Mein Leben in 80 B - Anja Goerz - E-Book

Mein Leben in 80 B E-Book

Anja Goerz

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Beschreibung

Manchmal muss man im Leben ein bisschen nachwürzen. Ehemann, zwei Kinder, Haus mit Garten … Ilse führt ein ziemlich durchschnittliches Leben. Zwar hat sie einen pikanten kleinen Nebenjob als Veranstalterin von Dessous-Partys, doch das bedeutet auch nur, dass sie abends bei Prosecco trinkenden Hausfrauen auf dem Sofa sitzt, die mehr oder weniger heiße Unterwäsche kaufen – meist in 80 B. Dann aber wird ihr Leben aus der Bahn geworfen: Während eines Kurzurlaubs bei ihrer besten Freundin Elissa auf Sylt lernt sie Oke kennen, einen charmanten jungen Sternekoch, der sie nicht nur in kulinarischer Hinsicht geradezu verzaubert … «Anja Goerz' Roman über eine durchschnittliche Frau ist alles andere als Durchschnitt – sondern absolute Spitzenklasse!» (Anne Hertz) «Spitzenkoch, Spitzenslips – Spitzenbuch und alles andere als 80 B!» (Mia Morgowski)

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Seitenzahl: 326

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Anja Goerz

Mein Leben in 80 B

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. KapitelEinige Monate späterRezepteVorspeiseHauptgangDessertDank
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Für meine Mama, die für ihren Grünkohl, ihr Gulasch und ihre Rouladen mehr als einen Stern verdient.

 

Für meinen Papa, der einmal den denkwürdigsten Pflaumenkuchen aller Zeiten gebacken hat.

 

Und für alle die Menschen, bei denen ich lecker gegessen habe … oder es noch tun werde.

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1.Kapitel

«Was meint ihr? Ist das sexy, oder ist das sexy?»

Sylvia hielt sich einen Seidenbody in Pink mit applizierten zart rosafarbenen Blumen von meinem mitgebrachten Kleiderständer an ihren mageren, fast schon unterernährten Oberkörper, der nur in einem schwarzen, tief ausgeschnittenen Satintop mit passendem Slip steckte. Sie drehte sich vor dem aufgestellten Spiegel hin und her.

«Doch, doch», nickte ich und gab mich begeistert. Ich stellte mich näher zur Gastgeberin der heutigen Dessous-Party. «Das ist wirklich ein tolles Teil, wunderbare Qualität, da hast du dir gleich genau das Richtige herausgegriffen. Gibt’s übrigens auch in Braun und in Blau. Und durch die wattierten Körbchen und die eingearbeiteten Bügel formt und hebt der BH die Brüste und lässt sie glatt eine Nummer größer aussehen.»

Sylvia hob die Augenbrauen und bekam einen starren Blick, und ihre Freundinnen hielten erschrocken mit der Besichtigung der Unterwäsche inne.

«Nicht, dass du es nötig hättest, aber dieser Body macht ein wahnsinnig aufregendes Dekolleté», ergänzte ich deshalb lieber schnell.

Das reichte aus, um das debile Lächeln auf Sylvias Züge zurückzuzaubern. Ich versuchte, nicht zu sehr auf ihre aufgepumpten Brüste zu starren, die mich irgendwie an halbe Kokosnüsse erinnerten. In der Schule hatten wir Mrs. Super-Bubu «BMW» genannt, Brett-mit-Warzen, weil sie noch weniger Oberweite hatte als der dicke Sven. Dieser Ungerechtigkeit der Natur war sie mit dem Geld ihres Mannes aber kurz nach der Verlobung zu Leibe gerückt.

Die anderen schoben sich schon wieder entspannt gegenseitig durchsichtige Spitzen-BH-Sets mit Stringtanga, Hüftslip oder Hipster und biedere Bauch-weg-Schlüpfer zu. Wattierte Büstenhalter in der Farbe Plum, Miederslips in Burgunder, Baumwollbodys in Magnolia und Sport-BHs in Ecru. Die Gäste linsten nach den Preisschildern und schütteten sich zwischendurch immer wieder den billigen Prosecco in den Hals.

Zwei- bis dreimal in der Woche besuchte ich in meiner Stadt Falkensee, im benachbarten Potsdam und im angrenzenden Berlin gelangweilte, mehr oder weniger junge Damen, die hinter einem Abend als Gastgeberin einer Dessous-Party Aufregung und Abenteuer und einen Hauch Verruchtheit vermuteten. Letztendlich unterschieden sich die Abende aber kaum vom Heimverkauf von Plastikschüsseln. Wenn man davon absah, dass ich nicht in der Küche stand, sondern meinen Klapp-Kleiderständer und meine Warentischdecke im Wohnzimmer der Wohnungen und Häuser in und um Berlin ausbreitete. Und dass ich eben statt Plastikdosen, Trinkflaschen und Küchenhelfern gewagte Spitzentangas, Büstenhalter und Bodys und für die ganz Mutigen auch Ouvert-Slips im Angebot hatte. Alle Größen, alle Farben – wobei ein Großteil der Ware in 80B verkauft wurde, der gängigsten Größe in Deutschland, Durchschnitt eben.

Gewöhnlich liefen die Partys nach Schema F ab. Erst saßen die Mädels steif und verklemmt auf Sofas und Sesseln und ließen sich von mir die Geschichte von Lucinda-Dessous erklären: Vor gut dreißig Jahren hatte sich eine gelangweilte Hausfrau in Nordfriesland über die Auswahl der Unterwäsche im einzigen Fachgeschäft ihrer Kleinstadt so sehr geärgert, dass sie ihr Konto plünderte, mit der Bahn in die nächste Großstadt fuhr und dort in verschiedenen Läden einen Koffer voll Reizwäsche einkaufte, die sie dann mit Gewinn an ihre Freundinnen und Nachbarinnen weiterverkaufte. Die Idee war geboren, die Frau vom Land suchte sich Mitstreiterinnen und später sogar eine Produktionsfirma in Frankreich, die ihre eigenen Entwürfe umsetzen konnte. Zunächst betrieb sie eigene kleine Läden in großen Einkaufspassagen. Nach den ersten Erfolgen gründete sie dann Lucinda-Dessous für die Heimverkäufe. Die Firma, deren Ware ich nun schon seit fast zwei Jahren kreuz und quer durch das Land Brandenburg und alle Bezirke in Berlin kutschierte.

Nach zwei bis vier Gläsern billigem Schaumwein in scheußlichen Leonardo-Gläsern mit eingeritzten Blümchen oder goldenen Girlanden hatten die Ladys dann meistens genug Mut, um sich vor ihren Freundinnen richtig nackt zu machen und Dinge anzuprobieren, die garantiert nie wieder das Tageslicht sehen würden, nachdem sie erst einmal bei ihnen zu Hause im Schrank gelandet waren. Für mich einerlei – ich bekam meine Provision auf die verkaufte Ware, ganz egal, wie oft die Stücke später getragen wurden. Mit dem Job schlug ich zwei Fliegen mit einer Klappe: Ich kam ab und zu aus dem alltäglichen Familientrott heraus und verdiente mir zudem ein Taschengeld, das ich für Notfälle auf einem eigenen Konto bunkerte. Toni wollte nicht, dass ich vom «Wäsche-Geld», wie er es nannte, auch nur einen Cent für die Familie ausgab. Mit seiner Werbeagentur verdiente er so gut, dass wir zusammen mit unserem Sohn und unserer Tochter in einem schönen kleinen Häuschen am Rand von Berlin wohnen konnten, ohne dass ich wieder den ganzen Tag in einer Kaufhausabteilung für Damenoberbekleidung stehen oder in einer Boutique gelangweilten Neureichen dazu raten musste, doch lieber das T-Shirt für zweihundertfünfzig Euro zu kaufen, statt das Geld für ein einfaches Hundert-Euro-Teil auszugeben. Das hatte ich nach der Geburt meiner Tochter Hanna vor fünfzehn Jahren gemacht, um wieder unter Leute zu kommen. Schließlich hatte ich nichts Richtiges gelernt, mein Studium abgebrochen, als ich schwanger geworden war, und dann von Tonis Geld gelebt. Das zum Glück wegen einiger größerer Aufträge zu Beginn seiner Werber-Karriere schon sehr früh sehr reichhaltig gewesen war. Nachdem ich mich nach der Geburt unseres zweiten Kindes, Tom, einige Jahre ausschließlich um die Familie gekümmert hatte, wollte ich einfach mal wieder etwas anderes machen als Legosteine aufsammeln, Saftschorle mischen und Kekse backen. Deshalb hatte ich begeistert auf eine Kleinanzeige geantwortet, in der Frauen gesucht wurden, die sich «auf angenehme Art ein wenig Geld dazuverdienen» wollten. Ein wenig Erfahrung im Verkauf konnte ich schließlich schon vorweisen.

Also versuchte ich heute, meine ehemalige Klassenkameradin Sylvia, die mit ihrem Mann in einem schicken Haus in Potsdam wohnte, davon zu überzeugen, nicht nur den einen teuren Body zu kaufen (Modell Chantal, wattierte Cups ohne Bügel von A–C, Baumwoll-Kunstfaser-Mischung, mit eleganter Blütenstickerei auf zartem Tüll und verstärkter Bauchpartie für die perfekte Silhouette, sechs Farben zur Auswahl für 89,99 €). Denn mir war klar: Wenn ich die Bestellung von Sylvia erst einmal auf meinem Zettel hatte, dann würden die anderen nachziehen.

Das war schon in der Schule so gewesen. Wenn Sylvia damals, als wir noch im beschaulichen Flensburg nahe der dänischen Grenze wohnten, plötzlich rote Jeans trug, dann wollten alle rote Jeans haben. Hatte Sylvia Stress mit ihrem jeweiligen Freund, trafen sie und die Hofdamen sich ausdrücklich nur noch ohne Jungs im Eiscafé und feierten Mädchen-Pyjama-Partys. Und als Sylvia nicht mehr ohne Nagellack aus dem Haus ging, verabredeten sich die Klassenkameradinnen zu Lack-Sessions bei Yogi-Tee und Räucherstäbchen. Und das, obwohl Sylvia doof wie Brot war und sich in der Schule nur durch Spickzettel und Abschreiben von ihrer Gefolgschaft von Versetzung zu Versetzung rettete. Aber da ein tiefer Ausschnitt und ein knapper Minirock das ein oder andere Studiensemester wettmachten, hatte Sylvia während einer Wochenendreise nach Berlin einen knapp fünfzehn Jahre älteren Anwalt gefunden, der sie heiratete und aus Flensburg wegholte. Und dieser Anwalt war der Meinung, Ehefrauen sollten in erster Linie hübsch sein und ihren Gatten dekorieren. Daher verbrachte meine kinderlose ehemalige Klassenkameradin ihre Tage mit Besuchen beim Friseur und bei der Kosmetikerin, in Einkaufszentren und im Fitnessstudio – ach ja, und beim Schönheitschirurgen natürlich. Brüste größer, Nase gerader, Botox in die Stirn, Fett raus aus dem Hintern und rein in die Lachfältchen. Meine beste Freundin Elissa hätte auf ihre direkte Art sicher festgestellt, dass die Bezeichnung «Arschgesicht» so eine ganz neue Bedeutung bekam.

Heute hatte Sylvia ihre Nachbarinnen um sich versammelt, denn als Gastgeberin glänzte sie für ihr Leben gern. Klotzen, nicht Kleckern war ihre Devise. Außerdem hatte sie einige unserer alten Klassenkameradinnen eingeladen, die ebenfalls in Berlin oder Potsdam lebten. Berlin war schon in den letzten Jahren unserer Schulzeit das Wunschziel Nummer eins gewesen. In der Hauptstadt spielte sich das wirkliche Leben ab, da waren wir sicher. Hier musste man hin, wenn man mitreden wollte, wenn man sich eine aufregende Zukunft versprach. Tatsächlich unterschied sich Berlin nicht wesentlich von den anderen Großstädten, aber das stellten die meisten erst mitten im Studium fest oder wenn sie bereits schwanger waren. Mittlerweile waren wir um die vierzig, und trotzdem hatten sich einige seit der Schulzeit wenig verändert. Da gab es die Streberin, die Dicke und die Unscheinbare. Ich war auch früher schon eher der Kategorie «ganz nett» zugeordnet worden. Das reichte, um zu einigen Geburtstagspartys eingeladen zu werden, reichte aber nicht, um im Freibad mit den coolen Mädels abzuhängen, in deren Nähe die Jungs aus den höheren Klassenstufen ihre Handtücher ausrollten.

Heute war mir Sylvias Fankreis natürlich ganz recht. Die Königin hatte gerufen, und elf Freundinnen, wenn man sie denn so nennen konnte, waren gekommen. Alle Körbchen- und Konfektionsgrößen vorhanden. Die dicke Birte, die in der Schule konsequent als Letzte in die Sportmannschaften gewählt worden war, hing immer noch an Sylvias Lippen, als würde diese gleich das Geheimnis des ewigen Lebens verraten. Sie hatte sich ebenfalls den Body Modell Chantal in Blau herausgesucht.

«Birte, das ist nun wirklich nichts für dich, guck dir mal den hohen Beinausschnitt und diese schmalen Trägerchen an! Das verlangt nach einer trainierten Figur, meine Liebe. Ilse, sag doch auch mal was. Du bist doch hier die Fachfrau.» Feingefühl war noch nie Sylvias Stärke gewesen.

Die moppelige Birte lief rot an und hängte Modell Chantal wieder auf die Kleiderstange. Katrin und Susanne, die Sylvia vermutlich bei der Kosmetikerin oder auf einer Botox-Party kennengelernt hatte (beide ebenfalls Marke Hungerhaken mit dicken Lippen und ohne Mimik), kicherten und schenkten sich von dem billigen Prosecco nach.

«Ach, das würde ich so nicht sagen», versuchte ich gegenzusteuern. «In einer dunklen Farbe streckt der Body ja auch. Am Bauch ist der Stoff etwas verstärkt, das formt außerdem ein wenig. Aber vielleicht willst du das hier mal anprobieren?» Ich zog für Birte das Ensemble Monique (beim Top betont ein Spitzeneinsatz das Dekolleté, und 88% Nylon und 12% Elasthan sorgen für einen hervorragenden Tragekomfort) von der Stange. Ein schlichtes schwarzes Hemdchen mit breiten Trägern und tiefem Ausschnitt und einem dazu passenden Hüftslip. «Ganz tolles Material und gerade im Angebot, weil das Modell durch ein anderes abgelöst werden soll.»

«Zeig mal her, was soll das denn kosten?» Noch bevor meine ausgestreckte Hand mit Modell Monique auch nur in Birtes Nähe kam, grabschte Sylvia dazwischen. «Ach nee, das ist nichts für mich, da sauf ich ja drin ab, viel zu weit geschnitten.» Sie reichte das Set an Birte weiter, die schweigsam damit in Richtung Schlafzimmer taperte, das wegen des großen Spiegels an der Einbauschrankwand heute zum Umkleidezimmer erkoren worden war.

Birte tat mir leid. In der Schule war sie als Klassenbeste – und mit ihren strohigen, kurzen braunen Haaren gleichzeitig Unattraktivste – immer Außenseiterin gewesen. Jetzt war sie mit Heiko verheiratet und Mutter dreier Söhne. Heiko war auch in unserer Klasse und schon damals ein echter Nerd gewesen, zu dem alle nur nett waren, wenn sie ein Problem mit ihrem Atari-Computer hatten. Inzwischen leitete er die Entwicklungsabteilung eines Handy-Herstellers in Berlin und verdiente mehr Geld als mein lieber Gatte und Sylvias Mann zusammen. Ihre drei Jungs zwischen elf und fünfzehn Jahren gingen alle aufs Gymnasium und hatten neben Birtes Intelligenz auch ihre strubbeligen braunen Haare geerbt. Und einmal in der Woche ging Birte mit Sylvia und einigen anderen Ehemaligen zur Gymnastik im Sportverein.

Ich hielt mich von derartigen Aktivitäten seit jeher fern. Ein echter Albtraum: Erst zusammen in einer Schulklasse, im Konfirmandenunterricht und in der Jugend-Volleyballmannschaft, dann alle gemeinsam an der Uni. Dieselben Gesichter später im Geburtsvorbereitungskursus, beim Mutter-und-Kind-Turnen und beim Kindergarten. So würde es dann weitergehen, über den Kegelclub bis zum Seniorenskat. Herzlichen Dank, ohne mich. Genau weil ich das nicht wollte, war ich ja aus Flensburg weggegangen, damals zunächst nach Hamburg. Inzwischen hatte mich dieser erste Schritt nach Falkensee gebracht, also fast nach Berlin.

Toni und ich hatten in unserer Nachbarschaft neue Freundschaften geschlossen, auch mit Menschen außerhalb von Berlin oder Brandenburg. Wir trafen uns mit seinen Kunden und Kollegen und waren auch mal zu zweit zufrieden. Denn Abende, an denen wir ganz unter uns waren, gab es ohnehin nur selten.

Aus meiner alten Schulklasse existierte nur eine, die wirklich für mich zählte: meine Freundin Elissa. Schon vor dreißig Jahren waren wir unzertrennlich gewesen, und noch heute tauschten wir uns fast täglich über alle wichtigen und unwichtigen Dinge des Lebens aus. Früher redeten wir über Hausaufgaben und Jungs, heute ging es um unsere Jobs, gemeinsame Bekannte und Männer. Nach außen versuchte meine beste Freundin immer, stark zu wirken, als könnte sie nichts erschüttern. Aber im Kern war sie weicher als Butter in der Sonne. Inzwischen kommunizierten wir vor allem per E-Mail, weil Elissa als Restauranttesterin in Westerland auf Sylt arbeitete. Sie bezeichnete sich selbst als zufriedene Ein-Personen-Familie und versicherte mir immer wieder, dass sie weder Kinder noch einen Mann dauerhaft in ihrem Leben brauche.

Und wenn ich Antonio nicht getroffen hätte, befände ich mich heute vielleicht ebenfalls als Single auf Sylt oder in Hamburg oder vielleicht sogar in London und nicht im ehemaligen Osten zwischen Dessous und Gartenarbeit. Aber das Leben hatte mit mir etwas anderes vorgehabt und mich hier glücklich gemacht.

«Also, mir gefällt das hier. Gibt’s das auch in Schwarz?» Man sah Susanne auf drei Kilometer Entfernung an, dass sie eher zur schlichten und konventionellen Sorte gehörte. Dementsprechend hatte sie sich einen einfachen, sandfarbenen Baumwoll-BH mit passendem Schlüpfer herausgesucht (Modell Susanne, leichte, in sich gestreifte Mikrofaser mit zarter Picotkante für einen eleganten Look, wahlweise mit Hüftstring, Hüftslip oder Panty ab 39,90 € pro Kombination). Ein Set, das ich meiner Mutter letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. In Susannes Schlafzimmer musste es ja richtig abgehen. Die hatte wahrscheinlich auch Biberbettwäsche mit Feen-Bildern, Engelchen-Drucke an der Wand und ein Frottéhandtuch auf dem Nachtschrank, um Flecken auf dem Laken zu vermeiden.

«Ja, das gibt es in Schwarz, Weiß und Creme. In den Größen siebzig bis neunzig, Körbchen Doppel-A bis Doppel-D, mit Schalen-BH oder mit Bügel. Ein echter Klassiker. Und heißt wie du: Modell Susi.»

Susanne verschwand mit ihrer Abtörn-Garderobe ebenfalls in Richtung Schlafzimmer zur Anprobe.

«Sag mal, habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass mein Männe mich zu einem vorweihnachtlichen Einkaufsbummel und Wellness-Weekend nach Westerland eingeladen hat? Er hat da geschäftlich zu tun und nimmt mich einfach mit. Schickes Hotel am Strand, tolle Suite mit Blick aufs Meer, da werde ich es mir mal so richtig gut gehen lassen. Ein bisschen Wellness, die Nordsee und die gute Luft da oben, da perlt der ganze Vorweihnachtsstress förmlich von einem ab.»

Sylvia hatte es gerade nötig, über Stress zu klagen. Keine Kinder, keinen Job, aber dafür eine Haushälterin, die das Essen kochte, sowie eine Putzfrau, die jeden zweiten Tag antrabte. Und einen Gärtner, der jetzt im Winter in aller Herrgottsfrühe auf der Matte stand, um die Gehwege vor dem Monster aus Glas und Beton, genannt «Häuschen», vom Schnee zu befreien.

«Ach, tatsächlich? Sylt ist ja wirklich ein Traum in der Vorweihnachtszeit, sagt Elissa jedenfalls. In welchem Hotel seid ihr denn untergebracht?» Nicht dass es mich interessierte, in welches Bett Sylvia ihren designten Popo legen würde, aber Konversation war alles bei diesen Dessous-Events. Vor allem bei Sylvia funktionierte es glänzend. Ich musste nur aufpassen, dass ich im Laufe des Abends auf der gelegten Schleimspur nicht ausrutschte.

«Wir sind natürlich im Mirabell. Das liegt ganz wunderbar, wenn man shoppen und gleichzeitig die Natur genießen will. Gleich um die Ecke befinden sich die besten Restaurants und die Fußgängerzone von Westerland, und zum Strand sind es nur ein paar Stufen. Einfach perfekt. Ich freue mich schon wahnsinnig, auch wenn mein Männe sicher nicht so viel Zeit für mich hat, der ist dann ja den ganzen Tag in Meetings. Aber er hat mir versprochen, dass er mindestens einen ausgiebigen Einkaufsbummel mit mir macht. Also, ich nehme das hier, und dann suche ich noch etwas in Rot, darf ruhig etwas schärfer ausfallen, das gefällt meinem Männe.» Sylvia hob vielsagend die Augenbrauen und wedelte mit Modell Doreen vor meiner Nase herum (zarte hellrosa Spitze mit kleinen Röschen in Creme, anschmiegsame Mikrofaser und sehr weicher Tüll mit feinen Guipure-Motiven, trägerloser Bügel-BH ab 73,90 €, passender String 44,95 €). Zielsicher hatte die Gastgeberin eines der teuersten Modelle herausgegriffen, die ich heute mitgebracht hatte.

Ganz im Ernst: Ich konnte mir schon nicht vorstellen, dass es irgendwo auf der Welt einen Mann gab, der sich gern «Männe» nennen ließ. Und ich konnte mir noch weniger vorstellen, dass ein Tanga und wattierte Körbchen über den knochigen Körperbau dieser Frau hinwegtäuschen konnten. Aber bitte, der Kunde ist König. Wie immer würde ich mich bemühen, den Damen das Gefühl zu geben, in Lucinda-Dessous begehrenswert und einzigartig zu sein. Das wünschten wir uns doch schließlich alle. Also machte ich mich auf die Suche nach dem gewünschten Antörner-Modell für Männe. Irgendwo musste doch noch dieses unglaublich teure Teil sein, das wegen seines Preises seit Monaten wie Beton in meinen Regalen lag (heißes rot-schwarzes Torselett, im Mittelteil mit vier Stützstäben unter der Jacquard-Spitze, die Seiten wie der Rückenteil aus transparentem Tüllstoff. Abnehmbare Träger und Strumpfbänder. Highlight waren die Satinbänder an den Trägern, die zu kleinen Schleifen gebunden werden konnten, um den Chiffon zu plissieren oder sich auf Haut und Schultern zauberhaft zu entfalten, ab 179,00 €, passender String ab 49,00 €). Das schien mir genau das Richtige für den gewünschten Anlass. Und Sylvia schien mir genau die Richtige, um diesen Ladenhüter endlich loszuwerden. Der Preis war ihr schließlich gleichgültig, wenn nur Männe glücklich war.

 

Einige Stunden später saß ich in meinem Auto auf dem Weg nach Hause. Es war spät geworden, die Bundesstraße von Potsdam nach Falkensee lag wie ausgestorben vor mir. Die Seen, an denen ich vorbeikam, wirkten wie schwarze Löcher, und im Mondlicht konnte ich einige schwimmende Eisschollen ausmachen. Heute Nacht fuhr ich notgedrungen langsamer als gewohnt, um auf der glatten Straße nicht ins Rutschen zu geraten. Kurz nach ein Uhr am Samstagmorgen war auf der Strecke zwischen Neu Fahrland und Groß Glienicke niemand mehr unterwegs. Hier gab es keine Großraumdiscos oder Nachtclubs, die mit denen in Berlin konkurrieren konnten. Die Laternen in den Seitenstraßen waren bereits ausgeschaltet, und hinter den Fenstern der niedrigen Wohnblöcke und Häuser brannte nur ganz vereinzelt noch Licht. Brandenburg war eben nicht Berlin. Im Sommer fuhr ich diese Strecke gern mit meinem Sohn, der jedes kleine Boot mit einem «Mama, guck mal da» kommentierte und sich am Wasser gar nicht sattsehen konnte. Kaum zu glauben, wie ruhig es hier jetzt war. Nur wenige Kilometer von der Hauptstadt entfernt, erschien es mir dennoch wie eine ganz eigene Welt. Die meisten Menschen lebten hier in kleinen Häuschen, viele davon standen auf ehemaligen Datschen-Grundstücken, die nach der Wende an Zugezogene verkauft worden waren. Zum Shoppen fuhr man nach Berlin oder Potsdam oder zu einem der großen Einkaufszentren an der Bundesstraße, in denen es alles unter einem Dach gab, vom Schuhgeschäft bis zum Schreibwarenladen. Die Ostdeutschen hatten sich daran gewöhnt, dass immer mehr junge Berliner Familien hierherzogen, weil man sich am Stadtrand die Grundstücke noch leisten konnte, viel Natur und trotzdem eine gute Infrastruktur hatte. Wie überall in Deutschlands eher ländlichen Regionen fand der Alltag zwischen Kegelclub, Fußballverein und freiwilliger Feuerwehr, zwischen Bastelabenden im Kindergarten und Frauenturnen statt. Im Urlaub fuhr man an die Ostsee oder mit der Gymnastik-Gruppe für ein Wochenende nach Hamburg, um ohne die Männer mal lustig einen draufzumachen. Wer etwas auf sich hielt, flog übers Wochenende nach Sylt. Das Leben im Land Brandenburg war überschaubar, unaufregend und gerade deshalb sehr gemütlich.

Der Abend hatte sich finanziell für mich gelohnt. «Dafür gibt’s sicher ein Fleißbienchen von deiner Chefin, was?», hatte Sylvia zum Abschied noch krakeelt. Ich hatte Tangaslips und Büstenhalter in allen Farben und Formen verkauft und überlegte, ob ich zum bald startenden Weihnachtsgeschäft vielleicht Vibratoren ins Programm nehmen sollte. Heute wäre der Prosecco-Pegel jedenfalls hoch genug gewesen, um auch Sexspielzeug unters Volk zu bringen. Bisher hatte ich mich auf Wäsche und Nachthemden beschränkt, weil die verklemmten Muttis, bei denen ich zu Gast war, meistens schon rot anliefen, wenn ich rückenfreie Bodys und schwarze Spitzentangas auspackte. «Weißt du, Ilse, das ist nicht das Richtige für meine Freundinnen, ich fände es besser, wenn du heute Abend eher die bequemen Baumwolltrends vorführst.» So oder so ähnlich wurde das Sortiment gleich zu Beginn des Abends meist auf ein Minimum reduziert. Dieser Typ Frau veranstaltete Dessous-Partys, um sich nicht von irgendeiner Miederwaren-Fachverkäuferin an die Brust greifen zu lassen oder Unterwäsche in einer Kabine anprobieren zu müssen, die wie für eine Operation am offenen Herzen beleuchtet war.

Ich stellte mir vor, was Toni wohl dazu sagen würde, wenn ich eine Pimmel-Kopie mit Batteriebetrieb mit nach Hause brächte. «Hast du Verspannungen in der Schulter?» vielleicht oder etwas ähnlich bemüht Witziges. Nicht, dass wir extra Schwung nötig hätten. Schließlich hatten wir nach zwei Kindern und mehr als fünfzehn Jahren Ehe immer noch Sex. Gut, sicher nicht so oft wie während unserer ersten Verliebtheit. Aber wenn ich nicht zu einer Verkaufsparty unterwegs war und Toni rechtzeitig aus der Agentur nach Hause kam und die Kinder früh genug einschliefen und wir nicht zu müde waren und nicht zu viel Knoblauch gegessen hatten, dann hatten wir schon noch Sex.

Selbstverständlich kannte ich die ganzen schlechten Witze über die Ehen, in denen der Beischlaf nur noch an Geburts- und hohen Feiertagen stattfand. Aber darüber waren Toni und ich nun wirklich erhaben. Zugegeben, es kam schon ab und zu vor, dass ich bei seinen rhythmischen Stößen darüber nachdachte, ob ich am nächsten Tag zur Reinigung musste, ob die Sportsachen von Hanna gewaschen waren oder ob ich den abgelaufenen Joghurt in den Müll geworfen hatte. Manchmal stellte ich mir bei geschlossenen Augen das Gesicht von George Clooney oder eine aufregende Nummer in einem Swimmingpool oder Fahrstuhl vor. Über wildes Vögeln auf dem Teppichboden im Arbeitszimmer waren wir nie hinausgekommen. Das war ohnehin eine einmalige Aktion gewesen, bei der wir die Gunst der kinderfreien Stunde genutzt hatten, als Hanna noch sehr klein gewesen war und bei ihrer Oma übernachtet hatte. Aber ich fand sowieso, dass Sex außerhalb des Betts überschätzt wurde. Nach der Nummer auf dem Fußboden hatte ich tagelang Rückenschmerzen und einen riesigen blauen Fleck kurz über dem Steißbein gehabt. Da Toni ein sehr liebevoller und ausdauernder Liebhaber war, war ich bisher meistens trotzdem auf meine Kosten gekommen und hatte es nur selten für nötig befunden, ihm einen Orgasmus vorzuspielen, damit ich endlich schlafen konnte.

Kennengelernt hatten wir uns auf der Party einer Studienfreundin in Hamburg. Ich wollte Fotografin werden, träumte von einer Karriere à la Herlinde Kölbl oder Jim Rakete. Meine Bilder stellte ich mir als schwarz-weiße Kunstwerke vor. Ich hatte eine Mappe mit Fotografien von Gesichtern, die Geschichten erzählten: alte Männer mit Falten wie alte Ledertaschen, Babys mit Augen so weise wie die von Senioren. Eine Gruppe lachender junger Frauen Arm in Arm, weinende Fußballspieler nach einer Niederlage. Meine Grundlage für ein Studium an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Ich hoffte auf entscheidende Impulse für meine spätere Karriere als Promi- und Gesellschaftsfotografin, lebte in einer kleinen Wohnung zusammen mit Elissa, die auf die Journalistenschule ging, und träumte von der großen weiten Welt. Und dann traf ich Toni auf dieser Party.

Ich hätte meine gesamte schweineteure Kameraausrüstung darauf verwettet, dass Antonio Romagnolo ein Künstlername war. Nie im Leben wäre ich darauf gekommen, dass dieser blasse rothaarige Typ mit der Sehschwäche und dem norddeutschen Zungenschlag der Sohn einer Deutschen und eines Italieners war. Seine Eltern waren vor Jahren aus Venedig nach Deutschland gezogen, hatten mit einem Restaurant das große Geld gemacht und den Betrieb daraufhin gewinnträchtig verkauft. Dann waren sie in die Heimat seines Vaters zurückgekehrt. Aber für Toni, der als Baby nach Hamburg gekommen war, löste der Anblick der großen Fontäne in der Alster mehr heimatliche Gefühle aus als eine Gondelfahrt in Venedig.

Er berichtete mir von seiner großen Familie in Italien, seinen Ideen als junger Produktmanager in einer kleinen Werbeagentur, seiner heimlichen Leidenschaft für spanischen Rotwein und aufgewärmte Tiefkühlpizza.

«Ich weiß, ein Italiener mit roten Haaren ist so ungewöhnlich wie ein Schwede mit schwarzen Locken, aber das sind die starken Gene meiner Mutter», hatte er lachend erklärt, als ich meine Verwunderung über seine Herkunft nicht verbergen konnte.

Und all das erzählte er, als wäre ich der letzte Mensch auf der Welt, als hätte er diese Dinge nur in seinem Herzen bewahrt, um mich daran teilhaben zu lassen. Während ich in seine blauen Augen sah und mich weiter über seinen Rotschopf freute, mit ihm aus einem großen Wasserglas Rotwein trank und mich von ihm mit Fertig-Nudelsalat füttern ließ, verliebte ich mich in ihn. Später behauptete Antonio, er hätte schon als ich zur Tür hereinkam gewusst, dass ich die Frau seines Lebens sei. Diejenige, die er heiraten und mit der er Kinder haben würde. Genau so war es dann ja auch gekommen. Und es gab kaum einen Tag, an dem mir das leidtat.

 

Als ich nach Hause kam, parkte ich meinen Wagen in der Garage und ließ die Ware im Kofferraum. Da morgen früh, am Sonnabend, keine Kinder in die Schule gefahren werden mussten, konnte ich die Wäsche in aller Ruhe am Morgen ausräumen.

In der Küche schenkte ich mir ein Glas aus der offenen Weinflasche ein, die auf der Anrichte stand, und schlich leise die Treppe nach oben, um noch einmal nach den Kindern zu sehen.

Hanna schlief auf dem Rücken. Aus den Kopfhörern des MP3-Players, die ihr aus den Ohren gerutscht waren, tönte leise Musik. Wahrscheinlich Die Atzen oder Tokio Hotel oder irgendetwas in dieser Richtung. Die Pferdeposter an ihren Zimmerwänden waren längst gegen Bilder britischer Bands ausgetauscht worden – bei denen sich nur selten Schnittpunkte zu meinen Vorlieben in Sachen Musik fanden – und gegen ein großes Foto von diesem Jungen, der in einem Film einen sexy Vampir spielte. Ich stellte mein Weinglas ab, schaltete den Player aus, legte ihn auf Hannas Nachtschrank und nahm beim Verlassen des Zimmers die Schmutzwäsche mit hinaus, die zusammengeknüllt auf dem Fußboden vor dem Bett lag.

Im Zimmer nebenan musste ich aufpassen, nicht bei jedem Schritt auf ein kleines Lego Star Wars-Männchen zu treten. Die Figuren lieferten sich Schlachten zwischen Pokemon-Karten und Harry Potter-Büchern. Tom hatte sich wieder einmal komplett die Decke von den Beinen gestrampelt und lag auf dem Bauch, beide Hände unter dem Gesicht, und schnarchte wie der Weihnachtsmann am ersten Feiertag. Ich deckte ihn zu, gab ihm einen Kuss auf die Haare und sog seinen wunderbaren Duft ein: eine Mischung aus Kuchenteig und Kindershampoo.

Schließlich kam ich in unser Schafzimmer, einen großen Raum mit einem Doppelfenster und einer Glastür zu einem kleinen Balkon in Richtung Garten. Statt eines wuchtigen Schranks hatten wir uns für einen begehbaren Kleiderschrank entschieden und links und rechts davon wandhohe Spiegel mit antik wirkenden Rahmen anbringen lassen. Auf dem Boden verströmten weiße Kugeln unterschiedlicher Größen warmes Licht. In unserem hohen amerikanischen Bett schlief Toni wie eine große Kopie seines Sohnes. Die Bettdecke lag am Fußende, und er hatte beide Hände unter sein Gesicht geschoben. Die einzigen Unterschiede zwischen Vater und Sohn waren die Lautstärke der Schnarchgeräusche und die Motive auf den Schlafanzügen. Tom schlief mit Spiderman auf dem Bauch, Toni mit dem Bild von SpongeBobs Freund Patrick. Wann hatte er eigentlich damit angefangen, diese Nicki-Zweiteiler zu tragen und nicht mehr nackt ins Bett zu steigen? Ich nahm meinen Wein mit ins angrenzende Badezimmer, in dem es durch die Fußbodenheizung immer schön warm und wegen der dunkelbraunen Dielen sehr behaglich war, um mich dort auszuziehen und abzuschminken.

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2.Kapitel

«Ey, Mama, und weißt du, was dann passiert ist?» Tom schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Wir saßen am Esstisch, der an einer Seite an die Kochinsel angrenzte und Platz für sechs Personen bot. Die weiß glänzenden Küchenschränke hatte ich beim Bau des Hauses ausgesucht, weil mir irgendjemand erzählt hatte, je glänzender die Oberflächen, desto weniger müsste ich putzen. Der totale Quatsch. Wenn meine Kinder sich selber Brote schmierten, konnte ich an allen Türen und Handgriffen den Weg der Herstellung verfolgen. Egal, zwei- bis dreimal in der Woche kam Alma, unsere Perle. Toni hatte während meiner Schwangerschaft mit Hanna darauf bestanden, Hilfe ins Haus zu holen, und Alma von einem begeisterten Freund «übernommen», der nach Amerika ausgewandert war. Alma war bei uns angetreten und hatte vom ersten Tag an das Zepter in der Hand gehalten – sie kümmerte sich um alles: Hausputz, Wäsche, erledigte den Einkauf, als ich zu unförmig dafür war, kochte, als ich Hanna noch stillte, später hütete sie die Kinder, wenn Toni und ich mal wieder etwas allein unternehmen wollten. Und wenn im Garten etwas zu tun war, brachte Alma ihren Mann Sönke mit. Beide weit über sechzig Jahre alt, steckten sie an Energie und Elan sogar meinen Marathon-erprobten Ehemann in die Tasche. Auch aufgrund der allgegenwärtigen Alma hatte ich mir den Job bei Lucinda-Dessous gesucht, um mich nicht zu Tode zu langweilen. Wieder als Verkäuferin auszuhelfen, hatte ich keine Lust gehabt. Hätte ich als Fotografin arbeiten wollen, hätte ich erst meinen Meister nachholen müssen. Aber ich wollte etwas machen, bei dem ich mir aussuchen konnte, wie viel und vor allem wann ich arbeitete. Und im Gegensatz zu einigen Freundinnen kam ich mir als Nur-Hausfrau-und-Mutter auch nicht schäbig vor und hatte nie das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen.

Heute hatte Toni mich lange schlafen lassen, war bereits seine große Runde durch den Wald gejoggt, hatte dann mit Tom Brötchen geholt, den Tisch gedeckt und Kaffee gekocht. Wenn er das tat, konnte ich fast sicher sein, dass er trotz des Wochenendes später noch ins Büro fahren würde. Im Moment aber saß er gelassen in Jeans und langärmeligem Poloshirt am Tisch und nippte an seinem Kaffee.

Hanna hatte gestern eindeutig zu lange ferngesehen, so übermüdet und lustlos, wie sie über ihrem Teller hing. Vor schulfreien Tagen ließ Toni den Kindern vieles durchgehen, was sie bei mir nicht durften. Meine Tochter würde sich ganz sicher, wenn sie ihr kleines Vollkornbrötchen mit hauchdünner Marmeladenschicht («Mama, bitte nicht so viel Fett, in meinem Alter verwertet man das nicht so gut, und ich will auf keinen Fall so dick werden wie du») gegessen hatte, wieder ins Bett legen, den ganzen Tag eine SMS nach der anderen an ihre Freundinnen schreiben und Vampirromane lesen.

Aber zunächst musste sie sich wie wir alle die Erlebnisse von Toms aufregender Schulwoche anhören. Mein Sohn liebte es, am Wochenende der ganzen Familie zu berichten, was in seiner vierten Klasse wieder Weltbewegendes geschehen war. So hatte ich seit meinem ersten Kaffee schon erfahren, dass er im Werkunterricht einen Höhleneingang in einen Ytong-Stein gemeißelt hatte, dass die Sportlehrerin wieder voll fies gemeckert hatte, weil er wegen eines verknoteten Schnürbands an seinem Turnschuh zwei Minuten zu spät zum Unterricht erschienen war, und dass alle in der Klasse ihre November-Gedichte aufsagen mussten. Inzwischen war ich bei der dritten Tasse Kaffee angelangt, Tom bei der Schilderung der Mitschüler-Gedichte von gestern Morgen.

«Also, Chris, den kennst du ja, Mama, der lernt ja immer sehr lange Gedichte auswendig, und dieses Mal hatte er wirklich ein ganz trauriges. Es ging um einen Mann, der lange auf einem Pferd unterwegs war, und dann ist er noch ein Stückchen weiter gereitet …», erklärte Tom mit roten Wangen.

«Geritten heißt das, du Doofkopp.» Immerhin war Hanna noch zu Reaktionen fähig und nicht gleich am Tisch wieder eingeschlafen.

Ich zog die Augenbrauen hoch, um ihr zu signalisieren, dass sie ihrem kleinen Bruder gegenüber etwas nachsichtiger sein sollte. Sie verdrehte die Augen und stand auf, um sich am Küchentresen ein Glas Mineralwasser einzuschenken.

Tom ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Und dann ist er eeendlich angekommen, der arme Mann. Er war sehr müde, und Hunger hatte er auch, denn als der da langgereitet ist, da gab es zum Beispiel noch gar keinen McDonald’s unterwegs, wo der sich mal einen Hamburger und Pommes kaufen konnte.» Eine Tatsache, die für seinen kleinen Kinderkopf geradezu unvorstellbar schien. Toni hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen.

«Und dahann, Mama, weißt du, was dann passiert ist?» Tom machte eine bedeutungsschwere Pause, bevor er zum Ende seiner Geschichte kam. «Mit Müh und Not hat er den Bauernhof erreicht. Aber dann ist der Mann fast vom Pferd gefallen, und alle haben gesehen, dass das Baby auf seinem Arm einfach tot war. Am Ende waren Carina und Inken so traurig, dass sie weinen mussten. Aber die sind sowieso Babys und heulen immer gleich los. Kann ich noch ein Brötchen mit Nutella haben?» Er lächelte mich an und griff nach dem Korb mit den Backwaren. Schön, wenn das Leben noch so einfach ist – Goethes Erlkönig und Nuss-Nougat-Creme.

«Kann ich aufstehen? Ich würde im Bett gern noch etwas lesen», leitete Hanna ihren Rückzug ein.

Toni nickte, da konnte ich schlecht nein sagen. Hanna zog ab in Richtung Treppe zu ihrem Zimmer, aus dem sie vermutlich erst bei Einbruch der Dunkelheit wieder auftauchen würde.

«Was machen wir denn heute? Immerhin regnet es nicht. Wir könnten nach Berlin fahren, ein wenig bummeln und dann später bei Luigi essen gehen», schlug ich vor.

«Och nöö, Bummeln ist scheiße-langweilig. Dann muss ich wieder rumsitzen, wenn du Kleider anprobierst, hab ich keinen Bock drauf. Ich will lieber Fahrrad fahren oder skaten.» Tom zählte heute schon mal nicht zu meinen Verbündeten.

Toni setzte sein Es-tut-mir-so-leid-Gesicht auf und stellte seinen Kaffee ab. «Tut mir leid, Bella. Ich kann heute auch nicht. Ich muss unbedingt noch mal ins Büro. Am Montag ist das Pitching für den Porsche-Spot, da müssen wir die endgültige Fassung verabschieden. Das dauert sicher eine Weile, keine Ahnung, wann ich zurück sein werde. Aber ruf doch Alma an, vielleicht kann die ein Auge auf Tom und Hanna haben, und du machst dir allein einen schönen Tag in der Stadt.» Er lächelte mich an und versuchte, so etwas wie Bedauern auf sein Gesicht zu zaubern.

Ich wusste, wie sehr Toni seinen Beruf liebte. Und wenn es stressig war, wenn von jetzt auf gleich neue und einzigartige Ideen für Werbespots oder Zeitungsanzeigen gesucht wurden, wenn es darum ging, Konkurrenten auszustechen, dann war er ganz in seinem Element. Am Wochenende ins Büro zu fahren war für ihn doppelt so schön, weil dann keine Telefonate oder ungebetenen Besucher den Ideenfluss störten.

Ich nahm mir etwas lustlos noch ein Brötchen aus dem Korb. «Ach nein. Alleine mag ich auch nicht.»

«Vielleicht dauert es ja bei mir doch nicht so lange, und wir können heute Abend noch schön etwas zusammen essen?», machte Toni einen weiteren Versuch in Sachen Beschäftigungstherapie. «Ich könnte Sushi mitbringen.»

«Au ja, Schuschi, ich nehm die mit ohne das scharfe Weiße und mit Gurken drin und viele.»

«Tom, Sssuhhschieee», versuchte Toni es ganz langsam.

«Ja, sag ich doch, Mensch. Kann ich auch die kleinen Frühlingsrollen mit Hähnchen und der roten scharfen Soße haben?»

«Klar, wenn Mami auch einverstanden ist?»

«Ja, Mami ist auch einverstanden.» Mir war jetzt schon klar, worauf es hinauslaufen würde. Toni fuhr ins Büro, rief irgendwann an, dass es doch später werden könnte, rief dann noch einmal an, um zu sagen, dass es tatsächlich sehr spät werden würde, und am Ende saß ich mit den Kindern vor einem Disney-Zeichentrickfilm und futterte mit ihnen Pizza vom Lieferservice. Wäre nicht das erste Mal. Aber ich versuchte, Tom nicht den Spaß zu verderben. «Lass uns doch erst einmal abwarten, wie es bei euch in der Agentur läuft. Fährst du jetzt gleich los?»

Toni stand auf, stellte seinen Teller und den Kaffeebecher ins Spülbecken und nickte. «Ja, je eher ich anfange, desto eher bin ich vielleicht wieder zu Hause.» Er strich Tom über den roten Schopf, stellte sich hinter mich und küsste meinen Nacken.

«Iiihhgitti, Elternsex. Muss das sein, ich esse noch!» Tom machte Würgegeräusche und verdrehte genervt die Augen. Nicht einmal Hanna – geschweige denn sein Papa, Opi oder Sönke – durfte sich in meinen Arm kuscheln, ohne dass er dabei war. Aber da Hanna ihre Kuschelzeit mit den Eltern inzwischen weitgehend für beendet erklärt hatte und nun stramm auf die Kuschelzeit mit Jungs zusteuerte, drohte von der Seite für ihn kaum noch Gefahr.

Toni trat einen Schritt zurück, gab mir einen Kuss auf den Scheitel, einen auf die Wange und warf eine Kusshand in den Raum. «Bis später, Amore. Ich hab dich lieb.» Ich hörte, wie er im Hausflur ein «Ciao, Hanna, bis heute Abend» die Treppe hinaufrief, ohne eine Antwort zu bekommen. Wenige Sekunden später startete er knatternd seinen Porsche.

Gut, also ein Tag zu Hause mit den Kindern.

«Ich geh dann mal raus, Mami, ich fahr mit dem Rad durch die Gegend, vielleicht ist Matthie zu Hause, ist das okay für dich?» Tom versuchte, sich mit einer Papierserviette die Nutellareste von den Fingern und aus dem Gesicht zu wischen. So viel zum Thema ein Tag mit den Kindern.

«Zuerst putzt du dir die Zähne und wäschst dir gründlich Gesicht und Hände. Danach kannst du gern zu Matthias fahren. Aber ruf mich bitte an, wenn du zum Spielen dort bleibst, damit ich dich nicht suchen muss, okay? Und zieh dir Handschuhe an und nimm eine Mütze mit, es ist kalt draußen!»

Tom warf die zerknautschte Serviette auf den Tisch und schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück. Auf meiner Höhe stoppte er kurz, küsste mich mit seiner Schokoschnute auf die Wange und rief: «Ich hab dich so lieb, Mami», bevor er nach oben verschwand.

Ich machte mich daran, den Tisch abzuräumen. Danach würde ich meine Ware aus dem Auto ausladen und dann vielleicht schon mal die Party-Termine für die nächsten Wochen planen. Vielleicht war noch Zeit für einen Plausch am Telefon mit Elissa. So langsam begann das Weihnachtsgeschäft, da musste ich dringend neue Ware ordern.

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3.Kapitel

Das Wochenende war genau so verlaufen, wie ich es vorausgesehen hatte. Toni hatte die meiste Zeit in der Agentur verbracht, Hanna wollte bei einer Freundin übernachten und war erst am Sonntagabend wieder aufgetaucht, Tom hatte sich die Zeit damit vertrieben, auf seinem Fahrrad von einem Freund in der Nachbarschaft zum nächsten zu düsen, und ich hatte mich mit verschiedenen Kleinigkeiten aufgehalten. In einer Familie mit zwei Kindern gab es ja immer etwas zu erledigen. Ich hatte eine Liste gemacht, auf der ich abhaken konnte, was vor unserem alljährlichen nachweihnachtlichen Skiurlaub mit Freunden noch zu erledigen war. Auf einer weiteren Liste hatte ich meine Ideen für Weihnachtsgeschenke notiert, und in den Kochbüchern hatte ich mit Klebezetteln ein paar Menüideen für die Feiertage markiert. Vielleicht würde ich in diesem Jahr von der klassischen Pute abweichen und etwas Neues ausprobieren. Vielleicht wenigstens einen anderen Nachtisch als immer Vanilleeis mit heißen Himbeeren? Ich hatte die Ware aus dem Auto geräumt, Inventur gemacht, Hemden in die Reinigung gebracht, Brote für Tom geschmiert und abends bei einem Glas Wein irgendwelchen Zeichentrick-Abenteuern zugesehen und meinen Gedanken nachgehangen.