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In der zweiten Lebenshälfte noch einmal die große Liebe finden? Gar nicht so einfach - das merkt Anne schnell, als sie sich mutig ins Abenteuer Online-Dating stürzt. Zwischen skurrilen Profilen, kryptischen Abkürzungen und unerwarteten Begegnungen entdeckt sie nicht nur Fetische und Fische, sondern vor allem sich selbst. Eine charmante, ehrliche und humorvolle Geschichte über das späte Suchen – und vielleicht auch Finden – der Liebe.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
"Denn prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Besseres findet." Hier wimmelt es von Geschichten, die so absurd sind, dass man sie für Drehbuchideen halten könnte. Frech und gnadenlos ehrlich! Anja Goerz liefert das ultimative Lesefutter für Datingapp-Überlebende.
Susanne Matthiessen, Autorin
Selten konnte ich mich so entspannt aufregen über haarsträubende Anmachsprüche, dreiste Lügen und desillusionierende Dates. Dass ich trotz der Lektüre weiterhin an die wahre Liebe glaube, ist der Verdienst von Anja Goerz – und ihrer famos optimistischen Protagonistin Anne.
Sandra Lüpkes, Autorin
Anja Goerz und Dessous Dorsch Desaster sind für mich das perfekte Match!
Eric Weißmann, Immobilienmakler und Bestsellerautor
Anja Goerz beschreibt zum Schreien komisch und zum Schlucken traurig, die Tücken der virtuellen Partnersuche Ü 50. Die Welt der Dating-Portale scheint ein Sammelbecken für Psychopathen jeder neurotischen Couleur. Und der Spruch meiner Oma scheint immer noch zu stimmen: „Männer sind wie Hühnerleitern: Entweder besetzt oder beschissen.“
Claudia Thesenfitz, Bestsellerautorin und Erfinderin ihrer Sylter Glücksroman-Reihe
Alles kann, Nussmix.
Was man sonst noch wissen muss übers Dating steht in diesem Roman.
Ich hoffe, jeder, der so wie die Romanheldin in Datingapps unterwegs ist, findet irgendwann sein Happy End.
Julia Westlake, Moderatorin
Ich dachte, es geht beim Dating um Partnerschaft und Harmonie. Weit gefehlt. Da tun sich Abgründe auf.
Eric Niemann, Autor
Das ist Dating, wenn Anja Goerz darüber schreibt: urkomisch, scharfzüngig, treffsicher. Diesen lustigen Dating-Roman sollte jeder lesen - auch diejenigen, die in festen Händen sind. Aus Gründen.
Sina Beerwald, Autorin
"Männer, ihr könnt das besser", ruft Anja Goerz allen
Y-Chromosomenträgern in ihrem Dating-Diary charmant, witzig und bissig zu. Brillant - Charmant - Erwachsen - Eine Dating-Odyssee, bei der 'Mann' sich fremdschämen muss.“
Klaus Maria Dechant, Autor und Verleger
Ich habe keine Ahnung von Dating-Apps - und nach diesem Buch bin ich froh darüber. Herrlich komisch und gnadenlos ehrlich. Anja Goerz bringt es auf den Punkt.
Elsa Dix, Autorin
Autorin/Herausgeberin/ V.i.S.d.P.:
Anja Goerz, Jakobistr.24, 28195 Bremen
Coverbild erstellt mit Unterstützung von KI (ChatGPT) und final bearbeitet von Anja Goerz und Christina Loock
@2025 Anja Goerz Alle Rechte vorbehalten.
Die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe des Werkes - auch auszugsweise - ist ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin nicht gestattet.
Für alle,
die nicht damit aufhören,
an die Liebe zu glauben.
Dating-Apps zu nutzen, ist ein bisschen wie Angeln: Viel Köder, wenig Fang und manchmal zieht man einen alten Gummistiefel an Land.
Netzweisheit
HEUTE
Ich gebe zu, ich zögere kurz, aber dann tippe ich auf das winzige Kreuz, wiederhole diesen Vorgang, als ich gefragt werde, ob ich mir wegen des Löschens wirklich sicher bin – und dann sind sie weg.
Keine Datingapp mehr.
Es ist alles gut.
18 Monate zuvor
In meinem Leben gab es einige Momente der Überforderung. Als ich im Deutschunterricht ein Referat über den „Schimmelreiter“ von Theodor Storm halten musste, obwohl ich das Buch nie gelesen hatte, zum Beispiel. Wohlgemerkt zu Zeiten, in denen es noch keine Internetverbindung gab.
Internet, nächstes Überforderungsthema, immer und immer wieder. Deshalb ist mir doppelt unklar, weshalb ich mich dazu habe hinreißen lassen, diese verdammte Dating-App herunterzuladen.
Was nicht stimmt.
Natürlich weiß ich, warum.
Meine Trennung lag bereits einige Monate zurück. Die ständigen Fragen in meinem Kopf, ob ich etwas hätte anders oder besser machen müssen, um meine Ehe zu retten, waren weitestgehend verstummt. Die Traurigkeit darüber, dass der Mann, den ich so sehr geliebt, mit dem ich mir ein „bis dass der Tod euch scheidet“ erträumt hatte, war von Ernüchterung abgelöst worden.
Ich fühlte mich einsam, ich hatte Wein getrunken, mehr als gewöhnlich, dann kam eine Streaming-Serie mit Pedro Pascal dazu, und schließlich postete eine gute Bekannte bei Facebook ihren beringten kleinen Finger. „Ich habe JA gesagt“, schrieb sie.
„Der Sieg der Hoffnung über die Vernunft!“, wollte ich kommentieren, schickte dann aber nur ein paar Herzen.
Mein Ex hatte für sich die Entscheidung getroffen, dass für ihn ein Leben als Single genau das Richtige sei. Weder der Kauf eines Gasgrills mit eingebautem Airfryer noch die Anschaffung einer italienischen Siebträger-Espressomaschine aus Chrom mit allem Pipapo von Kaffeemühle bis Pulverwaage hatten der Midlife-Crisis Einhalt geboten. Auch die Investition in ein Rennrad, das in etwa dreimal so teuer war wie mein gebrauchter Kleinwagen, hatte nicht die Zufriedenheit in sein Leben gebracht, die er suchte. Als letztes Aufbäumen vor dem Untergang war er mit seiner fast dreißig Jahre jüngeren Assistentin ins Bett gegangen. Mehrfach.
Klassiker.
Für mich war die Trennung mit einem Umzug an einen Ort verbunden, an dem ich dem Ex möglichst nicht begegnen würde. Ich fand einen Job in einer norddeutschen Kleinstadt bei der Zeitung, bei der ich bereits meine Ausbildung gemacht hatte. Hier startete ich immerhin nicht ganz von vorn, sondern kannte bereits einige Menschen. Auch meine beste Freundin aus früheren Zeiten wurde schnell wieder ein fester Bestandteil meines Lebens.
Die ersten Monate hatte ich hier mit Heulen verbracht, dann viel geweint und schließlich war ich an freien Tagen einfach bis abends im Bett geblieben.
Wie an diesem einen entscheidenden Sonntag.
Vor dem Wein und vor dem Verlobungsbild hatte ich noch gedacht „Ach, allein ist auch gar nicht so übel, dann muss ich jedenfalls nicht irgendeinem Mann, den ich neu kennenlerne, auf sein Kurzarm-Karohemd starren, wenn es mir in seinem umgebauten Van an der Ostsee mal wieder alles zu eng wird“.
Wieso ich überhaupt nach Monaten des Selbstmitleids daran dachte, wieder einen neuen Mann in mein Leben zu lassen?
Nun, die Vorgeschichte geht so: Erica, meine fünfundsechzigjährige Nachbarin, fing mich an den Mülltonnen ab. „Kindchen, das geht so nicht weiter. Du musst wieder etwas für dein Liebesleben tun, ich habe noch nie einen Kerl bei dir klingeln sehen. Der Paketbote war mal da, aber der zählt nicht.“ Sie ließ mit diesen Worten einen Schwung Modezeitschriften ins Altpapier fallen und warf den Deckel der Tonne mit Schwung zu, bevor sie sich unter hakte, um mich Richtung Haustür zu ziehen. „Dating-Apps sind die Discotheken der Neuzeit, sage ich dir. Schätzchen, da sind sie alle, auch für uns ältere Mädchen.“
„Du triffst dich mit Männern, die du über eine App kennengelernt hast?“
Erica löste ihren Arm aus meinem, trat einen Schritt zurück und wedelte theatralisch mit den Händen. „Ob ich mich mit Männern treffe?“ Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre dunkelbraunen Locken, bei denen man niemals einen grauen Ansatz sehen konnte, heftig in Wallung gerieten. „Nein, mein Kind. Männer treffen sich mit mir.“
Erica war die einzige Person in unserem Sechs-Parteien-Haus, zu der ich Kontakt hatte. Bereits am Tag meines Einzugs war sie mit einer Flasche Sekt und zwei Gläsern bei mir aufgeschlagen, um mich zu begrüßen. Aus dem ersten Anstoßen war eine lange Nacht mit bunten Geschichten aus ihrem Leben geworden.
Am Tag ihrer silbernen Hochzeit war Ericas Mann überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Ohne ihren Walter waren Ericas Tage plötzlich sehr lang und nach der ersten großen Traurigkeit hatte sie beschlossen, ihr neues Leben wirklich zu einem neuen Leben zu machen. Alles mitzunehmen, was man mitnehmen konnte: tolles Essen, beste Getränke und ganz viel Liebe. Ich hatte in dieser ersten Nacht mit meiner neuen Nachbarin zwischen Lachen und Weinen, zwischen Peinlichkeit und Fremdscham sehr genossen und seitdem waren wir Freundinnen. Trotz des Altersunterschieds.
An diesem besagten Morgen hatte sie mich bis zu meiner Wohnungstür begleitet und auf dem Weg dorthin gleich drei Dating-Apps auf meinem Handy installiert.
„Also diese eine hier“, sie tippte auf ein Symbol, das an eine Krone erinnerte, „das ist der Klassiker. Sozusagen das kleine Schwarze unter den Möglichkeiten. Da sind sie alle, angeblich Deutschlands beliebteste App. Die Fotos der Männer jedenfalls finde ich allerdings hier viel besser.“ Der rot lackierte Fingernagel markierte ein hellblaues Herz-Symbol. „Aber wenn es dir nur um …“ sie zögerte, schaute mir in die Augen, senkte die Stimme. „Also ich sage es mal so: Wenn du lieber keine feste Beziehung willst, dann guckst du dich hier mal um.“
Ich fragte lieber nicht, was Erica unter Fun verstand, so hieß nämlich die letzte App. In Bezug auf Männerbekanntschaften wollte ich jedenfalls nicht nur Spaß, sondern etwas Echtes, Ernsthaftes. Liebe, Zuneigung, Ehrlichkeit.
Inzwischen weiß ich: Mit Mitte fünfzig mit dermaßen naiven Vorstellungen in den Dating-Pool zu springen, ist in etwa so schlau wie ein Bad in einem Haifischbecken, wenn man sich vorher in den Finger geschnitten hat.
Als ich von den Mülltonnen zurück in meine Wohnung kam, klingelte das Telefon, ich war danach den ganzen Tag beschäftigt, vergaß Erica und ihre Ratschläge ebenso wie die Apps.
Bis dann abends diese Verlobungsgeschichte mein Leben streifte. Von der Bekannten, die ihren Neuen auch online getroffen hatte.
Während ich mit dem Handy auf dem Sofa saß und überlegte, ob ich es wirklich wagen sollte, ob ich mein Gesicht öffentlich unter der Überschrift VERZWEIFELTER SINGLE SUCHT LIEBE ausstellen sollte, hatten meine Finger bereits das erste Profil erstellt. Ich wählte unter den angebotenen Möglichkeiten aus, dass ich eine Beziehung suche, Single bin und keine Kinder habe. Aus meinem Fotoarchiv suchte ich Bilder aus, auf denen ich nur von der Seite zu sehen war. Fand auch eines, das meine Freundin Kirstin von mir gemacht hatte. Ich schaute darauf über meine Schulter und lachte über irgendetwas, dass sie gerufen hatte. Hin- und hergerissen zwischen Romantik und Realismus entschied ich mich schließlich, statt eines ausführlichen Textes einfach nur ein Zitat aus einem Song von Rio Reiser ins Profil zu kopieren. „Wenn dein kaltes Bett dich nicht schlafen lässt, halt dich an deiner Liebe fest“. Löschte es dann wieder, um zu vermeiden, dass der interessierte Mann am anderen Ende dachte, ich würde nur auf deutsche Musik stehen.
Schrieb den Anfang eines Gedichtes von Rilke, löschte den Text wieder. Ich wollte auch nicht für eine Frau gehalten werden, die Gedichtbände liest.
Schließlich schrieb ich: Schön, dass du auch hier bist. Vielleicht lernen wir uns erst einmal kennen?
Es wurde abgefragt, welcher Beziehungstyp man sucht, zum Beispiel: Monogamie, Polyamore, Konsensuelle Nicht-Monogamie, welche Sprachen man spricht und welche Ausbildung man absolviert hat. Meine größte Hürde war jedoch der Punkt: Persönlichkeitstyp eingeben. INTJ, ENFJ, ESTJ, ISFP, ich hatte weder Lust noch den klaren Kopf, den ich dazu bräuchte, um alle Begriffe nachzuschlagen, und kategorisierte mich schließlich als ENFP, was so viel bedeutet wie kreativer Freigeist, der immer das Schöne sieht. Ich behauptete in meinem Profil täglich Sport zu treiben, nur zu besonderen Anlässen zu trinken und nicht zu rauchen, gab zu, dass ich auf Social Media aktiv bin und eigentlich alles esse.
Nächstes Hindernis, die Überschrift. Die Frage dazu: Wie empfängst du Liebe?
Am liebsten persönlich, wollte ich hinschreiben, ging aber nicht, denn ich hatte nur die Wahl zwischen: aufmerksame Gesten, Geschenke, Berührungen, Komplimente, gemeinsame Zeit. Ich entschied ich mich für Berührungen.
Schließlich las ich alles noch einmal durch. War mir bei den ausgewählten Optionen unsicher und löschte sie deshalb lieber wieder.
Lediglich der Profiltext, mein Beziehungsstatus, die Auswahl „feste Beziehung gesucht“ und mein Foto blieben übrig.
Profil hochladen?
Ein Klick und mein Datingprofil war online.
Erica würde stolz auf mich sein.
Ralf schüttelt schon seit Stunden den Kopf. Jedenfalls kommt es mir so vor, als ob die damit ausgedrückte Ungläubigkeit über das, was er in den Datingapps sieht, bereits ewig anhält. „Schätzchen, mir wird ein bisschen übel, wenn ich mir angucke, was sich hier so für Herrschaften tummeln.“
Ralf und ich sind Kollegen in der Lokalredaktion der örtlichen Zeitung und kennen uns schon seit unserem gemeinsamen Volontariat. Wahrscheinlich war ich die erste Person, an der er sein Outing getestet hat. Wir hatten in den vergangenen Jahren nur sporadisch Kontakt, seit ich wieder hier bin, fühlt es sich aber an, als seien wir nie getrennt gewesen.
Ralf ist ein unglaublich schöner Kerl, nach dem sich sowohl Frauen als auch Männer auf der Straße umdrehen. Vielleicht fällt er deshalb so auf, weil er so bodenständig und natürlich ist und sich auf seine Optik wirklich gar nichts einbildet. Übrigens ist Ralf auch von innen ein sehr schöner Mensch, auf den ich mich zu tausend Prozent verlassen kann. Er ist der Typ, den ich anrufen würde, wenn ich nachts in der Pampa mit dem Auto strande oder nach zu viel Alkohol wehmütig werde und ein bisschen Weltschmerz teilen muss. Während unserer Ausbildung waren wir beide in denselben Typen verknallt, der sich dann aber weder für mich noch für Ralf entschied, sondern die Tochter eines Zukunftsforschers geheiratet und mit ihr sechs Kinder bekommen hatte.
Wir sitzen zusammen mit Henrik in der winzigen Kaffeeküche der Redaktion. Seit meiner Rückkehr zu dieser Zeitung waren wir drei wie ein Kleeblatt. Der attraktive Kulturredakteur Ralf, der durchtrainierte Mann aus dem Sport, Henrik und die Frau für Tagespolitik und Weltgeschehen, ich. So unterschiedlich unsere Arbeitsbereiche, so unterschiedlich auch unser privater Status. Ralf sucht in Bars und auf Gay-Portalen nach dem Mann fürs Leben, Henrik hat seine bessere Hälfte bereits vor Jahren geheiratet und ich komme aus einer Langzeitbeziehung. Was uns eint: der Glaube an die Liebe.
Ich lehne also neben Henrik und dem Kühlschrank an der Wand. Ralf hat seinen knackigen Hintern auf dem Tisch geparkt, er scrollt sich durch die Profile der Männer, die seit gestern Abend meinen Account geliket haben, schüttelt dazu ununterbrochen den Kopf und stöhnt, als hätte er körperliche Schmerzen.
„Also ganz im Ernst, findest du diese Apps nicht alles in allem auch ein bisschen sehr needy?“ Er spricht in Großbuchstaben. Ich kenne niemanden außer Ralf, der das kann.
„Was heißt hier needy, warum muss es ihr denn peinlich sein, dass sie jemanden sucht, mit dem sie Zeit verbringen will? Jemanden, der ihr Leben einfach ein bisschen schöner macht?“, fragt Henrik, und ich möchte am liebsten applaudieren.
Wobei Henrik gut reden hat, der ist seit Schultagen mit seiner Frau zusammen, und die beiden erwecken immer noch den Eindruck, dass sie sich sehr lieb haben. Mit seiner nächsten Bemerkung macht er sich aber heute ein bisschen unsympatisch. „Vielleicht hättest du es doch irgendwie hinbekommen, deine Ehe zu retten, Anne. Immerhin war das ein Mann, den du einschätzen konntest.“
Henrik ist der Typ, der in Werbefilmen den Versicherungsvertreter spielen würde oder den verständnisvollen Frauenarzt in einer Vorabendserie. Ich würde nicht sagen, dass er verklemmt ist, aber aus dem Stock, den er mitunter in seinem Hintern mit sich herumträgt, könnte man mindestens einen Hocker bauen. Dafür ist er wahnsinnig hilfsbereit und würde niemanden aus seinem Umfeld jemals hängenlassen. Wenn er also mir gegenüber kritisch wird, dann versuche ich mich immer darin zu erinnern, dass er mich eigentlich nur beschützen will.
„Das ist Quatsch, Henrik und das weißt du auch.“ Ralf wendet sich an mich. „Meine liebe Anne, dein Ex ist ein widerliches, narzisstisches Arschloch. Aber das bedeutet ja nun nicht, dass du dich für den Rest deines Lebens kleinmachen musst. Karma regelt, das weißt du doch? Dein Ex und seine kleine Maus, die werden schon noch an ihre Grenzen geraten bei fast dreißig Jahren Altersunterschied.“
„Wieso denn klein machen? Ich habe mich jetzt einfach nur bei einigen Datingportalen angemeldet und sehe mich um. Wie soll ich denn sonst jemand Neuen kennenlernen? Warst du in letzter Zeit mal abends unterwegs hier bei uns im Ort?“
In unserer Kleinstadt passiert nicht viel und wenn doch, dann meistens mit denselben Leuten.
„Wenn ich unterwegs bin, tanzen bei der Ü-40-Party oder abends im Irish Pub, hat mich noch nie jemand angesprochen. Gut, ich bin vielleicht kein Topmodel, muss mich aber auch nicht verstecken. Getränk ausgeben und ins Gespräch kommen, das ist offenbar total aus der Mode gekommen hier. Da ist eine App, in der sich alle versammeln, die auch mal wieder kuscheln wollen, die beste Idee, oder?“
„Anne, bitte, lass dich nicht von jemandem belehren, der selbst seit Jahren keine Beziehung auf die Kette bekommt“, ermahnt Henrik mich.
„Haha“, ruft Ralf. „Hört euch das an: Ich bin auf der Suche nach einer kriminellen Traumfrau. Sie bricht in mein Leben ein, fesselt meine Seele und raubt mir den Verstand.“
Ich muss meine Hände beschäftigen und öffne den Oberschrank. Kaffeefilter, portioniertes Kaffeepulver, Wasser erst in die große Plastikkanne, dann in den Tank der Maschine. „Ich hab mich da auch ein bisschen umgesehen, guck dir mal die Bilder an. Typen behaupten, dass sie Mitte vierzig sind, sehen aber aus wie der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg. Und was denkt ihr, bedeutet es, wenn Männer Mitte fünfzig angeben, dass sie zwar bereits Kinder haben, aber gerne noch mehr wollen? Ich bin seit Jahren in der Menopause.“
Ralf grinst. „Wenn ich mir das hier so anschaue, dann bin ich echt froh, dass ich auf Männer stehe. Schwule Kerle sind jedenfalls in der Lage, vorteilhafte Fotos von sich zu machen. Was ist denn das bitte?“ Ralf hält mir den Bildschirm entgegen. Auf dem Profilbild ist ein Mann in gelber Anglerhose zu sehen, der einen Fisch im Arm wiegt wie eine Mutter ihr Baby.
„Ich weiß es nicht, ich habe mich noch nicht so richtig damit beschäftigt.“
„Solltest du aber.“ Ralf scrollt weiter. „Auf keinen Fall triffst du dich mit irgendwem, den ich nicht vorher abgesegnet habe. Weißt du, was dabei alles passieren kann?“
„Da muss ich Ralf recht geben, ungefährlich ist es nicht, sich mit fremden Männern zu treffen. Heike hört immer so einen True-Crime-Podcast, und da gibt es reichlich Geschichten von jungen Frauen, die sich nur mit jemandem auf einen Cocktail verabreden wollten und sich dann in der Rechtsmedizin wiedergefunden haben.“
„Ja, junge Frauen vielleicht.“ Die Kaffeemaschine beginnt zu röcheln. „Leute, ich bin auf dem besten Weg ins Rentnerdasein, was soll mir denn beim Daten noch passieren? Dass jemand im Liegen meine Maße für einen Sarg nimmt?“
„Na ja, also er hier zum Beispiel.“ Ralf liest vor: „Kim, 45, hat Kinder und will keine weiteren, aber steht auf Berührungen, und er kommuniziert am liebsten persönlich.“ Er zeigt Henrik und mir die Fotos von Kim. In einem weißen Hemd sitzt der Mann vor einem gut gefüllten Teller und steht auf einem anderen in einem Bayern-Trikot mit kurzer Hose in einem See. „Oder hier“, Ralf lacht. „Norbert fragt: Bist du noch lebenshungrig? Der trägt ein Camp David Shirt, also das musst du mir versprechen, Anne, die sortierst du bitte sofort aus.“
„Was ist denn gegen Camp David zu sagen?“, will Henrik wissen, der in Sachen Mode selbst nicht immer die besten Ideen hat.
„Da drin steckt immer ein ganz bestimmter Typ Mann, vertrau mir, die suchen keine Lebenspartnerin und keine fürs Bett, sondern für die Bettwäsche und die Küche. Barfußschuhe übrigens auch ganz schlimm, aber die werden wahrscheinlich sowieso nie mit fotografiert.“
Ich nehme Ralf das Handy weg und schaue selbst nach, wer mich sonst noch gut findet. Lese vor, was Hansebär schreibt: „Suche eine Frau für eine feste Partnerschaft. Es soll eine Beziehung auf Augenhöhe sein ohne Geheimnisse. Gern auch eine offene Beziehung, wenn du so offen bist. Was nicht heißt, dass ich ständig andere Frauen treffen will. Meine Hobbys sind Kurztrips, Feuerholz machen, Sauna, Wellnesstage.“
„Feuerholz machen?“ Henrik wirkt fassungslos.
„Aber guckt mal er hier.“ Ich zeige den beiden Männern das Foto von Hannes, 52, der statt Profilbild eine Textkachel eingestellt hat, auf der man lesen kann: Ab 50 ist es unsere Pflicht, den Blödsinn zu machen, für den wir mit 20 nicht die Kohle hatten.
Ralf reißt das Telefon wieder an sich und schaut sich das Profil von Hannes an.
„Ha!“, entfährt es ihm. „Der erklärt, was er sich unter Blödsinn vorstellt: Hallo, ich bin verheiratet und im öffentlichen Dienst angestellt und deswegen ist hier auch kein Foto von mir. Ich suche Bekanntschaften, eine Affäre oder Freundschaft plus und das alles ohne Zwang. Diskretion ist mir sehr wichtig. Na, da wäre ich ja nun gar nicht drauf gekommen, Hannes.“ Ralf macht etwas, das wie tztztz klingt und schaut mich an.
„Was genau suchst du denn? Wohl kaum sofort einen neuen Ehemann oder? Jemanden, der bereits in Rente ist und über so viel Zeit und Langeweile verfügt, dass er 24/7 mit dir zusammen sein will, eher auch nicht. Du willst doch jetzt erst einmal ein bisschen was erleben, Anne, oder?“ Zwei heftige Wischbewegungen nach links.
„Ich möchte auch keinen in meinem Alter, der irgendwas mit Schriftzügen wie activ über einem sichtbaren Bauch trägt oder mit hochgerecktem Daumen neben seinem Mercedes steht. Diejenigen, die einen Hund küssen oder eine sehr fette Katze habe ich auch schon letzte Nacht nach links gewischt.“
Ebenso wie etliche, die auf dem Profilbild eine Frau weggeschnitten hatten, deren Hand aber noch auf ihrer Schulter lag, manchmal bekam die Ex auch einfach einen gelben Fleck da, wo auf dem Foto ihr Gesicht war. Erschreckend viel nackte Haut, wahlweise tätowiert oder mit Haaren oder Sonnenbrand. Zudem: In jedem Fahrstuhl dieser Welt muss bereits ein Selfie für Datingportale aufgenommen worden sein, ebenso in Fitnessstudios und vor Badezimmerspiegeln von alleinlebenden Männern.
Die Fakes sieht man beim Tauchen oder Kiten, meistens machen sie beides und haben vielleicht sogar ein Bild mit Golfschläger in ihrem Profil. Bei all diesen Sportarten sehen sie nie angestrengt, sondern immer ein bisschen ZU attraktiv aus. Sogar die vollen Haare bleiben, hoch auf der Welle, top in Form. Die echten Suchenden sind oft nicht in der Lage, ein scharfes Foto von sich selbst zu knipsen, auf dem man außer der Rückseite des Handys noch ein bisschen vom Gesicht erkennt.
Ich fange jetzt gar nicht erst von denen an, die hinter sich den Wäscheständer mit fotografieren oder die hochgeklappte Toilettenbrille.
„Eigentlich wäre mir so ein Robotermann am liebsten. Wie in dem Film Ich bin dein Mensch von Maria Schrader. Gutaussehend, sexy Dialekt und weiß, worauf ich stehe, im Leben und im Bett. Man muss nichts erklären oder sich kennenlernen, denn der Roboter ist mit allen Daten bereits gefüttert. Dann muss ich nicht selber zu irgendwelchen Treffen gehen.“
„You Wish!“ Henrik lacht. „Da wirst du wohl deine Angst vor echten Begegnungen mit Unbekannten irgendwie in den Griff bekommen müssen, liebe Anne. Das nimmt dir niemand ab.“
Verträumt blickt Ralf vom Bildschirm auf. „Wäre aber echt schön, wenn es das gäbe.“
Ralf hatte in den vergangenen Jahren keine glückliche Hand mit seinen Partnern. Eigentlich sucht er jemanden, mit dem er alt werden kann, reisen, vielleicht noch ein Kind adoptieren oder jedenfalls einen Hund anschaffen, aber er trifft immer wieder auf Fuckboys, die nur auf Spaß aus sind.
„Was denkt ihr denn, was ich machen soll? Hast du schon mal im Supermarkt einen Mann angesprochen, Ralf? Einen, der nur ein Sixpack Bier, eine Familienpackung Toffifee und ein Schlemmerfilet im Einkaufswagen hatte? Was sagt man dann: Du, ich esse auch ganz gerne Fisch, wollen wir uns die Packung teilen? Ich habe einen Umluftbackofen mit Selbstreinigungsfunktion, gehen wir zu mir?“
Ralf ist immer noch in die Datingprofile vertieft
„Interessante Profilnamen haben die sich ausgesucht: Knackarsch, Neunundsechzig, LikeBond, YouandMe, SexyBeast oder auch Loverboy. Wieso heißt du denn da Anke?“
„Ich wollte nicht meinen richtigen Namen nehmen. Anke und Anne ist aber so ähnlich, dass ich immer sagen kann, ich habe mich vertippt.“
Henrik sagt: „Also die Heike, die hat da in ihrem Kollegium einen, der ist wirklich sehr nett, den habe ich auf dem letzten Schulausflug kennengelernt. Der ist auch Single.“
„Auf keinen Fall“, unterbricht Ralf ihn. „Anne wird nicht mit irgendeinem aus der Lehrerbubble deiner Frau verkuppelt. Die sind viel zu langweilig.“ Ralf blickt wieder auf mein Handy. „Was man hier alles angeben muss, irre“, stellt er fest. „Interessen: Kaffee, Gin Tonic, Klimawandel, Bubble Tea - ernsthaft? Seit wann sucht man sich seinen Partner nach Getränkevorlieben aus? Oder ist Gin Tonic als Hobby gemeint? Und was sagt mir Freelance arbeiten, Crossfit, Brettspiele, Fotografie, Social Media und Hautpflege über einen Kerl? Gut, das Sternzeichen will man schon gerne wissen, also einen Steinbock würde ich ja niemals daten.“
„Ach komm, du glaubst doch nicht an diesen Quatsch?“ Henrik setzt sich an den Tisch.
Ich nehme Ralf das Telefon wieder aus der Hand. „Na ja, die Ausbildung und die Körpergröße könnten schon ganz interessant sein.“
Ralf steht auf, öffnet den Schrank und holt zwei Becher heraus. „Wenn einer schreibt, dass er größer als eins achtzig ist, glaub es nicht. Vertrau mir. Viele lügen und sind dann im echten Leben doch nur knapp über eins sechzig, ich habe es erlebt.“
Ralf zieht die Kanne unter dem Filter hervor, und sofort tropft Flüssigkeit zischend auf die Warmhalteplatte.
„Ok, aber der hier, der wäre vielleicht was?“ Ich präsentiere Henrik den Bildschirm meines Handys und muss mir ein Lachen verkneifen.
M - Mann, so nennt er sich. Er ist schätzungsweise Anfang sechzig, liegt in einer sehr engen, schwarzen Boxershorts seitlich auf einer Bank, hinter sich eine graue Steinwand. Er hat das hintere Bein aufgestellt und seinen behaarten Arm so darauf abgelegt, dass man das Tribal-Tattoo auf seinem Unterarm gut sehen kann. Das ebenfalls schwarze Kassengestell auf der Nase lenkt nur unzureichend von mehreren Kinnen und dem sehr ausgeprägten Bauch ab. Der Kopf ist rot angelaufen, was vermuten lässt, dass diese Bank in irgendeiner Saunalandschaft die Umkleidekabine ziert.
„Was soll das da?“ Ralf hat sich hinter Henrik gestellt und zeigt auf den einzelnen Holzkleiderbügel, der an einem der drei Haken über M. baumelt.
Ich frage mich noch, wer dieses Foto wohl geschossen hat, ob es dabei einen Deal zwischen zwei Kumpels gab? Komm, ich knipse dich mal hier, du siehst heiß aus, das wird dein Profilbild für die Partnerinnensuche, und dann machst du auch ein Bild von mir. Da wischt Henrik schon weiter und mein Blick fällt auf ein weiteres sehr unscharfes Foto, von hinten aufgenommen, viel Bein und ein nackter Hintern darüber, passenderweise nennt sich dieser Bewerber „Mr.Sexy“. Aufgrund der Unschärfe des Bildmaterials kann ich dazu leider nicht kompetent Stellung beziehen.
„Du hast recht, das geht gar nicht. Ich lösche die Apps einfach wieder.“
„Auf keinen Fall, Anne, du wirst da jetzt dein Glück versuchen, kann ja nicht sein, dass die alle einen Knall haben, gib her. Man muss einfach nur auf ein paar Kleinigkeiten achten, dann findet man auch seriöse Profile.“ Henrik wischt, stöhnt, grinst, macht „Ha“ oder „Na ja“. Er schaut kurz auf. „Es ist relativ einfach. Du suchst keinen mit Ecken und Kanten und auch keinen, der auf der Suche nach dem letzten ersten Kuss ist.“ Die Zitate betont er, als würde er einen Liebesroman vorlesen. „Die Typen, die nicht krampfhaft auf der Suche sind, brauchst du ebenso wenig wie die, die in der Schule des Lebens waren oder nach dem Motto alles kann, nichts muss hier starten“
„Ach ist dir auch schon aufgefallen, dass die Texte da nicht besonders kreativ sind und sich ständig wiederholen?“ Ich durchforste die Schränke nach Schokolade oder Weingummi, jedenfalls ein alter Keks wird sich doch wohl finden lassen. Ohne Zucker halte ich das alles nicht aus. „Vielleicht gehe ich einfach wieder öfter tanzen.“
Ralf lacht. „So wie beim letzten Mal, als du von diesem Typen mit den schönen langen Wimpern aufgefordert wurdest, der keinen geraden Satz herausbekommen hat?“
„Danke, dass du mich daran erinnerst.“
Das war wirklich ein denkwürdiger Abend gewesen. Sören hieß der Mann mit den schönen Augen, der mich bei der Ü-40-Disco zum Tanzen aufgefordert hatte. Dass er keinen Satz herausbekommen hatte, stimmt nicht, irgendwann zwischen zwei Songs war er mir sehr nahegekommen, um mir „du hast echt einen geilen Arsch“ ins Ohr zu flüstern.
Ralf konzentriert sich wieder zusammen mit Henrik auf den kleinen Bildschirm. Plötzlich ruft er: „Der hier.“ Er liest vor: „Luis hätte gerne eine große Tüte gemischte Küsse, das ist doch süß.“ Er liest still weiter, winkt ab. „Nee, der ist doch nichts. Spazieren schreibt er mit einem T wie Spatz, er hat keinen Fernseher, und er liebt Frauen ohne vegan Tick steht hier.“
„Ja, dann passt das doch. Hab ich ja nicht.“
Meine Suche nach Zucker jedenfalls ist endlich erfolgreich, hinter einem Stapel Salatschüsseln liegt eine angebrochene Schachtel Butterkekse. Die Verpackung lässt darauf schließen, dass die hier schon länger deponiert sind, die Firma hat ihr Design in den vergangenen Jahren mindestens zweimal verändert.
„Aber der hier, das könnte was sein …“ Henrik zeigt mir den Bildschirm und ein Foto von Günni. Nicht ganz der Typ, der mir auf der Straße aufgefallen wäre, aber auch nicht unattraktiv. Günni sieht nett aus. Und nett mag ich.
„Der hat auf den ersten Blick jedenfalls keine Macken, keine Landschaftsbilder eingestellt oder welche mit Sonnenbrille. Der wirkt normal, den probieren wir.“ Henrik wischt nach rechts und springt auf. „Ein Match! Ein Match! Ein Match!“
Ich verschlucke mich an dem trockenen Butterkeks und fange an zu husten.
Ich habe also ein Match. Das bedeutet, jemand, den ich gut finde, findet mich auch gut. Ich kann ihm jetzt über die App schreiben.
Das mache ich aber erst, als ich wieder zu Hause bin. Natürlich gegen den Protest von Ralf und Henrik.
Ich mag Günnis Profiltext, in dem er erklärt, „kein Camp-David-Typ“ zu sein und etwas Ernstes zu suchen. Ein Mann nach meinem Geschmack. Wir schreiben ein bisschen hin und her, sind uns einig, dass wir beide jemanden wollen, mit dem alles noch ein bisschen schöner wird. Günni wohnt zwar gut hundert Kilometer entfernt, aber hey, wenn es funkt?
Wir tauschen noch am selben Abend Handynummern aus und starten eine Fortsetzung unseres „Gesprächs“ auf WhatsApp am nächsten Morgen.
Gegenseitig schreiben wir eher Belangloses über Wohnsituation, Vorlieben und Hobbys. Es ist ganz nett, aber eben auch ganz schön oberflächlich. Ich merke, wie schlecht ich in diesen schriftlichen Datingrunden bin.
Ich frage mich, ob ich auch wirklich schon wieder bereit bin für etwas Neues. Das Ende meiner Ehe war ja nicht allein der Tatsache geschuldet, dass mein Ex plötzlich der Meinung war, eine jüngere Frau wäre die bessere Wahl. Wir hatten beide Fehler gemacht. Anzeichen dafür, dass nicht mehr alles so glatt lief, hatte ich lange ignoriert. Aus Bequemlichkeit, aus Angst vor Konflikten oder weil ich mit anderen Dingen beschäftigt war.
Dann immer und immer wieder die Ernüchterung, als ich feststellte, dass meine Versuche, doch noch etwas zu retten, ins Leere liefen.
Jetzt sitze ich hier, als Singlefrau über fünfzig, mit Problemen, über die ich seit Jahrzehnten nicht nachgedacht habe. Ich sehne mich nach der Vertrautheit, die zwei Jahrzehnte so selbstverständlich in meinem Leben war. Die man nicht einfach mit einem Gespräch auf einem Date mit einem komplett Fremden wieder herstellen kann.
Was schreibt man jemandem, den man noch nie gesehen hat, von dem man nichts weiß, außer den drei Informationen, die er selbst in der Dating-App preisgibt? Bei denen man nicht einmal davon ausgehen kann, dass sie wahr sind.
Keine Ahnung, was ich zu Beginn einer angehenden Beziehung, Affäre, was weiß ich, an einen fast fremden Mann schreiben soll.
Aber im „Gespräch“ mit Günni überzeuge ich offenbar trotz meiner Ratlosigkeit so sehr, dass er irgendwann vorschlägt, doch mal richtig zu telefonieren. Also machen wir eine Zeit am nächsten Abend aus, um persönlich miteinander zu reden.
Ich schleppe mich durch einen Tag in der Redaktion, an dem ich unkonzentriert versuche, einen Artikel unseres neuen Volontärs über die Jahreshauptversammlung der örtlichen Feuerwehr zu redigieren. Immer wieder muss ich an Günni denken, noch öfter schaue ich mir seine Bilder an, die ich per Screenshot in mein Foto-Album übertragen habe.
Ralf hat heute frei, Henrik ist auf Außenterminen, und das ist mir ganz recht. Deren Fragen über das, was Günni mir schon geschrieben hat, würden mich nur noch nervöser machen.
Tatsächlich bin ich zur vereinbarten Zeit am Abend ein kleines bisschen aufgeregt, obwohl es doch nur ein Gespräch von Ohr zu Ohr ist.
Ich setze mich sehr gerade hin, als mein Telefon pünktlich zur verabredeten Zeit klingelt. Gebe mir Mühe, entspannt zu klingen.
„Hallo.“
„Hallo Anne, hier ist Günni, also Günther eigentlich, aber das weißt du ja schon.“
Es klingt für mich so, als sei Günni auch ein bisschen überfordert von dieser Situation.
„Was hast du heute Schönes gemacht?“
(Ohne vorgreifen zu wollen, die Frage danach, was ich „Schönes“ gemacht habe, wird mir später noch sehr auf den Geist gehen. Wieso gehen alle immer davon aus, dass man etwas Schönes gemacht hat? Vielleicht war es auch ein Tag voller sehr unangenehmer Aufgaben?)
„Na ja, ich musste arbeiten, ist nichts Aufregendes passiert, und du?“
„Ich war auch arbeiten. Was machst du denn, wenn du am Wochenende mal richtig Zeit hast?“
Ich muss kurz überlegen, wann ich das letzte Mal ein Wochenende hatte, an dem ich nicht in der Redaktion war, um die Einsamkeit in den Griff zu bekommen. Ist wohl auch eher ungünstig, wenn ich erzähle, dass ich manchmal den ganzen Sonntag im Bett liege und Serien binge. Also entscheide ich mich für eine leicht geschönte Variante.
„Ach, was alle machen. Ich gehe spazieren, gerne am Meer oder treffe mich mit Freunden.“
Unser persönliches Gerede bleibt wieder an der Oberfläche, dreht sich um den Ort, an dem er wohnt, seinen Job und seine Kinder. Er erzählt von seiner Vergangenheit. Auch da sehr austauschbare Geschichten über Lieblingsfächer in der Schule, Lieblingsessen und Lieblingsreiseziele. Aber was soll man auch sonst besprechen mit einem Menschen, von dem man nur das Datingprofil kennt?
Irgendwie finden wir beide nicht so richtig den Ausstieg, und es kommt der Zeitpunkt, an dem ich am liebsten einfach auflegen würde, weil mir keine Fragen mehr einfallen. Das muss ich dann aber nicht, wir kommen irgendwie auf ein „Tschüss und schlaf gut“, und ich gehe mit gemischten Gefühlen ins Bett.
Günni hat mir unaufgefordert mitgeteilt, er habe sein Profil bei Tinder nach unserem Match zunächst auf unsichtbar gestellt. Ich schaue mir sein Porträt in meinem Foto-Ordner immer wieder an.
Finde ich den gut?
Oder mag ich ihn nur, weil er mein erstes Match war?
Ist der nicht ein bisschen wortkarg und langweilig?
Oder war er nur nervös?
Kann ich mir vorstellen, den zu küssen?
Am nächsten Tag schickt Günni ein neues Foto, auf dem er deutlich interessanter aussieht als auf denen, die ich kenne. Ich bedanke mich und frage, was er am Wochenende vorhat. Am anderen Ende - Schweigen. Den ganzen Freitag über keine Antwort, am Samstag auch nicht.
Ich stelle mein Tinder-Profil wieder auf sichtbar und wische ein paar Männer nach rechts. Sonntag lösche ich den Whatsapp-Chat mit Günni. Denke, so geht also dieses Ghosting, von dem alle reden. Ich bin ein bisschen traurig, obwohl da ja noch gar nichts wahr.
Spät am Abend eine Nachricht von Günni als SMS.
„Hey, hast du meine Sprachnachricht nicht bekommen? Du meldest dich ja gar nicht.“
„Entschuldige, nein, habe ich nicht bekommen. Ich dachte, du hättest kein Interesse mehr, weil du dich das ganze Wochenende nicht gemeldet hast.“
„Ach Gottchen …“
Ach Gottchen? Wer sagt denn so was noch?
„Ich war das ganze Wochenende bei meiner Frau Mama
(Wirklich, er schreibt: Frau Mama!) und hatte das Telefon zu Hause vergessen).“
Ich lasse mich also erneut zu einem Gespräch hinreißen, obwohl ich Günni als potenziellen Partner bereits abgehakt hatte.
Er ist nett am Telefon, und ich denke, möglicherweise hat er Talente, von denen man so nur mit der Stimme gar nichts ahnt? Möglicherweise ist er ein grandioser Küsser? Vielleicht ist er schüchtern und kommt deswegen ein bisschen langweilig und altmodisch bei mir an?
Wir sind schließlich beide der Meinung, für den nächsten Schritt müssten wir uns mal gegenüberstehen, richtig in die Augen gucken. Wir verabreden, uns zu sehen.
Am nächsten Tag bin ich gerade dabei, all meine Klamotten aus dem Schrank zu zerren, um das passende Outfit für meinen geplanten Ausflug zu finden, als Erica klingelt. Als ich ihr von meinem Vorhaben berichte und gestehe, dass ich sogar ein Zimmer in der Stadt meines ersten Matches gebucht habe, bricht sie in hysterisches Kichern aus. „Anne, du überraschst mich“, sagt sie schließlich, als sie sich ein bisschen beruhigt hat. Dann marschiert sie wie selbstverständlich an mir vorbei Richtung Küche. Ich höre, wie der Kühlschrank geöffnet wird, und kurz darauf ploppt ein Sektkorken aus einer Flasche. „Darauf müssen wir anstoßen“, erklärt meine Nachbarin, als ich in die Küche komme. Erica hat bereits zwei Gläser gefüllt und reicht mir eins. „Wie bereitest du dich vor?“
„Wie ich mich vorbereite?“
„Schätzchen, du bist seit Jahren raus aus dem Dating-Geschäft, es hat sich einiges verändert.“
„Das ist mir klar.“
Mir ist gar nicht nach Sekt, aber ich trinke trotzdem einen großen Schluck.
„Also zunächst mal, wie steht es um deinen Wäscheschrank?“ Erica schenkt sich bereits nach, während sie auf eine Antwort wartet.
„Ich habe keinen Wäscheschrank.“
„Besorg dir irgendwas mit schwarzer Spitze, da stehen sie alle drauf“, behauptet Erica. „Geh in ein Fachgeschäft, lass dir nicht in einem Kaufhaus irgendeinen Mist aus Polyacryl andrehen. Glaub mir, das ist eine Investition, die sich lohnen wird.“
Mein Handy, das irgendwo im Wohnzimmer liegt, gibt einen Ton von sich.
„Findest du nicht, dass es ein bisschen zu sehr vorbereitet aussieht, wenn ich zu einem Date fahre, dann kommt es zum Äußersten, wovon ich wirklich nicht ausgehe bei einem ersten Treffen.“
„Pah!“ Erica grinst.
„Also, selbst wenn, dann ist es doch besser, ich trage meine schlichten BHs, oder? Dann wirkt es doch jedenfalls so, als ginge es mir nicht nur um das Eine?“
„Stimmt das denn?“ Erica setzt sich auf einen der Stühle an dem kleinen Küchentisch. „Ich dachte, nach all den Jahren ohne Körperkontakt in deiner Ehe ginge es dir jetzt vor allem um heiße Küsse und endlose Nächte mit viel ….“
„Danke, ich kann mir vorstellen, worauf du hinauswillst. Aber eigentlich suche ich jemanden, in den ich mich verlieben kann. Einen Menschen, der mich in den Arm nimmt und wissen will, wie mein Tag gelaufen ist. Jemanden, den ich trösten kann, wenn es ihm nicht gut geht. So etwas Gegenseitiges. In Datingdeutsch würde man wohl sagen: auf Augenhöhe.“
„Ich fange gleich an zu weinen. Los, trink aus.“ Erica wartet, bis ich mein Glas geleert habe, um nachzuschenken.
„Also der Reihe nach. Wann steigst du in diesen Zug zu Mister Hottie?“
„Ob er wirklich hot ist, muss sich erst noch zeigen. Warte, ich hab das Bahnticket auf dem Handy …“ Ich stehe auf, um mein Telefon zu suchen, finde es auf der Kommode neben der Küchentür und registriere, dass eine Nachricht von Günni eingegangen ist. „Offenbar freut sich mein Date auch auf mich, er hat schon wieder geschrieben.“
