Deutscher Novellenschatz 16 - Emmy von Dincklage - E-Book

Deutscher Novellenschatz 16 E-Book

Emmy von Dincklage

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Beschreibung

Der "Deutsche Novellenschatz" ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 16 von 24. Enthalten sind die Novellen: Dincklage, Emmy von: Der Striethast. Roquette, Otto: Die Schlangenkönigin. Schmid, Hermann: Mohrenfranzl. F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüt und Selbstsucht.

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Seitenzahl: 329

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Deutscher Novellenschatz

 

BAND 16

 

 

 

 

 

 

 

Deutscher Novellenschatz, Band 16

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849661243

 

Das Korpus „Deutscher Novellenschatz“ ist lizenziert unter der Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) Lizenz und Teil des Deutschen Textarchivs. Eine etwaige Gemeinfreiheit der reinen Texte bleibt davon unberührt. Näheres zum Korpus und ein weiterführender Link zu den Lizenzbestimmungen findet sich unter https://www.deutschestextarchiv.de/novellenschatz/. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Gemüt und Selbstsucht.1

Mohrenfranzel.43

Der Strietast.88

Die Schlangenkönigin.107

 

 

Gemüt und Selbstsucht.

 

Margarete von Wolf

 

Vorwort

 

Die nachstehende Novelle, größtenteils in Briefen, erschien in dem von K. Büchner herausgegebenen „Deutschen Taschenbuche auf das Jahr 1838“, mit dem Beisatz: „mitgeteilt von Leopold Schefer“. Man braucht nicht lange darin zu lesen, um sich zu überzeugen, dass die Erzählung keinen Verfasser hat, sondern eine Verfasserin. Die weiblichen Briefe bekunden dies durchsichtig genug, noch mehr aber durften es die männlichen verraten. Diese Vermutung findet denn auch ihre Bestätigung in einer gleichzeitigen Taschenbücherschau der Blätter für literarische Unterhaltung vom 19. Dezember 1837, die bei Gelegenheit unserer Novelle die Bemerkung enthält: F. v. W. ist ein Fräulein von Wolf in Kopenhagen“. Mehr haben wir von der talentvollen Verfasserin nicht in Erfahrung bringen können. Dieselbe entwickelt eine merkwürdige Kunst der Natürlichkeit: man glaubt wirkliche Mitteilungen aus dem Leben zu lesen, mit leichter Hand hingeworfen, als wären sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt; und unter dem Eindrücke dieser Täuschung gewinnt uns die Zartheit und Anmut des Vortrags umso mehr für den Kreis, aus welchem wir die Mitteilungen hervorgehen sehen. Eine Teilnahme freilich, die sich fast ganz auf den weiblichen Teil dieses Kreises beschränkt; denn die „Herren“ sind nicht durchaus günstig geschildert, und der Beste von ihnen geht leer aus, was ihn, wenigstens in männlichen Augen, nicht eben zum Helden macht. Ob denn doch vielleicht Verhältnisse und Begebenheiten des wirklichen Lebens zu Grunde liegen? ob die überraschende Schlusswendung der Wirklichkeit angehört oder experimentierende Erfindung ist? Wir können diese Fragen nicht beantworten, glauben uns aber versprechen zu dürfen, dass die Novelle jedenfalls, wenn sie auch nicht alle Ansprüche erfüllen sollte, mit Interesse gelesen werden wird. Den Titel hätten wir anders gewünscht, halten uns jedoch nicht für berechtigt, ihn zu ändern.

 

***

 

 

Am oberen Ende eines Tisches, auf welchem das Frühstück geordnet stand, saß Herr Steffano, einer der angesehensten Kaufleute in Frankfurt. Wie nach dem Namen zu erwarten, südlicher Abkunft, sprach sich diese auch in den Formen des Antlitzes, in dem Schnitte und der Farbe des Augenpaares deutlich genug aus, wenn gleich seine Voreltern schon vor beinahe zweihundert Jahren aus Italien nach Deutschland eingewandert sein mochten. Sein lebhafter und doch ruhiger Blick beurkundete die wohlbenutzten Erfahrungen eines der Tätigkeit und dem Nachdenken gewidmeten Lebens; der etwas streng geschlossene Mund deutete auf Ernst und Entschlossenheit, während in dem Lächeln, wenn dieses seine Züge belebte, herzgewinnende Freundlichkeit sich aussprach. Ihm zur Rechten befand sich ein junger Mann, mit hellbraunem Lockenkopfe, mit bedeutenden, ausdrucksvollen, wenn gleich nicht eben schönen Zügen, der dem Äußeren nach mehr erust als fröhlich, mehr gedankenvoll als beglückt sich darstellte. Zur Linken des Hausherrn, neben dem Kaminfeuer, hatte in einem bequemen Lehnsessel und in fast liegender Stellung der Neffe desselben, Herr R., sich hingestreckt, welchen man sogleich an der Familienähnlichkeit als Verwandten des Hauses erkannt haben würde. — Im Allgemeinen glich seine Gesichtsbildung der des Oheims, obwohl diese jugendlichen Züge einen durchaus verschiedenen Ausdruck zeigten. Herrn Steffanos Augen deuteten Güte, Milde und Nachdenken an, zuweilen tiefen Ernst, niemals Härte; aus den herrlich gebildeten Augen des Neffen blickten dagegen im lebendigen, oft verletzenden Wechsel Geist, Neigung, Stolz, Misstrauen, Strenge und Verachtung; auch der Ausdruck seines Mundes war bezeichnend, auch in seinem Lächeln war gewinnende Anmut verborgen, aber öfter noch zeigte sich um seine Lippen ein Zug von Spott, Trotz und Missvergnügen. Neben ihm saß ein junges Mädchen, deren blühendes, blendendes Colorit den angenehmsten Abstand zu seiner südlichen Gesichtsfarbe bildete. Man hatte oft scherzweise von diesem reizenden Wesen gesagt, dass sie ein Blumengesichtchen habe, und in der Tat kein Ausdruck konnte richtiger sein. Ihr blondes Haar war in reichen Flechten zierlich geordnet, und ihre fröhlichen, schalkhaften braunen Augen machten umso tieferen Eindruck, als man darauf hätte schwören mögen, diesem Gesichtchen könne nur ein blaues Augenpaar inne wohnen. Es gewährte ein liebliches, tröstliches Gefühl, so viel glückselige Jugend zu betrachten, und auch ihr Nachbar widerstand diesem Zauber nicht immer, obwohl er demselben nur dann nachzugeben pflegte, wenn Niemand ihn seiner Meinung nach beachtete. — Neben dieser anmutigen Blondine erblickte man die Tochter des Hauses, welche wiederum als Gegenstück ihrer Nachbarin betrachtet werden konnte. Sophie Steffano hatte das schwarze Haar, die edle Gestalt, welche ihre Familie auszeichnete, aber unter der schönen Stirn blickten tiefblaue Augen hervor, deren Ausdruck zugleich lebhaft und rührend war. Sie sah zuweilen zu ihrem Vetter hin, der ihr gegenüber saß, und dessen Augen sie oft mit Blitzesschnelle trafen, aber in diesem Anblicken lag nichts von der zutraulichen Unbefangenheit verwandtschaftlichen Verhältnisses.

Diese fünf Personen bildeten das Gemälde, den Rahmen dazu ein Zimmer, dessen schöne Anordnung auf Geschmack und die gediegene Eleganz wohl angewendeten Reichtums deutete. — Herr Steffano hatte die Zeitung flüchtig durchgesehen und sagte jetzt, nicht ohne leisen Anflug von Ironie und mit Hinblick auf seinen Neffen, der eine unangezündete Zigarre spielend zwischen den Fingern bewegte: Ich freue mich zu sehr, wie mehr und mehr die Gesinnung der Damen sich dir beifällig zuwendet, denn schwerlich würde Sophie früher an die Möglichkeit geglaubt haben, dass man in ihrem Heiligtume rauchen dürfe. Sophie errötete, ihr Blick begegnete flüchtig dem ihres Vetters, welcher die Hand über die Augen legte und nach einer kleinen Pause mit seltsamem Lächeln erwiderte: Da man mir so viele Güte beweist, wäre vielleicht anzunehmen, ich sei derselben nicht völlig unwert. — Die kleine Blondine lächelte schalkhaft, der Oheim sah ernst vor sich hin. Der junge Mann zu seiner Rechten war gleich zu Anfange dieses Gespräches aufgestanden, verbeugte sich jetzt schweigend und verließ das Zimmer.

Nach minutenlanger Pause begann Herr Steffano von Neuem: Ich habe gestern die Bekanntschaft des Grafen von N. gemacht und freue mich dir sagen zu können, wie er ein höchst angenehmer, humaner und aufgeklärter Mann zu sein scheint.

Der Neffe schwieg. Für dich, fuhr Jener fort, kann dieses alles nur von höchster Bedeutung sein.

R. blickte empor und entgegnete misslaunig: Ich wüsste in der Tat nicht, warum mir das anders als gleichgültig vorkommen sollte.

Eine geistreiche Antwort belebt kluge Personen, selbst dann, wenn sie ihren Ansichten und Wünschen entgegen ist, eine ihrer Meinung nach unverständige pflegt sie aus aller Fassung zu bringen. Herr Steffano schwieg eine Weile, wie um sich zu sammeln, und entgegnete: Gleichgültig? — Das ist eine großartige Ansicht, die wenigstens mir nicht einleuchten kann, da deine Anstellung in Staatsdiensten größtenteils von dem Grafen und seinem Einfluss abhängig sein wird.

Düstre Wolken zogen über R's Stirn. Es tut mir leid, sagte er, dass dieser Gegenstand eben jetzt zur Sprache kommt, Zeit und Stunde mögen wenig günstig sein. Mir gilt aber der Grundsatz, dem scheinbar Unabwendbaren nie aus dem Wege zu gehen; überdies, was man den Mut hat zu wollen, muss auch entschlossen ausgesprochen werden, gleichviel, ob es mit Gunst oder Ungunst aufgenommen werden mag. Ich bin sehr entschieden, in den nächsten Jahren noch keine Anstellung zu suchen.

Herr Steffano schwieg abermals, die kleine Blondine schlüpfte behände aus dem Zimmer, Sophie erhob sich ihr zu folgen, aber ein ernster Blick des Vaters bewog sie zu bleiben. Ich verstehe dich nicht, lieber Neffe, begann er endlich; sei daher so gütig, dich deutlicher zu erklären. Wenn man gleich dir acht Jahre auf Universitäten zugebracht hat, wenn man achtundzwanzig Jahre alt ist, dann, scheint mir, ist in ihrer vollen Reife die Zeit da, wo man eines ernsten Lebenszweckes bedarf und auf alle Weise ihn suchen muss. Du hast dir vollkommen Zeit gelassen, das Leben zu genießen, so hoffte ich würdest du jetzt daran denken, dich demselben nützlich und tätig einzubürgern.

Der Neffe lächelte: Ihre Güte kommt mir sehr unerwartet zu Hilfe, denn eben diese Idee des Einbürgerns in die kleinlichen und etwas platten Lebensverhältnisse, die mir bevorstehen würden, machte jede Annäherung vorläufig zur Unmöglichkeit.

Du willst also vom Zivilfach dich gänzlich abwenden? —

Keineswegs, nur hinausschieben will ich die Sklaverei , welche mir bevorsteht. Ich kann meinen Nacken einem solchen Joch noch nicht beugen. Nur die höheren Staatszwecke haben von jeher mein Interesse erregt, alle diese ängstlich-beschränkten Verhältnisse kleiner Beamten sind mir stets durchaus zuwider gewesen.

Höhere Staatszwecke, entgegnete der Oheim, haben immer außer dem Bereiche meines Wirkens gelegen, aber sie sind, nach meiner Ansicht, in der weisen Aufrechthaltung des bestehenden Guten, in zweckgemäßer Verbesserung des Mangelhaften zu suchen. Diesem Streben liegt die einfachste und deshalb oft schwierigste Weisheit zum Grunde: nur gemeinsames Wirken führt zu solchem Ziele. Der geringste Beamte eines Staates kann dazu beitragen und für sein Herz, seine Eitelkeit, seinen Ehrgeiz volle Befriedigung finden. Das richtige Streben eines geistreichen Mannes wird nie übersehen werden, selbst der beschränkte Wirkungskreis dient ihm zur Hebung, und umso mehr wird daraus der Geist hervorleuchten, welcher es verstand, seine Strahlen wohlbegründeter Ordnung einer oft mechanischen Tätigkeit zuzuwenden. —

Es mag sein, wie Sie sagen, erwiderte der Neffe nachlässig, aber mir wenigstens fällt es schwer, mich durch so kümmerliche Verhältnisse durchzuarbeiten nach einem möglichen Ziele. Meine Aufmerksamkeit ist von Anbeginn auf die mangelhafte Justizverwaltung meines Vaterlandes gerichtet gewesen, auf die seltsame Verkehrtheit, Gesetze noch jetzt in ihrer Kraft bestehen zu lassen, welche durch die Fortschritte der Zeit und der Kultur als durchaus unzulässig erscheinen müssten. In mir ist seit lange der sehr begreifliche Wunsch rege, die Verwaltung, die Stimmung in andern Ländern mit der im Vaterland zu vergleichen. Ich wünsche zu dem Zwecke England, Frankreich und, was Ihnen vielleicht seltsam erscheinen mag, Holland zu bereisen und kennen zu lernen. Italien werde ich später besuchen, aber eigentlich nur zu einer, ich möchte sagen, poetischen Belehrung, denn in staatswissenschaftlicher Beziehung möchte ich dort schwerlich viel lernen, vielleicht nur, als insofern auch das Mangelhafte unterrichtend sein kann.

Herr Steffano lächelte. Dein Wille mag vortrefflich sein, lieber Neffe, aber wäre es nicht heilsamer für dich, wenn du, unbekümmert um die Vorteile oder Nachteile, deren andere Länder teilhaftig sind, im Vaterlande eine Anstellung suchtest und derselben mit Umsicht und Pflichttreue vorständest? Der Begriff des Besseren und Zeitgemäßeren bleibt insofern stets abhängig, als selbst das Gute dieser Art nicht auf alle Menschen und auf alle Zustände anwendbar ist. — Man findet überall einen National- und doch auch wieder, möchte ich sagen, einen Ortscharakter, und um dieser letzteren Ursache willen wird es eine ewig unauflösbare Aufgabe bleiben, die Gesetzgebung irgendeines Landes auf die Individualität der Bewohner mit Genauigkeit anzuwenden. Was für die Mehrzahl als richtig erkannt wird, muss in der Beziehung als das Bessere gelten; nicht Alles ist so verkehrt, wie der Anschein uns glauben machen möchte. Ich habe mein Nachdenken solchen Betrachtungen oft zugewendet. Die Verschiedenheit der Gemütsanlagen, ja selbst der äußern Persönlichkeit, welche man häufig in zwei einander nahe gelegenen Dorfschaften, häufig zwischen Städter und Vorstädter antrifft, mag der früher stattgehabten Einwanderung von Kolonisten zuzuschreiben sein. Wenn hier ein ganzer Menschenschlag gutmütig, lenksam und tätig erscheint, so findet man oftmals ganz in der Nähe ihn trotzig, auffahrend, verschlagen und untätig. Nach dem Besseren zu streben ist unerlässlich, aber selbst das anscheinend Mangelhafte mag oft nützlich sein, daher würde ich mich an deiner Stelle darüber beruhigen. Bedenke wohl, was es heißt, zwei Jahre seines Lebens einem ungewissen Zwecke opfern, indessen der gewisse notwendig und durchaus erforderlich erscheint. Du bist nicht reich, lieber Freund, kaum wohlhabend zu nennen, und folglich darf deine Wahl auf kein kontemplatives Leben gerichtet sein, wenngleich ein solches dir am meisten zusagen dürfte. Für dich ist ein weiser Haushalt mit Zeit und Leben dringendes Bedürfnis, du sollst dir selber verdanken, was du einst sein wirst. Dein Verstand, deine schnelle Auffassungsgabe, deine Gewandtheit, ja selbst deine Fehler, welche ich unberührt zu lassen wünsche, werden dir zur Erreichung deiner Zwecke förderlich sein, wenn du nicht an Zersplitterung so wünschenswerter Gaben scheiterst. — Leider ist in dir keine Einheit; verworren liegen die schönsten Blüten verstreut, hier Knospen, dort Blätter, hier Blumen, alles der verschiedensten Art, nichts aneinander gereiht, nichts gesammelt. Die Menge staunt die phantastische Verworrenheit an, der Kenner beklagt sie. Es ist ein Chaos, aus welchem das Wünschenswerteste dem Blicke sich darbietet; nur du vermagst es zu ordnen. Nur wer völlig mit sich einig ist, mag im Stande sein, ein vernunftgemäßes Urteil über fremde Menschen und Zustände zu fällen. In vollkommener Einheit liegt einzig sicheres Fortschreiten. Eine weitere Ausbildung durch Reisen scheint mir für dich nun völlig überflüssig. Die Welt, in ihren guten und verderblichen Beziehungen, hat schon genug an dir gebildet. Die glänzende, äußere Hülle ist vorhanden, nach dem inneren Kern wage ich manchmal nicht zu fragen. — Wie seltsam hast du dich selber gestellt! Deinen Gewohnheiten, deinem unabhängigen Sinne, deiner Gutherzigkeit nach, würdest du ganz für das bürgerliche Leben passen; dein Hochmut, deine Eitelkeit und zu verfeinerte Bildung ziehen dich unablässig in einen Kreis, der dich beengt, unbefriedigt lässt, und doch dir unentbehrlich erscheint. Auch hier ist Zwiespalt, denn nicht selten gefällst du dir auch in geringeren, deiner völlig unwerten Kreisen. Der Wunsch zu gefallen, zieht dich hier, zieht dich dorthin; das Ende sehe ich leider voraus: du willst Alle und besonders die Frauen für dich einnehmen und wirst Eine vielleicht sehr unglücklich machen.

Der Neffe warf einen finsteren Blick auf Sophie und sagte, indem er die Spitze seiner Zigarre auf eine Weise abbiss, die auf einen tiefen inneren Unmut deutete: Was Sie mir sagen, ist ohne Zweifel wohlgemeint, wenn es gleich mir keinen wohltuenden Eindruck geben kann. Es ist eine eigene Sache darum, Tadel anhören zu müssen, ich gehöre namentlich nicht zu den Menschen, die Solches mit Gelassenheit ertragen können. Wir wollen es dahin gestellt sein lassen, wie richtig oder verkehrt meine Ansichten sein mögen, helfen sie mir nur wohl oder übel durch die Welt. Ich werde das Gute zu erkennen, das Schlimme zu ertragen wissen. Was meine schwankenden Ansichten anbelangt, so hoffe ich, mit Recht sagen zu können, dass nur ihre Abweichung von denen anderer sie als unsicher erscheinen lassen dürfte. Ich bin mir einer festen Grundlage und des allertiefsten Eindringens bewusst. — Eine Hinneigung zu schlechter Gesellschaft darf ich mir wenigstens in keinem höheren Grade vorwerfen, als auch andere junge Leute diese, ab und an, nicht ganz von sich abzulehnen im Stande sind. Natürlicher Hang zieht mich nicht dahin; Eitelkeit, das ist möglich. — Ich gestehe, fügte er schelmisch lächelnd und mit einem unsicheren Blick auf seine Kusine hinzu, dass es mir augenblicklich Reiz gewährt hat, zu beobachten, wie man bei allen Ständen und in allen Verhältnissen nur durch eine etwas anders gestellte Phraseologie genau dieselben Zwecke zu erreichen im Stande ist. — Was eine weitere Ausbildung durch Reisen anbelangt, so habe ich umso eher geglaubt, daran denken zu müssen, da eine solche in unsern Zeiten eine durchaus gewöhnliche zu nennen ist, ja, da selbst Sternheim sich diese hat erwerben dürfen.

Es betrübt mich, lieber Freund, dass du stets Sternheim als dir untergeordnet betrachtest; ihr steht nicht auf gleicher Höhe, das gebe ich zu, und doch — wer möchte gewinnen beim Tausche, wenn ein solcher überall denkbar wäre. Durch euch wird der Begriff des praktischen und ideellen Lebens aufs Anschaulichste versinnlicht. Nie sah ich zwei ungleichere Menschen. Was äußere Annehmlichkeit anbetrifft, wirst du ihn stets weit überstrahlen; nimm dich in Acht, dass er durch wahren Gehalt nicht dich überflügeln möge! In dir sind Genius-Blitze, in ihm ist bewusste Klarheit des Verstandes. Sein Fehler ist, mit zu schweigsamer Ruhe die Eindrücke in sich aufzunehmen, welche Welt und Menschen auf ihn hervor bringen, indessen du mit sprudelndem Ungestüm, mit unüberlegter Erregung, von jedem Einwirken äußerer Verhältnisse Rechenschaft ablegen zu müssen glaubst, obwohl wiederum Offenherzigkeit nicht als Grundzug deines Charakters betrachtet werden mag. Bei dir ist Vieles zweckwidrig und doch planvoll, bei ihm Alles überdacht und einfach. — Sein Verhältnis als Kaufmann machte ihm Reisen zur Notwendigkeit, durch seine Tüchtigkeit als Mensch zog er Nutzen daraus, auch in Beziehung auf Kunst und Literatur. — Absichtlich habe ich dir dieses Alles in Sophies Gegenwart gesagt, sie ist deine liebe, nahe Verwandte, so besprich jetzt mit ihr deine Zukunft. Bedenke, lieber Freund, ob du nach zwei Jahren geeigneter sein möchtest, dich in das Joch der Abhängigkeit zu begeben; bedenke, dass du dann damit erst beginnen würdest, was längst als der erste Schritt hinter dir liegen müsste.

Herr Steffano verließ das Zimmer, sein Neffe stützte den Kopf in die Hand und sagte endlich, mehr misslaunig als bewegt: Es tut mir leid, schmerzlich leid, dass du dieses alles auf solche Weise hast erfahren müssen. Gewiss, Sophie, es war meine Absicht, dich zuerst mit meinem Entschlusse bekannt zu machen. Deiner lieben Billigung wollte ich vor jeder andern sicher sein. Vergib mir, was gleichwohl nicht mein Verschulden war. Warum weinst du? fügte er nicht ohne Härte hinzu.

Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann, zu ihm hinsehend: Wäre es dir lieb, wenn der Gedanke an eine Trennung mich nicht erschütterte? —

R. stand auf und näherte sich ihr. Trennungen, sagte er, sind Bedingungen des Daseins, wer getrennt ist, darf darum nicht geschieden sein. Der Geist einer innigen, unnennbaren Liebe vereint nur umso fester, wo äußere Verhältnisse entfernen. Oh Sophie, möchtest du gleich mir empfinden, dass es eine Liebe gibt, welche in ihrer unerschöpflichen Tiefe über das gewöhnliche Leben sich erhebt! Als du mir deine Neigung schenktest, musstest du dir sagen, dass du fortan keinem gewöhnlichen Manne angehören werdest. Du hast dich genugsam zu überzeugen Gelegenheit gehabt, dass ich nicht denke, nicht handle wie die Mehrzahl; diese Betrachtungen haben deine Neigung nicht zurückgeschreckt, so habe denn auch jetzt die Kraft, mit der Hingebung mein zu sein, welche ich begehren darf. Kommt ein Gedanke in deine Seele, dass mein Tun und Wollen ein unrichtiges sei, so hast du mich nie geliebt, denn die Liebe erkennt weder Zweifel noch Fehler an. In ihr ist nur Glaube und Zuversicht. Einst, ich weiß es, dachtest du so, lass mir die Hoffnung, dass du es noch tust, oder hätte ich an Einfluss auf dich eingebüßt, seit ich das Geständnis meiner Neigung aussprach? —

Sophie blickte ihn mit einem edlen Ausdruck an, aber sie schwieg.

Mag denn, fuhr er nicht ohne Unmut fort, jetzt Alles zur Sprache kommen, was in der letzteren Zeit zwischen uns getreten ist; ich rechne dazu deine völlig grundlose Eifersucht, die wirklich, ganz nutzlos, nur dazu gedient hat, mich zu plagen.

Sophie sah ihn ruhig an: Hast du je einen Vorwurf von mir gehört?

Er lächelte: Und habe ich nicht jeden Tag einen Vorwurf von dir gesehen? Bedarf es dazu der Worte, und verstehe ich nicht selbst in deinen niedergeschlagenen Augen zu lesen? — Wie sehr, wie innig hatte ich gehofft, du werdest zu einer großartigeren Ansicht dich erheben können, als solche den Frauen im Allgemeinen eigen zu sein pflegt. Müsstest du nicht mit Bestimmtheit fühlen, dass Nichts mich wahrhaft von dir entfernen kann, dass jeder anziehende Reiz mich an dich erinnert, die so viel reizender ist, als alle anderen? Nie, nie noch hat ein fremdes Wesen mir das Gefühl eingeflößt, welches ich stets in deiner Nähe empfinde, das Gefühl, verstanden, gewürdigt, geliebt zu werden. Ist denn das alles noch nicht hinreichend?

Sophie errötete und entgegnete sanft: Mit dir streiten kann ich nicht, ich kann nur eines sagen, Eines wünschen: oh möge dir, wenn du einmal dein ganzes Lebensglück auf ein Herz setzest — möge dir dann ein besseres Geschick zu Teil werden, als mir geworden ist. —

Erschüttert wollte R. sie umfassen. Sophie! sagte er bewegt.

Sie bog sich zurück und fuhr fort: Ich weiß, du würdest die Fehlschlagung eines fest gehegten Wunsches nie verschmerzen, sie mir nie vergeben; so reise denn, aber sei dann auch glücklich; gönne mir den Trost wenigstens für so viel Entsagung! Hörst du? setzte sie mit weicher Stimme hinzu.

R. fuhr heftig mit der Hand über die Stirn und verließ rasch das Zimmer. —

Sophie blickte schmerzlich empor: Warum, oh warum! sagte sie leise und hielt dann wie erschrocken inne: Nein, nein, fügte sie hinzu, nie will ich bereuen, ihm mein ganzes Herz gegeben zu haben. Sie setzte sich und stützte den Kopf mit geschlossenen Augen an die Lehne des Sessels; nur an den Tränen, welche langsam über ihre bleichen Wangen rollten, sah man, dass sie lebe und leide.

 

 

Charlotte an Emmy.

 

So lange bin ich ohne Nachricht von dir, dass ich annehmen muss, irgendein besonderes Ereignis veranlasse dein Stillschweigen. Hoffentlich ein gutes, denn wenn es dir übel erginge, würdest du gewiss des Herzens gedenken, welches stets deinen Schmerz mit dir gefühlt und ihn geteilt. Manchmal steigt in mir die Furcht auf, dass mein Ernst und meine Lebensansichten dich zurückschrecken, aber habe ich das verdient? — Mir blüht der Frühling anders als dir, aber von ganzer Seele freut es mich, wenn er alle seine Rosen über dich ausstreut. — Meine Bestimmung war von Anbeginn anders gestellt; es ist unverkennbar, dass mir nur ein kurzes Erdendasein vergönnt sein wird, deshalb kann ich nicht denken, mich nicht freuen, mich nicht betören lassen, gleich dir. Es gibt Menschen, welchen eine ernste Lebensbahn angewiesen ist, über dieselbe hinaus strecken sie nicht ungeahndet die Hand nach einem Maß von Glückseligkeit aus, welches ihnen nicht zugedacht war. Nicht zugedacht? fragst du. Nein, nicht zugedacht. Jeder soll, kann glücklich sein, auf seine Weise, aber der Nachtvogel darf nicht im hellen Sonnenschein flattern wollen. Ist er deshalb zu beklagen? Sieht er nicht die schönen, geheimnisvollen Sterne, leuchtet ihm nicht der Mond im stillen Zauber sanft erhellter Nacht, liegt, selbst im Dunkel, welches ihn umfängt, nicht magischer Reiz und süßer Friede? Gewiss, es gibt Menschen, die auf andere Art ihr Heil erlangen sollen, als die Mehrzahl, und ließe man sie gewähren, sie würden es finden und glücklich sein auf ihre Weise. Gewöhnlich aber wird ihnen keine Ruhe, man setzt ihnen so lange mit Bitten zu, mit Ermahnungen, ja selbst mit Spott, bis sie betäubt aus ihrem Geleise weichen und elend werden. — Auch ich streckte, so hingerissen, einst mit jugendlicher Zuversicht die Hand nach dem schönsten Schmucke des Lebens aus, für immer wurde ich enttäuscht. Dieses Geständnis wird hoffentlich dein liebes Herz mir wieder zuwenden, wenn meine anscheinende Kälte uns entfremdet haben sollte.

Ist R. schon bei euch angelangt? Sein Name ist auch bis zu mir gedrungen, mit Lob und Tadel, wie ja beides ausgezeichneten Menschen in gleichem Maße zu Teil wird. — Schreibe mir von ihm, von Sophie und vor allen Dingen von dir, die ich von ganzem Herzen liebe.

Charlotte.

 

 

Emmy an Charlotte.

 

Deine Strenge erregte mir keine Besorgnis, aber, zu meiner eignen Beschämung, die Beichte, welche dieser Brief enthalten wird. Unaufrichtigkeit ist die nutzloseste Sache von der Welt, denn es kommt immer einmal eine Zeit, wo man, halb wider Willen, wahr sein muss, und dann gewinnt das an sich Unbedeutende Bedeutung. R. ist hier; als er mir vorgestellt wurde, wie ich vermute, mehr der Form wegen, flog ein seltsames Lächeln um seine Lippen: Ich war früher so glücklich, sagte er, mit einer sehr höflichen Verbeugung. — Ja, ich habe ihn früher gesehen und verschwieg es dir, weil die Erinnerung für mich beschämend, schmerzlich, kurz Alles ist, wovon man gern den Blick abwendet. — Ich wurde mit ihm bekannt in der ewig unvergesslichen, glückseligen Zeit, als der kleine Haushalt meines Bruders unter meiner Leitung stand. Es war die seltsamste Wirtschaft von der Welt; den Jahren nach, im ganzen Hause kein verständiger Mensch. Ich mit siebzehn Jahren die Wirtin, Ludwig mit siebenundzwanzig Jahren der Wirt, und dazu fortwährend Besuche von allen seinen Universitätsfreunden, denen es unter solchen Umständen außerordentlich wohl bei uns gefiel. Auch ging Alles sehr gut von Statten, Ludwigs eigentümliche Art zu sein und meine sorglose Fröhlichkeit passten vortrefflich zusammen. — Da kam R. unerwartet, aber nicht unerwünscht. —

Ich war allein zu Hause, der Bediente meldete mit großer Unbefangenheit einen Herrn, dessen Namen er vergessen habe; da Ludwig dem Besuch eines jungen Polen mit sehr schwierig auszusprechendem Namen entgegensah, so fand ich Nichts natürlicher und ließ ihn eintreten. Sein Äußeres beschreibe ich dir nicht, daran liegt ja auch in der Tat nicht viel, obgleich, nebenbei bemerkt, mir noch nie Jemand gefallen hat, der nicht gerade so ausgesehen hätte, wie ich es gerne habe. — Nach den ersten gebräuchlichen Redensarten bezeigte ich ihm meine Verwunderung darüber, dass er so vortrefflich deutsch spreche. Überrascht sah er mich einen Augenblick an und entgegnete mit einem Lächeln, welches ihm außerordentlich wohl lässt: dass es dasjenige sei, worauf er sich am wenigsten einbilde. Es kam zu einer Erläuterung, und R. setzte das Gespräch mit Geist und Laune fort. Seine eben zurückgelegte Reise bot den wünschenswertesten Stoff. Ich erging mich mit ihm an den Ufern des Rheins, beschiffte mit ihm die wildströmende Donau und sah die Zweige schöner Bäume sich malerisch ins tiefblaue Wasser tauchen. Seine Darstellungsgabe fiel mir als ungewöhnlich auf, die Frische, der Reichtum in den wohlgewählten Ausdrücken, Alles war neu und anziehend, und doch sagte ich mir heimlich, er habe das Alles gewiss schon öfter erzählt, schon öfter dadurch gefallen. —

Ludwig kam endlich; seine Freude war die herzlichste, die sich denken lässt, und R. bekam das beste Zimmer im Hause. Nie zuvor hatte ich von geistiger Doppelgängerei gehört, durch R.'s Gegenwart trat sie für mich ins Leben. Die Ähnlichkeit zwischen seinen Fehlern und den meinen hat mich oft wahrhaft erschreckt, und dann auch wieder diese Übereinstimmung des Geschmacks, diese Ähnlichkeit im Guten, nur dass ich weicher bin, als er, was ja auch natürlich ist. — Alles richtete sich aufs Beste ein, und die Sonne beschien während kurzer Zeit drei glückliche, heitere Menschen. R. fühlte sich befriedigt in der Überzeugung, mir zu gefallen. — Nach einem Spaziergange kehrten wir eines Tages durch ein Gehölz zurück. Es war ein wundervoller Herbsttag, die Bäume schon in Gold, Purpur und lichtem Braun gefärbt, nur hin und wieder hob noch eine Eiche stolz das grünbelaubte Haupt empor. Die tiefe, nachdenkliche Stille dieser Jahreszeit war bereits eingetreten. Leicht, fast geräuschlos, huschte ab und an ein Vögelchen durch die Zweige, nur selten ward ein leises Zirpen vernehmbar; lautlos fiel hie und da ein Blatt von den Bäumen. Mein ganzes Herz stand diesem Eindrücke offen. Ich betrachtete mit anerkennendem Gefühl den welkenden und doch noch anziehenden Schmuck der Natur; die säulenartigen Stämme umher, die Fichten, deren melancholisches Grün durch goldgefärbte Blätter blickte, das Farrenkraut am Boden, welches seine zierlichen Zweige schon wie absterbend senkte, und auch so noch das Auge fesselte. Die Worte des Dichters fielen mir ein, und ich sagte halblaut vor mich hin:

 

Waldeinsamkeit,

So morgen wie heut.

 

Ich höre, dass Sie den Phantasus gelesen haben, bemerkte R. Ludwig lächelte: meine Schwester müsste die Erste unter den Frauen sein, wenn sie ein Buch gelesen hätte und dieses nicht gelegentlich bemerkbar machte. Ich überhörte die Anwendung und sagte: Übrigens möchte ich nur wissen, was an dem Märchen bewunderungswürdig ist? Ich finde nichts Schönes darin, dass ein ehrsamer Ritter eine Frau erheiratete, welche ihr Hab' und Gut dem Raube und dem Betrüge verdankt. — Es gibt in der Wirklichkeit wenig Dinge, entgegnete R., welche eine ganz prosaische Analyse auszuhalten im Stande sind, und man sollte diese auf das goldene Märchen nun vollends nicht in Anwendung bringen wollen. Mich haben der blonde Eckbert, der kleine Stromian, ja selbst der Vogel immer unendlich angezogen. Dem Ganzen liegt eine liebenswürdige Phantasie zum Grunde, und die Einheit darin scheint mir bewunderungswürdig, gleichwie die Auflösung.

Da es einmal ein Märchen ist, entgegnete ich, so hätte es auch der Wirklichkeit etwas mehr entrückt werden können; wozu war es notwendig, dass Eckbert blondes, flach anliegendes Haar haben musste, es stört alle Täuschung. Kaum waren diese Worte über meine Lippen, so stand mein Vetter Victor vor uns. Du kennst mein damaliges seltsames Verhältnis zu ihm; die ganze Familie sah mich als seine Braut an, obgleich mein Jawort nicht gegeben worden, was auch für überflüssig gehalten werden mochte. Als er mich grüßte, fiel mir sein schlichtes blondes Haar zuerst ins Auge, ja es schien, als ob R. ebenfalls einen schnellen, schalkhaften Blick darauf warf. Victor wollte die Ferien bei uns zubringen, und seine Gegenwart veränderte zuerst unser bisheriges schönes, friedliches Leben. R. war sichtlich über seine Dazwischenkunft beunruhigt; dass er mich sehr gestört hätte, kann ich nicht sagen, denn ich legte mit ruhiger Unbefangenheit (du würdest sagen: mit ruhiger Impertinenz) meine Vorliebe für R. an den Tag. Es war ganz unwillkürlich, ich dachte kaum weiter darüber nach. Unmöglich war es indessen nach einiger Zeit, die Kälte und finstere Laune gänzlich zu übersehen, welche Victor mir sehr unverhohlen zeigte; so oft er mir eine unfreundliche Antwort gab, blickte ich besorgt auf Ludwig, aber dieser nahm nie die mindeste Kunde davon.

Eines Tages ging ich, etwas auf meines Bruders Zimmer zu ordnen, er war nicht dort, aber die Fenster standen offen, und er saß mit Victor auf einer Bank unter denselben. Ich hörte meinen Namen nennen und blieb unwillkürlich lauschend stehen. Bester Freund, hörte ich Ludwig sagen, plage dich und mich doch nicht mit so völlig nutzlosen Grillen. Dass meine Schwester R. gefällt, ist ganz natürlich, aber glaube doch nicht, dass er nur daran denkt, sie dir rauben zu wollen; er will ihr gefallen, wie er allen Frauen zu gefallen strebt, das ist Alles. — Es ist genug und zu viel für mich, entgegnete Victor; ich kann kein Mädchen heiraten, für deren Treue ich zittern muss, so oft ein liebenswürdigerer Mann, als ich bin, ihr naht. — Wohl, ich bin weit entfernt, meine Ansicht dir aufdringen zu wollen, aber des Dichters Worte möchte ich dir ins Gedächtnis rufen:

 

Willst du Rosen ohne Dornen,

Liebe ohne Leid,

Lass sie an die Wand dir malen

In der schönen Maienzeit.

 

Meine Schwester ist jung und R. sehr gefallsam; dass er in diesem Augenblicke ihr besser gefällt, als du, dessen ganze Liebenswürdigkeit sich darauf beschränkt, sie mit Zorn zu betrachten und ihr mürrische Antworten zu geben, das glaube ich sehr wohl. Ich kenne R. zu genau; er ist der unbeständigste Mensch, den man sich denken mag, und sucht nicht selten Neigung zu erwecken, um sie nachher gelegentlich zu verspotten; es ist durchaus die Schattenseite seines Charakters. Die kleine Lehre, welche Emmy bei dieser Gelegenheit erhält, mag ihr sehr heilsam sein. Dir kann ich nur einen Rat geben: glaubst du ohne Emmy glücklich sein zu können, so gib sie auf und verzeihe ihr nicht; ist dir das aber unmöglich, so habe Nachsicht mit ihren Schwächen und suche dir ihr Herz mehr und mehr zu erwerben. — Ich hörte Nichts mehr, es schwindelte mir vor Augen, hastig verließ ich das Zimmer. Auf dem Vorsaal begegnete mir R., der freundlich auf mich zutrat und zu seinem unsäglichen Erstaunen die erste kurze und unfreundliche Antwort von mir erhielt. Das Verspotten lag mir im Sinne, ich hätte in dem Augenblicke für die Welt nicht freundlich gegen ihn sein können. Auf mein Zimmer mich zurückziehend, verflossen mir einige Stunden in fast bewusstlosem Nachsinnen, zögernd begab ich mich zu Tische.

Es war ein höchst kläglicher Mittag. R., der nie auch die kleinste Kränkung ungeahndet vergibt, zeigte sich kalt und abstoßend. Victor, dem ich, teils um Rache zu nehmen, teils aus natürlich gutem Gefühl, einige Huld bewies, lehnte diese mürrisch von sich ab. Ludwig war der Einzige, der sich ganz gleich blieb, obwohl es ihm augenscheinlich mitunter schwer wurde, ein Lächeln zu unterdrücken. Ich hätte gern mitgelacht, so trübselig für den Augenblick meine Lage auch sein mochte. So vergingen Tage, Tage, während welcher ich gewiss für Alles büßte, welches jemals von mir verschuldet sein mochte. Mit standhafter Ergebung ertrug ich R's Benehmen, welches gleich kalt, ich möchte sagen, rau war, indessen mein Herz blutete. Was ihn zu mir hinzog, war das Spiel einer müßigen der Nahrung bedürfenden Einbildungskraft, meine ganze Seele hing an ihm. — Tausendmal hätte ich eine Versöhnung herbei führen mögen, ein Wort wäre hinlänglich gewesen; mein Genius verhinderte es. — Unfähig, so Widerwärtiges in allen Beziehungen länger zu ertragen, fragte ich Victor eines Tages, als er, allein sich mit mir befindend, eine unfreundliche Antwort gab: Was hast du eigentlich, Victor? — Mir schlug das Herz ein wenig, aber ich hielt seinen Blick aus, als er kalt fragte: Verlangst du es ernstlich zu wissen? — Ja, ich wünsche es. Er zog die Achseln und ging, da nannte ich seinen Namen mit tiefem, herzlichem Gefühl. Augenblicklich drehte er den Kopf mit einem eignen Ausdruck zu mir hin. — Geh nicht fort, Victor, wir wollen uns gegeneinander erklären. — Schweigend lehnte er in eine Fenstervertiefung und sah mich erwartungsvoll an. Hätte er nur ein Wort gesagt! sein Stillschweigen verbesserte meine Lage gar nicht. Du zürnst mir, hub ich nach einer Weile mühsam an, und ich gestehe, dass du einigen Grund dazu haben magst, aber auch du trägst bei dieser Veranlassung einen Teil der Schuld. — Ich hoffte, die Ungerechtigkeit des Vorwurfes werde ihn zu einer Widerlegung veranlassen, aber er sah mich nur schweigend und durchdringend an. Ich seufzte tief aus, was sollte ich beginnen? mich noch tiefer demütigen? dazu empfand ich nicht die mindeste Neigung, und so fasste ich einen kühnen Entschluss und sagte so ruhig wie möglich: Wenn es mir nur daran läge, mich augenblicklich mit dir zu versöhnen, dann würde Nichts leichter sein; ich dürfte dir nur einige zärtliche Worte sagen, einige erwünschte Versprechungen geben, und du würdest nicht unerbittlich sein. — Er versuchte es, mich mit großer Kälte anzusehen, welches aber so schlecht gelang, dass ich darüber ins Lachen kam, was natürlich einen sehr üblen Eindruck hervorbrachte. — Mir ist, fuhr ich fort, um eine wahre, ernstliche Aussöhnung zu tun, überlege dir daher Alles recht. Sieh zu, ob du mich vergessen kannst, und wenn es dir möglich ist, dann sage es mir. Diese letzten Worte rief ich ihm scherzend zu und verließ eilfertig das Zimmer.

Wenig Menschen verstehen zur rechten Zeit Frieden zu schließen; wäre er mir nur mit einem Worte gütig entgegen gekommen, wie dankbar würde ich es erkannt und es niemals vergessen haben. Wer den Schuldigen zu tief beschämen will, raubt ihm das Gefühl seines Unrechts. — Endlich, nach acht Tagen, ward eine herzliche Versöhnung geschlossen, und ich gab mein festes Wort, einst die Seinige werden zu wollen. R. verließ uns eben zu der Zeit, in meinen Augen standen Tränen, als er Abschied nahm, in seinem kalten, trotzigen Blick war keine Spur milder Bewegung, lag keine Rückerinnerung an Tage, die auch ihn beglückt hatten. — Für heute muss ich schließen, am nächsten Posttage schreibe ich wieder.

 

 

Emmy an Charlotte.

 

Ohne weitere Einleitung setze ich meine Mitteilung fort, wo sie zuletzt endete. Bald nach R. verließ uns auch Victor. Ich gedachte seiner mit herzlicher ruhiger Zuneigung. R's dagegen mit Sehnsucht, mit Unruhe, mit der Gesamtheit von Gefühlen, welche zum Glücke des Lebens wenig förderlich sind. Alles rief ich mir zurück, er hatte sich immer gut, freundlich, liebenswürdig erwiesen, während von mir der Friede ohne Anlass von seiner Seite gebrochen worden war.

Ludwigs Scharfsinn erriet ohne Zweifel den Kampf in meinem Inneren, er sprach oft und ungezwungen von beiden Freunden. Ich sah, sagte er mir einst, voraus, wie Alles kommen würde, aber gewisse Erfahrungen kann man Niemandem ersparen. Es liegt in der Unvollkommenheit des Daseins, dass ein so unschuldiges, beglückendes, friedliches Verhältnis, wie es zwischen dir und R. stattfand, wo jeder Morgen das Glück des vergangenen Tages frisch und entzückend zurückbringt, dass ein solches nicht bestehen kann, dass es mit Schmerz, mit Nachrede, mit Tränen enden muss. Man möchte glauben, die Vorsehung wolle uns mit ernster Lehre darauf hinweisen, dass wir das Liebenswürdigste sehen und würdigen müssen, ohne es uns zueignen zu können. Das sind die Sterne, die wir anerkennen, aber nicht begehren dürfen. Deine ganze Phantasie ist von R.'s Bilde erfüllt, er ist für Frauen ein Irrlicht, dessen glänzender Schimmer ins Verderben lockt. Dein Herz wird aber einst von Victors Bild erfüllt werden, der dich wahrhaft liebt, mit dem du glücklich sein kannst. — Schwerlich wärst du es je mit R. geworden, zu lebhafte Leidenschaft für ihn möchte dich und auch ihn unglücklich machen; nie würde er sich auf dem hohen Standpunkt haben behaupten können, den deine Verblendung ihm angewiesen. — Lass die ganze Rückerinnerung mild in deiner Seele auftauchen, gedenke seiner ohne Groll und, wenn es sein kann, ohne Leidenschaft. Glaube nicht, dass auch er dich gänzlich vergessen habe; oft wird er deiner nicht gedenken, aber doch kommen Stunden, welche dein liebes Bild vor seine Seele führen mögen. —

Ein halbes Jahr verging, ich dachte jetzt mit Ruhe an R.; da brach das entsetzliche Unglück auf mich her. Ludwig ward als Sekundant eines Freundes zu einem Zweikampfe veranlasst, welcher die Folge hatte, dass er lebensgefährlich in der Brust verwundet wurde. — Oh der teure, geliebte Freund! wie lebensfrisch schied er von mir, wie glänzten im kühnen Selbstvertrauen die lieben Augen, welche mir den letzten Gruß zuwinkten! Ein Bild des Todes, mit erloschenem Blick, wurde er zurückgebracht. — Wie es möglich gewesen, begreife ich nicht, aber zwei Tage nach diesem traurigen Ereignisse traf R. bei uns ein. Die Dämmerung war schon tief herabgesunken, ich stand trostlos am Fenster, da erblickte ich durch Dunkel und Nebel eine Gestalt, die ich an Gang und Haltung unter Tausenden erkannt haben würde. Der Arzt war gerade anwesend, er ging R. entgegen, sie hatten eine lange Unterredung miteinander, und durch denselben wurde er bei Ludwig eingeführt, der nicht sprechen durfte, sich kaum regen konnte. Er kam darauf zu mir und sah sehr ernst und ergriffen, aber nicht wild aus. So wie Alles steht, sagte er mit erzwungener Fassung, bleibt uns Nichts übrig, als unsern Schmerz zu bekämpfen und Alles für Ludwig zu tun, was in unsern Kräften steht. Gewiss lieben Sie ihn genug, um sich bezwingen zu wollen. — Von da an teilte er meine Sorge für meinen Bruder mit einer Hingebung, wovon die Erinnerung mich noch jetzt ergreift. Tage — Nächtelang, saß er in einem Lehnsessel neben Ludwigs Bette, ohne ein Wort zu reden, ohne Bücher, da die tiefe Dämmerung des Krankenzimmers alles Lesen unmöglich machte. Nur in dem blitzenden Aufschlag des Auges verriet sich der unruhig arbeitende Geist im Inneren; äußerlich war er durchaus ruhig; sanft und leise in jeder Bewegung. Schweigend, vergehend in Jammer saß ich ihm gegenüber; wenn etwas zu holen, zu veranstalten war, deuteten wir es uns durch Zeichen, durch leise geflüsterte Worte an. Wir handelten im vollkommensten Einverständnis, ach! und dachten doch vielleicht nie weniger aneinander, als in der tiefen Einsamkeit dieser schmerzlichen Stunden. Am Morgen vor Ludwigs Tode legte ich einen Strauß frischer Rosen auf sein Bett, er versuchte zu lächeln, aber auf die Blumen blickend, stieg eine Träne in seinem Auge empor. Da überwältigte mich der lange bekämpfte Schmerz, ich sank an seinem Lager hin, legte den Kopf auf seine liebe Hand und weinte im bittersten, bittersten Jammer. R. war zugegen, aber ließ es geschehen; ein leiser Seufzer, der sich Ludwigs Brust entrang, brachte mich zur Besinnung. Ich las an dem Tage in R.'s Blicken, dass er jede Hoffnung aufgegeben habe. Der Arzt gab mir die Bestätigung am Abend, denn er sagte im Fortgehen: Wenn der Kranke reden will, so hindern Sie ihn nicht daran, es kann ihm nicht mehr schaden. Während der Nacht sagte Ludwig, der anscheinend heftiges Fieber hatte: Jetzt schiffe ich mich ein nach jener schönen Insel, die jenseits liegt, oh wie blühend ist Alles! Komm mit mir, Emmy. R. hatte sich vorgebeugt, eine Träne aus seinem Auge fiel auf meine Stirn, ich — wie gerne hätte ich mich mit eingeschifft, weit, weit von dieser Welt hinweg! — Ganz erschöpft, ermattet, wie ich war, überwältigte mich einen Augenblick der Schlaf, da fühlte ich mich rasch emporgehoben, R. hielt mich in seinen Armen aufrecht; ich wusste sogleich, was mir bevorstand. — Ludwigs schon verdunkelte Augen irrten suchend nach mir umher, er schien die Arme erheben zu wollen und sagte leise, aber vernehmlich: Meine Schwester, mein Engel! Ein Laut des Schmerzes entrang sich meiner Brust; er hörte ihn nicht mehr. — In demselben Augenblick ward die Tür geöffnet, und Victor trat ein. — Von dem was in den nächsten vierundzwanzig Stunden geschah, habe ich auch nicht die leiseste Erinnerung. Am darauf folgenden Morgen fand ich mich in meinem Zimmer; meine eigenen Tränen, die auf meine gefalteten Hände fielen, brachten mich zur Besinnung. Nach einiger Zeit ließ R. sich bei mir melden. Er sah bleich und sehr ernst aus und setzte sich mir schweigend gegenüber. Was wird jetzt aus Ihnen? fragte er nach einer Pause. Ich schüttelte den Kopf: wer kann in solchen Augenblicken an sich denken? Das ist gleichwohl sehr zu überlegen, sagte er wie vor sich hin. Ich hätte gewünscht, fuhr er fort, einen sehr trüben Tag hier zubringen zu können, aber es ist mir unmöglich. Ihnen wird es auch recht sein, dass Victor, der Ihnen so nahe steht, jede Veranstaltung trifft. Leben Sie wohl, und Gott sei mit Ihnen. Ich gehe jetzt, den letzten Abschied von dem liebsten Freunde zu nehmen. — Halb unbewusst stand ich auf und folgte ihm, er sah verwundert aus, schwieg aber, und als wir an die Treppe kamen, fasste er meinen Arm und führte mich, als fürchte er, ich werde hinab stürzen. Er öffnete die Tür zu Ludwigs Zimmer; das Bild des tiefsten Friedens wurde dort uns zu Teil. Oh gewiss, Engel hatten diese Augen geschlossen! — R. legte die Hand auf die erkaltete Rechte des treuesten aller Menschen und sah wie beteuernd empor, dann verließ er mit verhülltem Gesichte das Zimmer. Ich hörte noch das Fortrollen seines Wagens; es war der letzte, tief ergreifende Schmerz, der mich fortan in Bezug auf ihn betroffen hat.

Victor verließ mich gleich nach meines Bruders Bestattung; herzlich teilte er meinen Kummer; was aus mir werden würde, war noch unentschieden, vorläufig konnte ich dort im Hause bleiben.

Einige Wochen vergingen mir in der schmerzlichsten Trauer, da erhielt ich einen unbeschreiblich gütigen Brief von Herrn Steffano, mit dem Vorschlage, als seine zweite Tochter in seinem Hause zu leben, bis zu der Zeit, wo mein Bräutigam eine passende Anstellung erhalten haben werde. Ich war dieser Familie gänzlich unbekannt und habe nie bezweifelt, dass ich R.'s Vermittlung diese Zufluchtsstätte verdanke. Er selbst hat es, obwohl wider seinen Wunsch, halb eingestanden, denn als er vor einiger Zeit mit flüchtigem Hinblicke auf mich äußerte: Ich vergebe Beleidigungen, aber nie vergesse ich sie, fragte ich, nicht ohne Bewegung: Haben Sie niemals eine Kränkung mit Gutem vergolten? Er stutzte und entgegnete auf sehr einnehmende Weise: Wenn ich jemals etwas Gutes veranlasste, so bedarf es der Anerkennung nicht, der Lohn liegt im Gelingen.