Diablo - Das Vermächtnis des Blutes - Richard A. Knaak - E-Book

Diablo - Das Vermächtnis des Blutes E-Book

Richard A. Knaak

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Beschreibung

Seit Anbeginn der Zeit führen die geflügelten Streiter der himmlischen Sphären und die Dämonenhorden der Brennenden Höllen einen erbitterten Kampf um das Schicksal der Schöpfung. Dieser infernale Konflikt hat sich nun auf die Ebene der Sterblichen verlagert und weder Mensch noch Dämon noch Engel werden sich dieser Schlacht entziehen können ... DIABLO Norrec Vizharan ist zu einem lebenden Alptraum geworden. Auf der Suche nach einem Schatz entdeckt der Söldner ein magisches Artefakt, das seine kühnsten Träume übersteigt: die uralte Rüstung von Bartuc, dem legendären Kriegsherrn des Blutes. Doch die mysteriöse Panzerung ist mit einem Fluch belegt und birgt unheilvolle Kräfte. Auf der Flucht vor Dämonen, die das finstere Artefakt für ihre eigenen niederträchtigen Zwecke einsetzen wollen, muss Norrec Herr über einen kaum zu bändigenden Durst nach Blut werden und die Wahrheit über den schrecklichen Fluch in Erfahrung bringen, wenn er nicht für immer der Finsternis verfallen will ... DAS VERMÄCHTNIS DES BLUTES Ein spannender Roman aus der Welt der Magie, der finsteren Mächte und der epischen Schlachten zwischen Gut und Böse! Basierend auf dem preisgekrönten Videogame-Bestseller von Blizzard Entertainment.

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DIABLO: Das Vermächtnis des Blutes

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3896-3

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Weitere Titel und Infos unter www.paninishop.de

Das Vermächtnis des Blutes

Richard A. Knaak

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „DIABLO: Legacy of the Blood“ von Richard A. Knaak, erschienen bei Simon and Schuster, Inc., 2001.

Copyright © 2020 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Ralph Sander

Lektorat: Manfred Weinland

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDDITP001E

ISBN 978-3-7367-9901-1

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3896-3

1. Auflage, April 2020

Findet uns im Netz:

www.paninibooks.de

PaniniComicsDE

Für meinen Bruder Win – ein kreativer Geist wie ich.

EINS

Der Schädel grinste das Trio so fröhlich an, als wollte er es einladen, ihn in der Ewigkeit zu besuchen.

„Sieht ganz so aus, als wären wir nicht die Ersten“, murmelte Sadun Tryst. Der narbenübersäte, sehnige Kämpfer stieß den Schädel mit der Klinge seines Messers an, worauf der fleischlose Wächter zu wackeln begann. Hinter dem makabren Bild konnten sie den Nagel ausmachen, an dem er aufgehängt war und an dem das übrige Skelett so lange gebaumelt hatte, bis es sich irgendwann aufgelöst hatte und zu einem wirren Haufen zusammengefallen war.

„Hattest du das etwa erwartet?“, flüsterte die große Gestalt, deren Gesicht unter einer Kapuze verborgen war. Wenn man Saduns Aussehen als schlank oder sogar fast asketisch bezeichnen wollte, hatte Fauztin schon etwas von einem Kadaver. Der Vizjerei-Hexenmeister bewegte sich nahezu wie ein Phantom, als er ebenfalls den Schädel berührte, diesmal aber mit einem Finger, der in einem Handschuh steckte. „Hier war keine Hexerei im Spiel. Nur primitive, aber vollkommen ausreichende Fallen-Mechanismen. Kein Grund zum Fürchten.“

„Außer es wäre dein Kopf, der auf dem nächsten Pfahl aufgespießt wird.“

Der Vizjerei zupfte an seinem schütteren grauen Ziegenbärtchen und schloss kurz seine leicht schräg stehenden Augen, als bestätige er damit die Bemerkung seines Gefährten. Der Gesichtsausdruck, den Sadun zur Schau trug, der mehr dem eines unzuverlässigen Frettchens ähnelte – und damit manchmal auch zu seiner Persönlichkeit passte –, erinnerte Fauztin an eine ausgemergelte Katze. Seine knubbelige Nase zuckte unablässig, und die spärlichen Haare seines langen Schnauzbarts unterstrichen diesen Eindruck noch zusätzlich.

Keiner von ihnen hatte je den Ruf absoluter Lauterkeit besessen, aber Norrec Vizharan hätte jedem der beiden sein Leben anvertraut – so wie er es auch schon mehrfach getan hatte. Als der erfahrene Krieger zu ihnen stieß, warf er einen Blick nach vorn in die Dunkelheit, die auf eine große Kammer schließen ließ. Bislang hatten sie sieben verschiedene Ebenen ausgekundschaftet und sie alle ungewöhnlich leer vorgefunden, wenn man von den nicht sehr aufwändig konstruierten Fallen absah. Genauso wenig waren sie auf irgendeine Art von Schatz gestoßen, was für das Grüppchen eine herbe Enttäuschung darstellte.

„Bist du sicher, dass hier keine Hexerei im Spiel ist, Fauztin? Überhaupt nicht?“

Die katzenartigen Züge, die unter der Kapuze teilweise zum Vorschein kamen, verzogen sich in Anbetracht dieser Worte beleidigt. Die breiten Schultern seines auftragenden Umhangs verliehen Fauztin ein Unheil verkündendes, fast schon übernatürliches Erscheinungsbild – und das umso mehr, da er den muskulösen Norrec überragte, der für sich betrachtet schon kein kleiner Mann war. „Musst du das fragen, mein Freund?“

„Es ist doch nur so, dass das hier keinen Sinn ergibt! Von ein paar unbedeutenden und eigentlich ziemlich albernen Fallen abgesehen, sind wir auf nichts gestoßen, das uns davon abhalten könnte, bis in die Hauptkammer vorzudringen! Warum macht sich jemand die Mühe, so tief zu graben, wenn er dann für eine so dürftige Sicherung sorgt?“

„Ich würde eine Spinne, die so groß ist wie mein Kopf, nicht gerade als nichts bezeichnen“, warf Sadun mürrisch ein und strich durch sein langes, aber spärliches schwarzes Haar. „Vor allem, wenn sie sich auf meinem Kopf befindet …“

Norrec ignorierte ihn. „Ist es das, was ich glaube? Sind wir zu spät? Ist es wieder so wie in Tristram?“

Schon einmal hatten sie sich zwischen zwei Söldneraufträgen auf Schatzsuche begeben – in einem kleinen, heimgesuchten Dorf namens Tristram. Legenden hatten von einem Schatz in einem Verlies erzählt, der von bösen Geistern bewacht wurde und der diejenigen zu Königen machen würde, die das Glück hatten, lange genug zu überleben, um ihn zu finden. Norrec und seine Freunde waren dorthin gereist und hatten, ohne das Wissen der örtlichen Bevölkerung, das Labyrinth zur Mitte der Nacht betreten …

Nach all ihren Anstrengungen, nachdem sie gegen seltsame Bestien gekämpft hatten und nur mit Mühe tödlichen Fallen entkommen waren, hatten sie feststellen müssen, dass irgendjemand vor ihnen bereits so gut wie alles aus dem unterirdischen Gewirr von Gängen und Gewölben fortgeschleppt hatte. Erst nach ihrer Rückkehr hatten sie im Dorf die bittere Wahrheit erfahren: Ein großer Kämpfer war nur wenige Wochen zuvor in das Labyrinth hinabgestiegen und hatte den furchtbaren Dämon Diablo angeblich besiegt. Er hatte weder Gold noch Juwelen an sich genommen, doch wenig später machten sich andere Abenteurer seine Vorarbeit zunutze und überwanden die wenigen Gefahren, die noch vorhanden waren, um anschließend so viele Reichtümer wie möglich aus dem Labyrinth zu schaffen. Nur wenige Tage Vorsprung der anderen hatten zur Folge gehabt, dass das Trio sich völlig vergeblich abgemüht hatte.

Norrec hatte auch keinen Trost in den Worten eines Dorfbewohners von zweifelhafter geistiger Verfassung gefunden, der ihnen kurz vor ihrer Abreise eine Warnung hatte zukommen lassen. Angeblich hatte der Krieger, der sogenannte Wanderer, Diablo nicht wirklich geschlagen, sondern irrtümlich das abscheulich Böse freigesetzt. Ein fragender Blick von Norrec an Fauztin war von dem Vizjerei-Hexenmeister zunächst mit einem beiläufigen Schulterzucken beantwortet worden.

Später hatte Fauztin dann die Warnung abgetan. „Es gibt immer wieder solche Geschichten über entflohene Dämonen und schreckliche Flüche. Diablo gehört zu denen, die sich beim gewöhnlichen Volk oft der größten Beliebtheit erfreuen.“

„Du glaubst nicht, dass irgendetwas davon wahr sein könnte?“ Als Kind hatte Norrec immer Angst gehabt. Seine Eltern hatten ihm Geschichten über Diablo, Baal und andere Ungeheuer der Nacht erzählt, um ihn Gehorsam zu lehren.

Sadun Tryst hatte verächtlich geschnaubt. „Hast du schon jemals einen Dämon gesehen? Kennst du jemanden, der einen zu Gesicht bekommen hat?“

Norrec musste verneinen. „Und du, Fauztin? Es heißt, dass die Vizjerei Dämonen heraufbeschwören können, damit diese ihre Befehle ausführen.“

„Wenn ich das könnte, würde ich mich dann in leeren Labyrinthen und Gräbern herumtreiben?“

Diese Bemerkung hatte Norrec mehr als alles andere davon überzeugt, die Worte des Dorfbewohners als Schauermärchen abzutun. Es war ihm auch nicht besonders schwer gefallen. Schließlich interessierte die drei damals wie heute nur eines: Reichtum.

Leider schien es sich in zunehmendem Maße herauszustellen, dass man ihnen abermals zuvorgekommen war.

Während Fauztin in den Gang vor ihnen spähte, verstärkte er mit seiner anderen Hand den Griff um seinen Zauberstab. Die juwelenbesetzte Spitze, die zugleich ihre Lichtquelle in der Dunkelheit war, flackerte kurz. „Ich hatte gehofft, ich würde mich irren, aber jetzt fürchte ich wirklich, dass wir nicht die Ersten sind, die hierher vordringen.“

Der leicht ergraute Kämpfer fluchte leise. Er hatte in seinem Leben unter vielen Befehlshabern gedient, größtenteils während der Kreuzzüge von Westmarch aus. Nachdem er diese zahlreichen Feldzüge überlebt hatte – und das oft nur sehr knapp –, war er zu einer Erkenntnis gekommen: Niemand konnte darauf hoffen, es ohne Geld in dieser Welt zu etwas zu bringen. Er hatte es bis zum Captain gebracht und diesen Rang dreimal verloren, bis er nach dem letzten Debakel schließlich den Militärdienst quittierte.

Der Krieg hatte Norrecs Leben bestimmt, seit er alt genug war, ein Schwert zu erheben. Einst hatte er auch so etwas wie eine Familie gehabt, doch die war inzwischen tot – so wie seine Ideale. Er hielt sich immer noch für einen anständigen Mann, aber Anstand allein machte ihn auch nicht satt. Norrec war zu der Ansicht gelangt, dass es noch einen anderen Weg geben musste. Und so hatten er und seine beiden Kameraden sich auf Schatzsuche begeben.

So wie Sadun hatte er Narben davongetragen, doch davon abgesehen wirkte Norrec eher wie ein einfacher Bauer. Ein Mann mit solch großen braunen Augen, offenem Gesicht und kräftigem, kantigem Kiefer hätte statt eines Schwertes ebenso gut eine Hacke in den Händen halten können. Auch wenn der stämmige Veteran von Zeit zu Zeit Gefallen an dieser Vorstellung fand, wusste er sehr wohl, dass er Gold benötigte, um das ersehnte Land bezahlen zu können. Diese Reise hatte sie zu Reichtümern führen sollen, die seine Bedürfnisse und sogar seine Träume bei weitem übertroffen hätten.

Doch jetzt sah es danach aus, als wäre alle Zeit, wären alle Mühen ein weiteres Mal vergebens gewesen.

Neben ihm warf Sadun Tryst sein Messer in die Luft und bekam es am Heft zu fassen, als es sich wieder auf seiner Höhe befand. Er wiederholte diese Aktion zweimal, ein sicheres Zeichen dafür, dass er intensiv nachdachte. Norrec konnte sich gut vorstellen, was ihm durch den Kopf ging. Sie hatten Monate mit dieser Suche zugebracht und waren quer übers Meer ins nördliche Kehjistan gereist. Sie hatten in Kälte und Regen geschlafen, waren falschen Fährten in leere Höhlen gefolgt und hatte das Ungeziefer gegessen, das ihnen über den Weg gelaufen war, als sich keine andere Jagdbeute mehr finden ließ – und das alles nur wegen Norrec, der dieses ganze Fiasko erst angeleiert hatte.

Schlimmer noch! Diese Queste war die Folge eines Traums gewesen, in dem es um einen verruchten Berggipfel ging, der eine vage Ähnlichkeit mit einem Drachenkopf aufwies. Hätte Norrec nur einmal, höchstens zweimal davon geträumt, wäre dieses Bild vielleicht in Vergessenheit geraten. Doch über die Jahre hinweg hatte sich der Traum viel zu oft wiederholt. Ganz gleich, wo er gekämpft hatte, stets hatte er – ohne Erfolg – nach diesem Gipfel Ausschau gehalten. Dann hatte ein – inzwischen dahingeschiedener – Kamerad aus den kalten Nordländern beiläufig einen solchen Ort erwähnt. Es hieß, er würde von Geistern heimgesucht, und viele der Männer, die sich in die Nähe des Berges begeben hätten, seien verschwunden oder erst Jahre später wiedergefunden worden, ohne einen Fetzen Fleisch an den zerschmetterten Knochen …

In dem Augenblick war Norrec Vizharan überzeugt gewesen, dass seine Bestimmung ihn hierher gerufen hatte.

Nur … warum zu einem Grab, das man bereits geplündert hatte?

Der Eingang war in der Felswand gut verborgen gewesen, von außen trotz allem aber leicht zugänglich. Das hätte bereits der erste Hinweis auf die Wahrheit sein müssen, doch Norrec hatte sich beharrlich geweigert, selbst diesen Widerspruch zu erkennen. All seine Hoffnungen, all seine Versprechen gegenüber seinen Gefährten …

„Verdammt!“ Er trat heftig gegen die Wand, die ihm am nächsten war, und nur seinem robusten Stiefel war es zu verdanken, dass er sich keine Zehe brach. Norrec warf sein Schwert zu Boden und verfluchte seine Naivität.

„Es gibt da einen neuen General aus Westmarch, der Söldner anheuert“, schlug Sadun hilfsbereit vor. „Es heißt, er sei sehr ehrgeizig …“

„Keine Kriege mehr“, murmelte Norrec und versuchte, sich nicht den Schmerz anmerken zu lassen, der von seinem Fuß ausstrahlte. „Ich will nicht länger mein Leben für den Ruhm anderer Leute riskieren.“

„Ich dachte nur …“

Der schlaksige Hexenmeister klopfte mit seinem Stab einmal auf den Boden und versuchte so die Aufmerksamkeit seiner Partner auf sich zu lenken. „Wenn wir schon bis hierher vorgedrungen sind, wäre es töricht, nicht auch noch bis zur zentralen Kammer weiterzugehen. Vielleicht haben die, die vor uns hier waren, ein wenig Tand oder ein paar Münzen zurückgelassen. In Tristram haben wir auch noch ein paar Goldmünzen entdecken können. Es würde doch sicher nichts schaden, wenn wir uns ein wenig länger hier umsehen, oder, Norrec?“

Er wusste, dass der Vizjerei nur versuchte, die Verbitterung seines Freundes zu lindern, dennoch setzte sich die Idee im Geist des Kämpfers fest. Er brauchte nicht mehr als ein paar Goldmünzen! Er war noch immer jung genug, um sich eine Braut zu nehmen, ein neues Leben zu beginnen, vielleicht sogar eine Familie zu gründen …

Norrec bückte sich und griff nach dem Heft seines Schwertes. Er hatte stets darauf geachtet, dass es sauber und scharf war, und er war stolz auf dieses Objekt, das zu seinen wenigen Besitztümern zählte. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein entschlossener Ausdruck ab. „Lasst uns gehen.“

„Für einen Mann, der so wenige Worte macht wie du, verstehst du dich gar trefflich auszudrücken“, meinte Sadun im Scherz zu dem Hexenmeister, als sie sich wieder auf den Weg machten.

„Und für jemanden, der so wenig zu sagen hat wie du, verwendest du gar absonderlich viele Worte!“

Das freundschaftliche Gezänk zwischen seinen Freunden half Norrec, auf andere Gedanken zu kommen. Es erinnerte ihn an andere Zeiten, als ihr Trio viel ärgere Probleme gelöst hatte.

Sie verstummten jedoch, als sie sich der letzten und bedeutendsten Kammer näherten. Fauztin bedeutete ihnen, stehen zu bleiben, und betrachtete kurz das Juwel auf der Spitze des Stabs.

„Bevor wir eintreten, solltet ihr beiden besser die Fackeln entzünden.“

Sie hatten sie für Notfälle aufbewahrt, da bis zu diesem Moment der Stab des Hexenmeisters genügt hatte. Sadun sagte nichts, doch als Norrec seine Fackel mit Zunder zum Brennen brachte, fragte er sich, ob der Vizjerei doch noch auf irgendeinen nennenswerten Hinweis von Hexenkunst gestoßen war. Wenn dem so war, gab es vielleicht auch immer noch einen Schatz …

Norrec zündete Saduns Fackel mit seiner eigenen an, dann machten die drei sich wieder auf den Weg.

„Ich schwöre“, murrte der drahtige Sadun Augenblicke später, „ich schwöre, dass sich mir die Nackenhaare aufgestellt haben!“

Norrec hatte das gleiche ungute Gefühl. Keiner der Kämpfer hatte etwas dagegen, dass der Vizjerei die Führung übernahm. Die Clans aus dem Fernen Osten hatten sich lange mit den magischen Künsten befasst, und Fauztins Leute hatten sie noch länger studiert als die meisten anderen. Wenn sich eine Situation ergab, in der Hexerei vonnöten war, dann war es fraglos sinnvoll, sie dem dünnen Zauberkundigen zu überlassen. Norrec und Sadun würden da sein, um ihn vor anderen Attacken in Schutz zu nehmen.

Bislang hatte sich diese Vorgehensweise als zweckmäßig erwiesen.

Im Gegensatz zu den schweren Stiefeln der Krieger verursachten Fauztins Sandalen beim Gehen keine Geräusche. Der Magier hielt seinen Stab ausgestreckt, doch Norrec bemerkte, dass das Juwel trotz seiner Kraft kaum für Licht sorgte. Lediglich die Fackeln schienen so von Nutzen zu sein, wie man es von ihnen erwarten durfte.

„Dies hier ist alt und mächtig. Unsere Vorgänger sind möglicherweise nicht so erfolgreich gewesen, wie wir bislang geglaubt haben. Wir könnten vielleicht doch noch einen Schatz finden.“

Und möglicherweise noch mehr. Norrec hielt sein Schwert so fest umfasst, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er wollte Gold, doch er wollte auch weiterleben, um es ausgeben zu können.

Da sich der Stab als unergiebig erwies, übernahmen die beiden Kämpfer die Vorhut. Das bedeutete nicht, dass Fauztin für das Trio nutzlos geworden wäre. Auch jetzt – das wusste der Kämpfer – hielt ihr in magischen Dingen versierter Gefährte gewiss den schnellsten und passendsten Zauber für den Fall bereit, dass er reagieren musste.

„Hier drin ist es so dunkel wie in einem Grab“, murmelte Sadun.

Norrec erwiderte nichts. Er befand sich wenige Schritte vor seinen beiden Kameraden und war damit der Erste, der die Kammer selbst erreichte. Trotz der Gefahren, die dort auf sie lauern mochten, fühlte er sich so zu ihr hingezogen, als würde etwas aus ihrem Inneren nach ihm rufen …

Plötzlich war das Trio von gleißendem Licht eingehüllt.

„Bei den Göttern!“, rief Sadun. „Ich kann nichts mehr sehen!“

„Einen Augenblick“, gab der Hexenmeister zurück. „Es wird gleich besser werden.“

So geschah es dann auch, doch selbst als sich Norrec Vizharans Augen an das blendend helle Licht gewöhnt hatten, musste er zweimal blinzeln, um glauben zu können, dass der Anblick, der sich ihnen bot, kein bloßes Produkt seiner Einbildungskraft war.

Die Wände waren mit komplexen, juwelenbesetzten Mustern überzogen, in denen sogar er die ihnen innewohnende Magie spüren konnte. Edelsteine aller Art und Farbe beherrschten jedes der Muster und tauchten die Kammer in ein atemberaubendes Schauspiel aus gebrochenen und reflektierten Farben. Unterhalb dieser magischen Symbole befanden sich eben jene Schätze, deretwegen die drei gekommen waren: bergeweise Gold, Silber und Edelsteine. Das alles trug seinen Teil zu dem Glanz bei und machte die Kammer heller, als sie es durch bloßes Tageslicht je hätte sein können. Jedes Mal, wenn einer der beiden Kämpfer seine Fackel bewegte, ließ das reflektierte Licht den Raum verändert erstrahlen und verlieh ihm neue faszinierende Facetten.

So atemberaubend dieser Anblick auch war, so dämpfte ein anderer Norrecs Enthusiasmus doch ganz beträchtlich.

Soweit das Auge reichte, war der Boden mit den verstümmelten und verwesenden Leibern all derer übersät, die diesen unheilvollen Ort vor ihnen entdeckt hatten.

Sadun hielt seine Fackel vor den Toten, der ihnen am nächsten lag, ein fast fleischloser Leichnam, der noch seine vermodernde Lederrüstung trug. „Das muss ja ein schlimmer Kampf gewesen sein.“

„Diese Männer sind nicht alle zur gleichen Zeit gestorben.“

Norrec und der kleinere Soldat blickten zu Fauztin, dessen normalerweise völlig ausdruckslose Miene einen besorgten Ausdruck angenommen hatte.

„Wie meinst du das?“

„Ich meine, Sadun, dass einige von ihnen eindeutig seit Jahrhunderten tot sind. Dieser dort zu deinen Füßen ist aber erst seit kurzem hier. Und von denen dort drüben sind nur noch die Knochen übrig.“

Der schlanke Krieger zuckte mit den Schultern. „So oder so sind sie dem Anschein nach alle eines ziemlich hässlichen Todes gestorben.“

„Das ist wohl wahr.“

„Und? Was hat sie umgebracht?“

Es war Norrec, der antwortete. „Seht dort. Ich glaube, sie haben sich gegenseitig getötet.“

Die beiden Toten, auf die er zeigte, hatten jeweils die Klinge ihres Gegenübers in ihrem Leib stecken. Einer von ihnen, dessen Mund noch immer von seinem letzten, entsetzten Schrei geöffnet war, trug Kleidung, die der des mumifizierten Körpers zu Saduns Füßen ähnelte. Der andere hatte nur noch Stofffetzen am Leib hängen, und auch ein paar Haarsträhnen bedeckten den Schädel des ansonsten fleischlosen Skeletts.

„Du musst dich irren“, erwiderte der Vizjerei und schüttelte langsam den Kopf. „Der eine Krieger liegt hier deutlich länger als der andere.“

Das hätte Norrec auch gesagt, hätte die Klinge dieses Toten nicht im Leib eines anderen gesteckt. Andererseits war der Tod, der für sie beide vor langer, langer Zeit eingetreten sein musste, für das Trio nur von geringer Bedeutung. „Fauztin, fühlst du irgendetwas? Gibt es hier Fallen?“

Der hagere Mann hielt seinen Stab einen Moment lang in die Kammer, dann ließ er ihn sinken. Seine Verärgerung war nicht zu übersehen. „Es gibt hier zu viele widerstreitende Kräfte, Norrec. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, wonach ich suchen soll. Ich fühle nichts offensichtlich Gefährliches – noch nicht.“

Sadun trat neben ihnen ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Lassen wir das dann alles zurück? All unsere Träume? Oder gehen wir ein kleines Risiko ein und nehmen Schätze an uns, die so wertvoll sind wie ein paar Königreiche?“

Norrec und der Hexenmeister tauschten einen fragenden Blick. Keiner von ihnen sah einen Grund, jetzt nicht weiterzumachen, vor allem nicht im Angesicht solcher Verlockungen. Der Krieger traf schließlich die Entscheidung, indem er einige Schritte in die Hauptkammer machte. Als er weder von einem Blitz getroffen noch von einer dämonischen Kreatur angegriffen wurde, folgten Sadun und der Vizjerei ihm rasch.

„Das müssen mindestens einige Dutzend sein.“ Sadun machte einen Satz über zwei Skelette hinweg, die immer noch miteinander zu ringen schienen. „Die vielen einzelnen Knochen gar nicht mitgerechnet …“

„Sadun, sei endlich ruhig, sonst sorge ich dafür, dass du schweigst …“ Jetzt, da er sich mitten unter ihnen befand, wollte Norrec nicht länger über die toten Schatzsucher diskutieren. Es störte ihn, dass so viele von ihnen durch Gewalteinwirkung gestorben waren. Irgendjemand musste doch überlebt haben? Aber warum wirkten dann die Münzen und alle anderen Schätze völlig unberührt?

Dann wurde er aus seinen Grübeleien gerissen, als er erkannte, dass sich hinter den Reichtümern am Ende der Kammer ein Podest befand – und wichtiger noch: dass auf diesem Podest eine Rüstung mit den Überresten eines Sterblichen lag.

„Fauztin …“ Als der Magier neben ihm stand, zeigte Norrec auf seine Entdeckung und fragte leise: „Wonach sieht das da für dich aus?“

Fauztin reagierte nur, indem er die Lippen schürzte und vorsichtig zur Tribüne hinüberging. Norrec folgte ihm dicht auf.

„Es würde so vieles erklären …“, hörte er den Vizjerei flüstern. „Es würde die zahlreichen magischen Signaturen und die vielen Zeichen der Macht erklären …“

„Was redest du da?“

Der Hexenmeister drehte sich zu ihm um. „Komm näher und sieh es dir selbst an.“

Norrec folgte der Aufforderung. Das Unbehagen, das er gespürt hatte, vervielfachte sich, als der Krieger zur Tribüne blickte.

Der Tote war ein Mann von hohem militärischen Rang gewesen, das konnte Norrec erkennen, auch wenn von der Kleidung nur noch Fetzen übrig waren. Die edlen Lederstiefel waren zur Seite gekippt, Reste der Hosenbeine hingen noch an den Schäften. Die mutmaßlichen Überreste eines seidenen Hemds lugten unter der majestätischen Brustplatte hervor, die schräg über dem Brustkorb hing. Darunter waren geschwärzte Teile eines einst kostbaren Gewands zu erkennen, das einen großen Teil der oberen Hälfte des Podestes bedeckte. Kunstvoll gefertigte Panzerhandschuhe sowie tropfenförmige Platten und Armschienen vermittelten den Eindruck von noch immer sehnigen und mit Fleisch bedeckten Armen. Andere, sich überlappende Platten erweckten an den Schultern die gleiche Illusion. Weniger gut erging es den Panzerungen an den Beinen, die – zusammen mit den Knochen – schief lagen, als seien sie irgendwann noch einmal bewegt worden.

„Siehst du?“, fragte Fauztin.

Norrec kniff die Augen zusammen, weil er nicht sicher war, was sein Gefährte meinte. Abgesehen von der Tatsache, dass die Rüstung selbst einen beunruhigend vertrauten Rotschimmer aufwies, konnte er nichts entdecken, was …

Kein Kopf! Der Tote auf dem Podest hatte keinen Kopf! Norrec betrachtete den Boden ringsum, konnte aber nirgends einen Schädel entdecken. Das erwähnte er dem Hexenmeister gegenüber.

„Ja, es ist genauso wie beschrieben.“ Die schlaksige Gestalt ging auf die Tribüne zu – für den Geschmack des Kriegers fast schon etwas zu eifrig. Fauztin streckte eine Hand aus, hielt jedoch im letzten Moment inne, bevor er etwas berühren konnte. „Der Leichnam ist mit dem Oberkörper nach Norden hin ausgerichtet. Kopf und Helm, die bereits im Kampf abgetrennt wurden, sind nun auch in Zeit und Raum getrennt, um für ein endgültiges Ende zu sorgen. Die Zeichen der Macht, eingelassen in die Wände, sind dort, um die immer noch vorhandene Dunkelheit abzuwehren und in dem Leichnam zu halten … aber …“ Fauztins Stimme wurde leiser, während er den Toten anstarrte.

„Aber was?“

Der Magier schüttelte den Kopf. „Nichts. Das nehme ich jedenfalls an. Vielleicht wirkt sich die Nähe zu ihm stärker auf meine Nerven aus, als es mir lieb ist.“

Norrec presste die Lippen aufeinander, da Fauztins finstere Worte ihn erzürnten. Schließlich fragte er: „Und … wer ist er? Irgendein Prinz?“

„Himmel bewahre, nein! Siehst du es nicht?“ Mit einem Finger zeigte er auf die rote Brustpanzerung. „Dies ist das verschollene Grab von Bartuc, dem Fürsten der Dämonen, dem Meister der finstersten Hexerei …“

„Der Kriegsherr des Blutes!“ Die Worte, die Norrec über die Lippen kamen, glichen einem erschrockenen Japsen. Er kannte die Geschichten über Bartuc nur zu gut. Er war in den Reihen der Hexenmeister zur Macht aufgestiegen, doch dann hatte er sich der Finsternis zugewandt, den Dämonen. Jetzt begriff Norrec, was es mit dem Entsetzen auf sich hatte, von dem er erfasst worden war: Es hatte damit zu tun, dass der Panzer die Farbe von …Menschenblut besaß.

Bartuc, den sogar die Dämonen zu fürchten begonnen hatten, von denen er zuerst verführt worden war, hatte – wahnsinnig wie er war – vor jeder Schlacht im Blut derjenigen gebadet, die ihm in vorausgegangenen Kämpfen unterlegen waren. Seine einst goldglänzende Rüstung war für immer durch seine sündigen Handlungen befleckt worden. Er hatte Städte dem Erdboden gleichgemacht und unbeschreibliche Gräueltaten vollbracht, und er hätte für alle Zeit so weitergemacht, wenn nicht – so die Legende – sein eigener Bruder Horazon und andere Vizjerei-Hexenmeister die uralte, natürlichere Magie bewahrt hätten, um ihren Gegner schließlich zu besiegen. Bartuc und sein dämonischer Wirtskörper waren kurz vor einem triumphalen Sieg niedergemetzelt worden, und den Kriegsherrn selbst hatte man köpfen können, noch bevor er einen verheerenden Gegenzauber zu wirken vermochte.

Horazon, der der Macht seines Bruders noch im Tode misstraute, hatte befohlen, Bartucs Leichnam für alle Zeiten vor dem Anblick der Menschen zu verbergen. Warum man ihn nicht einfach beerdigt hatte, wusste Norrec nicht, aber er selbst hätte diesen Weg ganz sicher versucht. Schon bald nach Bartucs Tod waren die ersten Gerüchte aufgekommen, wo der Kriegsherr des Blutes zur ewigen Ruhe gebettet worden sein sollte. Viele hatten nach ihm gesucht, und insbesondere jene, die sich zu den Schwarzen Künsten hingezogen fühlten, waren wohl an der möglicherweise noch vorhandenen Restmagie interessiert. Doch niemand hatte bislang von sich behauptet, das Grab auch tatsächlich gefunden zu haben.

Der Vizjerei kannte vermutlich noch viel mehr Einzelheiten als Norrec, doch selbst er, der einfache Kämpfer, verstand nur allzu gut, was sie entdeckt hatten. Die Legende besagte, dass Bartuc eine Weile unter Norrecs eigenem Volk gelebt haben sollte; dass einige von denjenigen, mit denen der Soldat aufgewachsen war, vielleicht sogar Nachfahren der Anhänger dieses ungeheuerlichen Despoten sein mochten. Ja, Norrec kannte das Vermächtnis des Kriegsherrn nur zu genau.

Ihm lief ein Schauder über den Rücken, und ohne nachzudenken begann er, sich von dem Podest zu entfernen. „Fauztin … wir verschwinden von hier!“

„Aber, mein Freund, wir werden doch …“

„Wir verschwinden.“

Der Mann blickte Norrec in die Augen, dann nickte er. „Vielleicht hast du recht.“

Dankbar wandte sich Norrec seinem anderen Gefährten zu. „Sadun, vergiss das alles! Wir verschwinden von hier! Sofort …“

Etwas im Schatten des Eingangs zur Kammer ließ ihn aufmerksam werden – etwas, was sich bewegte und nicht Sadun Tryst war. Das dritte Mitglied der Gruppe war währenddessen ganz damit beschäftigt, einen Sack mit Edelsteinen zu füllen.

„Sadun!“, schrie der ältere Kämpfer. „Lass den Sack fallen! Sofort!“

Das Ding nahe dem Eingang bewegte sich auf ihn zu.

„Hast du den Verstand verloren?“, erwiderte Sadun und sah nicht einmal über die Schulter. „Davon haben wir doch immer geträumt!“

Norrec nahm ein Klappern wahr, das nicht nur aus einer Richtung zu kommen schien. Er schluckte, als er die Gestalt sah, die in sein Blickfeld trat.

Die leeren Augenhöhlen des mumifizierten Kriegers, über den sie zuerst hinweggestiegen waren, erwiderten seinen entsetzten Blick.

„Sadun! Hinter dir!“

Jetzt endlich reagierte der Gefährte. Der drahtige Soldat ließ den Sack fallen, wirbelte herum und zog dabei seine Klinge. Als er aber sah, was Norrec und Fauztin längst bemerkt hatten, wurde Sadun Tryst kreidebleich.

Einer nach dem anderen begannen sich die Skelette derer zu erheben, die lange vor dem Trio in dieses Grab vorgedrungen waren. Jetzt war Norrec klar, warum niemand lebend wieder herausgefunden hatten und dass er und seine Freunde diese grausige Tradition fortsetzen würden, wenn nicht …

„Kosoraq!“

Eines der Skelette, das sich dem Hexenmeister am nächsten befand, löste sich in einem orangeroten Feuerball auf. Fauztin richtete seinen Finger auf einen noch halb bekleideten Ghul, dessen Gesicht teilweise erhalten war. Der Vizjerei wiederholte seinen Zauber.

Nichts geschah.

„Meine Magie …“ In seiner Fassungslosigkeit übersah Fauztin, wie sich zu seiner Linken ein weiteres Skelett erhob und mit einem verrosteten, aber immer noch todbringenden Schwert ausholte, um den Kopf des Mannes vom Rumpf zu trennen.

„Achtung!“ Norrec wehrte den Schlag ab und ließ einen eigenen Hieb folgen, der allerdings nichts bewirkte, da die Klinge einfach durch den Brustkorb des Angreifers glitt. Aus purer Verzweiflung trat er nach seinem Gegner, dessen Knochen gegen einen weiteren der wankenden Wiedergänger prallten.

Sie waren ihren Gegnern hoffnungslos unterlegen, zumal sich diese mit normalen Mitteln nicht bekämpfen ließen. Norrec erblickte Sadun, der von seinen beiden Freunden abgeschnitten war und auf einen Berg Münzen sprang, um sich von dort aus gegen zwei alptraumhafte Krieger zur Wehr zu setzen – der eine noch eine kadaverartige Hülle, der andere bereits ein Skelett, das aber noch einen gebrauchsfähigen Arm besaß. Hinter den beiden nahten weitere ihrer Art.

„Fauztin! Kannst du nicht irgendwas machen?“

„Ich versuche einen anderen Zauber!“

Wieder rief der Vizjerei ein Wort aus, und diesmal erstarrten die beiden Kreaturen, die auf Sadun losgestürmt waren. Tryst zögerte keinen Moment, sondern holte mit Schwung aus.

Die beiden Ghule zerbarsten in unzählige Stücke, die Trümmer ihrer Oberkörper verstreuten sich über den Steinboden.

„Deine Kräfte sind zurückgekehrt!“, rief Norrec hoffnungsvoll.

„Sie sind mir nie abhanden gekommen. Ich fürchte nur, ich kann jeden Zauber bloß einmal benutzen – und die meisten von den noch verbliebenen erfordern mehr Zeit, um sie zu entfalten!“

Norrec blieb keine Zeit, auf die schreckliche Offenbarung zu reagieren; seine eigene Lage wurde zusehends verzweifelter. Er setzte sich erst gegen eine, dann gegen zwei der Monstrositäten aus den heranrückenden Reihen der Wiedergänger zur Wehr. Die Ghule schienen sich nur langsam bewegen zu können, wofür er dankbar war, doch ihre Überzahl und ihre Hartnäckigkeit würden sich letztlich zu Gunsten der grausigen Grabwächter auswirken. Wer immer diese Falle entworfen hatte, er war mit sehr viel Geschick zu Werke gegangen, denn jede Gruppe, die hier eindrang, würde die Reihen der Untoten verstärken. Norrec hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wo die ersten Wiedergänger hergekommen waren. Er hatte seine Freunde darauf aufmerksam gemacht, dass sie auf dem Weg hierher Fallen und tote Kreaturen entdeckt hatten, aber keine Leichen – bis auf den durchbohrten Schädel. Die erste Gruppe, die bis zu Bartucs Grab gelangt war, hatte unterwegs zweifellos einige Leute verloren, ohne zu ahnen, dass ausgerechnet ihre toten Kameraden zum größten Alptraum der Überlebenden werden würden. Mit jeder neuen Gruppe war die untote Armee gewachsen – und bald sollten ihr auch Norrec, Sadun und Fauztin angehören.

Einer der mumifizierten Körper schlug nach Norrecs linkem Arm, doch der Kämpfer benutzte die Fackel in seiner anderen Hand, um das vertrocknete Fleisch des Angreifers zu entzünden und ihn zur wandelnden Fackel zu machen. Auch wenn er seinen Fuß riskierte, trat er nach der Kreatur, um sie in ihre Kameraden stürzen zu lassen.

Trotz dieses Erfolgs drängte die Horde der Wiedergänger immer weiter vor.

„Norrec!“, ertönte von irgendwoher Saduns Ruf. „Fauztin! Sie kommen von allen Seiten!“

Doch keiner der beiden konnte ihm zu Hilfe eilen. Der Magier schlug mit seinem Stab ein Skelett zurück, doch zwei weitere füllten sofort die entstandene Lücke. Die Kreaturen bewegten sich mittlerweile schneller und fließender. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Norrec und seine Freunde keinerlei Vorteil mehr würden nutzen können.

Drei ghulartige Krieger trennten Norrec Vizharan von seinen Freunden und trieben ihn die Stufen empor, bis er das Podest erreicht hatte. Die Knochen des Kriegsherrn des Blutes klapperten in der Rüstung, doch zur Erleichterung des bedrängten Kämpfers erhob sich nicht auch noch Bartuc, um diese infernalische Armee zu befehligen.

Eine Rauchwolke machte Norrec darauf aufmerksam, dass es dem Hexenmeister gelungen war, einmal mehr gegen die Wiedergänger anzugehen. Doch Norrec wusste, dass Fauztin nicht mit allen fertig werden konnte. Bislang war es keinem der Kämpfer gelungen, mehr als ein kurzzeitiges Patt herauszuholen. Da ihre Klingen kein Fleisch durchdringen und keine lebensnotwendigen Organe verletzen konnten, waren Messer und Schwerter praktisch wertlos.

Der Gedanke, sich eines Tages wie einer dieser Wiedergänger zu erheben und den nächsten ahnungslosen Eindringling anzugreifen, ließ Norrec erschaudern. Er bewegte sich so gut er konnte am Podest entlang und versuchte einen Fluchtweg ausfindig zu machen. Zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er seine Kameraden wohl schamlos im Stich gelassen hätte, wenn sich hier und jetzt eine Möglichkeit zu entkommen aufgetan hätte.

Seine Kraft ließ nach. Eine Klinge traf ihn am Oberschenkel. Der Schmerz ließ ihn nicht nur aufschreien, er löste auch den Griff um das Heft seines Schwertes. Die Waffe fiel scheppernd auf die Stufen und verschwand irgendwo hinter der Wand aus Ghulen.

Während sein Bein fast wegknickte, fuchtelte er mit der Fackel vor den Angreifern herum und versuchte, mit der anderen Hand Halt an der Tribüne zu finden. Doch er bekam keinen Stein zu fassen, sondern kaltes Metall, von dem er immer wieder abrutschte.

Sein verletztes Bein gab schließlich nach. Norrec ging in die Knie und riss unabsichtlich das metallene Objekt mit sich, an dem er sich versucht hatte festzuhalten.

Die Fackel flog in hohem Bogen in den Raum. Norrec wollte sich aufrichten und starrte in ein Meer aus grotesken Gesichtern. Der verzweifelte Schatzgräber hob die Hand. Es schien, als wollte er das Unvermeidbare hinauszögern, indem er die Wiedergänger stumm anflehte.

Dann erst wurde ihm bewusst, dass seine erhobene Hand von Metall umschlossen war – von einem Panzerhandschuh!

Es war exakt jener Handschuh, den er zuvor an Bartucs Skelett gesehen hatte.

Noch während sein Verstand damit beschäftigt war, diese beunruhigende Entdeckung zu verarbeiten, rann ein Wort über Norrecs Lippen, das er selbst nicht verstand. Es schallte durch die Kammer und ließ die Edelsteinmuster an den Wänden immer heller aufleuchten, bis sämtliche Gegner des Trios erstarrt waren.

Ein weiteres Wort, das noch unverständlicher klang, platzte förmlich aus dem fassungslosen Krieger heraus. Die Energiemuster wurden stetig gleißender, flammender …

… und explodierten dann.

Eine furchtbare Welle aus reiner Energie rollte durch den Raum und umspülte die Wiedergänger. Splitter flogen umher und zwangen Norrec, sich so sehr zusammenzukauern, wie es nur möglich war, um nicht auch getroffen zu werden. Er betete, dass das Ende schnell und schmerzlos kommen würde …

Der magische Ausbruch verzehrte die Wiedergänger auf der Stelle. Knochen und Fleisch verbrannten wie Zunder. Ihre Waffen schmolzen und bildeten Haufen aus Schlacke und Asche.

Das Trio blieb davon unberührt.

„Was ist hier los? Was passiert hier?“, hörte Norrec Sadun schreien.

Das Inferno lief mit höchster Präzision vor ihren Augen ab und riss die Grabwächter mit sich – nur sie. Je weniger von ihnen noch existierten, desto mehr nahm die Intensität jener rettenden Kraft ab, bis nichts Untotes mehr vorhanden war. In der Kammer hielt fast völlige Finsternis Einzug, lediglich die beiden Fackeln sorgten für etwas Licht, das sich in den wenigen unversehrt gebliebenen Edelsteinen widerspiegelte.

Norrec hatte den Mund weit aufgerissen und betrachtete die Verwüstung. Er fragte sich, was er soeben entfesselt hatte und ob dies nur der Vorbote von etwas noch viel Schlimmerem sein mochte. Dann wanderte sein Blick zu dem Panzerhandschuh, und Angst erfasste ihn. Angst, ihn länger anzubehalten – aber auch Angst vor dem, was geschehen würde, wenn er versuchte, ihn auszuziehen.

„Sie … sie sind vollständig aufgezehrt worden“, brachte Fauztin hervor, während er sich zwang, aufzustehen. Sein Gewand war an vielen Stellen zerfetzt, und der dünne Magier hielt sich einen Arm, an dem er eine stark blutende Wunde davongetragen hatte.

Sadun sprang von dem Münzberg herab und schien völlig ohne Blessuren davongekommen zu sein. „Aber wieso?“

Ja, wieso? Norrec bewegte die Finger im Handschuh. Das Metall fühlte sich fast wie eine zweite Haut an – viel bequemer, als er es für möglich gehalten hätte. Seine Angst schwächte ein wenig ab, weil er begann, über die Möglichkeiten nachzudenken, die sich aus dieser Errungenschaft vielleicht noch eröffneten.

„Norrec“, hörte er Fauztins Stimme. „Wann hast du den denn angezogen?“

Er reagierte nicht auf die Frage, überlegte stattdessen, dass es wohl interessant wäre, auch noch den anderen Panzerhandschuh … nein, besser noch die ganze Rüstung anzuziehen, um festzustellen, wie sie sich anfühlte. Als junger Soldat hatte er davon geträumt, in den Rang eines Generals aufzusteigen und durch siegreiche Schlachten zu Reichtum zu gelangen. Jetzt erschien ihm der alte, vor langer Zeit aufgegebene Traum plötzlich durchaus real und – zum ersten Mal – in die Tat umsetzbar …

Ein Schatten schob sich über seine Hand. Er blickte auf und sah, dass der Hexenmeister ihn besorgt ansah.

„Norrec, mein Freund. Vielleicht solltest du den Handschuh besser ausziehen.“

Ausziehen? Der Gedanke daran erschien ihm auf einmal völlig unsinnig. Der Panzerhandschuh hatte ihnen allen das Leben gerettet. Warum sollte er ihn jetzt ausziehen? Konnte es sein … dass der Vizjerei ihn lediglich selbst an sich nehmen wollte? In magischen Dingen kannte Fauztins Volk einfach keine Loyalität. Und wenn Norrec ihm den Handschuh nicht überließ, sprach vieles dafür, dass Fauztin ihn sich einfach aneignen würde, falls ihn niemand daran hinderte.

Ein Teil seines Verstandes wollte die hasserfüllten Gedanken zurückweisen. Fauztin hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Er und Sadun waren Norrecs beste und einzige Freunde. Der Magier aus dem Osten würde etwas so Niederträchtiges gewiss nicht versuchen … oder doch?

„Norrec, hör mir zu!“ In der Stimme des anderen Mannes schwang etwas mit, vielleicht Neid, vielleicht aber auch Angst. „Es ist äußerst wichtig, dass du den Handschuh wieder ausziehst. Wir sollten ihn zurück auf die Tribüne …“

„Was ist los?“, rief Sadun. „Was ist mit ihm los, Fauztin?“

Norrec war jetzt davon überzeugt, dass er mit seiner ersten Vermutung richtig gelegen hatte. Der Hexenmeister wollte tatsächlich seinen Handschuh in seinen Besitz bringen.

„Sadun, halte deine Klinge bereit. Vielleicht müssen wir …“

„Meine Klinge? Du willst, dass ich sie gegen Norrec einsetze?“

Etwas in dem älteren Kämpfer übernahm die Kontrolle. Norrec sah wie aus weiter Ferne zu, als die behandschuhte Hand nach vorn schoss und die Kehle des Vizjerei umschloss.

„Sa-Sadun! Seine Hand! Schneide sie …“

Aus den Augenwinkeln sah Norrec seinen anderen Gefährten zögern und dann die Waffe zum Angriff heben. Wut, wie er sie noch niemals zuvor verspürt hatte, ergriff von dem Kämpfer Besitz. Die Welt nahm eine blutrote Farbe an … und dann wurde alles schwarz.

In dieser Schwärze hörte Norrec Vizharan Schreie.

ZWEI

Im Lande Aranoch, am nördlichsten Rand der weiten, unerbittlichen Wüste, die einen Großteil des Reiches bedeckte, blieb die kleine, aber schlagkräftige Armee von General Augustus Malevolyn in ihrem Lager. Vor einigen Wochen hatte man das Lager aus Gründen aufgeschlagen, die den meisten Soldaten noch immer ein Rätsel waren, doch niemand wagte es, die Entscheidungen des Generals in Frage zu stellen. Die Mehrzahl der Männer war Malevolyn seit seinen frühen Tagen in Wintermarch gefolgt, und der Fanatismus für seine Sache war nie Gegenstand einer Diskussion gewesen. Doch insgeheim rätselten sie darüber, warum er nicht bereit zu sein schien, weiterzuziehen.

Viele waren davon überzeugt, dass es etwas mit dem farbenfrohen Zelt zu tun hatte, das nicht weit entfernt von dem des Befehlshabers stand und der Hexe gehörte. Jeden Morgen begab sich Malevolyn zu ihr, offenbar, um Vorzeichen der Zukunft in Erfahrung zu bringen, auf die er seine Entscheidungen begründete. Zudem begab sich Galeona jeden Abend ins Zelt des Generals – aus persönlicheren Motiven. Welchen Einfluss sie genau auf seine Entschlüsse hatte, vermochte niemand zu sagen, aber er musste erheblich sein.

Als sich die Morgensonne über den Horizont erhob, verließ eine schlanke, gepflegte Gestalt namens Augustus Malevolyn ihr Quartier. Das fahle, frisch rasierte Gesicht – einst von einem mittlerweile verstorbenen Rivalen mit den blumigen Worten beschrieben: „das Gesicht des Fürsten des Todes, doch ohne dessen Freundlichkeit“– war völlig ausdruckslos. Malevolyn trug eine tiefschwarze Rüstung, die nur an den Rändern der einzelnen Teile eine karmesinrote Kante aufwies, welche sich vor allem an der Halsöffnung deutlich abhob. Darüber hinaus fand sich auf dem Brustpanzer das Symbol eines roten Fuchses auf drei silbernen Schwertern, das als Einziges an die ferne Vergangenheit des Generals erinnerte. Zwei Adjutanten halfen ihm beim Überstreifen der Panzerhandschuhe in Karmesinrot und Schwarz, die aussahen, als wären sie eben erst geschmiedet worden. Genau genommen schien Malevolyns komplette Rüstung in makellosem Zustand zu sein, was auf die nächtlichen Säuberungsaktionen jener Soldaten zurückzuführen war, die nur zu gut wussten, welche Folgen der winzigste Rostfleck für ihr Leben haben konnte.

Malevolyn verzichtete lediglich auf den Helm, als er sich direkt ins Allerheiligste seiner Hexenmeisterin und Geliebten begab. Galeonas Hort, der dem Alptraum eines Zeltmachers glich, wirkte so, als hätte man ihn wie einen Quilt zusammengenäht, der aus Stoffecken in mehr als zwei Dutzend Farbtönen bestand. Nur diejenigen, die wie der General hinter diese Fassade zu blicken vermochten, erkannten, dass die verschiedenen Farben komplexe Muster bildeten. Und nur, wer mit den Wirkungsweisen der Hexerei vertraut war, konnte wissen, welche Macht diesen Mustern innewohnte.

Die beiden Adjutanten folgten Malevolyn. Einer von ihnen trug in seinen Armen eine Last, über die ein Tuch gebreitet war und die in etwa die Form eines Kopfes aufwies. Der Offizier hielt den Gegenstand mit erkennbarem Unbehagen, als erfülle er ihn nicht nur mit Misstrauen, sondern mit regelrechter Furcht.

Der Kommandant machte sich nicht die Mühe, seinen Besuch anzukündigen, aber noch bevor er das Zelt der Hexe erreicht hatte, forderte ihn eine weibliche Stimme – die tief und spöttisch zugleich klang – zum Eintreten auf.

Obwohl der Sonnenschein das Lager mittlerweile in helles Licht tauchte, war es in Galeonas Zelt so dunkel, dass der General und seine Adjutanten nur durch den schwachen Schein einer aufgehängten Öllampe etwas erkennen konnten. Ohne diese Lampe hätten sie in völliger Dunkelheit gestanden.

Alles war vollgehängt mit Beuteln, Flaschen und Dingen, für die sie keinen Namen wussten. Zwar war der Hexenmeisterin einmal eine Kiste angeboten worden, in der sie ihre Habseligkeiten hätte unterbringen können, doch diese hatte sie abgelehnt. Offenbar fand sie eine gewisse Erfüllung darin, alles über sorgfältig ausgewählte Stellen zu verteilen. General Malevolyn hinterfragte diese exzentrische Vorliebe nicht, denn solange er seine gewünschten Antworten erhielt, wäre es ihm auch gleichgültig gewesen, wenn sie ausgedörrte Leichen am Zeltdach aufgehängt hätte.

Sie war nahe daran, genau das zu tun. Während viele ihrer Schätze glücklicherweise in Behältern verborgen blieben, fanden sich unter den sichtbaren Objekten auch die Formen verschiedener seltener Kreaturen sowie Teile anderer Geschöpfe – allesamt in ausgetrocknetem Zustand. Außerdem gab es das eine oder andere Etwas, was menschlichen Ursprungs sein konnte. Allerdings hätte ein Beweis für diese Vermutung es erfordert, sich allzu gründlich damit zu befassen …

Die einzige Lampe innerhalb des Zeltes schürte bei jedem anderen als ihrem Kommandanten und Liebhaber Beklemmung, da sie Schatten warf, die sich entgegen der normalen Wahrnehmung bewegten. Oft sahen Malevolyns Männer die Flamme in die eine Richtung flackern, während sich ein Schatten entgegengesetzt bewegte. Auch schienen die Schatten generell das Zelt von innen viel größer erscheinen zu lassen, als es seinen von außen sichtbaren Dimensionen entsprochen hätte. Es war, als würde man einen Ort betreten, der sich nicht ausschließlich auf der Ebene der Sterblichen befand.

Inmitten dieses beunruhigenden und irritierenden Raums stellte die Hexenmeisterin Galeona selbst den fesselndsten und zugleich beängstigendsten Anblick dar. Wenn sie sich von ihren vielfarbigen Kissen erhob, die den gemusterten Teppich bedeckten, erwachte in jedem Mann ein Lodern. Volles schwarzes Haar fiel nach hinten und gab den Blick auf ein rundes und verlockendes Gesicht mit roten, einladenden Lippen frei, auf eine große, aber gefällige Nase und so tiefgrüne Augen, dass nur die smaragdfarbenen Augen des Generals selbst mithalten konnten. Volle Wimpern zierten die halb geschlossenen Lider, die die Hexe so wirken ließen, als wollte sie jeden Neuankömmling mit Haut und Haar verschlingen, indem sie ihn einfach nur ansah.

„Mein General …“, schnurrte sie, und jedes Wort klang wie ein Versprechen.

Galeona war üppig gebaut, und was sie hatte, stellte sie ebenso zur Schau wie jede andere Waffe, über die sie verfügte. Ihr Kleid war absichtlich so weit ausgeschnitten, wie es nur möglich war, ohne dass es seine eigentliche Funktion verlor. Funkelnde Juwelen säumten die Ränder der Kleidung nahe ihrer Brust. Wenn sie sich bewegte, war es so, als würde der Wind sie sanft vorantreiben und zugleich den dünnen Stoff verführerisch aufwallen lassen.

Die erkennbare Wirkung ihres Charmes auf Malevolyn bestand aus nur wenig mehr als einer sanften Berührung ihrer Wange mit seiner behandschuhten Hand. Doch Galeona akzeptierte diese Geste, als streiche der zarteste Pelz über ihre Haut. Sie lächelte und zeigte ihre Zähne, die nahezu perfekt waren, aber eine Schärfe, vergleichbar mit der eines Katzengebisses, aufwiesen.

„Galeona … meine Galeona … habt Ihr gut geschlafen?“

„Ja, als ich denn wirklich geschlafen habe … mein General.“

Er musste leise lachen. „So ist es mir auch ergangen.“ Dann wurde er abrupt ernst. „Bis ich den Traum hatte.“

„Den Traum?“ Dass sie vor ihrer Frage heftig die Luft einsog, war ein deutliches Zeichen dafür, dass Galeona seine Worte nicht auf die leichte Schulter nahm.

„Ja …“ Er trat hinter sie und starrte eines der makabren Stücke ihrer Sammlung an, ohne es wirklich zu sehen. Während er sprach, griff er nach dem Gegenstand und bewegte dessen Gelenk. „Der Kriegsherr des Blutes war auferstanden …“

Sie drehte sich zu ihm um, mit weit aufgerissenen Augen, und wirkte dabei wie ein dunkler Engel an seiner Seite. „Erzählt mir alles, mein General, erzählt mir jede Einzelheit …“

„Ich sah, wie sich die Rüstung ohne den Mann aus dem Grab freikämpfte, dann wurde sie von Knochen und schließlich von Muskeln und Sehnen erfüllt. Fleisch bedeckte den Leib, aber es zeigte sich nicht Bartucs Abbild.“ Der in Schwarz gekleidete Offizier wirkte enttäuscht. „Ein recht gewöhnliches Gesicht. Vielleicht war es auch doch das Gesicht des Kriegsherrn, allerdings erschien es mir in meinem Traum eher wie das einer verängstigten Seele …“

„Ist das schon alles?“

„Nein. Dann sah ich Blut … auf seinem Gesicht. Danach schien es so, als würde er fortgehen. Ich sah, wie Berge Hügeln wichen und wie Hügel Sand wichen. Und dann sah ich, wie er in jenem Sand versank … und an dieser Stelle endete mein Traum.“

Der andere Offizier bemerkte in einer Ecke des Zelts einen Schatten, der sich auf den General zubewegte. Aus Erfahrung wusste er, dass er nicht über derartige Dinge sprechen durfte, also schluckte er nur und schwieg, während er hoffte, dass sich dieser Schatten nicht irgendwann später einmal gegen ihn selbst wenden würde.

Galeona schmiegte sich an General Malevolyns Brustpanzer und sah ihm in die Augen. „Habt Ihr diesen Traum schon früher einmal gehabt, mein General?“

„Das wüsstet Ihr.“

„Ja, das ist wahr. Ihr wisst, wie wichtig es ist, mir alles zu erzählen.“ Sie löste sich von ihm und kehrte zu dem Berg aus weichen Kissen zurück. Ein dünner Schweißfilm überzog jede unbedeckte Stelle ihres Körpers. „Und hier ist es am wichtigsten, denn dies ist keinesfalls ein gewöhnlicher Traum.“

„Dieser Gedanke war mir auch gekommen.“ Mit einer flüchtigen Handbewegung bedeutete er dem Adjutanten, der das bedeckte Objekt trug, vorzutreten. Der tat, wie ihm geheißen, und zog gleichzeitig den Stoff weg, um zu enthüllen, was sich darunter befand.

Ein Helm mit einem zerfurchten Kamm funkelte im schwachen Schein der einzigen Lampe. Er war alt, aber intakt und so geformt, dass er Kopf und Gesicht seines Trägers weitestgehend bedeckte. Zwei schmale Schlitze waren für die Augen freigehalten, ein breiterer, senkrechter Spalt bot der Nase Platz, und eine größere, waagerechte Öffnung befand sich in Mundhöhe. Die Rückseite des Helmes reichte weit nach unten und schützte das Genick, während der Hals gänzlich ungewappnet blieb.

Selbst im dämmrigen Licht konnte man gut erkennen, dass der Helm blutrot lackiert war.

„Ich dachte mir, Ihr könntet Bartucs Helm gebrauchen.“

„Und damit könntet Ihr recht haben.“ Galeona streckte ihre Hand nach dem Artefakt aus. Ihre Finger berührten die des Adjutanten, der erschauderte. Während der General von ihr abgewandt stand und der zweite Offizier von seiner Position aus nichts erkennen konnte, nutzte die Hexenmeisterin die Gelegenheit, mit einer Hand zärtlich über das Handgelenk des Adjutanten zu streichen. Sie hatte ihn schon ein paar Mal gekostet, als ihr Appetit nach Abwechslung verlangt hatte, aber sie wusste, dass er seinem Herrn niemals von diesen Begegnungen berichten würde. Denn Malevolyn hätte eher ihn als seine kostbare Hexe hinrichten lassen.

Sie nahm den Helm und platzierte ihn in der Nähe jener Stelle am Boden, wo sie zuvor gesessen hatte. Der General schickte seine Männer fort, dann nahm er gegenüber von Galeona Platz.

„Enttäusche mich nicht. Ich bin in diesem Punkt unerbittlich.“

Zum ersten Mal schwand ein wenig von Galeonas Selbstvertrauen. Augustus war ein Mann, der sein Wort immer hielt, vor allem, wenn es darum ging, dass jemand seinen Erwartungen nicht gerecht wurde.

Die finstere Hexenmeisterin legte ihre Handflächen auf den Helm und überspielte ihre Sorge. Der General zog seine Panzerhandschuhe aus und tat es ihr gleich.

Die Flamme der Lampe flackerte und schien sich auf ein Nichts zu reduzieren. Die Schatten breiteten sich aus, wurden dichter und wirkten mit einem Mal lebendiger und noch unabhängiger von dem schwachen Schein. Dass sie etwas Surreales an sich hatten, was nicht von dieser Welt stammen mochte, störte General Malevolyn nicht. Er wusste einiges über die Kräfte, mit denen Galeona Umgang pflegte, und über anderes hegte er seine Vermutungen. Als ein Mann des Militärs und mit imperialen Ambitionen betrachtete er sie allesamt als Werkzeuge, die seiner Sache zu dienen hatten.

„Gleiches ruft Gleiches, Blut ruft Blut …“ Die Worte kamen Galeona mühelos über ihre vollen Lippen. Sie hatte diese Litanei schon oft für ihren Herrn gesprochen. „Lass das, was seines war, das rufen, was seines war! Das, was den Schatten von Bartuc trug, muss wieder eins werden!“

Malevolyn spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Die Welt schien sich von ihm zu entfernen. Galeonas Worte hallten wider und wurden das Einzige, worauf er sich konzentrierte.

Zuerst sah er nichts außer einem tristen Grau. Dann schälte sich vor seinen Augen ein Bild aus dem Grau, das ihm irgendwie vertraut vorkam. Wieder sah er Bartucs Rüstung und auch, dass sie nun von jemandem getragen wurde, doch dieses Mal erkannte der General sicher, dass der Mann vor ihm nicht der legendäre Kriegsherr sein konnte.

„Wer?“, zischte er. „Wer?“

Galeona antwortete nicht. Ihre Augen waren geschlossen, den Kopf hatte sie konzentriert nach hinten gebeugt. Hinter ihr bewegte sich ein Schatten, der Malevolyn flüchtig an ein großes Insekt erinnerte. Als vor ihm ein Bild entstand, konzentrierte er sich wieder völlig darauf, den Fremden zu identifizieren und aufzuspüren.

„Ein Krieger“, murmelte die Hexenmeisterin. „Ein Mann zahlreicher Schlachten.“

„Vergesst das! Wo ist er? Ist er in der Nähe?“ Die Rüstung des Kriegsherrn! Nach so langer Zeit und so vielen falschen Fährten!

Sie zuckte vor Anstrengung, doch Malevolyn kümmerte sich nicht darum. Er war sogar bereit, sie bis an ihre Grenzen und selbst darüber hinaus zu treiben.

„Berge … kalte Hügel …“

Das half nicht weiter. Überall auf der Welt gab es Berge, vor allem im Norden und jenseits der Zwillingsmeere. Sogar Westmarch hatte zahlreiche Berge vorzuweisen.

Galeona schauderte wieder. „Blut ruft Blut …“

Er presste die Lippen aufeinander. Warum wiederholte sie sich?

„Blut ruft Blut!“

Sie schwankte und löste beinahe ihren Griff um den Helm. Fast wäre ihre Verbindung zu dem Zauber abgebrochen. Malevolyn gab sein Bestes, um die Vision aus eigener Kraft aufrechtzuerhalten, auch wenn seine magischen Fähigkeiten nicht im Entferntesten an die von Galeona heranreichten. Dennoch gelang es ihm für einen kurzen Moment, sich besser auf das Gesicht zu konzentrieren. Es waren gewöhnliche Züge, die nichts von einem Führer hatten. In gewisser Weise wirkten sie sogar wie von Panik erfüllt. Nicht feige, aber dieser Mann fühlte sich eindeutig unwohl in seiner Haut …

Das Bild begann zu verblassen. Der General fluchte stumm. Die Rüstung war von irgendeinem verdammten Soldaten oder Deserteur gefunden worden, der vermutlich keine Ahnung vom wahren Wert und von der Macht, die dieser Rüstung innewohnte, hatte. „Wo ist er?“

Die Vision löste sich so abrupt auf, dass selbst er erschrak. Gleichzeitig schnappte die Hexe nach Luft und fiel nach hinten in den Berg aus Kissen, sodass der Zauber augenblicklich gebrochen war.

Eine gewaltige Kraft riss Malevolyns Hände von dem Helm fort, während der General eine Folge derber Flüche ausstieß.

Stöhnend und langsam erhob Galeona sich, bis sie wieder aufrecht saß. Eine ihrer Hände hatte sie an ihren Kopf gelegt, als sie Malevolyn ansah.

Er überlegte seinerseits, ob er sie auspeitschen lassen sollte, weil sie ihn damit aufgestachelt hatte, dass die Rüstung gefunden worden sei – ohne ihm allerdings das Wissen vermitteln zu können, wo genau sie sich gerade befand.

Galeona bemerkte seinen finsteren Blick und wusste, was dies bedeutete. „Ich habe Euch nicht enttäuscht, mein General! Nach all der Zeit könnt Ihr endlich Bartucs Vermächtnis erfüllen!“

„Erfüllen?“ Malevolyn stand auf. Er war kaum in der Lage, seine Enttäuschung und seinen Zorn im Zaum zu halten. „Erfüllen? Bartuc hat Dämonen befehligt! Er hat seine Macht fast über die ganze Welt ausgebreitet!“ Der bleiche Kommandant deutete auf den Helm. „Ich habe das von einem Hausierer als Souvenir gekauft, als Symbol für die Macht, die ich erlangen will! Ein gefälschtes Artefakt, wie ich glaubte, aber außerordentlich gut gearbeitet! Der Helm von Bartuc!“ Der General lachte rau. „Erst als ich ihn aufsetzte, wurde mir die Wahrheit klar – dass es wirklich sein Helm war!“

„Ja, mein General!“ Galeona sprang auf und legte ihre Hände auf seine Brust. Ihre Finger glitten über das Metall, als würden sie seine Haut streicheln. „Und dann haben die Träume eingesetzt, die Visionen von …“

„Bartuc! – Ich habe seine Siege und seine Niederlagen geschmeckt, ich habe seine Kraft geschaut! Ich habe all dies gelebt …“ Malevolyns Tonfall wurde immer verbitterter. „Aber nur in meinen Träumen.“

„Das Schicksal hat diesen Helm zu Euch geführt! Das Schicksal und Bartucs Geist, versteht Ihr nicht? Er will, dass Ihr seine Nachfolge antretet, so glaubt mir doch“, beschwichtigte die Hexe ihn. „Es kann keinen anderen Grund geben, denn Ihr seid der Einzige, der ohne meine Hilfe die Visionen schauen kann!“

„Wohl wahr.“ Nach den ersten beiden Vorfällen, die aufgetreten waren, als Malevolyn den Helm getragen hatte, war der General auf die Idee gekommen, einigen seiner vertrauenswürdigsten Offizieren zu befehlen, das Artefakt ebenfalls aufzusetzen. Doch selbst diejenigen, die den Helm über Stunden hinweg trugen, konnten später nicht über Träume berichten, die mit dem Helm zusammenhingen. Das war für Augustus Malevolyn Beweis genug gewesen, dass er vom Geist des Kriegsherrn ausgewählt worden war, um dessen ruhmreiche Rüstung zu übernehmen.

Malevolyn wusste alles, was ein Sterblicher über Bartuc wissen konnte. Er hatte jedes Dokument studiert, sich mit jeder Legende befasst. Während viele andere in der Vergangenheit vor der finsteren und dämonischen Geschichte des Kriegsherrn zurückgeschreckt waren, weil sie fürchteten, etwas davon könnte auf sie selbst abfärben, hatte der General begierig jede noch so unbedeutende Information in sich aufgesogen.

In strategischer und körperlicher Stärke konnte er es mit Bartuc aufnehmen, doch Malevolyns magische Fähigkeiten waren bestenfalls als gering zu bezeichnen und reichten gerade aus, um eine Kerze anzuzünden. Galeona hatte ihn mit weiterer Hexenkunst versorgt – ganz zu schweigen von anderen Vergnügungen –, doch um dem Ruhm des Kriegsherrn nacheifern zu können, benötigte Malevolyn das Wissen, um nicht nur einen, sondern eine ganze Horde von Dämonen herbeizurufen und zu befehligen.

Die Rüstung würde ihm den Weg dahin ebnen, dessen war er sich mittlerweile völlig sicher. Malevolyns umfassende Recherche hatte Andeutungen darauf ergeben, dass Bartuc die Rüstung mit den stärksten Zaubern versehen hatte. Die eigenen magischen Fähigkeiten des Generals waren schon durch den Helm allein verstärkt worden. Zweifellos würde die komplette Rüstung ihm endgültig alles schenken, was er begehrte. Der Schatten Bartucs wollte das ganz sicher. Die Visionen mussten ein Zeichen sein.

„Eine Sache kann ich Euch sagen, mein General“, flüsterte die Hexenmeisterin. „Eine Sache, die Euch auf Eurer Suche begleiten soll …“

Er packte ihre Arme. „Was? Was ist es?“

Sie verzog das Gesicht, weil sein Griff Schmerzen bereitete. „Er – der Narr, der im Moment die Rüstung trägt – kommt näher!“

„Ist er auf dem Weg zu uns?“

„Vielleicht – falls der Helm und der Rest der Rüstung wieder vereint werden sollen. Und selbst, wenn dies nicht der Fall ist, werde ich ihn umso besser ausmachen können, je mehr er sich uns nähert.“ Galeona befreite einen Arm und berührte Malevolyns Kinn. „Ihr müsst nicht mehr lange warten, mein Geliebter. Nur noch kurze Zeit …“

Er ließ sie los und dachte nach. „Ihr werdet das jeden Morgen und jeden Abend überprüfen! Ihr werdet keine Mühen scheuen! Ich muss es sofort wissen, wenn Ihr diesen Kretin identifizieren könnt! Wir werden sofort aufbrechen! Nichts darf mir und meiner Bestimmung im Wege stehen!“

Er packte den Helm und verließ ihr Zelt ohne ein weiteres Wort. Seine Adjutanten schlossen hastig zu ihm auf. Malevolyns Gedanken überschlugen sich, während er sich selbst in der mit Zaubern belegten Rüstung sah. Legionen von Dämonen würden sich erheben, um seine Befehle auszuführen. Städte würden fallen. Ein Imperium würde entstehen, das die gesamte Welt umspannte.

Augustus Malevolyn nahm den Helm fast beschützend in seine Arme, als er in sein Quartier zurückkehrte. Galeona hatte recht. Er musste nur etwas mehr Geduld zeigen. Die Rüstung würde früher oder später zu ihm kommen.

„Ich werde das tun, was Ihr einst erträumt habt“, flüsterte er dem abwesenden Schatten Bartucs zu. „Euer Vermächtnis wird meine Bestimmung sein!“ Die Augen des Generals leuchteten. „Und das schon bald …“

Die Hexe erschauderte, als Malevolyn aus dem Zelt ging. Er war in letzter Zeit immer unberechenbarer geworden, je länger er den alten Helm trug. Einmal hatte sie ihn dabei ertappt, wie er so gesprochen hatte, als sei er der Kriegsherr des Blutes persönlich. Galeona wusste, dass der Helm – und das galt wohl auch für die Rüstung – gewisse magische Kräfte besaß, jedoch hatte sie sie bislang weder identifizieren noch kontrollieren können.

Wenn sie sie aber kontrollieren könnte … würde sie ihren Liebhaber nicht länger brauchen. Das war zwar bedauerlich, doch es gab noch andere Männer – andere, besser formbare Männer.

Eine Stimme beendete die Stille, eine kratzige, tiefe Stimme, die sogar in den Ohren der Hexe klang, als würden tausend sterbende Fliegen summen. „Geduld ist eine Tugend … das sollte dieser eine wissen. Einhundertdreiundzwanzig Jahre auf dieser Ebene der Sterblichen, immer auf der Suche nach dem Kriegsherrn! So lange Zeit … und jetzt fügt sich alles zusammen …“

Galeona suchte zwischen all den Schatten nach einem ganz bestimmten, bis sie in einer Ecke des Zelts eine wabernde insektenartige Gestalt entdeckte, die nur sehen konnte, wer wirklich genau hinschaute. „Sei ruhig! Jemand könnte dich hören!“

„Niemand hört etwas, wenn dieser eine es so will“, krächzte die Stimme. „So gut kenne ich dich, Mensch …“

„Dann sei um meiner Gesundheit willen leise, Xazax.“ Die dunkelhäutige Hexenmeisterin starrte den Schatten an, näherte sich ihm aber nicht. Nicht einmal nach all der Zeit vertraute sie ihrem ständigen Begleiter.

„So empfindlich die Ohren der Menschen sind …“ Der Schatten nahm etwas mehr Gestalt an und ähnelte nun einer Gottesanbeterin, die jedoch sieben Fuß oder vielleicht noch größer zu sein schien. „… so zart und zum Scheitern verurteilt ist auch ihr Körper …“

„Du tätest gut daran, nicht vom Scheitern zu sprechen.“

Ein leises Kichern breitete sich im Zelt aus. Galeona stählte sich innerlich, da sie wusste, dass ihr Begleiter auf Widerworte nicht gut zu sprechen war.

Xazax kam näher. „Erzähle diesem einen von den mitgeteilten Visionen.“

„Du hast sie gesehen.“

„Aber dieser eine würde sie gerne von dir hören … Bitte … unterhalte diesen einen.“

„Na gut.“ Sie holte tief Luft, dann beschrieb sie Mann und Rüstung so detailliert wie möglich. Xazax hatte zweifellos alles gesehen, doch aus einem unerfindlichen Grund ließ sich der Narr von ihr die Visionen stets noch einmal schildern. Galeona versuchte das Spiel ein wenig zu beschleunigen, indem sie den Mann weitestgehend ignorierte und sich dafür auf die Rüstung und die Landschaft im Hintergrund konzentrierte.

Plötzlich fiel Xazax ihr ins Wort. „Dieser eine weiß, dass die Rüstung echt ist! Dieser eine weiß, dass sie sich auf der Ebene der Sterblichen befindet! Der Mensch! Was ist mit diesem Menschen?“

„Völlig gewöhnlich. Nichts an ihm ist besonders.“

„Nichts ist gewöhnlich! Beschreibe ihn!“

„Ein Soldat. Glattes Gesicht. Ein einfacher Kämpfer, vermutlich ein Bauernsohn, wenn man nach seinem Aussehen schließt. Nichts Außergewöhnliches eben. Ein armer Narr, der auf die Rüstung gestoßen ist und – davon ist zumindest der General überzeugt – nicht einmal ahnt, was er damit gefunden hat.“

Wieder ertönte das Kichern. Der Schatten zog sich ein wenig zurück. Als Xazax sprach, klang er zutiefst enttäuscht. „Ist es sicher, dass der Weg dieses Sterblichen in unsere Nähe führt?“

„So sieht es jedenfalls aus.“

Die finstere Gestalt wurde still. Xazax dachte offenbar über etwas nach. Galeona wartete … und wartete. Xazax hatte kein Zeitgefühl, wenn es andere betraf, sondern nur dann, wenn seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche im Mittelpunkt standen.

Zwei tiefgelbe Blitze zuckten plötzlich dort auf, wo sich der Kopf des Schattens zu befinden schien. Das, was nach dem Umriss eines Fortsatzes aussah, der in drei klauenbewehrte Finger auslief, tauchte einen Moment lang auf, war dann aber sofort wieder verschwunden.

„Dann lass ihn kommen. Dieser eine wird bis dahin entschieden haben, ob eine Puppe besser ist als eine andere …“ Xazax’ Schatten wurde unscharf, bis nichts mehr an eine Gottesanbeterin oder an ein anderes Geschöpf erinnerte. „Lass ihn kommen …“

Der Schatten verschmolz mit dem dunklen Winkel.