Ja«, sagte Hilger nur.

»Da hast du Glück. Alle anderen sind fort. Nur Vater und ich nicht. Ich gehe ihn gleich holen.« Im Nu war der Kleine im Stall verschwunden und kam sogleich mit seinem Vater an der Hand wieder heraus.

Bero stutzte zunächst, als er Hilger sah. Doch dann ging er lachend auf ihn zu.

»Es freut mich, dass du genesen bist. Ich hoffe, du bist stark genug, ein Bier mit mir zu trinken. Es können auch zwei oder drei sein. Komm nur herbei.«

Hilger schwieg. Als Bero schließlich vor ihm stand, um ihm den Arm auf die Schulter zu legen und ihn zum Haus zu führen, bückte sich Hilger. Ganz langsam bückte er sich und griff nach einem Stock, einem mittelgroßen, schweren Ast, der dort auf dem Boden lag. Bero lachte noch immer freundlich und hub gerade an, etwas zu sagen, als Hilger zuschlug.

Er traf den um mehr als einen Kopf kleineren Bero an der Schläfe, und dieser ging sofort zu Boden. Verwundert schaute er Hilger an, als dieser erneut ausholte und auf den im Staub Liegenden einschlug. Der kleine Meinrad lief herbei, zog Hilger am Hosenbein, weinte und schrie, aber dieser störte sich nicht an dem Kind.

Wie ein Wahnsinniger prügelte er auf Bero ein, ohne Unterlass. Schon lange regte dieser sich nicht mehr, lag verkrümmt und mit gebrochenen Knochen in seinem eigenen Blut.

Endlich hielt Hilger inne, warf den Stock beiseite, drehte sich um und humpelte davon, das weinende Kind und den toten Bero zurücklassend.

Kapitel 1

Auf dem Hofe der Söhne des Hilger, im Jahre 825

Stocksteif und schweißgebadet saß Inga auf ihrem Lager.

War alles ein Traum? Oder war die Erscheinung wahrhaftig gewesen?

Die weiße Frau war durch die Stalltür gekommen, langsam, leise, fast schwebend. Und dann war sie vor ihr, der schlafenden Inga, stehengeblieben und hatte sie lange angeschaut, um schließlich in der Dunkelheit des Raumes zu verschwinden.

Inga atmete schwer, zitternd fuhren ihre Hände über die Schlafstelle an ihrer Seite. Sie war leer. Er war noch nicht zurück. Oder er lag bei der anderen.

Wer war diese weiße Gestalt?

Es musste eine Fylgje gewesen sein, ein Schutzgeist, ein Geist, der vor Bösem warnte. Ihre Großmutter hatte eine solche gesehen, in der Nacht, bevor der Großvater getötet worden war. Und jetzt war auch Inga eine begegnet. Irgendetwas war geschehen, das spürte Inga. Mit ihm war etwas geschehen.

Vorsichtig verließ sie ihr Lager. Mit nackten Füßen, bloß in ihren wollenen Umhang gehüllt, schlich sie hinüber zu der anderen. Inga konnte nur erahnen, wo das verhasste Weib lag, doch den Umrissen nach zu urteilen, die in der Dunkelheit des einzigen Raumes dieses riesigen Langhauses schwer auszumachen waren, lag sie allein. Allein mit ihrem dicken Bauch, in dem sie sein Kind trug.

Auch alle Übrigen schliefen tief und fest. Weit mehr als ein Dutzend Leute, Männer, Frauen, Kinder, alt oder jung, frei oder unfrei. Alle in diesem einen Raum, in diesem einen Haus, unter dem schützenden Dach der noch jungen Hilgerschen Sippe.

Aber er war nicht da, war nicht zurückgekehrt.

Inga ging, sich behutsam vortastend, in Richtung des Stalles, dorthin, wo die vierzehn Rinder und drei Pferde standen. Doch auch Bless war nicht da. Ihr Platz war leer, ihr Heu lag unangerührt dort, verströmte einen verführerischen Duft und ließ die beiden anderen Pferde nervös an den Hanfseilen zerren, die sie davon abhielten, an das begehrte Futter zu gelangen.

Inga entriegelte die Tür und ging hinaus. Die Nacht war sternenklar, der Mond schien voll vom Himmel, und es herrschte absolute Stille. Der Herbstwind hatte sich gelegt, und auch die Stimmen des nahen Waldes waren verstummt. Ohne den kalten und nassen Boden unter ihren Füßen zu bemerken, ging Inga auf den Wald zu. Sie verließ das umfriedete Grundstück und stapfte vorsichtig hinunter in den Hohlweg, den natürlichen, meist matschigen Pfad, der, von Schmelz- und Quellwasser gegraben, direkt ins Tal zum einst riesigen Gehöft des Freien Liudolf führte.

Dorthin wollte er an diesem Abend reiten, dort wollte er im Hause des Liudolf sitzen und mit diesem und weiteren Freien aus der Gegend Unmengen an Bier trinken.

Das musste sie nicht verwundern, denn es kam häufig vor. Und ebenso wenig ungewöhnlich war, dass er die ganze Nacht fortblieb.

Von einem dieser Trinkgelage hatte er vor wenigen Monaten dieses Weib mit nach Hause gebracht. Hatte sie seiner Familie als sein »Friedeiweib«, seine Nebenfrau, vorgestellt. Hatte sich nicht darum gekümmert, dass die Kirche diese Unsitte verbot. Denn, so hatte er gelacht, deren Kaiser Karl habe es mit den Weibern nicht anders getrieben.

Grundsätzlich kümmerte er sich nicht um das, was der neue Glaube den Menschen vorschrieb, er hielt sich lieber an die Traditionen seiner Vorväter. Und eine dieser Traditionen war es, sich allmonatlich im Hause des Liudolf bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen.

Doch heute war etwas anders als sonst, Inga spürte es. Er war alleine fortgeritten, ohne seine Brüder, die ihn sonst begleiteten. Und dann war ihr im Schlaf der warnende Geist der weißen Frau erschienen. Es musste etwas passiert sein.

Schwarz erhob sich der bewaldete Berg zu ihrer rechten Seite. Inga vermied es, ihren Blick in Richtung dieses dunklen Lochs zu wenden. Lieber schaute sie auf den Weg, der sich im Schein des Mondes vor ihren Füßen durch eine tiefe, aber breite Mulde dahingrub. Am meisten fürchtete sie die Wölfe. Es hatte in diesem Herbst bereits zwei Übergriffe gegeben. Sehr früh für die Jahreszeit, denn eigentlich kamen sie erst mit dem Schnee in die Dörfer und auf die Höfe, um das Vieh zu stehlen. Drei Hühner und ihren geliebten Hofhund hatten sie einbüßen müssen. Ihr wurde mulmig, wenn sie daran dachte, wie viele gelbe Augen wohl nun im Schutze des Waldes ihren Blick auf sie richteten und nur den günstigsten Moment abwarteten. Über all die anderen Unholde, die des Nachts ihr Unwesen im Walde trieben, wollte sie besser gar nicht nachdenken. Unwillkürlich griff sie nach dem Holzkreuz, das sie an einem Band um den Hals trug und in welches sie vorsichtshalber, natürlich auf der Rückseite, eine Schutzrune hineingeritzt hatte.

Da! An der Stelle, wo der Hohlweg sich unter der Obhut dreier Linden scharf in Richtung der Siedlung wand, stand etwas. Ein heller Schatten, ein Tier. Es bewegte sich nicht. Inga blieb stehen und versuchte ihren Blick zu schärfen. Es war ein weißes Pferd – ein weißes, reiterloses Pferd.

»Bless!«, rief sie mit gedämpfter Stimme, und es dauerte nicht lang, da trottete das Tier ängstlich wiehernd auf sie zu.

»Bless, wo ist er? Hast du ihn abgeworfen?« Inga war erleichtert. Wahrscheinlich lag er betrunken im Gebüsch. So kalt, dass er dabei erfrieren könnte, war es glücklicherweise in dieser Nacht noch nicht.

»Komm, mein Mädchen, bring mich zu ihm.« Inga streichelte die Nüstern des Pferdes und schwang sich dann etwas umständlich auf seinen Rücken. Ohne ihr Zutun machte das zottelige, kleine Tier sofort kehrt und trottete mit seiner Reiterin den dunklen, holprigen Weg entlang. Inga war nicht geübt auf dem Rücken von Pferden, sie hatte genug damit zu tun, sich festzuhalten, und sicherlich wäre sie jäh hinuntergestürzt, wenn Bless nicht selbstständig vor Erreichen der Blitzeiche, von der ein dicker Ast bedrohlich tief über den Weg ragte, zum Stehen gekommen wäre.

»Komm weiter, Bless, ich ziehe den Kopf ein. Das geht schon.«

Doch das Pferd wehrte sich, es riss an den Zügeln und warf den Kopf immer wieder so hart von oben nach unten, dass Inga nichts anderes übrigblieb, als abzusteigen.

Und dann erblickte sie ihn.

Er lag unmittelbar vor den Hufen des Pferdes im schwarzen Schatten eines Dornbusches. Schnell beugte sie sich zu ihm herab und versuchte in der Dunkelheit seinen Zustand zu erkunden.

Er hatte eine Platzwunde auf der Stirn und rührte sich nicht.

»Aufwachen, du Trunkenbold!«, rief Inga barsch. »Aufwachen!«

Keine Reaktion.

Sie fasste ihn bei den Schultern und versuchte ihn ein wenig aufzurichten. Es war unglaublich schwierig für eine zierliche Frau wie sie, diesen riesigen Mann zu bewegen. Doch als sie endlich seinen Oberkörper ein kleines Stück zu sich gezogen hatte, fiel es ihr auf: Sein Kopf war unnatürlich verdreht und schien nur noch von der Haut und den Sehnen am Körper gehalten zu werden. Das Genick war gebrochen.

Inga war starr vor Schreck. Sie ließ seinen toten Körper langsam zu Boden sinken, richtete sich auf und ging, stumm und mit kleinen Schritten, zurück zum Hof.

Als sie das Haus betrat, brannte bereits ein Feuer. Ada saß an der wärmenden Ofenstelle und stillte ihr jüngstes Kind. Sie war einige Jahre älter als Inga, jedoch die Frau des Zweitgeborenen, des jüngeren Bruders – nunmehr neuer Herr des Hilgerschen Hofes.

Inga ging wie betäubt auf sie zu. Regungslos schaute sie auf das Kind, den kleinen Jungen, der rosig und gesund an der Brust seiner Mutter lag.

Stumm nickte Inga, und Ada blickte sie lange an. Sie sagten beide nichts, aber in Adas Augen war die Angst zu erkennen, die die Schwägerin ihr mit ihrem merkwürdigen Verhalten einflößte.

Inga senkte den Blick, dann atmete sie tief ein und ging zu der Stelle, an der Adas Mann, Ansgar, noch immer friedlich schlief. Mit schnellen Bewegungen klopfte sie ihm mit ihren Fingerspitzen auf die Schulter. Als er sich rührte, sprang sie einen Schritt zurück.

»Lass mich in Frieden, Weib«, brummte er nur und drehte sich wieder um, ohne die Augen zu öffnen. Inga klopfte erneut.

»Verschwinde«, rief er nun wütend und richtete sich auf. Erst jetzt erkannte er, dass es nicht Ada, sondern die Frau seines Bruders war, die vor seiner Schlafstatt stand. Mit einem Blick, der offen ließ, was er von dieser ungewöhnlichen Situation erwartete, schaute er Inga an. Erst als er bemerkt hatte, dass auch Ada bereits erwacht war, fragte er grimmig: »Was willst du?«

»Rothger ist tot. Du musst ihn holen gehen.«

»Du hast ihn umgebracht. Du warst es. Du warst es, du Unholdin. Du Hexenbrut! Du warst es!«

In dem Moment, in dem Ansgar und der junge Gernot ihren toten Bruder auf den Hof gebracht hatten, hatten das schrille Gebrüll und die üblen Beschimpfungen des losen Weibes begonnen. Sie galten Inga. Diese saß nur stumm auf der langen Bank, hielt sich die Ohren zu und blickte ihre vor Trauer rasende Rivalin stumpf an.

Es war schließlich Ada, die sich erhob, ihren Säugling dem alten Ulrich in die Arme drückte und der kreischenden Schwangeren eine schallende Ohrfeige gab.

»Verschwinde aus diesem Haus«, sagte sie ruhig, aber laut. »Du hast hier nichts mehr verloren. Du nicht, und dein Bastard erst recht nicht.«

Der alte Ulrich nickte zustimmend. Die Schwestern Berta und Gisela, bis dahin stumm vor Schreck, kicherten leise. Gernot sah beschämt zu Boden, und Ansgar blickte seine Frau streng an. Inga nahm langsam ihre Hände von den Ohren, stand auf und ging hinaus.

Sie steuerte auf die Stelle zu, in der sich der Hohlweg zu einer breiten Quellmulde formte. Die Stelle, die den jungen Hilger ermutigt hatte, als Erbe eines nur kleinen Familienzweiges seinen Sippenverband im Tal zu verlassen und sich hier, am Hang eines finster bewaldeten Berges, auf steinigem und zugleich sumpfigem Grund einen eigenen Hof zu errichten. Einen mittlerweile enormen Hof, ertragreicher noch als das Stammgehöft, welches sich seit der Frankenherrschaft aufzulösen begann und mit Liudolf einen zwar starken, aber bei weitem nicht so eigenwilligen und freiheitsliebenden Herrn hatte, wie es einst Hilger gewesen war.

Der Herbstmorgen war sonnig und überraschend warm. Inga ging bis zu der Stelle, wo sich jetzt, zu dieser Jahreszeit, wieder reichlich Wasser in einer von Menschenhand erschaffenen Grube sammelte. Dort setzte sie sich auf einen Baumstamm, den Blick nicht nach hinten, zum Grund der Hilgerschen Sippe, gerichtet, sondern nach vorn, in den Herbstwald, der sein Laub zu verlieren begann.

Wäre sie ein Vogel, so dachte sie, könnte sie sich nun erheben und einfach geradeaus davonfliegen. Über den bewaldeten Berg, durch das Tal, über den sprudelnden Bach und hinauf auf den nächsten, größeren Berg, den Berg, auf dem sie ihre Kindheit verbracht hatte.

Sie würde direkt auf dem Dach ihres Elternhauses landen, würde ihre Mutter beobachten, wie sie mittlerweile alt und grau vor dem Haus in der Sonne saß und ein Huhn rupfte. Sie könnte ihren Bruder Wiedersehen, der das Heu wendete. Und ihren Vater, der mürrisch und griesgrämig in Richtung Norden schaute – dorthin, wo die verhassten Hilgerschen lebten. Die, die ihm den Vater ermordet hatten, als er noch ein Kind war, und ihm später seine älteste Tochter geraubt hatten.

Wie gerne wäre Inga nun zurück zu ihrer Familie gegangen. Doch sie konnte nicht. Niemals würden sie sie wieder aufnehmen, nicht nach alldem, was vorgefallen war. Vorgefallen in so vielen Jahren, ja Jahrzehnten des Hasses zwischen diesen beiden freien Bauernsippen.

Sie hatten sich gegenseitig die Felder verwüstet, einander das Vieh vergiftet, Flüche waren ausgesprochen, Schadenszauber ausgeführt worden. Ja, es hieß sogar, Ingas Großmutter habe den Stier behext, der den Mörder ihres Mannes letztendlich totgetreten hatte. Und dann war Inga gekommen und hatte erneut Schmach über ihre Familie gebracht.

Sie hatte die Familie entehrt, hatte sich einfach entführen lassen von diesem lauten und groben Rothger, Sohn des Totschlägers Hilger. Eine trächtige Sau hatte Rothger den Meinradschen an den Zaun gebunden. Das sollte der Preis für die verlorene Tochter sein. Eine Beleidigung, eine Beleidigung auch für Inga. Doch damals war sie blind und dumm gewesen.

Nie würde es für eine wie sie einen Weg zurück geben.

Sie hatte Rothger anfangs geliebt. Doch mit den Jahren war diese Liebe zunächst in Gleichmut und dann in Hass umgeschlagen.

Er wollte ihr nicht verzeihen, dass es ihr nicht gelang, ihm einen gesunden Erben zu schenken. Nicht einmal ein Mädchen hatte sie lebendig zur Welt bringen können. Vier Mal waren ihre Schwangerschaften vor der Zeit zum Ende gekommen, vier Mal hatte sie viel zu kleine, nicht lebensfähige Kinder geboren.

Das war Rothger zu viel. Ganz gleich, wie jung, schön und begehrenswert seine Frau auch war – sie war unfruchtbar und damit für ihn nahezu wertlos. Doch gehasst hatte Inga ihn erst ab dem Moment, als er die Zweite mit ins Haus brachte – die feile Dirne.

Immerhin – und da musste sie ihm bei all der Demütigung dankbar sein – hatte er sie nicht verstoßen. Und das lag nicht daran, das Rothger, Sohn des Hilger, etwa ein anständiger Mann war oder sich gar nach den Regeln des christlichen Glaubens richtete, wonach der Stand der Ehe unauflöslich war. Nein, vielmehr brauchte er Inga. Er brauchte sie, weil nur sie genau wusste, wie hoch der verfluchte Zehnte veranschlagt war, den sie mehrmals im Jahr an die Kirche abliefern mussten, weil sie es war, die den Überblick über all ihre Vorräte, ihr Saatgut hatte, die es verstand, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bestmöglich zu haushalten, ja teilweise sogar eigene Gewinne durch das Herstellen gefärbter Tuche einfuhr. Inga war eine viel zu kluge Frau, als dass Rothger auf sie als Verwalterin, als Inhaberin der Schlüsselgewalt in seinem Hause, hätte verzichten wollen.

Nun war er tot, und Inga saß, mit den Füßen im Schlamm, auf einem moosbedeckten Baumstamm und dachte darüber nach, wie wenig er ihr leidtat. Ja, fast hatte er es verdient, sich an diesem Eichenast den Schädel zerschmettert und den Hals gebrochen zu haben, an einem Ast, den er genau kannte, unter dem er schon so häufig heil hindurchgeritten war und den er bislang nur deshalb nicht abgesägt hatte, weil der Baum schon seit ewigen Zeiten als heilig galt.

Er tat ihr wahrlich nur ein wenig leid. Anders jedoch dachte sie über sich selbst: Was würde nun aus ihr werden? Aus Inga, verstoßene Tochter des Meinrad, kinderlose Witwe, Frau ohne Recht und ohne Bleibe. Sie würde fortan unter der Munt ihres Schwagers Ansgar stehen, und dieser würde entscheiden, ob sie bleiben dürfte oder gehen müsste. Gehen wohin?

Etwa mit einem der vielen friesischen Schiffer die Weser hinauf zu einem der großen Handelsplätze – dorthin, wo viele Kaufleute und Seefahrer ohne ihre Ehefrauen hinkamen, wo sie ihre Geschäfte abwickelten und sich nach einem harten Arbeitstag gerne in den Armen der zahllosen an diesen Orten lebenden Huren entspannten?

Oder sollte sie in der Gegend bleiben, zum Flecken Huxori ziehen und sich in der Nähe des neuen Klosters herumtreiben, in der Hoffnung, von den Mönchen Almosen zu empfangen?

Bis vor wenigen Stunden war sie die Herrin eines Hofes, einer riesigen, freien Bauernstelle gewesen. Nun war sie ein Nichts, abhängig von der Gunst derer, die noch gestern unter ihr standen.

Wenn sie doch nur vernünftig gewesen wäre. Wenn sie sich damals, auf dem Frühlingsfest, nicht von Rothger hätte beeindrucken lassen. Wenn sie sich nicht heimlich mit ihm getroffen und sich schließlich von ihm hätte entführen lassen. Warum nur hatte sie das getan? Welche bösen Geister hatten Besitz von ihr ergriffen, als sie solch eine Schande über ihre Familie brachte?

Jetzt stand sie da, nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt, allein und ohne Ausweg – und wahrscheinlich, so würde der Priester im fernen Huxori sprechen, bei dem sie erst zweimal in ihrem Leben zur Beichte war, wahrscheinlich war das die gerechte Strafe des neuen Gottes für all ihre schweren Verfehlungen und schamlosen Sünden.

»Es gilt den Toten vorzubereiten, Inga. Beklagen wir ihn lieber gemeinsam, als dass du hier allein im Wald sitzt.«

Es war Gernot, der jüngste Bruder Rothgers, der plötzlich hinter ihr stand. Er war bereits in Ingas Alter, aber trotzdem wirkte er unglaublich jung, fast noch wie ein Kind. Keiner der drei Brüder glich dem anderen. Im Gegensatz zu den älteren beiden war Gernot zwar ebenfalls groß gewachsen, aber sehr schmächtig, fast dürr. Ihm fehlte das herrisch Bedrohliche eines Rothger und eines Ansgar – vielmehr war er ein fröhlicher, gutmütiger, fast weicher junger Mann. Im Gegensatz zu Ansgar mochte Inga Gernot sehr gern.

Traurig lächelte sie ihm zu, stand auf und ging mit ihm schweigend zurück zum Haus. Drinnen war ein lautes Wehklagen zu hören. Alle Frauen der Familie samt der Mägde standen bei dem auf einer Bank liegenden Toten, weinten, schrien und verfielen immer wieder in altbekannte Totengesänge.

Es war schon lange verboten, diese heidnischen Rituale zur Beschwichtigung der verstorbenen Seele zu vollziehen. Aber nach wie vor gab es niemanden – keinen Bauern, keinen Hörigen und auch kaum einen Edlen in der nahen Umgebung –, für den nach seinem Ableben keine Totentänze, Totengesänge, Totenklagen und Totenmahle abgehalten wurden.

Niemand mehr war ungetauft in diesen Tagen, jeder war Christ. Doch die nächste Kirche lag fast einen Tagesmarsch entfernt, und sie an einem jeden Sonntag zu besuchen, war den Menschen fast unmöglich. Auch Geistliche verirrten sich nur selten in diese Gegend, und so gab es neben dem Wenigen, was man vom neuen Glauben wusste, vor allem das Viele, was vom alten Glauben geblieben war.

So war es auch Ingas Aufgabe, ihrem verstorbenen Mann eine Münze unter die Zunge zu legen, den Lohn für den Fährmann, der ihn über den Fluss Styx in die Unterwelt bringen sollte. Und dort sollte er auch bleiben. Selbst diejenigen, die ihn geliebt hatten, wünschten sich das. Denn nichts war grauenhafter, als wenn die Seelen der Toten weiterhin im Diesseits wandelten und die Lebenden in Angst versetzten.

Natürlich wurde auch des neuen Gottes und seines Sohnes Jesus Christus gedacht. Man betete – so gut man konnte – für den Toten, hoffte auf sein Seelenheil und legte ihm ein Holzkreuz auf die Brust.

Danach begannen die Frauen mit der Totenwache, während sich Ansgar und Gernot auf den Weg machten – der eine, um den Grafen Bernhard aufzusuchen, diesem vom Tode des Bruders zu berichten und sich selbst vom Heerdienst freistellen zu lassen, der andere, um die Mitglieder der Großsippe sowie alle freien Nachbarn im Umkreis zum Totenmahl für den verstorbenen Rothger zu bitten.

Alle, bis auf die Familie des Meinrad.

»Ja, er war sehr trunken, als er von meinem Hof aufbrach. Die Nacht war schon zur Hälfte vorüber, und wir hatten bereits seit dem frühen Abend zusammengesessen und gezecht.«

Es war Liudolf, der da sprach, Oberhaupt der Stammsippe der Hilgerschen und Gastgeber des Gelages, von dem Rothger nicht lebendig heimgekehrt war.

Das Totenmahl war schon seit einiger Zeit beendet, aber die Männer saßen noch immer um den großen Tisch im Hause der Hilgerschen zusammen, leerten wiederholt ihre Trinkgefäße und sprachen über all die wichtigen Begebenheiten, die sich in der letzten Zeit zugetragen hatten.

Ihre Frauen und Kinder waren bereits in die Siedlung und in ihre umliegenden Höfe zurückgekehrt, und die Frauen der Hilgerschen Sippe hatten bereits Ordnung gemacht und sich dann in die andere Hälfte des großen Raumes zurückgezogen. Einige verrichteten noch Handarbeiten, andere, wie die Schwestern Berta und Gisela, hatten sich bereits schlafen gelegt. Inga saß da und entwirrte eine alte Spindel, um sie wieder brauchbar zu machen. Aufmerksam lauschte sie dabei den lallenden Worten der Gäste und Ansgars, des neuen Hausherrn.

»Er lag unmittelbar unter der Blitzeiche. Muss wohl im vollen Galopp mit dem Kopf gegen den Ast gestoßen sein. Anders kann ich es mir nicht erklären.« Ansgar sprach noch immer ruhig, er wirkte fast nüchtern.

»Ein böser Unfall. Man sollte den Baum endlich fällen«, riet einer der Gäste, und dann fragte er: »Was wirst du jetzt tun, Ansgar? Hast du darüber nachgedacht, Vasall des neuen Klosters zu werden? Sei nicht so starrköpfig wie dein Bruder. Auch ich werde es machen. Es ist zu unserem Nutzen, lasst es euch gesagt sein. Was bringt es uns, auf unsere Freiheit zu pochen, wenn sie sie uns früher oder später ohnehin nehmen? Lieber gehe ich aus freien Stücken und unter guten Bedingungen, als dass ich eines Tages mit leeren Händen und als Höriger dastehe.«

»Als Vasall bist du nicht besser als ein Höriger«, antwortete Ansgar.

»Das ist nicht wahr. Selbst der Graf und alle Edelinge im alten Augau sind Vasallen des Königs. Die sind doch nicht hörig.«

»Du aber bist kein Edler, du bist ein Friling. Und ein Friling zählt bei den Franken nicht mehr als ein Unfreier. Die kennen keine Freien, da gibt es nur Edle und Hörige. Lieber lass ich mich von denen erschlagen, als dass ich ihre Lockspeisen annehme und ihnen mir nichts, dir nichts das Land meiner Väter zur Verfügung stelle, um mich selbst zum Knecht herabzuwürdigen.«

»Das mag alles wahr sein, Ansgar«, warf Liudolf ein. »Aber mit dem neuen Kloster sind auch neue Herren in die Gegend gekommen. In den zwei Jahren, in denen es nun da unten an der Weser erbaut wird, hat es schon so viele Schenkungen an die Mönche gegeben, dass sie bereits über mehr Land verfügen als die edle Sippe der Billinge. Ganz zu schweigen von dem Königsgut, das sie vom Kaiser als Lehen erhalten haben. Ja, geschenkt hat er es ihnen gar, heißt es. Und dass sie sogar den Grafen gezwungen haben, Ländereien an sie zu verkaufen, ist euch allen bekannt. Wenn die einen Grafen zwingen können, dann werden sie vor einem Freien keinen Halt machen. Es gibt kaum einen Freien, der nicht überlegt, ihnen seine Dienste anzubieten. Sie umzingeln uns, quetschen uns ein wie die Midgardschlange die Welt, und irgendwann bekommen wir keine Luft mehr. Lass dir das gesagt sein, Ansgar.«

»Der freie Meinrad ist da nicht besser, will auch nicht nachgeben«, meinte Wulf, ein dicker, rotgesichtiger Vetter Liudolfs, und warf Inga dabei einen geringschätzigen und gleichzeitig lüsternen Blick zu. »Wo wir schon über den sprechen, Ansgar«, fuhr er fort, »was machst du denn jetzt mit dieser da, Meinrads Tochter? Willst du sie weiterhin durchfüttern?«

Inga schoss das Blut ins Gesicht. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und konzentrierte sich weiterhin darauf, die verknoteten Fäden von der Spindel zu lösen. Dabei lauschte sie angestrengt.

»Ich denke nicht, dass sie auf dem Hof ihres Vaters willkommen geheißen wird. Sie ist die Frau meines Bruders, also darf sie in unserer Familie bleiben.«

Mit diesen Worten Ansgars hätte Inga ganz und gar nicht gerechnet. Dennoch war ihr äußerst unwohl zumute.

»Na, die würde ich auch behalten«, lachte der Dicke laut und erhob sein Trinkhorn in Richtung Inga. Und auch die anderen Männer, außer Ansgar und Gernot, fingen an zu lachen.

»Wenn du nicht genug Arbeit für sie findest – ich kann immer eine willige Magd gebrauchen«, rief einer.

»Die muss dir aber schöne Dienste leisten, Ansgar, wenn du die Tochter eures Todfeindes einfach bei dir behältst. Was kann sie denn besonders gut? Erzähl schon, wir sind ganz Ohr«, wollte ein anderer wissen.

»Wenn sie will, bleibe ich heute Nacht. Ich bin gut darin, Witwen zu trösten. Und die da wollte ich schon immer mal trösten«, lallte der rotgesichtige Wulf wieder.

»Haltet eure Schandmäuler, allesamt, wenn ihr weiter mit mir trinken wollt«, sagte Ansgar ruhig, aber entschieden. Alle verstummten, indem sie ein »Schon gut« oder »Hab dich nicht so« vor sich hinmurmelten.

»Aber eine Frage hätte ich da schon noch«, warf noch einmal der Dicke ein. »Was geschieht mit Uta, dem Friedel Rothgers? Darf auch sie bleiben?«

»Sie muss gehen, sobald das Kind da ist. So habe ich entschieden. Und jetzt wird kein weiteres Wort mehr darüber verloren.« Ansgar verging die Lust am Beisammensein mit den anderen Männern. Mit dem ihm eigenen düsteren Blick sah er zu Inga herüber.

Wäre er nicht so griesgrämig, so hätte man ihn einen schönen Mann nennen können. Das hatte Inga schon früher gedacht. Besonders seine hellen Augen mit den geraden rotblonden Brauen, die er jedoch meist finster zusammenzog, seine ebenmäßige Nase und der schöne volle Mund ließen ihn weitaus ansehnlicher erscheinen als seinen bärenhaften Bruder Rothger. Doch anders als diesen, hatte Inga Ansgar noch niemals lachen sehen. Er war meist ruhig und beherrscht, doch wenn man ihn zu sehr reizte, dann wurde er rasend. Das wusste Inga, das wusste das ganze Haus, und das wussten auch die Gäste, die nun rasch nach einem neuen Gesprächsthema suchten.

»Ihr habt sicherlich schon alle von den beiden Mönchen gehört, die seit einigen Tagen auf dem heiligen Berg leben«, warf schließlich einer der Männer in den Raum.

»Natürlich haben wir das gehört«, antwortete Liudolf. »Und das bestätigt doch nur, was ich eben schon sagte. Sie kreisen uns ein. Wir sind nicht mehr so stark wie zu Zeiten Widukinds. Gegen die haben wir keine Macht. Es gilt den Schild sinken zu lassen und sich zu ergeben. So schmerzhaft das sein mag.«

»Was wollen die da?«, fragte Ansgar fast gelangweilt.

»Eine Kirche wollen sie bauen, auf dem heiligen Platz zwischen den alten Linden. Dort, wo unsere Väter ihr Thing abhielten und wir seit der Christenzeit unsere Toten begraben müssen.«

»Dort stand bereits eine Kirche«, warf der uralte Ulrich, einziger noch lebender Bruder des Hilger, ein. »Der Frankenkönig Karl, dieser Unhold, hat sie errichtet und von seinem Römer, dem Papst, weihen lassen. Mehr als dreißig Sommer und Winter sind seither vergangen, aber das Gotteshaus hat es nur wenige Wochen gegeben.«

»Vom Blitz wurde es getroffen und ist verbrannt. Nicht einmal die Erinnerung ist geblieben«, setzte Liudolf die Worte des Alten fort.

»Die Rache der Götter«, murmelte dieser.

»Die Rache der Götter«, wiederholten viele Stimmen am Tisch.

»Doch jetzt versuchen sie es wieder«, sprach Liudolf weiter. »Sind nicht zufrieden damit, dass uns ihr Christengott nicht behagen will.«

»Den gibt es gar nicht«, schimpfte der alte Ulrich. »Sollen sie es erst einmal beweisen. Wodan und Thor, sie schicken uns ständig Zeichen ihrer schrecklichen Macht. Aber dieser, der Mildtätige? Wo ist er, wenn man seine Güte und Gnade braucht? Weibergewäsch ist es, mehr nicht. Wer will einen solchen Gott? Einen, der Gutes verspricht und es nicht bringt, einen ohne Waffen, ohne Kraft.«

»Sie glauben selbst nicht daran, benutzen die Märchen über ihren Gott und seinen Sohn, um uns einzulullen wie die kleinen Kinder. Versprechen uns ein Leben nach dem Tod, wenn wir ihnen in diesem Leben all unser Land vermachen«, fügte Ansgar nüchtern hinzu.

»So ist es«, bestätigte Anselm, ein ruhiger Mann, der bislang fast gar nicht gesprochen hatte. »Als der Gebhard – ihr wisst schon, der aus dem Wiesengrund – als der letzten Sommer im Sterben lag, da kam doch tatsächlich einer der Mönche aus dem fernen Weserkloster über die Berge bis zu Gebhards Sterbebett. Und dann hat er ihm von der Hölle und den Qualen berichtet, die ihn dort erwarten, es sei denn, er vollbringe vor seinem Tod noch eine christliche Tat. Und diese christliche Tat bestand darin, sein gesamtes Land dem Kloster zu vermachen. Und seine Kinder wurden somit zu Hörigen.«

»Das stimmt nicht, Anselm«, ging ein anderer Gast dazwischen. »Gebhard hat es aus freien Stücken gemacht. Sein Sohn war noch zu jung, um einen eigenen Hof zu übernehmen. Ihnen ergeht es als Vasallen nun besser als zu Lebzeiten des Vaters.«

»Wie auch immer«, ergriff wieder Liudolf das Wort, »die Mönche sind da und wollen aus uns bessere Menschen machen. Warten wir ab, wie ihnen das gelingen wird. Fest steht, dass hinter ihnen eine Macht steht, die stärker ist als wir. Das gilt es ein für allemal hinzunehmen. Aus anderen Gauen vernahm ich, wie die Franken die letzten Freien zu drangsalieren verstehen. Immer wieder werden die Männer zum Kriegsdienst gerufen. Selbst gegen die kleinsten Räuberbanden müssen sie in die entferntesten Gegenden ziehen. Ihre Länder veröden, während diejenigen, die sich unter die Herrschaft eines Klosters oder eines Edlen begeben haben, nicht in den Kampf zu ziehen brauchen.«

»Solchen werden ihre Waffen genommen. Sie sind ehrlos«, murmelte Ansgar, vor sich hinstarrend.

»Bin ich etwa ehrlos? Trage ich etwa keine Waffen? Auch ich bin zu einem Teil Vasall des Klosters.« Liudolfs Stimme wurde lauter und klang gereizt.

»Noch, Liudolf, noch lassen sie dich deine Waffen tragen«, lächelte Ansgar bitter.

»Besser ist es, wir verabschieden uns für heute«, sagte Liudolf schließlich, stand schwankend auf und klopfte Ansgar auf die Schulter. »Morgen sind wir dabei, wenn ihr Rothger zu seiner Grabstatt bringt.«

»Nun ist er also unter der Erde.«

»Bereits im Morgengrauen sind sie losgezogen.«

»Und sie alle glauben an einen Unglücksfall?«

»So ist es.«

»Sollen sie. Irgendwann werden sie es schon noch mit der Angst zu tun bekommen. Du weißt, was als Nächstes zu tun ist.«

»Ich weiß, und ich weiß auch bereits, wie es geschehen wird.«

»Ich verlasse mich ganz auf dich. Bei dieser Aufgabe bedarfst du meiner Hilfe nicht.«

»Dennoch wird es nicht einfach sein.«

»Du wirst es schon schaffen. Es wäre zu gefährlich für uns, es nicht zu tun.«

»Ich weiß.«

»Es wird langsam kalt. Du solltest mir bald einen neuen Mantel bringen.«

»Ich bringe dir einen aus Schafsfell, der hält dich warm.«

»Pah. Aus Schafsfell? Soll ich herumlaufen wie ein Bettler?«

»Es sieht dich ohnehin niemand. Ich muss jetzt gehen. Werde wiederkehren, wenn der nächste Schritt vollbracht ist.«

»Lass dir nur Zeit. Trödle herum und warte, bis ich erfroren bin in dieser Wildnis.«

»Schimpf nicht. Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst. Ich stehe zu meinem Wort.«

Den Abend nach der Beisetzung Rothgers verbrachte Inga in der Spinnstube. Diese befand sich in einem der Grubenhäuser, kleine, zu einem Drittel in den Boden eingegrabene und mit einem Strohdach versehene Hütten, in denen es in den kalten Jahreszeiten erstaunlich warm und gemütlich war. Inga saß gerne dort am Spinnrad, am liebsten allein oder zusammen mit den Mägden; nicht so gern mit Berta und Gisela, den neugierigen Jungfern.

An diesem Abend jedoch waren es eben diese beiden jüngsten Schwestern ihres verstorbenen Mannes, die an den zwei anderen Rädern spönnen, Inga immer wieder verstohlen ansahen und ständig miteinander flüsterten.

Inga hatte sie noch nie ausstehen können. Die Zwillinge hatten bereits ihr zwanzigstes Lebensjahr überschritten, aber noch immer keinen Mann gefunden. Das heißt, keinen, der ihnen gut genug gewesen wäre. Dabei, so dachte Inga, hatten sie ihr eigenes Spiegelbild doch stets vor Augen und müssten nur zu gut wissen, dass es um ihre Schönheit nicht gerade zum Günstigsten bestellt war. Doch selbst zu dieser Erkenntnis waren sie offensichtlich zu dumm. Und ihre Dummheit sowie ihr boshaftes Wesen zeigten sich an diesem Abend nur allzu deutlich, indem sie nämlich keine Hemmungen hatten, ihr bisheriges Verhalten Inga gegenüber grundlegend zu ändern. Noch gestern katzenfreundlich und nahezu unangenehm anschmiegsam, begegneten sie nun der verwitweten Schwägerin mit Verachtung, tuschelten halblaut und merklich über sie, gaben einsilbige Antworten auf höfliche Fragen Ingas und sahen sie immer wieder abschätzig von oben bis unten an.

Es war schon unangenehm gewesen, mit ihnen zusammenzusitzen, als sie sich noch darin überschlagen hatten, Inga Komplimente zu machen und ihre falsche Zuneigung zum Ausdruck zu bringen, indem sie schlecht über Ada und das Friedel Uta sprachen. Nun aber war es nicht nur unangenehm, sondern unerträglich, auf so engem Raum mit zwei solch missgünstigen Weibern zu sitzen.

Inga war froh, als die Tür aufging und Ansgar hereinkam. Im Vergleich zu seinen Schwestern war er das geringere Übel und sein Anblick regelrecht eine Erleichterung.

»Inga, komm ins Haus. Es wird Zeit, dass du Ada die Schlüssel überreichst«, sprach er düster, ohne ihr dabei in die Augen zu blicken.

Diese Worte waren zu erwarten gewesen, dennoch waren sie für Inga wie ein herber Schlag. Das hämische Gackern der Zwillinge im Ohr, folgte sie ihrem Schwager über den Hof ins Haupthaus.

Kapitel 2

Zwei Wochen waren nun seit dem Tod Rothgers vergangen, und für die kinderlose Witwe Inga hatte ein neues Leben begonnen. Sie wurde weiterhin auf dem Hof geduldet, ihre Aufgaben waren fest umrissen, und auch wenn die Arbeit im Grunde die gleiche blieb, so war es vornehmlich ihr Status, ihr Ansehen, welches sie mit einem Male eingebüßt hatte. Sie war nicht mehr Herrin des Hauses, ihr oblag nicht mehr die Ordnung der Hofführung, sie war nicht mehr weisungsbefugt, sondern musste nun Anweisungen annehmen. Unter anderem die, sich allein um die Schafe, die Ziegen und den alten Ulrich zu kümmern.

Ulrich war der ältere Bruder des alten, längst verstorbenen Hilger und somit der eigentliche Erbe des kleinen Anwesens im Tal gewesen, welches die Familie über mehr als hundert Jahre bewirtschaftet hatte. Aber Ulrich war von Geburt an verkrüppelt, und somit war das Erbe auf den verwegenen Hilger übergegangen, der dieses alsbald gegen das unwirtliche, sumpfige Waldgebiet eintauschte, auf dem sich nun der Hilgerhof mitsamt seinen urbar gemachten Feldern und Wiesen erstreckte.

Ulrich hatte das Unglück erfahren, dass an ihm bei der Geburt so unglücklich gerissen und gezerrt worden war, dass er zeit seines Lebens lahmte und unter einem krummen Rücken litt. Diese Behinderung war schon früh erkennbar gewesen, sodass sich sein Vater, Rothger der Alte, geweigert hatte, dem Erstgeborenen den ihm gebührenden Großvaternamen zu geben. So wurde er Ulrich genannt, und man hoffte inständig auf die Gnade der Götter, dass der Familie zu einem zweiten, gesunden Sohn verholfen wurde. Dieser Wunsch ging schließlich mit der Geburt von Hilger wenige Jahre später in Erfüllung.

Doch während dieser bereits unter der Erde ruhte, erfreute sich der ältere Bruder Ulrich nach wie vor des Lebens. Zwar brachte er die meiste Zeit im Hause zu und war deshalb auch als »Ulrich der Aschensitzer« bekannt, doch noch nie hatte er ernsthafte Zipperlein oder Gebrechen gehabt, geschweige denn eine schwerwiegende Krankheit. Dennoch musste er versorgt werden, selber konnte er sich nicht aufrichten und sich nur mühselig fortbewegen. Um sein Geschäft zu verrichten, sich zu waschen oder sein Schlaflager aufzusuchen, benötigte er Hilfe, und diese Hilfe sollte ihm fortan nicht mehr Ada, sondern Inga leisten.

Inga mochte den Alten. Auch als Herrin des Frilingshofes hatte sie hart arbeiten und unangenehme Aufgaben erledigen müssen. Einem Greis bei seinen alltäglichen Verrichtungen zur Seite zu stehen, war ihr kein Graus. Aber die Demütigung, die sie empfunden hatte, Ada im Beisein Ansgars die Schlüssel auszuhändigen, diese Demütigung lastete schwer auf ihrer Seele – schwerer noch als die Schmach, welche sie seit dem Tage hatte ertragen müssen, als Rothger die andere Frau nach Hause gebracht hatte.

Mit den Schlüsseln hatte sie nun alles gegeben, ihr ganzes Dasein, ihre Freiheit, ihr Leben. Nie wieder würde sie sein können, was sie einst war. Sie war die Schlüsselträgerin gewesen. Sie hatte über den Schatz der Familie geherrscht, hatte ihn bewahrt und mit dieser Funktion den Fortbestand des Stolzes und des Selbstbewusstseins einer noch jungen, aber erfolgreichen sächsischen Frilingssippe gesichert.

Das waren die Schlüssel zu dem Speicher und den beiden Truhen, in denen alle Dinge von Wert verstaut waren: Darin lagen goldene und silberne Gürtelschnallen und Fibeln; darin lag ein Säckchen mit Silberdenaren, das gesamte Münzgeld der Familie; darin lag auch das abgebrochene Schwert des alten Hilger, mit dem er am Süntelgebirge so tapfer, aber dennoch vergeblich gegen die Franken gekämpft hatte. Darin lagen die Runenstäbe, die sie schon längst hätten verbrennen sollen, die aber dennoch immer wieder nützlich waren, um mit ihnen das Schicksal zu befragen. Darin lagen die vielen, vielen Holzfiguren, Abbilder ihrer Ahnen, die für Fruchtbarkeit, Gesundheit, Glück und Wohlstand sorgen sollten – und darin lag auch die Holztafel, welche Inga selbst angefertigt und auf der sie mit Hilfe von Runen und Strichen die genaue Anzahl der Abgaben geritzt hatte, welche die Familie als Zehnten der Kirche zu entrichten hatte.

Es war die einzige Steuer für die Freien, aber dennoch schmerzte es sie sehr. Und obwohl sie sie nun seit mehr als dreißig Jahren zahlten, war es gegen die Ehre eines jeden der Hilgerschen Hausherren gewesen, sich um diese verfluchte Abgabe im Einzelnen zu kümmern. Immer stand es der Frau zu, die vielen Zahlen und Waren im Kopf zu behalten, die es jedes Jahr zu bestimmten, vom Grafen und jüngst vom Kloster festgesetzten Terminen zur Zehntscheune in den nahen Ort zu bringen galt. Und oft hatte es Ärger gegeben, denn die Meier, die Eintreiber der Steuer, wussten genau, wie viel ein jeder Freie und Höriger abzuliefern hatte, sie hatten Listen, auf denen alles akribisch verzeichnet war. Die Bauern selbst mussten sich auf ihr Gedächtnis verlassen, und weil stets neue Prüfungen anstanden, Abgesandte des Bistums oder der Klöster an die Tür klopften und Fragen zu den neuen Erträgen stellten, die Vorräte, das Vieh und die Felder in Augenschein nahmen, um den Zehnten neu festzusetzen – weil dies so war, war es kaum jemandem möglich, gerade bei einer Größe des Hilgerschen Hofes, alle Abgaben genau im Gedächtnis zu behalten. Denn schreiben konnte niemand von ihnen.

Und in drei Tagen war es wieder so weit: Der gesamte Getreidezehnte, Federvieh und Eier mussten verladen und fortgefahren werden. Inga wusste das, und auch Ansgar war darüber von seinen Nachbarn in Kenntnis gesetzt worden. Doch so sehr er sich auch bemühte, ihm wollte nicht mehr in den Kopf, wie viel des Hafers, wie viel der Gerste, wie viele Gänse sie abzugeben hatten.

Mussten auch Federn abgeliefert werden oder Fett?

Was war mit Brennholz?

Zu stolz war er, Liudolf um Rat zu fragen, zu stolz aber auch, Inga zu bitten.

Krieger war er bislang gewesen, Ansgar, zweiter Sohn des Hilger. Die meiste Zeit hatte er auf Feldzügen verbracht, dem Grafen war er ins Heer gefolgt, und mit diesem auch manches Mal dem Kaiser. Als Freier war dies seine Pflicht, er war Waffenträger und die Gefolgschaft eine Frage der Ehre. Und da Hilger drei gesunde Söhne großgezogen hatte und zudem über genügend Land verfügte, um sie alle ein Leben lang zu versorgen, waren Rothger und Ansgar mit dem Grafen übereingekommen, dass nur einer aus der Sippe Kriegsdienste ableisten musste – nur einer, aber dafür jedes Mal, wenn der Graf Fehden im Umland bekämpfen, einfallende Räuberbanden vertreiben oder dem Kaiser Krieger stellen musste. Der Graf, ein durchaus ehrenhafter, aber wenig ehrgeiziger Mann, dem der Weg des geringsten Widerstandes lieber war als der Kampf, war auf dieses Angebot eingegangen. Ein edles Fohlen aus dem Stall des Hilger hatte es gekostet, mehr nicht. Und damit hatte man ohne Worte auch Gernot, den jüngsten Bruder, ausgelöst.

Ansgar hatte der Heeresdienst behagt. Er hatte nie nach dem Warum, Wohin und Für-wen gefragt. Die Freiheit, da machte er sich keinerlei Illusionen, hatte sein Volk schon längst eingebüßt, hehre Ziele gab es nicht mehr zu verfolgen. Er kämpfte nun für den Frankenkaiser, und diesen liebte er nicht, aber solange er dem Grafen, dem Edlen aus dem Augau, folgte, blieb seine Ehre unangetastet. Aus diesem Grunde dachte er nur wenig darüber nach, ob es dieser Graf wert war, ihn als Heerführer anzuerkennen. Stark war er nicht, viel zu nachgiebig, hatte sich von den Franken zum Grafen machen und sich nach wenigen Jahren diese Macht wieder nehmen lassen – dann nämlich, als es dem Kaiser beliebte, anstelle der Grafschaftsverwaltung die Mönche zu setzen. Doch das hatte den Grafen nicht bekümmert. Land hatte er dem Kloster sogar zur Verfügung gestellt, seine Ruhe wollte er haben, und er schien sogar erleichtert, großer Teile seiner Verantwortung verlustig gegangen zu sein.

Hätte er alle Edlen und Freien der Gegend aufgerufen, den fremden Eindringlingen Widerstand zu leisten, die Mönche zu lynchen, ihre Klostermauern zu schleifen – Ansgar wäre erwacht und mit Freude in den Kampf gezogen. Doch solche Kämpfe wie zu Zeiten des Hilger gab es nicht mehr, nicht, seitdem Widukind zu Kreuze gekrochen war und sich von den Franken in ein Kloster hatte sperren lassen. Nun war die Freiheit, die es zu verteidigen galt, nicht mehr die Freiheit eines Stammes, sondern die Freiheit einer Familie, seiner Familie. Und aus diesem Grund musste nun auch Ansgar für immer zurück auf den Hof, zurück zu seiner Frau, seinen Kindern, seiner Sippe. Nun konnte er nicht mehr in den Kampf fliehen, mit den anderen Kriegern durch die Lande streifen, sich an den Waffen üben. Seine Waffen waren nun Pflug und Sichel, er war jetzt Herr im Hause, Oberhaupt des Hofes seines Vaters, Nachfolger des geliebten und gleichzeitig verhassten Bruders. Doch von der Landarbeit verstand er nur wenig.

Und aus Ingas Holztafel, von der er wusste und die er sich lange angeschaut hatte, wurde er nicht schlau, und auch die stille Ada konnte sich keinen Reim darauf machen.

»Ich werde Inga fragen«, schlug sie vor.

»Das wirst du nicht«, fuhr er sie barsch an. »Wir kommen ohne sie zurecht. Wenn ich nur wüsste, was das für verfluchte Zeichen sind.«

»J ist die Rune für gute Ernte, dahinter hat sie zwei Striche gemacht«, versuchte Ada ihren immer aufbrausender werdenden Mann zu beruhigen.

»Dumm bin ich nicht. Aber was heißt schon ›gute Ernte‹? Hafer, Roggen, Gerste? Und die Striche? Zwei sind es, natürlich. Gut, dass du es mir sagst, Weib, glaubst wohl, einen Hohlkopf vor dir zu haben. Aber zwei was? Zwei Säcke, zwei Fuder, zwei Hände voll?«

»Du weißt selbst, dass wir in Säcken abliefern.« Noch immer blieb Ada gelassen.

»Getreide in Säcken, das mag sein. Aber Honig oder Butter? In Töpfen, wirst du sagen. Ja, aber nenn mir bitte eines dieser blödsinnigen Zeichen, das für Honig oder Butter stehen könnte.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, schmetterte er die Tafel gegen die Hauswand.

Inga war im Ziegenstall, um zu melken. Belustigt verfolgte sie den Streit zwischen Schwager und Schwägerin, die nicht weit von ihr vor dem Haupthaus standen.

Obwohl sie noch nicht mit ihrer Arbeit fertig war, stand sie auf, nahm einen Eimer voller Milch und trug ihn, die beiden Streitenden nicht beachtend, ungerührt an diesen vorüber, in Richtung des Langhauses.

»Halt«, rief Ansgar.

Inga blieb stehen.

Ada sagte nichts. Nie sprach sie viel, aber auch niemals zeigte sie Scheu oder Schüchternheit. Mit festem Blick, ohne Worte, stand sie dabei, als Ansgar Inga befahl, ihm ihr Hexenrätsel zu entziffern.

»Es ist nicht schwierig«, sagte Inga mit fester Stimme, aber ohne in das wütende Gesicht des Mannes zu blicken.

Dann stellte sie den Eimer ab und hob die in drei Teile zerbrochene Tafel auf, sie hockte sich auf den Boden und legte die Stücke wieder zusammen. Ansgar stand über ihr.

»Von dort wirst du nicht viel erkennen können, Ansgar, und in einem Stück aufheben kann ich die Tafel nicht.«

»Ich will nichts erkennen, sondern wissen, was draufsteht. In den Staub hocken soll ich mich, das hättest du wohl gern.«

Inga hasste ihn.

Er war nicht besser als Rothger, nein, er war sogar schlimmer. Denn Rothger war bei all seiner lauten, ungehobelten und auffahrenden Art wenigstens noch lustig gewesen, immer zu einem Spaß bereit und damit einigermaßen erträglich.

»Nun denn«, antwortete sie, und dann trug sie vor: »Ein Sack Hafer, ein Sack Roggen, ein Sack Wolle, ein Sack Flachs, zwei Töpfe Honig, drei Stangen Wachs, ein Viertelfuder Brennholz, ein Viertelfuder Heu, ein Topf Butter, drei Töpfe Fett, drei Gänse, lebendig, ein Schwein, lebendig, Rauchfleisch von einer halben Kuh oder einem ganzen Schwein, zwei junge Schafe oder ein junges Schaf und eine junge Ziege, ein Bottich mit Bier und zwei Lagen gewobenes Tuch, ungefärbt.«

»Bier?«, fragte er nur.

»Ja, seit dem letzten Jahr auch Bier. Es hat sich herumgesprochen, dass Ada ausgezeichnet Bier zu machen versteht.«

»Ich hoffe, du hast ordentlich hineingespuckt, Frau«, sagte er zu Ada, ohne sie dabei anzuschauen, lediglich den Kopf drehte er leicht nach hinten.

»Alles zu diesem Zeitpunkt?«, fragte er dann kleinlaut.

»Nein«, antwortete Inga vorsichtig schmunzelnd. »Getreide, Gänse und Brennholz werden jetzt verlangt, hinzu kommen Eier, eine Verordnung des neuen Klosters.«

»Eier? Wie viele?«

»Nicht weniger als zwanzig. Diese Abgabe ist neu und deshalb auf meiner Tafel nicht verzeichnet. Die Eier sind für die Mönche gedacht. Stattdessen müssen wir weniger Honig geben. Sie erhalten ihn in besserer Qualität aus dem Frankenland.«

Ansgar brummte.

»Feiste Wohlleber sind das. Ruinieren wollen die uns. Niemals ist das alles nur ein Zehntel von dem, was wir einbringen. Niemals.«

»Du findest fast alles im Speicherhaus. Ich habe dafür gesorgt, dass es dort verstaut ist, den Schlüssel hat Ada ja bereits. Nur die Tiere müssen noch ausgesucht werden.«

»Die dünnsten und gebrechlichsten kriegen die feisten Mönche.« Und böse Beschimpfungen vor sich hinmurmelnd, machte er sich zusammen mit Ada auf zu demjenigen der fünf Grubenhäuser des Hofes, in dem der Speicher untergebracht war.

Inga nahm die drei Holzstücke und steckte sie sich in den Gürtel, dann fasste sie den Milcheimer wieder am Henkel und ging zurück in den Ziegenstall, um weiterzumelken.

Früh brach an diesem Abend die Dunkelheit herein, denn ein ungeheurer Herbststurm kam auf und brachte als Vorboten einen prasselnden Regen, der binnen kurzer Zeit den gesamten Hilgerschen Hof in eine Sumpflandschaft verwandelte. Inga war im Haus und bereitete zusammen mit einer der Mägde das Abendessen, der alte Ulrich schaute ihnen zu und unterhielt die Frauen mit einer seiner üblichen Göttererzählungen.

»Wo bleibt Uta? Sie sollte längst den Erbsenbrei gekocht haben.« Langsam hatte Inga sich an die Gegenwart der verhassten Geliebten ihres toten Mannes gewöhnt. Denn immerhin erging es ihr im Vergleich zu der schwangeren Uta prächtig. Ein Aufschub bis zur Niederkunft war dieser gewährt worden, mehr nicht. Das Kind würde sie in der Familie lassen dürfen, sie selber musste gehen, sobald sie nach der Geburt wieder auf den Beinen war. Jeden Moment konnte es so weit sein, und mit jeder Stunde wuchs Utas Angst. Mit niemandem sprach sie darüber, denn niemand, nicht einmal die Mägde, sprachen auch nur ein Wort mit ihr. Doch Inga konnte ihre Furcht sehen, sie konnte sie in ihren Augen sehen. Und so sehr sie sich auch dagegen wehrte, kam in ihr ein wenig Mitleid mit dieser Frau auf, die ihr einst den Rang im Hause streitig hatte machen wollen.

Mittlerweile waren alle Bewohner im Langhaus eingetroffen. Ada versorgte ihre jüngeren Kinder, Ansgar und Gernot sprachen über die Abgabe, die ihnen bevorstand, die Schwestern saßen in irgendeiner dunklen Ecke und tuschelten, der alte Ulrich erzählte, die älteren Kinder, unter ihnen die beiden Vollwaisen der Halbschwester Hilda, halfen den Knechten und Mägden im Kuh- und Pferdestall, der direkt mit dem Wohntrakt verbunden war.

Nur Uta fehlte.

»Sie wird doch nicht irgendwo da draußen liegen und ihr Kind bekommen?«, flüsterte die junge Magd Inga zu.

»Das wollen wir nicht hoffen. Es stürmt schlimmer als in den zwölf Raunächten. Jemand muss sie suchen gehen«, antwortete Inga, auch wenn es ihr widerstrebte, sich um den Verbleib dieses Weibes zu kümmern.

»Ulrich«, sagte sie weiter, sich an den Alten wendend. »Die Schwangere ist fort. Kannst du einen der Knechte schicken, sie zu suchen?«

Inga hatte absichtlich leise gesprochen, aber da Ulrich nicht besonders gut hörte, antwortete er umso lauter: »Was sagst du? Die Schwangere ist tot?«

»Sie ist fort, nicht da, weg-ge-lau-fen, ir-gend-wo draußen im Sturm.« Inga sprach langsam, laut und in abgehackten Silben.

»Und was kümmert das ausgerechnet dich?« Ansgar hatte ihr Gespräch belauscht.

»Ich frage mich nur, wo sie ist. Und ganz gleich, was sie auch für ein Weib sein mag: Dem Kind sollte man helfen, oder etwa nicht?« Inga war es unangenehm, dass nun alle die Ohren spitzten, zu ihr hersahen und neugierig darauf warteten, was sie nun unternehmen würde.

»Wir bleiben alle hier. Niemand geht in den Sturm hinaus und riskiert sein Leben für so eine«, befahl Ansgar und sah Inga grimmig an.

Dieses Mal senkte sie nicht den Blick, sondern schaute hasserfüllt zurück.

Wer war dieser Ansgar? Nichts konnte er, nichts verstand er, und plötzlich spielte er sich als der Herr im Hause auf. Inga verabscheute ihn, es widerte sie an, ihm gehorchen, ja ihm dankbar sein zu müssen.

Just in diesem Moment öffnete sich knarrend die Seitentür.

Die einen glaubten, der Wind habe sie aufgeweht, die anderen dachten, Uta käme nun doch noch verspätet ins Haus zurück. Doch stattdessen huschten eilig zwei in Sackleinen gehüllte Kapuzengestalten in die Stube und drückten, sobald sie die Schwelle übertreten hatten, gemeinsam mit aller Kraft die Türe gegen den Wind wieder zu, um sie dann von innen zu verriegeln.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich den Schlamm von den durchnässten, ledernen Füßlingen abgetreten und schließlich die triefenden Kapuzen nach hinten geschlagen hatten. Solange ruhten ein Dutzend Augenpaare staunend auf ihnen.

Ansgar erhob sich und ging, seine Hand an dem im Gürtel steckenden Kurzschwert, langsam und entschlossenen Blickes auf die Eindringlinge zu.

»Seid gegrüßt, alle miteinander, und du insbesondere, Ansgar, Sohn des Hilger«, sprach einer der Männer, der größere von beiden.

»Wer seid ihr, und was treibt euch dazu, so mir nichts, dir nichts mein Haus zu betreten?«

»Wir klopften, aber leider war der Wind lauter, als es unsere Fäuste an der Holztüre zu sein vermochten.« Seine Worte waren freundlich, aber seine Stimme war sehr entschlossen, und es schien, als wüsste der Mann um die Gefahr, die ihm drohte, wenn man es wagte, ungebeten ins Haus eines freien Sachsen zu stürmen.

»Mein Name ist Agius, und das ist Bruder Melchior. Wir beide sind Mönche aus dem nahen Kloster Corbeia Nova.«

Mehr sagte er nicht, und der andere, Mönch Melchior, nickte nur immerzu begeistert bei den Worten seines Mitbruders.

»Und was wollt ihr hier?«