Desire ...bis du mich wegschickst - Carolin Hertel - E-Book

Desire ...bis du mich wegschickst E-Book

Carolin Hertel

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Beschreibung

Mia ist 17 Jahre alt, und leidet seitdem ihre Mutter vor zwei Jahren bei eimem tragischen Unglück ums Leben kam, an schweren Depressionen. Ihr Vater ist der Meinung, dass nur noch ein Schulwechsel seiner Tochter helfen kann und zieht deshalb mit ihr in das nahegelegene Städtchen Scharbeutz. Nur widerwillig akzeptiert Mia diese Entscheidung und verkriecht sich weiterhin in ihrem Loch. Doch dann trifft sie auf den attraktiven, aber zugleich rebellischen Taylor, dem es gelingt Mia langsam aus ihrer Trauer zu holen. Beide verlieben sich unsterblich ineinander und verändern gegenseitig das Leben des jeweils anderen zum Positiven. Aber Taylor trägt ein dunkles Geheimnis mit sich, das ihre Liebe drastisch gefährdet.

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Die Autorin

Carolin Hertel wurde 1988 in Bielefeld, Deutschland, geboren. Heute lebt sie gemeinsam mit ihrem Ehemann und den drei Kindern in der Hansestadt Herford. Bereits von Kind auf war sie fasziniert vom geschriebenen Wort, und fasste ihre ersten kleinen Geschichten im Alter von sechs Jahren zusammen. Die Leidenschaft zum Schreiben von Büchern hat Carolin Hertel nie verloren, sodass sie während der Elternzeit ihr erstes Buch eigenständig verfasste. Da sie ihre Hochzeitsreise in Scharbeutz verbrachte und bis heute gerne die Ferien mit der Familie dort verbringt, wählte sie die Stadt als Ortshandlung von Desire aus.

Für Waldemar.

Danksagung

Mein größter Dank geht an meinen besten Freund und Ehemann Waldemar. Ohne dich wäre es niemals möglich gewesen meinen Traum zu verwirklichen. Du hast an mich geglaubt, als ich es nicht getan habe und mich unterstützt, wie man es ausschließlich von den größten Romanhelden erwarten würde. Ich danke dir auch, für die unzähligen Freitage, an denen du selbstlos dazu bereit warst, dir meine Ideen anzuhören und sie gemeinsam mit mir zu perfektionieren. Ich habe es nie für selbstverständlich gehalten. Ich danke meinen drei Kindern Jesper, Lio und Bennett, die mir jeden Tag aufs Neue ihre grenzenlose Liebe auf unterschiedlichste Weise zeigen und mich damit stärker machen, als ich es je angenommen hätte. Auch danke ich meiner Mutter. Sie war es, die mir in jungen Jahren ein Buch in die Hand gelegt hat und mich bat, an den Seiten des Papiers zu riechen. Damit eröffnetest du mir die Welt zur Literatur und bis heute gibt es keinen besseren Geruch für mich. Danke Mama, dass auch du nie den Glauben an mich verloren hast - egal in welcher Hinsicht. Ich weiß, es war manchmal nicht leicht. Ich danke all meinen Testlesern, unter anderem Eveline. In kürzester Zeit bist du mir eine treue Freundin geworden und ich weiß, ich kann mich jederzeit an dich wenden und dich mit meinen Fragen bombardieren, ohne dass ich Sorge haben muss, dir auf die Nerven zu gehen. Jeder Kuchen mit dir schmeckt einmalig und ich freue mich schon auf jedes weitere Stück, das wir gemeinsam zu einem Milchkaffee vertilgen werden.

Inhaltsverzeichnis

Schlaflos

Sehnsüchtiges Ende

Das Erwachen

Unerwartete Hilfe

Reizen bis aufs Blut

Rachepläne

Zwei Gesichter

Abendessen mit Hindernissen

Erste Schritte

Neuanfang

Rivalen

Aufgeflogen

Durchtriebene Pläne

Glücksgefühle

Dunkle Machenschaften

Eine Nacht voller Hingabe

Düstere Wahrheit

Ein Karton voller Erinnerungen

Wendepunkte

Epilog

Schlaflos

Wie jede Nacht wachte ich schweißgebadet aus meinem Alptraum auf und dachte abermals darüber nach, weshalb es mir nicht gegönnt war, wenigstens in meinen Träumen Frieden finden zu können. Gerädert setzte ich mich auf, zog die Beine an den Oberkörper und umschlang sie mit meinen Armen. Einige Minuten verharrte ich in dieser Position und wiegte mich wie ein Kleinkind vor und zurück, während ich nebenbei verzweifelt versuchte, die schrecklichen Bilder aus meinem Kopf zu verbannen. Träge knipste ich das Nachtlicht ein, um ein Glas Wasser zu trinken, das wie gewohnt auf meinem Nachttisch stand. Brennende Tränen bahnten sich den Weg zu meinen Augen, als ich zum Foto blickte, das meine Mutter und mich abbildete.

Behutsam nahm ich es zwischen die Hände und betrachtete es eine Weile. Es erzählte, wie meine Mutter und ich uns zur Stadt aufmachten, um mir ein neues Kleid für meine Abschlussfeier zu kaufen.

Es war einer der schönen und glücklichen Momente in meinem Leben. Es war die Zeit, in der noch alles in Ordnung war.

Ich vermisse sie so sehr, dass es schmerzt. Genauso musste sich die blanke Agonie anfühlen.

Schmerzerfüllt dachte ich an jenen Tag zurück. An den Tag, der mein Leben für alle Zeit verändert hatte…

Es war ein sehr kalter und zugleich wunderschöner Winterabend im Januar. Der Schnee blieb beharrlich auf den Ästen der Bäume liegen und glitzerte bei Sonnenschein wie ein außergewöhnlicher Diamant in all seinen prächtigen Farben.

Damit ich nicht alleine mit dem Bus bei Dunkelheit nach Hause fahren musste, boten meine Eltern mir an mich mit dem Auto von einer Freundin abzuholen, die einige Kilometer weit weg von unserem zu Hause wohnte. Heute wünschte ich, sie hätten es nicht getan.

Leo, meinen jüngeren Bruder, ließen sie bei meiner Tante Ela. Ich nahm an, dass er keine Lust hatte mitzukommen; bis heute hatte ich ihn nie danach gefragt.

Es war schon spät geworden und somit dunkel draußen.

Im Auto erzählte ich meiner Mutter aufgeweckt von meinem Tag. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie mir wie gewohnt aufmerksam zuhörte und mich dabei liebevoll anlächelte.

Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Ich hörte einen lauten Knall, der bis zum heutigen Tage ein endloses Echo in meinen Ohren werden sollte und nahm währenddessen das zersplittern von Glas wahr. Ich spürte wie wir mit dem Wagen ins Schleudern gerieten und konnte mich selbst schreien hören. Mit zusammengekniffenen Augen krallte ich mich verzweifelt am Griff der Autotür fest und vergaß dabei regelrecht zu atmen.

Von diesem Moment an habe ich jedoch eine Art Blackout und bis heute sind keine Erinnerungen daran zurückgekehrt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür dankbar sein soll.

Als ich meine Augen wieder öffnete, fand ich mich in einem kahlen Raum wieder. Weiße trostlose Wände, ein Wandbild, das fernab von modern war und ein Bett, in welchem ich gezwungen war liegen zu müssen welches aber nicht mein eigenes war.

Ich zuckte für einen Augenblick zusammen, als ich meinen Vater in der hintersten Ecke des Zimmers auf einem Stuhl sitzen sah. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, als ich in sein bestürztes Gesicht blickte.

Abwesend stand er auf und kam mit langsamen Schritten auf mich zu. Hatte ich ihn jemals so blass gesehen?

Erst jetzt registrierte ich, dass er einen Gips am rechten Arm trug und einige Schürfwunden im Gesicht hatte.

»Wo sind wir? Was ist passiert?«, fragte ich ihn und sah mich nochmals orientierungslos um.

Er brauchte einige Sekunden, bis er mir antworten konnte und setzte sich zu mir auf die Bettkante.

»Wir hatten einen Autounfall. Du bist im Krankenhaus, aber es geht dir trotz einer leichten Gehirnerschütterung und zwei Rippenbrüchen gut.« Der Klang seiner Stimme machte mir Angst.

Erst, als mein Vater es ausgesprochen hatte und ich bewusst in mich hineinhorchte, spürte ich plötzlich wie angespannt jeder einzelne meiner Knochen sich anfühlte. Dabei bemerkte ich gleichzeitig, dass mir das Atmen schwerer als gewöhnlich fiel.

Mechanisch fuhr meine Hand zu meinen Kopf. Er dröhnte und pochte brutal gegen meine Stirn. Es ließ sich nicht verhindern vor Schmerz einmal hart aufzustöhnen.

»Ruh dich etwas aus«, sprach er erschöpft und blickte mir dabei sorgenvoll in die Augen.

»Wie geht es dir?«, fragte ich stattdessen und schaute skeptisch auf seinen verletzten Arm.

Seine Augen füllten sich daraufhin mit Tränen, während er im Nachhinein stumm mit dem Kopf schüttelte und die Lippen zu einer harten Linie verzog.

»Dad, was ist los mit dir?«, fragte ich besorgt und versuchte das flaue Gefühl in meinem Magen zu unterdrücken.

Er sagte kein Wort und starrte dafür geistesabwesend aus dem Fenster hinaus. Schlagartig kam mir ein anderer Gedanke und ich fühlte eine ungewohnte Angst in mir aufsteigen.

»Dad, wo ist Mom?«

Die Tränen, die mein Vater versucht hatte bis jetzt vor mir zurückzuhalten, liefen nun unaufhaltsam über seine Wangen.

Umständlich versuchte ich mich aufzusetzen und ignorierte dabei die Schmerzen die ich währenddessen empfand.

»Dad?«, flüsterte ich. Er reagierte nicht.

»Wo ist Mom?«

Der drängende Ton meiner Stimme brachte ihn endlich dazu aufzusehen, doch als ich in sein Gesicht sah, erschrak ich für den Moment.

Betrübt blickte er mich für endlose Sekunden an, was kaum zu ertragen war.

»Ist sie so schwer verletzt, das sie nicht hier sein kann?«, fragte ich verängstigt.

Er holte einmal tief Luft und begann anschließend zu sprechen.

Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen, als ich dem rauen Klang seiner trostlosen Stimme lauschte.

»Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern, Mia?«

Angestrengt dachte ich nach. Aber alles was mir mein Unterbewusstsein preisgab war ein dumpfer Knall, den ich nicht einzuordnen wusste.

Schweigend schüttelte ich mit dem Kopf.

Mein Vater nickte zum Verständnis, dabei bildete sich eine strenge Falte zwischen seinen Augenbrauen, die nichts Gutes bedeuten konnte.

Mit abgehakten Worten begann er zu erklären.

»Unser Auto war weder kaputt noch bin ich zu schnell gefahren«, sprach er und atmete einmal tief ein, bevor er matt fortfuhr.

Beängstigt hörte ich ihm zu, und krallte unterdessen meine Fingernägel in das Bettlaken.

»Wir waren auf der B75 unterwegs. Vor uns lag eine Brücke….« Abwesend starrte er auf meine Bettdecke und suchte nach den richtigen Worten. »Wir fuhren schnell. Es war dunkel und nichts anderes zu sehen, als die Straße die vor uns lag.«

»Was genau willst du mir sagen?«, hackte ich nervös nach.«

Ängstlich betrachtete er mich.

»Jemand hat von der Brücke einen Ziegelstein auf die Straße geschmissen, und damit direkt unseren Wagen getroffen.«

Mit einem leeren Gesichtsausdruck wartete er auf eine Reaktion.

In meinem Kopf spielte sich ein einziges Chaos ab. Unser Auto sollte von einem Ziegelstein beworfen worden sein? Und dadurch hatten wir einen Unfall? Angestrengt versuchte ich mich an ein Detail zu erinnern, doch ich war zu aufgewühlt um mich richtig konzentrieren zu können. Alles was ich immer wieder hörte war dieser dumpfe Knall. War das am Ende etwa der Ziegelstein gewesen, von dem mein Vater gerade sprach?

»Der Stein hat die Frontscheibe durchbrochen«, erklärte er schluchzend weiter.

Ein schrecklicher Gedanke kam mir. Meine Mutter war nicht hier und wenn es ihr gut gehen würde, dann wüsste ich, dass sie mir in diesem Moment nicht von der Seite weichen würde.

»Hat der Stein etwa Mom getroffen?«

Verzweifelt blickte das Grau seiner Augen mich an, das plötzlich trüber denn je wirkte.

»Ja.«

Panik stieg in mir auf.

»Und wo ist sie jetzt? Liegt sie etwa auf der Intensivstation? Ist sie sehr schwer verletzt?«

Mühsam legte mein Vater seine Hand auf meine und umklammerte sie daraufhin mit seinen kühlen Fingern.

Ich hielt sie fest, und versuchte sorgfältig darauf zu achten, nicht den Gips zu berühren.

Einen Augenblick später ballte er seine freie Hand zur Faust und presste sie gegen seinen Mund, während ich dabei zusehen konnte, wie sich allmählich die Iris seiner Augen ins rötliche färbte.

Tiefgründig blickte er mich an, bis er schließlich mit seinem nächsten Satz mein Leben für immer verändern würde.

»Mama ist tot, Mia.«

Mein Verstand begriff nicht, was er mir da gerade mitgeteilt hatte.

Gelähmt saß ich auf meinem Bett, und betrachtete meinen Vater reglos. Meine Mutter tot? Nein! Das war sicher nur ein grauenvoller Alptraum aus dem ich nicht aufwachen wollte.

Ich achtete auf seinen Gesichtsausdruck und wartete unverhofft auf ein Zeichen, dass er gerade einen geschmacklosen Witz gemacht hatte. Doch alles was sich an seiner Miene verändert hatte, waren weitere Tränen gewesen, die unaufhaltsam über seine Wangen liefen.

Ich spürte wie er fester nach meiner Hand griff.

Währenddessen hatte ich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, und sah abrupt alles nur noch verschwommen vor mir. Ähnlich wie ein transparenter Schleier, der meine Welt plötzlich benebelte.

Ich spürte die Blässe in mir aufsteigen. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen und ich wurde schlagartig von einer unangenehmen Kälte übermannt. Das alles konnte nicht wahr sein.

»Sag, dass das ein Scherz war«, zischte ich zwischen den Zähnen hindurch.

»Ich wünschte es wäre so«, antwortete er erschöpft.

Panisch schüttelte ich mit dem Kopf, bis er zu schmerzen begann.

»Nein. Nein, das kann nicht wahr sein. Du lügst doch! Mom ist nicht tot!«, begann ich zu schreien und entriss meinem Vater im nächsten Moment die Hand.

Er rückte näher an mich heran und versuchte mich in den Arm zu nehmen, doch ich stieß ihn mit aller Kraft von mir weg.

»Geh weg, ich will dich nicht sehen. Hol Mom zurück. Ich will sie sehen. Bitte, Dad. Hol sie mir zurück!«, flehte ich ihn unter Tränen an.

»Glaub mir, wenn ich nur könnte, dann würde ich alles dafür tun, um sie zurückzuholen«, antwortete er verzweifelt.

Abermals schüttelte ich den Kopf. Ich verstand die Welt nicht mehr. Angestrengt versuchte ich aus diesem entsetzlichen Traum aufzuwachen. Erfolglos. Das konnte nicht wahr sein. Meine Mutter ist tot? Jemand soll einen Stein von einer Brücke geworfen haben, der ausgerechnet sie getroffen haben soll? Ich begriff es nicht. Wer tat so etwas? Sollte das jetzt etwa bedeuten, dass ich sie nie wieder sehen werde? Sie sich nie wieder mit mir unterhalten wird? Ich meine Mutter nie wieder umarmen kann?

»Mia«, hörte mein Unterbewusstsein meinen Namen rufen. Ich nahm es nur gedämpft wahr. Meine Mutter tot? Nein!

»Mia«, echote es wieder. Die Stimme klang besorgt.

Bitte lass es nur ein schrecklicher Traum sein.

Mom, bitte sei am Leben, dachte ich verzweifelt.

Schlagartig wurde mir übel, und im nächsten Moment schmeckte ich Magensäure auf der Zunge.

»Mia, was ist mit dir? Hast du schmerzen?«

Die angsterfüllte Stimme meines Vaters war das letzte was ich gehört hatte.

Und dann übergab ich mich.

Ich rieb mir mehrmals übers Gesicht und versuchte die Tränen aufzuhalten, die ohne Vorwarnung in mir aufgestiegen waren, während ich das Foto das ich weiterhin in den Händen hielt, voller Wehmut betrachtete.

Ich vermisse meine Mutter über alle Maßen. Jeden Tag. Jede Stunde. Jeden Moment.

Der schreckliche Unfall, oder wie ich es lieber bezeichnete: Mord, ist nun zwei Jahre her.

Seit diesem Tag hatte ich mich schlagartig verändert. Man könnte beinahe sagen ich wäre mit ihr gestorben. Früher, als sie noch lebte, war ich glücklich gewesen. Mein Teenagerleben war regelrecht perfekt. Ich war stets fröhlich, beliebt in der Schule, schrieb gute Noten, hatte einen angesehenen Freundeskreis – sogar einen Freund und große Träume. Doch mit dem Tod meiner Mutter zerbrach diese traumhafte Welt.

Ich kapselte mich von der Gesellschaft ab, verbrachte die meiste Zeit des Tages in meinem Zimmer und sprach auch sonst kaum ein Wort mit irgendjemandem - auch nicht mit meinem Vater.

Jeden Tag, bis heute, versucht er sich verzweifelt mit mir über irgendwelche belanglosen Dinge zu unterhalten, doch meistens bekam er keine Antwort von mir. Ehrlich gesagt kann er sogar froh sein, wenn ich überhaupt mit dem Kopf nicke. Der Grund für mein distanziertes Verhalten ihm gegenüber ist der, dass ich ihm eine gewaltige Mitschuld an dem Tod meiner Mutter gebe. Schließlich saß er am Steuer. Hätte er nur besser reagiert und wäre dem Ziegelstein rechtzeitig ausgewichen, dann würde meine Mutter heute noch leben. Genau das machte ich ihm am Tag ihrer Beerdigung zum Vorwurf. Er selbst hatte dazu nie etwas gesagt und das wollte ich auch nicht. Und zwar deshalb, weil ich nie bewusst über sie sprach. Kein einziges Mal. Ich konnte nicht.

Mein Bruder dagegen verhielt sich vollkommen anders. Er war das genaue Gegenteil von mir. Leo brauchte meinen Vater zu dieser Zeit mehr denn je. Er unterhielt sich viel mit ihm über unser verheerendes Schicksal und kam allmählich mit der Situation zurecht. Ich glaube, dass beide sich gegenseitig eine große Hilfe waren. Vor allem, weil sie mich am Hals hatten.

Mein Vater, den ich mir übrigens angewöhnt hatte bei seinem Vornamen Ben zu nennen, versuchte mich vor einigen Monaten noch zu einem Psychologen zu schicken, allerdings vergebens. Ich wehrte mich dagegen, stellte auf stur, sodass er es künftig hinnahm und letztlich aufgab.

Es wurde in den letzten Wochen sogar so schlimm mit mir, dass ich kaum mehr etwas fühlte, bis auf die unwiderrufliche Wut auf fast alles und jeden.

Ich hüllte mich in eine Art Schwermut ein die es nicht zuließ, dass ich irgendetwas anderes empfand.

Der entscheidende Grund dafür war, dass das Verfahren bezüglich des Unfalls eingestellt wurde. Sie haben den Täter nicht ausfindig machen können, und das war so ziemlich das Schlimmste für mich. Ich wollte, dass jemand für den Tod meiner Mutter verantwortlich gemacht wurde und konnte kaum damit leben, dass der Mörder frei herumlief. Wenn ich nur daran denke, dass diese Person gerade seelenruhig in ihrem Bett schlief, während sie unser gesamtes Leben zerstört hat, wurde mir geradezu übel.

Auch in der Schule wurde ich zunehmend schlechter. Ich hatte kurz nach dem Unfall die zehnte Klasse beendet, und wollte daraufhin mit dem Abitur beginnen. Allerdings war ich wegen der schrecklichen Geschehnisse eine ziemlich lange Zeit Krankgeschrieben, sodass ich erst ein Jahr später damit angefangen hatte. Doch so wie es momentan aussah, würde ich meine Reifeprüfung eh nicht schaffen.

Ich denke auch dieser Punkt verleitete Ben zu der hirnrissigen Idee mit uns umzuziehen.

Heute war die erste Nacht in meinem neuen Zimmer - ich hasste es.

Ben und ich stritten in den letzten Wochen häufiger als sonst, da mir seine Idee umzuziehen drastisch widerstrebte. Ich wollte in unserem alten Haus wohnen bleiben, dort wo auch meine Mutter war, aber er sagte immer wieder: »Es ist besser so.«

Also zogen wir nun von Lübeck, in das nahegelegene Städtchen Scharbeutz. Die meisten Menschen bezeichnen diesen kleinen Fleck auf Erden als Idylle. Ich finde Kaff trifft es eher. Mit gerade einmal zehntausend Einwohnern hatte ich das Gefühl, hier würde jeder jeden kennen.

Alles was dieser lächerliche Ort an Sehenswürdigkeiten zu bieten hatte war eine lange Seebrücke die ins Meer hinausragte, und ich fragte mich schon immer was die vielen Touristen dazu bewegte hier Urlaub machen zu wollen.

Wir bezogen also unser großzügiges Strandhaus, das einmal von uns dazu genutzt worden war an Feiertagen oder Wochenenden als Ferienort von uns bewohnt zu werden. Es befand sich schon seit etlichen Generationen im Besitz der Familie meines Vaters, die schon immer sehr wohlhabend war.

Von hier aus hatte Ben es auch nicht weit zu seiner Arbeit. Er war Chefarzt einer chirurgischen Station in einem großen Krankenhaus.

Mein Bruder ging weiterhin auf ein Internat und kam nur an den Wochenenden und Ferientagen nach Hause, während ich auf das einzige Gymnasium hier in der Stadt gehen musste, um mein Abitur zu beenden.

Die Winterferien waren vorbei und die Schule würde ab morgen wieder beginnen.

Seufzend sah ich ein letztes Mal für heute zum Foto meiner Mutter, stellte es vorsichtig zurück auf den Nachttisch, knipste das Licht aus und legte mich wieder hin.

Ich versuchte angestrengt nicht an den morgigen Tag zu denken, und vergrub das Gesicht tief in meinem Kissen.

Sie werden mich alle anstarren und sich fragen was ich doch für ein Freak bin.

Wunderbar. Genau das was ich jetzt brauchte.

Zu meinen alten Freunden hatte ich schon lange keinen Kontakt mehr.

Ich entfernte mich seit jenem Tag von jedem Einzelnen und nach einigen Wochen ließen sie mich dann auch in Ruhe. Auch mein fester Freund, David, hatte sich dazu entschlossen unsere Beziehung zu beenden und wenn ich ehrlich war, störte auch das mich nicht im Geringsten. Früher hatte ich zwar geglaubt tiefere Gefühle für ihn zu haben, aber auch das war mir vollkommen egal geworden. Man hatte mir den wertvollsten Menschen in meinem Leben auf brutalste Weise entrissen, was sollte also jetzt noch wichtig sein?

Meine Mutter war nicht einfach nur meine Mutter gewesen, sondern auch meine beste Freundin. Unser Verhältnis zueinander war sicher für andere zu beneiden. Ich kann mich nicht einmal an einen Streit mit ihr erinnern. Voller Sehnsucht und in unendlicher Trauer, verfiel ich nach endlosen Minuten in einen unruhigen Schlaf.

Sehnsüchtiges Ende

Der penetrante Ton meines Weckers riss mich unbarmherzig aus dem Schlaf.

Blind tastete ich danach und schaltete ihn aus.

Ich zog mir die Decke über den Kopf und wünschte mir schon jetzt, der Tag wäre vorbei. Vielleicht sollte ich einfach vorgeben krank zu sein? Der verlockende Gedanke war hingegen so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Ben würde mir diese Lüge sicher niemals abkaufen. Als ob man einem Chefarzt etwas vorspielen konnte, und zur Schule musste ich ja sowieso irgendwann gehen.

Nur widerwillig stieg ich aus meinem warmen Bett, und machte mich auf den Weg in mein eigenes kleines Badezimmer, das ich vom Zimmer aus betreten konnte.

Ich duschte mich kalt ab, putzte mir die Zähne und föhnte mir in aller Ruhe die Haare. Erst danach sah ich in den Spiegel. Ich erschrak schon lange nicht mehr vor meinem Anblick. An die Augenringe und die dazu passenden Tränensäcke hatte ich mich bereits gewöhnt, so wie an die viel zu hervorstehenden Wangenknochen. Das sonst so klare Grün meiner Iris wirkte ebenfalls etwas trüb und ließ meine Augen nur noch melancholischer wirken. Und meine blasse Haut bildete einen ungesunden Kontrast zu meinem dunkelbraunen Haar. Schminken tat ich mich seit jenem Tag nicht mehr, somit sparte ich an Zeit. Meine langen Haare trug ich heute offen und ließ sie locker über die Schultern fallen. Es reichte mir bereits bis zur Rückenmitte. Ich weiß nicht mehr wann ich das letzte Mal beim Frisör gewesen war, um es schneiden zu lassen.

In meinem Bademantel eingewickelt stampfte ich zurück in mein Zimmer und schaute auf die noch eingepackten Kartons von denen ich wusste, dass dort meine Kleidung enthalten war. Ich hatte sie nicht wie mein Bruder in den Ferien ausgepackt und ordentlich in den Schrank geräumt. Auch sonst habe ich keinen von ihnen großartig angerührt. Es gab keinen Grund für mich hier länger zu bleiben, als nötig gewesen wäre.

Ich öffnete den größten Karton und griff, ohne nachzusehen ob es überhaupt zusammenpasste, nach einer Jeans und einem schwarzen Pullover. Für die Hose brauchte ich allerdings einen Gürtel. Seit dem letzten Jahr hatte ich unbewusst acht Kilo verloren und musste zugeben, dass ich heute dementsprechend abgemagert aussah.

Nachdem ich einen Block und Federmappe in meine Tasche gesteckt hatte, machte ich mich auf den Weg in die Küche.

Doch schon im Flur konnte ich mir ein genervtes Stöhnen nicht verkneifen, als ich die schrille Stimme meiner Tante Ela aufhellen hörte. Sie ist die ältere Schwester meines Vaters, und kümmerte sich zu meinem Verdruss intensiv um ihn, seit Mom nicht mehr da war. Anders als zu meinem Bruder, hatten Ela und ich noch nie ein gutes Verhältnis zueinander gehabt. Ich konnte sie nicht ausstehen und wusste, dass es hauptsächlich daran lag, wie sie meine Mutter damals behandelte. Ela hatte früher keine Gelegenheit ausgelassen ihr zu zeigen, dass sie nicht gut genug für meinen Vater war und sie sich eine bessere Frau an seiner Seite gewünscht hätte.

Meine Mutter war eine freiberufliche Künstlerin gewesen und arbeitete grundsätzlich zu Hause in ihrem eigenen Atelier, das mein Vater damals für sie selbstständig hergerichtet hatte. Ela zog sie deshalb häufiger auf und versuchte sie ständig dazu zu überreden doch etwas Gescheiteres zu lernen, wie sie es immer nannte.

Ich kann mich noch daran erinnern, dass ihr garstiges Verhalten meine Mutter damals sehr verletzte, auch wenn Mom es nie offen zugegeben hatte. Aber nicht nur deshalb konnte ich meine Tante nicht leiden, sondern auch, weil sie einer der hinterhältigsten Menschen war die ich je kennengelernt habe. Vor meinem Vater spielte sie stets die liebevolle unschuldige Schwester, doch hinter seinem Rücken warf Ela jedem den sie nicht mochte mörderische Blicke zu, selbst wenn sie zur Familie gehörten. Meine Tante war in jeder Hinsicht voreingenommen, und hatte nur eine Meinung- ihre.

Ela selber hatte weder eigene Kinder noch einen Ehemann – was mich auch nicht sonderlich wunderte. Sie lebt zurückgezogen mit ihren zwei Katzen, welch eine Ironie, in einer großzügigen Eigentumswohnung in Lübeck und arbeitet als Filialleiterin in einem Sportgeschäft.

»Guten Morgen«, begrüßte sie mich, nachdem ich die Küche betrat.

Ela saß am Tisch und las gerade vergnügt in einer Tageszeitung.

»Was machst du hier?«, fragte ich im Vorbeigehen und

verweigerte es dabei strikt sie anzusehen.

»Na das nenne ich mal eine nette Begrüßung. Aber wenn du es unbedingt wissen willst…. Ich wollte meine Nichte gerne vor ihrem ersten Schultag sehen. Außerdem ist es der Wunsch deines Vaters dich heute persönlich zur Schule zu fahren, während ich mich ein wenig um den Haushalt kümmern werde«, erklärte sie mir begeistert.

Verdutzt blickte ich in ihr hochmütiges Gesicht, das durch die rötlichen Locken noch viel arroganter Wirkte. Ela war eine schlanke Person, die wahrscheinlich mit ihren rehbraunen Augen und den vollen Lippen hübsch wirken konnte. Aber ihre unsympathische Art machte sie meiner Meinung nach nur hässlich.

»Ich brauche nicht gefahren zu werden«, protestierte ich.

»Ich möchte es aber gerne«, hörte ich plötzlich die Stimme meines Vaters hinter mir reden.

Widerwillig drehte ich mich um und schaute ihm unbeeindruckt ins Gesicht.

»Ich bin kein Kind mehr, Ben.«

»Das weiß ich, Mia. Du würdest deinem alten Herrn aber einen großen Gefallen tun. Und mit dem Auto ist es doch auch viel bequemer«, antwortete er und knöpfte sich nebenbei das hellblaue Hemd an den Ärmeln zu.

»Ich fahre mit dem Bus«, hielt ich stur dagegen und schenkte mir nebenbei eine Tasse Kaffee ein.

»Der ist aber schon weg.«

»Dann nehme ich eben den Nächsten.«

Genervt hörte ich ihn aufstöhnen. Mit schiefgelegtem Kopf schaute er mir träge ins Gesicht, dabei versuchte er etwas in meinem Blick zu lesen, das er sowieso nicht finden würde. Wie sehr ich diese Momente hasste, wenn er das tat.

»Der kommt aber erst in einer Stunde, also würdest du zu spät zur Schule kommen. Der Busverkehr ist hier anders als in Lübeck, Mia.«

Mit zusammengepressten Zähnen schüttelte ich langsam den Kopf und versuchte meine Wut auf ihn herunterzuschlucken.

»Iss etwas, Mia«, befahl meine Tante mir von der Seite. Ich ignorierte sie.

»Du sollst etwas essen. Nur eine Tasse Kaffee am Morgen ist doch nicht gesund«, beklagte sie sich weiter.

»Keinen Hunger.«

»Das interessiert mich aber herzlich wenig, und jetzt mach dir eine Scheibe Toast.«

»Sag mal, verstehst du es nicht? Ich habe keinen Hunger«, fuhr ich sie barsch an.

»Mia! Ich verbiete dir in diesem Ton mit deiner Tante zu sprechen. Sie hilft uns wo sie nur kann und vernachlässigt dabei selbst ihr eigenes Leben. Also ein bisschen mehr Respekt bitte«, ermahnte mein Vater mich energisch.

»Was für ein Leben hat die denn schon?«, fragte ich kalt zurück und schaute Ela dabei unerbittlich an.

Man konnte dabei zusehen wie sich ihre Gesichtszüge schmerzlich verzogen; es interessierte mich nicht. Alles was ich wollte, war in Ruhe gelassen zu werden. Warum kapierten sie das nicht?

Genervt nahm ich meine Schultasche vom Hocker, hing sie mir um die Schulter und bewegte mich Richtung Eingangstür.

»Ich warte im Auto«, war alles was ich noch von mir gab, ehe ich meine Jacke von der Garderobe nahm und endgültig aus dem Haus verschwand.

Sogleich überraschte mich eine eisige Kälte, die sich schwer um meine Lunge legte und mich dabei nur schleppend atmen ließ.

Da Ben das Auto noch nicht aufgeschlossen hatte, lehnte ich mich an die Beifahrertür, und versuchte angestrengt nicht an den heutigen Tag zu denken. Weil es mir aber nach fünf Minuten immer noch nicht gelang, kramte ich achtlos in meiner Tasche nach meinem MP3-Player, setzte anschließend die Kopfhörer auf und drehte die Musik auf die höchste Lautstärke auf. Harter Rock erklang in meinen Ohren und dröhnte zugleich ungesund in meinem Kopf auf, während die Geräusche der Außenwelt allmählich verschwanden. Früher konnte ich mich für diese Musikrichtung absolut nicht begeistern, doch seit jenem Tag vermied ich es emotionale und sanfte Klänge zu hören. Sie brachten mich dazu an das zu denken, woran ich nicht denken wollte.

Verärgert streckte ich meine Beine weiter aus und dachte wieder einmalmal darüber nach, das ich es kaum erwarten konnte endlich achtzehn zu werden. Ich hatte mir bereits letztes Jahr an meinem siebzehnten Geburtstag fest vorgenommen dann auszuziehen. Was Ben davon hielt, würde mir vollkommen gleichgültig sein. Auf das Abitur war mir die Lust sowieso vergangen und ans Studieren verschwendete ich ebenfalls keinen Gedanken mehr. All das gehörte der Vergangenheit an. Ich würde mir irgendwo in einer anderen Stadt, weit entfernt von diesem Kaff, einen Job suchen und nach einer Wohnung Ausschau halten. Alles war besser, als das hier.

Nachdem der dritte Song erklang und mein Körper bereits zu frieren begann, kam Ben aus dem Haus. Er betrachtete mich mit einer Mischung aus Ärger und Verzweiflung, und schloss daraufhin mit der Funkfernbedienung das Auto auf.

Ohne ihn zu beachten stieg ich ein, weiterhin mit unüberhörbarer Musik in den Ohren.

Ich spürte seinen Blick für einige Zeit auf mir ruhen, bevor er endlich den Fuß aufs Gaspedal legte und losfuhr.

Die gesamte Fahrt über schenkte ich ihm keinerlei Beachtung und starrte stattdessen stur aus dem Fenster hinaus.

Nach zwanzig Minuten kamen wir an meiner neuen Schule an.

Ich schaute zu dem großen Gebäude hinauf und wünschte mir sehnlichst das Ende des Tages herbei.

Gerade als ich mich abschnallen wollte hielt Ben mich davon ab, indem er mein Handgelenk mit seinen Fingern umklammerte und mich nebenbei eindringlich musterte. Ohne mich zu fragen nahm er mir die Kopfhörer aus den Ohren.

»Die neue Schule wird dir gut tun, Mia.« Es klang, als wollte er sich selbst überzeugen.

Leer blickte ich ihm in die Augen, stieg daraufhin kommentarlos aus dem Auto aus und knallte die Beifahrertür lauter als nötig zu. Einen Moment später hörte ich den Audi mit einem leisen Brummen davonfahren.

Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Die nächste Zeit würde ich also hier verbringen müssen. Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, dass ich im August achtzehn werden würde und endlich mein Leben selbst bestimmen konnte.

Mit der vertrauten Schwermut ging ich auf das Schulgebäude zu und spürte schon jetzt die ersten Blicke auf mir.

Während ich auf den Eingang zusteuerte, und das Gebäude anschließend betrat, entdeckte ich sogleich eine Tür auf der »Sekretariat« geschrieben war. Diese Schule erschien mir fünfmal kleiner als meine Vorige in Lübeck.

Den Riemen meiner Tasche fest umschlossen, ging ich drauf zu, öffnete die Tür und begegnete dem Blick einer älteren Dame, die mir ein gütiges Lächeln schenkte.

»Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie freundlich und beugte sich etwas weiter zu mir vor.

»Mein Name ist Mia Tabor. Heute ist mein erster Schultag und ich soll mich hier melden«, erklärte ich ihr trocken.

Ich beobachtete, wie das strahlende Lächeln das sich eben noch auf ihrem Gesicht abgezeichnet hatte in langsamen Schritten verschwand. Mit mitfühlender Fassade sah sie mir plötzlich ins Gesicht und ich begriff sofort, dass sie über meine Lebensgeschichte Bescheid wusste. Diesen Blick schenkten mir schon etliche Leute vor ihr. Wahrscheinlich hielt es mein Vater für klug den Lehrern an dieser Schule gleich mitzuteilen, dass ich nicht ganz normal war und erzählte ihnen den Grund für mein sonderbares Verhalten.

Nach einer gefühlten Minute jedoch, schüttelte sie mit dem Kopf, hob den Zeigefinger in die Höhe und drehte sich im Anschluss zum Aktenschrank um.

»Ich habe Sie schon erwartet, Mia. Ihr Stundenplan muss hier irgendwo sein.«

Ich sah ihr dabei zu, wie sie sämtliche Papiere in rekordschnelle durchsuchte, und anschließend mit einem zufriedenen Ausdruck und einem Blatt Papier in der Hand zu mir zurückkam. Sie hatte ihr vorheriges Lächeln wiedergefunden.

»Sie haben in der ersten Stunde Deutsch bei Ihrem neuen Klassenlehrer, Herr Fahrtmann. Möchten Sie vielleicht hier auf ihn warten und gemeinsam mit ihm in Ihre neue Klasse gehen?«, fragte sie mich und schaute auf die übertrieben große Uhr an der Wand. Deutsch gehörte übrigens zu meinem Leistungskurs.

»Er müsste jeden Augenblick hier sein«, fügte sie hinzu.

Hastig schüttelte ich mit dem Kopf. Am ersten Tag mit dem Klassenlehrer in einen überfüllten Raum von Schülern, die sich bereits alle kannten hereingebracht zu werden, als bräuchte man einen Beschützer? Nein danke. Sie würden noch schnell genug erfahren, wie anders ich doch war.

Abermals glaubte ich Mitleid in ihrem Gesicht zu erkennen und griff schnell nach meinem Stundenplan, um endlich aus dem Sekretariat zu verschwinden.

»Wie Sie möchten. Ihr Klassenraum ist im zweiten Stock, Gang D, letzte Tür rechts.«

Nickend nahm ich es zur Kenntnis, und eilte zur Tür hinaus.

Es war bereits voller geworden und die Schüler glichen einem einzigen Bienenschwarm, der sich aufgeregt mit all den anderen über die Winterferien unterhielt.

Ich folgte einigen von ihnen die Treppe hinauf, und fand gleich im zweiten Stock, Gang D.

Es war verglichen zu meinem alten Gymnasium ein kleiner Korridor, der eher einem Hotelflur ähnelte als einer öffentlichen Schule.

Von hier aus konnte ich schon die vielen Schüler am hintersten Ende beobachten, wie sie eng beieinander vor einer Tür standen und sich laut miteinander unterhielten - meine neuen Klassenkameraden.

Mit einem letzten tiefen Atemzug ging ich allmählich auf sie zu. Kurze Zeit später betrachtete man mich neugierig von oben bis unten und versuchte nicht einmal zu verbergen, dass man über mich sprach.

Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass noch ganze fünf Minuten Zeit waren, bis der Unterricht endlich beginnen würde.

Eine Gruppe von Mädchen tuschelte etwas, während jedes einzelne Augenpaar von ihnen nacheinander zu mir rüber spähte. Ich gab vor es nicht gesehen zu haben, lehnte mich deshalb mit dem Rücken an die Wand, senkte den Kopf und starrte stur hinunter zu meinen Schuhen.

Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, als das Läuten der Schulglocke die erste Stunde verkündete. Bei dem ungewohnten Geräusch zuckte ich einmal zusammen.

Mein neuer Klassenlehrer, Herr Farthmann, schien von der pünktlichen Sorte zu sein, da er schon wenige Sekunden später neben uns stand. Er schloss die Tür auf und wartete, dass einer nach dem anderen gehorsam eintrat. Ich bevorzugte es lieber die letzte zu sein.

»Ah, Sie müssen Mia sein. Frau Eichinger hatte Sie mir eben angekündigt. Willkommen in meiner Klasse.«

Die Stimme meines Lehrers passte zu seinem äußeren. Freundlich und bestimmend zugleich. Er hatte sehr lange Beine und wirkte dadurch noch dürrer als er es ohnehin schon war. Dunkle stoppelkurze Haare umrundeten eine polierte Halbglatze. Auf seinem Nasenbein trug er eine schlichte Brille, die das Klischeeaussehen eines typischen Lehrers perfektionierte.

Zur Antwort lächelte ich ihm kaum merklich zu.

Mit einer Handbewegung wies er mir an voraus in die Klasse zu gehen.

Wie zu erwarten war wurde ich wieder von jedem angestarrt, doch anders als vorhin konnte ich dieses Mal jedes einzelne Augenpaar unangenehm auf mir spüren. Sie betrachteten mich, als wäre ich irgendein seltsames Objekt das nicht zu ihrer Welt passte.

Ich machte mich auf die Suche nach einem freien Platz, und ließ den Blick rasch über die Tische schweifen, die zu einem großen Hufeisen geformt waren.

Ich fand einen ganz vorne am Fenster und steuerte automatisch darauf zu, als mich Herr Farthmann jedoch mit einem Griff an der Schulter daran hinderte. Ich verdrängte das starke Bedürfnis ihn von mir zu stoßen und blieb dafür brav stehen.

»Guten Morgen, alle zusammen. Ich bitte um Ruhe.«

Nachdem jeder einzelne von meinen neuen Mitschülern seinem Wunsch ohne Widerworte nachkam, stand für mich sofort fest, dass mein Lehrer eine gewisse Strenge haben musste. Nur selten habe ich erlebt, dass ein Lehrer sich nicht zu wiederholen brauchte.

»Ich möchte Ihnen eine neue Mitschülerin vorstellen. Liebe Leute, das ist Mia Tabor. Sie wird von nun an einen festen Platz in unserer Klasse haben, und ich erwarte von Ihnen, dass Sie Mia dabei helfen werden sich hier gut einzuleben.«

Ich biss die Zähne fest aufeinander, um nicht loszuschreien. Jetzt konnte ich nur noch verzweifelt darauf hoffen, dass es keinem in diesem Raum interessierte, was Herr Farthmann da von sich gab. Denn genau das hatte ich am meisten vermeiden wollen- Kontakt. Einmal mehr verfluchte ich Ben für diesen schwachsinnigen Schulwechsel.

»Mia, Sie können sich auf den freien Platz hier vorne setzen«, deutete er mir und zeigte auf einen der Tische zu dem ich eben noch gehen wollte.

Mein neuer Tischnachbar war ein extrem fülliger Junge, der mich mit einem breiten Lächeln begrüßte. Sein blondes Haar war um einige Zentimeter zu lang und ragte schludrig über seine Ohren hinaus.

»Hi, ich bin Tom«, stellte er sich freundlich vor.

Während ich mich setzte ignorierte ich seine Hand, die er mir zur Begrüßung hinhielt.

Stattdessen holte ich meinen Block und Federmappe aus der Tasche heraus und legte sie achtlos vor mich auf den Tisch.

»Nun denn, ich hoffe Sie alle hatten schöne und erholsame Winterferien. Widmen wir uns nun aber wieder den wichtigen Dingen im Leben zu. Wir beginnen das zweite Halbjahr mit dem Thema Analyse von Sachtexten. Ich habe hier einige Arbeitsblätter für Sie vorbereitet und ausgedruckt«, erklärte er in normaler Lautstärke.

Die Doppelstunde in Deutsch erschien mir wie eine Ewigkeit. Die gesamte Zeit über blickte einer nach dem anderen in meine Richtung und beäugte mich auf eine Weise, die mir nur allzu unangenehm war.

Nach dem Unterricht begann die erste Pause. Bevor auch nur irgendeinem in den Sinn kommen könnte mich begrüßen zu wollen, lief ich mit schnellen Schritten aus dem Klassenraum und suchte den Weg nach draußen. Ich fand eine Bank, beinahe abseits vom Schulgebäude, und ließ mich genervt darauf fallen.

Um die Kälte zu ignorieren und mir die Zeit halbwegs sinnvoll zu vertreiben, versuchte ich mir meinen Stundenplan so gut es ging einzuprägen, und musste seufzend feststellen, dass mein nächstes Fach Mathematik war. Es sollte Menschen geben die darin eine gewisse Logik erkannten, ich aber gehörte mit absoluter Sicherheit nicht dazu. Weder hatte ich Verständnis für Zahlen, noch konnte ich irgendwelche Formeln nachvollziehen. Nur mit Mühe schaffte ich es Jahr für Jahr in Mathematik versetzt zu werden, doch seit jenem Tag wurde ich auch in diesem Fach um eine Note schlechter.

Der Nachhilfelehrer, den mein Vater vor einigen Monaten für mich eingestellt hatte, gab bereits nach wenigen Wochen auf. Seine Begründung dafür war, das er mir wegen meines stillen Verhaltens, ich sprach nicht ein Wort mit ihm, und meinem apathischen Auftreten nichts beibringen können würde. Also gab Ben es schließlich auf und ließ seine Kündigung ohne Widerworte zu.

Erst jetzt sah ich, dass sich jemand die Mühe gemacht hatte mir die Zeiten der Pausen auf dem Stundenplan aufzuschreiben. Wahrscheinlich war es eine nette Geste von Frau Eichinger, der Sekretärin, gewesen. Zugegeben, ich war ihr tatsächlich irgendwo dankbar dafür.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich noch über zehn Minuten Zeit hatte, um den nächsten Raum zu finden, bevor die Stunde anfangen würde.

Lustlos stand ich auf, und machte mich schon einmal auf den Weg zu meinem nächsten Klassenraum. Zu meiner eigenen Überraschung fand ich ihn schneller als gedacht.

Ich stellte mich in die hinterste Ecke des Korridors, und wartete auf das nervtötende Geräusch der Schulglocke.

Ab und zu beobachtete mich ein Mädchen, das selbst alleine an einer Wand gelehnt stand. Wenn unsere Blicke sich zufällig trafen, sah sie scheu von mir ab und versuchte sich wieder angestrengt auf ein Buch zu konzentrieren das sie in den Händen hielt. Ihr blondes Haar war schlicht zu einem langen Pferdeschwanz gebunden, und ihre Klamotten waren nicht wie bei den meisten Mädchen hier aufreizend, sondern eher praktisch und bequem gewählt. Sie trug eine blasse Jeans und dicken Rollkragenpullover, dazu warme Boots. Auf Make Up schien sie zu verzichten. Keiner sprach mit ihr, oder schenkte ihrer Person auch nur für einen winzigen Moment Beachtung.

Ein lautes Gelächter zog plötzlich meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich.

Eine Gruppe von Jungs kam langsam auf uns zugeschritten, und alberte lautstark auf dem Flur herum.

Ich beobachtete wie sie sich gelegentlich neckend auf die Schulter schlugen und erkannte gleichzeitig, dass einige andere Schüler ihnen freiwillig und mit großen Schritten Platz machten.

Sie kamen immer näher an meine neue Klasse heran, und ich wusste intuitiv, dass sie zu uns gehörten.

Als das übertrieben laute Dröhnen der Schulglocke erklang, waren die meisten Lehrer schon bei ihren Klassen angekommen. Nicht so bei uns. Zu meinem Ärger war unser Kurs jetzt alleine auf dem hallenden Flur, und ich spürte weiterhin die endlosen Blicke auf mir ruhen.

»Ah. Frischfleisch«, hörte ich nach einer Weile eine tiefe Stimme in meiner Nähe sagen.

Langsam hob ich den Kopf und blickte zu einem stämmigen Kerl auf, der jetzt direkt vor mir stand, und zu der rebellischen Gruppe gehörte.

Er war sehr groß, mindestens eineinhalb Köpfe größer als ich. Seine blonden Haare hatten einen leicht orangenen Schimmer, während mich seine eisblauen Augen ihren darin enthaltenen Spott erkennen ließen. Sein Blick ekelte mich direkt an.

Er kam noch einen Schritt näher an mich heran, und verleitete zugleich die anderen Schüler um uns herum dazu, sich neugierig in unsere Richtung zu drehen.

»Du musst die Neue sein«, stellte er fest und sah mich vom Kopf abwärts bis zu den Füßen an. So, als wäre ich etwas das er versuchte abzuschätzen.

Eine Weile verharrte er an meinem Brustkorb, bis er mir wieder mit einem gehässigen Lächeln in die Augen blickte.

»Netter Vorbau. Wie heißt du?« Seine Stimme klang ungewöhnlich selbstbewusst.

Ich konnte die anderen um mich herum kichern hören.

»Lass mich einfach in Ruhe«, antwortete ich leise und wendete nebenbei das Gesicht von ihm ab.

Gerade als er den Mund öffnete um etwas zu erwidern, klopfte ihm einer der anderen Jungs kräftig auf die Schulter.

»Lass gut sein, Lennox. Die alte Donnecker kommt.«

Die muskulöse Gestalt vor mir schnalzte einmal mit der Zunge, betrachtete mich noch ein letztes Mal abschätzig und drehte sich anschließend widerwillig von mir weg.

Mit eiligen Schritten kam unsere Mathematiklehrerin auf uns zugelaufen.

»Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, aber ich hatte noch einige Kopien zu machen«, erklärte sie leicht außer Atem, und kramte einen wuchtigen Schlüssel aus ihrer Tasche hervor.

Frau Donnecker war eine zierliche ältere Frau. Mit dem rostroten kurzen Haar fiel sie einem sofort ins Auge.

Als ich neben den anderen her den Klassenraum betreten wollte, blickte sie mich mit einem halben Lächeln an.

»Sie sind Mia, Richtig?« Ich nickte knapp.

»Suchen Sie sich bitte einen Platz aus. Ein oder zwei müssten noch frei sein«, erklärte sie mir freundlich und ich war gleichzeitig erleichtert, dass ich diesmal nicht vorgestellt werden musste.

Zu meinem Pech war es mir natürlich nicht sofort möglich einen Platz zu finden, da meine Mitschüler nicht mal ihren eigenen aufgesucht hatten. Nach einer guten Minute fand ich jedoch einen und steuerte mit gesenktem Kopf darauf zu.

Gerade als ich den Stuhl zurückschieben wollte, um mich zu setzen, erklang eine hohe Stimme und hielt den Stuhl mit eisernem Griff fest.

»Hier kannst du mit Sicherheit nicht sitzen«, fuhr das Mädchen mich mit hochgezogener Augenbraue an.

Ich blickte direkt in ihr Gesicht. Sie war unverkennbar schön. Ihre langen gelockten Haare glichen dem eines blonden Engels, während mich ihre perfekte Haut an feine Seide erinnerte. Aber das reine Braun ihrer Augen starrte mich bösartig an.

Mit einer abwertenden Haltung bedeutete sie mir, mich schleunigst davonzumachen.

Gleichgültig suchte ich nach einem anderen Platz und fand einen gegenüber von ihr.

Abermals zog ich den Stuhl zurück und wurde wieder daran gehindert mich hinzusetzen. Dieses Mal war es ein Junge, den ich zuvor zusammen mit der Gruppe von Jungs im Korridor gesehen hatte.

»Hier kannst du auch nicht sitzen«, teilte er mir lachend mit und zwinkerte dem schönen Mädchen hinter mir amüsiert zu. Ohne eine Miene zu verziehen suchte ich weiter, allerdings ohne Erfolg.

Frau Donnecker war weiterhin damit beschäftigt irgendwas an die Tafel zu schreiben und bekam das Spektakel überhaupt nicht mit. Es kam mir vor, als könnte ich jeden einzelnen lachen hören.

»Du kannst gerne hier sitzen«, hörte ich plötzlich eine zaghafte Stimme sprechen.

Ich folgte dem Klang und blickte hinter mich zu dem Mädchen, das eben noch schüchtern im Flur ein Buch gelesen hatte.

Schweigend ging ich an den anderen vorbei, setzte mich neben sie und nickte ihr einmal dankend zu.

Sie lächelte mich halb an, starrte jedoch im nächsten Moment wieder auf ihr Buch, das den Titel »Faszination Meeresforschung« trug.

»Ich bitte Sie nun alle um Ruhe. Ich würde gerne die Anwesenheitsliste durchgehen«, erklärte Frau Donnecker.

Langsam, als hätten sie alle Zeit der Welt, setzte sich einer nach dem anderen auf seinen Stuhl und schaute daraufhin nur lustlos nach vorne ans Lehrerpult.

In der nächsten Minute hörte man nichts weiter, als ein gelangweiltes »Hier«.

Irgendwann fiel der Nachname Schark. Als sich niemand meldete, schaute Frau Donnecker unbeeindruckt auf.

»Hat heute schon zufällig jemand von Ihnen Taylor gesehen?« Ihre Stimme hatte einen genervten Unterton angenommen.

»Sie vielleicht, Lennox?«, sprach Frau Donnecker den bulligen Jungen von vorhin an, während sie nebenbei verärgert mit dem Kugelschreiber auf das Pult tippte.

»Nee«, antwortete er und kippelte währenddessen übertrieben mit seinem Stuhl.

Für eine Sekunde wünschte ich mir, dass er hinfallen und sich dabei einen hässlichen blauen Fleck zuziehen würde.

Ohne noch etwas zu sagen notierte sie etwas in das Klassenbuch und fuhr daraufhin matt fort.

Gedankenverloren überstand ich auch diese Stunde, und wünschte mir abermals das Ende des Tages herbei.

Ich hatte noch Biologie, Geschichte und Wirtschaftslehre, bis endlich das erlösende Glockenläuten den Schulschluss verkündete.

Mit Kopfhörern in den Ohren und dröhnend lauter Musik machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Und könnte der Tag sogar nicht noch schlimmer kommen, musste ich tatsächlich noch über eine halbe Stunde in der Kälte warten.

Zu Hause angekommen, wollte ich nur noch in mein Zimmer und die von mir zutiefst herbeigesehnte Ruhe genießen.

Während ich gerade die Treppe hinaufstieg, um in meine vier Wände zu gelangen, hörte ich Ela aus der Küche nach mir rufen.

Ich tat so als würde ich sie nicht hören, und nahm jetzt immer zwei Stufen auf einmal, doch zu meinem Missfallen war sie schneller.

»Nicht so schnell, junge Dame. Wie war dein erster Tag in der Schule?«

Genervt schloss ich die Augen und atmete einmal tief ein. Bevor es zu einem Streit kommen konnte, hielt ich es für klüger einfach weiterzugehen.

»Ich habe dich etwas gefragt. Meinst du nicht, du bist mir nach deinem Auftritt von heute Morgen eine Antwort schuldig?«, rief sie mir verärgert hinterher.

Ich ging weiter und schloss wenige Sekunden später die Tür zu meinem Zimmer zu.

Schlagartig fühlte ich mich etwas besser.

Ich streifte meine Schuhe achtlos von den Füßen, und schmiss mich auf mein großes Bett.

Eine lange Zeit blickte ich zum Foto meiner Mutter, etwas vollkommen Alltägliches. Schließlich tat ich den gesamten Tag über fast nichts anderes mehr.

Ich war mir nicht sicher wie lange ich so dagelegen haben musste, doch als es an der Tür klopfte kam Ben herein. Es musste also schon am Abend sein.

»Darf ich reinkommen?«, fragte er wie immer mit übertriebener Vorsicht.

Ich verbiss mir den dummen Kommentar, dass er ja bereits in meinem Zimmer stand, und blieb einfach reglos liegen.

»Ela sagte mir, dass du nicht zum Abendessen erschienen bist, da wollte ich mal nachsehen, ob es dir gut geht.«

Ich hatte nicht mitbekommen das Ela mich überhaupt zum Essen gerufen hatte.

Während ich weiter schwieg, sah ich Ben aus dem Augenwinkel stumm nicken.

»Wie war denn dein Schultag?«

Ich biss die Zähne fest zusammen und machte mir nicht einmal die Mühe meine Wut auf ihn zu verbergen.

»Ganz toll, Ben«, antwortete ich ihm deshalb zynisch.

»Sind deine Klassenkameraden nett?«, fragte er mit bedacht.

Plötzlich, ohne zu wissen weshalb, sah ich vor meinem inneren Auge eine Gruppe von Jungs, die sich auf dem Schulflur langsam auf mich zubewegte. Das Bild war allerdings so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war, also schenkte ich dem Ganzen auch keine Bedeutung mehr.

Anscheinend ahnte Ben bereits, dass ich ihm nicht mehr antworten würde und stellte einfach die nächste Frage.

»Wie sieht denn dein Stundenplan aus?«

Ich zeigte mit dem Finger auf den Schreibtisch, wo ich ihn abgelegt hatte.

Eine unangenehme Stille legte sich über uns, sodass ich sein fast lautloses aufstöhnen deutlich wahrnehmen konnte.

Ich erschrak leicht, als Ben sich im nächsten Moment zu mir aufs Bett setzte, sich müde das Nasenbein rieb und mich hoffnungslos ansah.

»Hör mal, Mia. Ich weiß ja dass du wütend auf mich bist. In vielerlei Hinsicht. Aber ich bin mir sicher, dass dir die neue Schule guttun wird. Es ist am Anfang natürlich nicht leicht, doch mit der Zeit wird sich das legen und du wirst sicher nette Leute kennenlernen.«

Ich war mir sicher, dass er auf eine Reaktion hoffte, doch diesen Gefallen tat ich ihm nicht.

Nach einer Weile brach er die Stille erneut und fuhr leise fort.

»Deine Mutter hätte es sich so für dich gewünscht. Dass du glücklich wirst, meine ich.«

Sogleich krallte ich meine Fingernägel in das Bettlaken. Wie konnte er es nur wagen? Mein Vater wusste genau, dass das Thema »Mom« nicht angesprochen werden sollte.

Schlagartig hatte ich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, wie jedes Mal, wenn man über sie sprach.

Als er etwas Weiteres sagen wollte, stand ich rechtzeitig vom Bett auf, schwankte dabei leicht zur Seite, versuchte gleichzeitig das Gefühl von Schwindel zu unterdrücken und steuerte direkt auf mein Badezimmer zu.

»Mia?«, hörte ich ihn besorgt meinen Namen rufen.

»Ich muss unter die Dusche und danach gehe ich ins Bett. Ich bin müde«, antwortete ich ein wenig zu hastig und schlug eilig die Badezimmertür hinter mir zu.

Um die schrecklichen Bilder aus meinem Kopf verschwinden zu lassen, ließ ich absichtlich kaltes Wasser über meinen Körper laufen. Es half tatsächlich ein wenig und war ein winziger Trost.

Da ich mir nicht sicher war, ob Ben in meinem Zimmer auf mich warten würde, blieb ich einfach einige Zeit auf den Fliesen im Badezimmer sitzen und versuchte angestrengt nicht an jenen Abend zurückzublicken.

Eine Stunde später öffnete ich die Tür, mein Vater war Gott sei Dank nicht mehr da.

Erschöpft legte ich mich auf mein Bett. Ich mochte die Überbrückungsphase zum endgültigen Schlaf nicht. Sie machte mich nervös. Man hatte auch hier einfach zu viel Zeit zum Nachdenken.

Wie jede Nacht wurde ich von Alpträumen geplagt.

Das Erwachen

Der nächste Tag war ein ganz normaler Morgen. Ich fühlte mich gerädert und ausgelaugt zugleich. An das Brennen in meinen Augen hatte ich mich bereits gewöhnt und akzeptierte es mittlerweile in meinem lethargischen Alltag.

Nachdem ich mich für die Schule fertig gemacht hatte, ging ich samt Schultasche hinunter in die Küche.

Ben saß mit einer Tageszeitung am Küchentisch und hatte bereits angefangen zu frühstücken.

»Guten Morgen«, begrüßte er mich freundlich.

Schweigend gesellte ich mich ihm zu, und nahm mir eine Scheibe Toast aus dem Brotkorb. Es war so still im Haus, das man deutlich das Ticken der Wanduhr wahrnehmen konnte, während ich nach und nach mein Toast verspeiste, ohne wirklich etwas davon zu schmecken.

»Mia, ich muss da etwas mit dir besprechen.«

Er wartete einen Moment geduldig ab, bevor er zu erklären begann.

»Es geht um deine Tante Ela.«

Da Ben genau wusste, wie ich meistens auf sie regierte, sprach er seine nächsten Worte mit hoher Vorsicht aus.

»Ich habe beschlossen, dass sie für eine Weile bei uns einziehen wird.«

Fast hätte ich mich an meinem Kaffee verschluckt. Ich musste mich verhört haben.

»Das ist ein schlechter Scherz«, sagte ich und schaute meinem Vater zweifelnd in die Augen, der nur hoffnungslos seufzte.

»Warum kannst du die Reaktion deines Bruders nicht teilen, Mia? Als ich Leo am Telefon davon erzählte, war er gleich Feuer und Flamme für diese Idee.«

»Das war keine Antwort auf meine Frage, Ben«, entgegnete ich aufgebracht.

Er atmete mehrere Male tief ein, um sich zu beruhigen.

»Ich werde in den nächsten Wochen sehr viel arbeiten müssen und da brauche ich nun mal ein bisschen Unterstützung. Wie du weißt, hat mir Ela schon mehrfach ihre Hilfe angeboten und nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich ihren Vorschlag dankend annehmen werde. Und da erwarte ich von dir und Leo, dass ihr freundlich zu eurer Tante sein werdet.«

»Ich brauche keinen Babysitter mehr«, protestierte ich.

»Ach nein?«, fragte er stattdessen und blickte mich herausfordernd an.

»Nein«, presste ich zwischen den Zähnen hervor.

Rasend vor Wut schenkte ich mir einen weiteren Kaffee ein, und schüttelte nebenbei immer wieder ungläubig mit dem Kopf. Meine Tante hatte mir gerade noch gefehlt. Ich mochte gar nicht erst an die nächste Zeit denken.

»Und wann bitteschön wird sie hier einziehen?«, fragte ich nach einer Weile, weiterhin gereizt.

»Ich bin schon da«, hörte ich es plötzlich übertrieben fröhlich an der Tür singen.

Automatisch drehte ich mich in ihre Richtung und sah Ela dabei zu, wie sie ihre zwei großen Koffer ungeschickt versuchte hereinzutragen. Ihr zufriedenes Lächeln zerrte schon jetzt an meinen Nerven.

Ich biss die Zähne so fest aufeinander, dass mein Unterkiefer zu schmerzen begann.

Blitzschnell sprang mein Vater vom Stuhl auf, und half ihr bei der schweren Last. Zur Begrüßung küsste er sie auf die Wange und flüsterte ihr irgendetwas zu das ich nicht verstehen konnte.

»Guten Morgen, ihr zwei«, warf sie gut gelaunt in den Raum. Dabei breitete sie ihre Arme so weit aus, dass manch einer glauben könnte, sie würde versuchen davonzufliegen.

Reflexartig verdrehte ich die Augen, während sie sich gegenüber zu mir an den Tisch setzte und mich mit einem geschwollenen Grinsen betrachtete.

»Da ich ja nun für einige Zeit hier wohnen werde, habe ich mir überlegt, dass wir zwei nach deinem Schulschluss zusammen kochen und uns danach ein wenig um die Einrichtung kümmern werden. Das Haus gleicht momentan ja eher einer Abstellkammer als einem vornehmen Anwesen. Und vielleicht bleibt danach ja noch Zeit für einen tollen Film? Sollte dein Vater bis dahin schon zu Hause sein, wäre es natürlich umso schöner, wenn wir ihn alle gemeinsam schauen könnten, aber zu zweit macht es ja auch Spaß. Ein richtiger Tante- Nichte- Tag. Na, wie klingt das?«, fragte sie euphorisch und tanzte bei ihrer Idee wie ein Kind voller Vorfreude auf ihrem Stuhl hin und her.

Ich beobachtete Ben dabei, wie er die Hände zufrieden an die Hüften legte und lächelte.

Gerade als ich meinen Einwand dazu beitragen wollte, fiel Ela mir schon ins Wort.

»Da mir durchaus bewusst ist, Mia das du höchstwahrscheinlich eh keine Lust auf das Ganze haben wirst, erwarte ich auch keine Freudentänze von dir. Aber ich verlange dennoch dich hier heute Nachmittag zu sehen, junge Dame.«

Es war nicht zu übersehen wie sehr meine Tante ihre neugewonnene Freiheit was meinen Bruder und mich- vor allem mich betraf, in vollen Zügen auskostete.

Meine Nasenflügel bebten vor Wut. Da mir jedoch klar war, dass es sinnlos sein würde jetzt noch etwas zu sagen, hielt ich entschlossen den Mund, griff stattdessen nach meiner Schultasche und flüchtete wortlos zur Haustür hinaus.

Mit eiligen Schritten lief ich die Auffahrt entlang, bog um die Ecke in die Seitenstraß ein und fluchte innerlich vor mich hin.

»Wenn wir erstmal umgezogen sind, wird sich alles bessern«, hörte ich Ben in Gedanken zu mir sagen.

Diese Worte versprach er meinem Bruder und mir, als er uns von seiner Entscheidung umzuziehen, berichtete. Besser? Es war die reinste Hölle, und Ela war nur die Krönung des ganzen Schwachsinns gewesen.

Als ich an der Bushaltestelle ankam, bemerkte ich, dass ich viel zu früh war und setzte mich genervt auf einen freien Platz der dazugehörigen Bänke.

Schon nach wenigen Minuten folterte mein Gewissen mich mit Bildern aus der Vergangenheit. Während ich immer wieder den dumpfen Knall wie ein Echo in den Ohren aufhören musste, verschränkte ich meine Arme vor dem Brustkorb und kämpfte gegen die Tränen an. Die Sehnsucht nach meiner Mutter lies mich jeden Tag aufs Neue sterben.

In Gedanken vertieft verpasste ich sogar beinahe meinen Bus, den ich nicht einmal kommen gehört hatte. Ich suchte mir einen Platz weiter hinten aus, und ließ mich müde auf den Sitz fallen.

Die Fahrt dauerte über eine halbe Stunde und zu Fuß hatte ich auch noch knapp über zehn Minuten zu laufen, um endlich an meiner neuen Schule anzukommen. Ein weiterer Punkt mich bei Ben für seine absurde Idee zu beklagen.

Nachdem ich ausgestiegen war, warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Ich hatte noch eine gute viertel Stunde Zeit bis zum Unterrichtsbeginn.

Mit den Händen in der Jackentasche stampfte ich die Straße hinauf, von der ich glaubte, dass sie zu meiner Schule führte, und wünschte mir wieder einmal sehnsüchtig den Abend herbei.

Doch dann passierte etwas, womit ich niemals gerechnet hätte. Etwas, das so intensiv war, dass ich es wohlmöglich sogar niemals vergessen werde, als ich ihn zum ersten Mal sah.

Er stand vor einem Auto und war gerade damit beschäftigt es abzuschließen. Es war nicht die unübersehbare blutrote Farbe seines Wagens, die meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern der Junge selbst.

Als ich ihn genauer betrachtete, breitete sich ein mir unbekanntes Gefühl aus, das ich anscheinend vollkommen vergessen hatte.

Mit langsamen Schritten ging ich an ihm vorbei, schaffte es allerdings nicht meinen Blick von ihm abzuwenden. Er war wahrhaftig schön. Noch nie hatte ich zuvor jemanden getroffen, dessen Aussehen mich so stark in seinen Bann gezogen hat und das, obwohl ich ihn nicht einmal von vorne sehen konnte. Ich hatte keine Ahnung, ob es das volle dunkle Haar war, das er sich modisch zurechtgemacht hatte oder seine markanten Züge ihn wie ein Model aussehen ließen, doch seine perfekt geformte Nase und die hervorstehenden Wangenknochen rundeten sein Gesamtbild schon jetzt makellos ab. Bestimmt war er einige Jahre älter als ich, denn sein Oberkörper ragte deutlich über seinem Auto hervor. Alles an ihm passte, selbst der graue Schlumpf unter seiner Lederjacke schmiegte sich wie angegossen an seinen Oberkörper.

Als er urplötzlich zu mir aufschaute, sah ich abrupt von ihm ab und lief beschämt mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen die Straße weiter hinauf.

Gott, wie peinlich!

Mein Herz raste, während meine Wangen schlagartig zu glühen begannen.

Um schleunigst von hier wegzukommen bog ich ohne nachzudenken hastig in eine Seitenstraße ein. Allerdings nicht, ohne mich noch einmal zu ihm umzudrehen. Ich konnte einfach nicht anders und erstarrte beinah, als ich erkennen musste, dass auch er mir nachsah. Bestimmt fragte er sich, warum ich ihn so beschränkt angestarrt hatte.

Erst nachdem ich mir sicher war außer Sichtweite zu sein, wagte ich es meine Schritte zu verlangsamen. Das seltsame Gefühl wollte einfach nicht verschwinden und machte es mir unmöglich, mich auf den richtigen Weg zu konzentrieren.

Es dauerte nicht lange, bis auch ich feststellte, dass ich mich tatsächlich verlaufen hatte. Na super! Schlimmer konnte es heute kaum noch kommen. Zumal ich den zweiten Tag an einer neuen Schule noch unangenehmer fand als den ersten. Gestern war ich wenigstens noch damit beschäftigt mich auf die Räumlichkeiten der Schule zu konzentrieren. Heute war der Tag gekommen, an dem ich mich von nun an meinen Mitschülern stellen musste. Das erste Beschnuppern hatten wir ja gestern bereits hinter uns gebracht, nun würden einige von ihnen sicher versuchen sich mir anzunähern. Ich konnte nur weiterhin inständig darauf hoffen, dass ihnen ihr Instinkt dazu riet, jemanden wie mich nicht anzusprechen.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass der Unterricht in wenigen Minuten beginnen würde. Es käme einem Wunder gleich, wenn ich es noch pünktlich zur Stunde schaffte.

Notgedrungen fragte ich einen älteren Herrn der mir entgegen kam nach dem Weg und bedankte mich, als er ihn mir genauestens erklärte.

Ich wusste nicht wie ich es angestellt hatte, aber ich war allen Ernst in eine komplett andere Richtung gelaufen.

Nachdem ich endlich ankam, war der Schulhof bereits leer.

Hastig sah ich auf meinen Stundenzettel und stellte genervt fest, dass ich jetzt Mathematik hatte. Dieser Morgen hatte sich offenbar voll und ganz gegen mich verschworen. Wenigstens erinnerte ich mich an den richtigen Klassenraum, klopfte nach einem letzten tiefen Atemzug an die Tür und trat leise ein. Wie zu erwarten waren alle Augen schlagartig auf mich gerichtet.

»Ah, da sind Sie ja. Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Frau Donnecker besorgt.

Irgendwo im Klassenraum konnte ich es kichern hören.

»Ja, Entschuldigung. Ich hatte mich verlaufen«, gestand ich ehrlich. Über eine Ausrede hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Mehrere Sekunden schaute sie mich nachdenklich an.

»In Ordnung. Da Sie neu an dieser Schule sind mache ich nochmal eine Ausnahme, aber morgen erwarte ich Sie pünktlich in meinem Unterricht, verstanden?«

In der Zwischenzeit nahm sie ihren Kugelschreiber zur Hand und strich etwas aus dem Klassenbuch. Ich ging schwer davon aus das es mein Name war und behielt es für mich, dass es mir gleichgültig gewesen wäre, ob ich nun einen negativen Eintrag bekam oder nicht.

Auf dem Weg zu meinem Platz, hörte ich es weiterhin lachen, und hüllte mich einfach in meine von mir erschaffene Schwermut ein.

Nachdem ich mich gesetzt hatte, lächelte mich meine Tischnachbarin schüchtern an. Ich wusste nicht, ob ich es erwiderte.

Als ich meine Schreibutensilien aus der Tasche holte, ließ ich unter gesenktem Kopf den Blick über die Klasse schweifen. Der größte Teil betrachtete mich weiterhin neugierig, bis ich plötzlich mit Herzrasen an einer unerwarteten Person hängen blieb. Es war der schöne Junge den ich eben an der Straße gesehen hatte, und der der eigentliche Grund für mein Zuspätkommen war.