Diagnose: Vollhorst - Julia Reymers - E-Book

Diagnose: Vollhorst E-Book

Julia Reymers

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Beschreibung

Das Phänomen des 'Vollhorstes' ist der Germanistikstudentin Kathi vertrauter, als ihr lieb ist. Um über die Trennung von ihrer großen Liebe Lukas hinwegzukommen, stürzt sich die frischgebackene Studentin in die Suche nach einem neuen Mr Right: Doch die anfangs charmanten und attraktiven Männer entpuppen sich allesamt als absolute Vollhorste! Sie können leider gerade keine Beziehung eingehen, weil sie noch nicht bereit dazu sind, noch an ihrer Exfreundin hängen, sich selbst finden müssen, eigentlich vergeben oder schwul sind. Oder sie benehmen sich wie aufgeblasene Snobs und verweichlichte Muttersöhnchen. Auf ihrer Date-Odyssee küsst Kathi viele Frösche, ein Prinz ist aber nicht dabei. Als wäre das noch nicht genug, hat sie auch noch mit Problemen an der Uni, dem ungewohnten Großstadtleben und den Anforderungen von Facebook und Co. zu kämpfen. Wären da nicht ihr schwuler Freund Tobi, der zusammen mit zwei Mädels in einer Chaos-WG lebt, und Lena, Kathis Freundin aus Schulzeiten, hätte die Studentin wohl schon längst die Nerven verloren. Gemeinsam geht das Trio durch dick und dünn und lässt keine Studentenparty aus. Doch die 'Gretchenfrage' können auch sie nicht beantworten: Warum trifft die liebenswürdige Kathi immer nur auf Vollhorste? Während Kathi und Lena sich auf Ursachenforschung begeben, beschließt Tobi, das Problem auf seine Art zu lösen und Kathi mit seinem besten Freund zu verkuppeln. Hätte er geahnt, was für ein Durcheinander er damit auslöst, hätte er wohl nicht versucht, Amor auszutricksen. Mit Diagnose: Vollhorst legt Julia Reymers einen temporeichen und unterhaltsamen Debütroman vor. Das perfekte Buch für alle, die sich fragen, warum sie immer nur an Vollhorste geraten. Und von denen soll es ja nicht wenige geben.

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Seitenzahl: 362

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Julia Reymers

Diagnose: Vollhorst

Roman

Auszug aus dem »Handbuch vom Horst – Eine Einführung in das Gebiet der Horstologie«

Vollhorst (lat. horstus totalus), höchste Steigerungsform von Horst, einer nur aus Männchen bestehenden, zur Ordnung der Primaten zählenden Gattung. Sie ist auf allen Kontinenten verbreitet, ihr bevorzugter Lebensraum ist jedoch die Großstadt. Das äußere Erscheinungsbild des Vollhorstes kann variieren, daher gestaltet sich die Zuordnung bisweilen recht schwierig. Die jüngere Forschung unterscheidet zwei Vollhorst-Untergattungen:

Der einfache Vollhorst (horstus totalus simplex) trägt Anorak und Hochwasserhosen sowie Socken und Sandalen, wahlweise auch praktische Schnürschuhe. Er fällt durch das Treten in Fettnäpfchen und allgemeine »Horstigkeit«, sprich Naivität bis mangelnde Intelligenz auf. Obwohl er weitverbreitet ist, ist er im Allgemeinen nicht als gefährlich einzustufen.

Schwerer zu identifizieren ist der höher entwickelte Vollhorst (horstus totalus elaboratus). Er besitzt ein unauffälliges bis sehr attraktives Erscheinungsbild und ist elegant bis sportlich gekleidet. Vor seinem Opfer, dem weiblichen Geschlecht, kann er sich hervorragend durch das Vortäuschen von Gentlemen-Manieren tarnen. Seine Jagdstrategie ist variabel, der Vollhorst elaboratus erschleicht sich meist das Vertrauen seines Opfers, um es in einem Überraschungsmoment zu zerstören und sich dann mit Genugtuung zurückzuziehen. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist nicht abzuschätzen.

Ein Mittel gegen Vollhorste ist bislang nicht bekannt.

Prolog

Krisensitzung, die erste

»Er hat … er hat gesagt …« Ich japste nach Luft und versuchte erfolglos, die Tränen zurückzuhalten. »Er hat gesagt, dass wir eine Pause einlegen müssen.«

Lena starrte mich mit großen Augen an, packte mich am Arm und zog mich durch die halb geöffnete Wohnungstür. »Setz dich hin.« Sie platzierte mich auf ihrem knallroten Sofa, wühlte in einer Schublade und warf mir ein Paket Tempos zu. »Ich bin gleich wieder da.«

Ich saß wie ein Häufchen Elend in ihrem Wohnzimmer, als sie nach einer gefühlten Ewigkeit mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurückkehrte. Neben mir hatte sich bereits ein Berg aus Taschentüchern aufgetürmt, den Lena mit einer resoluten Handbewegung zur Seite fegte. »Wie siehst du denn aus?«

Ich hätte besser nicht in meinen Taschenspiegel geschaut, denn Saw 1-4 waren nichts gegen das personifizierte Grauen, das mir entgegenblickte: Ich war leichenblass und die Wimperntusche hatte ein abstraktes Kunstwerk auf meinen Wangen hinterlassen. Heutzutage war aber auch auf nichts mehr Verlass, dachte ich trotzig. Sogar meine »Ultra-Double-Strength-Waterproof«-Mascara hatte eine Bindungsphobie.

»Jetzt trinkst du erst mal etwas.« Lena öffnete umständlich die Weinflasche.

»Nein, ich …« Ein Tsunami war nichts gegen die Wassermassen, die mein Gesicht überfluteten.

»Keine Widerrede.« Lena griff hinter das Sofa und drückte mir ihr abgenutztes Leopardenplüschkissen in die Hand. »Das hilft immer, schön festhalten. Und jetzt Mund auf.« Erbarmungslos verabreichte sie mir den Wein, wie eine strenge Mutter ihrem kranken Kind den Hustensaft. »So, ein Schlückchen für Lena, eins für Mama, Papa und Fab–«

»Erwähn seinen Namen nicht!« Ich verschluckte mich fast. »Ich will nie wieder was von diesem Arsch hören!«

»Okay, das scheint heikel zu werden.« Lena schenkte beherzt von ihrem »Allheilmittel« nach.

Trotzig kippte ich das Zeug herunter. »Er hat mich abserviert!«

»Was?« Lena ließ beinahe die Weinflasche fallen.

»Wegen seiner Ex!«

»Wie bitte?«

»Dieser verlogene, abartige, widerliche, heuchlerische, dämliche, minderbemittelte, bindungsunfähige …« Verzweifelt suchte ich nach weiteren Schimpfwörtern. »Dieser beschissene … VOLLHORST!«, brüllte ich schließlich.

»Kathi, beruhige dich!«

»Ich beruhige mich, wenn ich das will!« Wütend schlug ich mit der Hand auf den Tisch. »Mir reicht’s! Dieser unfähige Typ kann mich mal!« Meine Fingernägel in das unschuldige Plüschkissen gekrallt, redete ich mich weiter in Rage. »Ich habe es satt. Ich HASSE das Singledasein. Ich will nicht mehr stundenlang Outfits zusammenstellen, die meinen Hintern kaschieren, nur um ihn dann in Bars, Restaurants und Kinos platt zu sitzen, am Ende die Rechnung teilen zu müssen und nie zurückgerufen zu werden! Mein Beziehungsstatus soll nicht mehr irgendetwas zwischen ›Es ist kompliziert‹ und ›friendwithbenefits‹ sein, dem man nachts um drei SMS mit Hey, was machst du? schickt.« Rabiat pfefferte ich Plüschi auf den Boden. »Ich will nicht mehr warmgehalten, auf später vertröstet, verarscht und belogen werden, noch BEVOR ich überhaupt mit jemandem zusammen bin. Ich will nicht mehr diejenige sein, mit der man vielleicht, in zwei Monaten oder NIEMALS eine Beziehung führen kann, weil er leider gerade nicht bereit ist, an seiner Ex hängt, sich selbst, seine Mitte oder den Sinn des Lebens finden muss, oder weil er einen kleinen Schwanz hat!«

»Boom Schakalaka!« Lena prostete mir zu. »Lass es raus!«

Mit heroischer Miene griff ich nach dem Weinglas und leerte es auf ex. Als ich mich etwas beruhigt hatte, fügte ich nüchtern hinzu: »Eigentlich ist es auch scheißegal, was Fa-bian«, ich sprach seinen Namen so aus, wie man einen ekligen Gegenstand mit spitzen Fingern anfasste, »was dieser Typ für ein Problem hat. Vollhorst bleibt Vollhorst. Und ich bleibe Single.«

Tja, sollte das Guinnessbuch der Rekorde noch eine Kandidatin mit dem höchsten Männerverschleiß aller Zeiten suchen, hier war sie: Katharina Wietholz, 22 Jahre alt, Germanistikstudentin aus dem Kaff Horst! Mein hysterisches Lachen wurde von einem neuen Sturzbach an Tränen erstickt. Etwa eine Stunde und eineinhalb Weinflaschen später war die Stimmung jedoch deutlich aufgehellt, oder jedenfalls nahm ich mein Leid nur noch so schemenhaft wahr wie durch einen Instagram-Filter.

»Kathi«, begann Lena, setzte sich im Schneidersitz vor mich und nahm ihr heiß geliebtes Trostkissen in den Arm. »Ich verstehe einfach nicht, was bei dir schiefläuft. Warum entpuppen sich alle deine Kandidaten früher oder später als absolute Vollhorste?«

»Wwwennichdaswüsse …«, lallte ich und hob trotzig die Schultern. Ich hätte bequem in meinem Wattebausch aus Selbstmitleid verweilen können, doch das würde Lena nicht zulassen.

»Ich habe eine Idee.« Entschlossen zog sie an dem Haarband, das sie immer an ihrem Handgelenk trug, doch bei dem Versuch, ihre wallenden hellblonden Haare zusammenzubinden, ließ sie es immer wieder herunterfallen. Schließlich wankte sie zum Wohnzimmerschrank und holte einen Block und einen Stift hervor. »Wie lange bist du jetzt schon Single?«

»Ssseit fas’ zwei Jahren.« Ich griff nach dem letzten roten Gummibärchen aus der Schale, die Lena in Krisenfällen immer mit »Nervennahrung« füllte. »Bohr noch in der Wunde rum.«

»Wie viele Männer hast du in den zwei Jahren kennengelernt?«

»Woher soll ich’n das wissen?« Ich sprang wütend auf und geriet dabei leicht ins Taumeln. »Ich melde das doch nicht dem Statistischen Bundesamt.«

»Solltest du aber! Wir machen jetzt eine Liste von allen Dates, die du hattest. Und dann analysieren wir die schlimmsten Fälle.«

»Du spinnst.« Ich verschränkte die Arme zum Zeichen meines Protests, aber Lena kritzelte schon die ersten Namen auf das Blatt. »Matthias, Viktor, Jan, Felix, Florian, David …«, murmelte sie und blickte dann fragend hoch. »Los, du musst mir helfen. Ich hab den Überblick verloren.«

»Du bist verrückt.« Ich schüttelte den Kopf.

»Katharina Margarete, ich meine das ernst.«

»Nenn mich nicht Margarete!« Ich hasste es, wenn man mich mit meinem Zweitnamen anredete. Die Zeiten, in denen ich das unschuldige Gretchen gewesen war, waren längst vorbei.

»Ich nenn dich, wie ich will.« Lena konnte sehr bestimmt sein. »Du erzählst mir jetzt alles der Reihe nach. Von A bis Z. Wir fangen im Oktober vor zwei Jahren an, nachdem Lukas sich von dir getrennt hat.«

»Auch das noch! Dann will ich aber Schokolade haben.« Ob meine Hüften und mein Hintern noch ein paar Zentimeter breiter werden würden, interessierte mich ehrlich gesagt jetzt auch nicht mehr. Das Kind war eh in den Brunnen gefallen.

»Wie du meinst.« Lena verschwand in der Küche und kehrte mit einer XXL-Tafel »Cookies & Creme« zurück, meiner absoluten Lieblingssorte.

»So und jetzt fang an, das könnte ja etwas dauern …«

»Na gut«, willigte ich ein und brach mir ein großes Stück Schokolade ab. »Also …«

1

Der einfache Vollhorst (horstus totalus simplex)

2 Jahre zuvor – Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Schwupps, da war er also. Ich wunderte mich, wie unspektakulär der Wisch aussah, der mir schwarz auf weiß den Start in ein neues Leben verkündete.

»Immatrikulationsbescheinigung«, las ich laut vor, als ob ich mich vergewissern müsste, dass es wirklich so weit war: Ich war eine frisch gebackene Studentin! 20 Lebensjahre, 13 Jahre Schule, garniert mit anstrengenden Abiturprüfungen – das alles, nur um dieses Papier in den Händen zu halten? In meinem Bauch kribbelte es bei dem Gedanken daran, was mich erwarten würde: Die Großstadt Hamburg, viele neue Gesichter, ein aufregendes Studentenleben, Partys, heiße Studenten, die mir in der Mensa über den Weg laufen würden … ach ja, die Vorlesungen nicht zu vergessen.

»Immaku-was?«, wurde ich unsanft aus meinen Träumen gerissen.

»Im-ma-tri-ku-la-tions-be-sch-ei-ni-gung«, wiederholte ich gedehnt.

»Immatrikution? Was ist das schon wieder für ein neumodischer Kram?«

»IMMATRIKULATION«, brüllte ich nun beinahe.

»Wat?«, schallte es mir erneut entgegen.

»Oma!«, rief ich genervt und hielt ihr den Briefumschlag vor die Nase. »Das ist die Zusage für meinen Studienplatz an der Universität Hamburg!«

»Nu segg dat doch gleich, Katharina Margarete!«

»Ich heiße Kathi, verdammt noch mal!« In gespieltem Ärger knuffte ich meiner Oma in die Seite, um ihr dann freudestrahlend um den Hals zu fallen. »Ich freu mich so!«

»Und ich erst, mien Deern!« Oma Margarete, von der ich meinen ungeliebten Zweitnamen geerbt hatte, drückte mich noch einmal fest an sich.

Sie war wirklich eine bemerkenswerte Person. Obwohl sie schon 81 Jahre alt war, hatte Oma in jeder Situation den passenden Spruch parat. Und immer wenn sie sich aufregte, begann sie, auf Plattdeutsch zu reden, was mitunter etwas anstrengend werden konnte. Auf jeden Fall hielt sie mit ihrer Meinung nie hinterm Berg, denn ihr Wille war mindestens genauso unbezwingbar wie ihre störrischen Haare. Oma Margi, wie ich sie liebevoll nannte, kämmte sich ihre Haarpracht jeden Morgen akkurat zurück, doch spätestens am Nachmittag wölbten sich die ersten Strähnen hervor, um sich am Abend wie ein Vogelnest um ihren Kopf zu kräuseln. Leider hatte ich nicht nur Omas Namen, sondern auch ihre krausen Haare geerbt. Ich hätte ja nichts gegen richtige Locken gehabt, aber meine Haare standen einfach nur wirr in alle Richtungen ab. »Frisur« war ein Fremdwort für mich. Ein Experiment bei unserem Dorffriseur Manuel (»Jetzt schneiden wir dir mal etwas richtig Freches«) hatte mich zu der Erkenntnis geführt, mein haariges Schicksal zu akzeptieren. Lieber eine bedingungslose Kapitulation als weitere Kollateralschäden, dachte ich mir und begnügte mich von da an mit der preiswerten Blondtönung »Golden Summer« aus der Drogerie um die Ecke. Auch wenn die bei mir mehr nach regnerischem Herbstschlamm aussah. Das Einzige, was mir an meinem Aussehen gefiel, waren meine langen, dichten Wimpern und meine Augenfarbe, die je nach Lichteinfall grün oder blau schimmerte. Leider war das nur nicht das Merkmal, das bei den Männern auf der »Oh-Mann-ist-die-geil«-Liste ganz oben stand.

»Ich bin stolz auf dich, Kathi«, riss Oma Margi mich aus den Gedanken. »Wenn ich damals hätte studieren können …« Sie guckte sehnsüchtig aus dem Fenster, hinter dem sich endlose Felder ausbreiteten. »Ich hab nicht mal einen Beruf erlernt.« Sie seufzte, aber sofort umspielte wieder ein Lächeln ihre Lippen. »Was studierst du noch mal? Ich vergesse das immer.«

»Germanistik, Oma, zum tausendsten Mal.« Ich verdrehte die Augen. »Papa ist davon immer noch nicht sehr begeistert.«

»Der soll sich mal nicht so anstellen! Du bist 20 Jahre alt und musst selbst entscheiden, was du mit deiner Zukunft anstellen willst.«

»Ich weiß, aber er bezahlt die Studiengebühren. Und eigentlich sollte ich Agrarwissenschaften studieren.« Das schlechte Gewissen breitete sich wie ein schaler Geschmack in meinem Mund aus.

»Ihr habt ein faires Abkommen. Du hilfst Papa auf dem Hof und er unterstützt dich finanziell. Ganz nebenbei kümmerst du dich auch noch um mich alte Schachtel.«

»Ach Oma, das mach ich doch gerne.«

Mit gemischten Gefühlen setzte ich mich auf das gemütliche Sofa, das seit Generationen im Familienbesitz war. Es musste mindestens so alt sein wie unser Bauernhof, auf dem schon meine Großeltern aufgewachsen waren. Mittlerweile war der Betrieb zwar um über die Hälfte geschrumpft und auf den Anbau von Biogemüse reduziert, doch das Haus, in dem seit Opas Tod vor fünf Jahren nur noch ich, meine Eltern und Oma lebten, war unverändert.

Das Sofa passte perfekt in unser kleines Wohnzimmer, das bisher jedem Trend erfolgreich widerstanden hatte: Zur Einrichtung gehörten ein riesiger Perserteppich, von dem Oma sich – sehr zum Ärger meiner Mutter – nicht trennen konnte, eine Vitrine mit kitschigen Porzellanfiguren und eine nervtötende Standuhr, die zu jeder vollen Stunde die »Big Ben«-Melodie spielte. Gar nicht ins Bild passte der moderne Flachbildschirm, auf den mein Vater jahrelang gespart hatte, und das abstrakte Gemälde an der Wand, das Mama für einen guten Zweck auf einem Weihnachtsbasar erworben hatte. Das Herzstück aber war Oma Margis Schaukelstuhl, auf dem sie ganz unschuldig hin- und herschaukelte, wenn sie nicht gerade meine Eltern in den Wahnsinn trieb oder in der Küche stand, um mir etwas zu kochen.

Oma Margarete war wie eine Mutter für mich. Sie hatte mich aufgezogen, während meine Eltern den ganzen Tag auf den Feldern verbracht hatten. Nach der Schule hielt ich mit Oma immer ihren »Lieblingsklönschnack« ab, wie sie dieses lieb gewonnene Ritual nannte. Oder wir fütterten Hermann, unser Hausschwein. Ja, das war kein Scherz, wir hatten wirklich ein Hausschwein. Als wir vor fünf Jahren unsere Schweinezucht aufgeben mussten, konnte meine Mutter sich nicht von Hermann trennen, wie sie das kleinste und schwächste der Ferkel getauft hatte. Von Anfang an war dieses Schweinchen anders als die anderen: Es fraß kaum und humpelte zu allem Übel auch noch. Aus irgendeinem Grund blieb Hermann kleinwüchsig und sein rechtes Hinterbein stets kürzer als die anderen. Das war aber kein Grund für meine Mutter, ihn nicht abgöttisch zu lieben und als Haustier von vorne bis hinten zu verwöhnen. Seitdem lief Hermann tagsüber frei auf dem Hof herum und da die Haustür bei uns immer offen stand (ausgetretene Straßenlaternen waren seit Jahren das einzige kriminelle Ereignis in Horst), konnte es schon mal vorkommen, dass Hermann sich in die Küche verirrte. Wir hatten lange gerätselt, wieso das Schwein sich dort so gerne aufhielt. Eines Tages konnte ich das Rätsel lösen: Als mein Vater sich unbeobachtet fühlte, steckte er Hermann einen Apfel aus unserem Obstkorb zu. Gerade er, der sich über die »Verpütscherung« von Tieren immer aufregte und immer über das arme Schwein schimpfte!

Nachdenklich blickte ich aus dem Fenster, im einträchtigen Schweigen mit Oma. Ich saß in meiner Lieblingsecke des Sofas, wo sich über die Jahre eine richtige Delle gebildet hatte. Leider wurde mit der Zeit nicht nur die Delle, sondern auch mein Hintern immer breiter. Ich zog die Nase kraus, als ich mit einem Griff an die Hüfte feststellte, dass sich auch dort ziemlich viel Speck festgesetzt hatte. Und das alles nur wegen Lukas!

Es lag keine einfache Zeit hinter mir – nicht nur weil ich im Abitur- und Uni-Bewerbungsstress kaum noch wusste, wo mir der Kopf stand. Wie aus dem Nichts heraus hatte mir mein Freund Lukas vor drei Monaten verkündet, dass er sich von mir trennen wolle. Es sei einfach die Luft raus aus unserer Beziehung, wie er mir kurz und knapp entgegengeschmettert hatte. Ich verstand die Welt nicht mehr, denn wir passten perfekt zusammen! Wir waren beide in demselben Dorf aufgewachsen, hatten über alles die gleichen Ansichten, konnten miteinander lachen, weinen und schweigen, aßen am liebsten Wiener Schnitzel und guckten immer zusammen Bauer sucht Frau. Außerdem las Lukas mir jeden Wunsch von den Augen ab, brachte mir Blumen mit, überraschte mich mit wundervollen Geschenken zu Geburtstagen, Jahrestagen oder einfach nur so. Kurzum: Es war alles perfekt. Er war der perfekte Mann für mich. Ich war die perfekte Frau für ihn. Ich hatte uns schon in der Hochzeitskutsche zur Dorfkirche fahren sehen.

Und plötzlich sollte nach zwei Jahren die Luft raus sein?

Ich versuchte alles, um unsere Beziehung zu retten. Ich machte ihm eine Szene, heulte, wurde wütend, traurig, entschuldigte mich für Sachen, die ich nie getan hatte, und schrieb ihm ellenlange Nachrichten auf Facebook. Doch es half nichts. Irgendwann war er so genervt von mir, dass er den Kontakt abbrach. Seine letzten Worte am Telefon waren, dass unsere Beziehung einem Luftballon glich: Erst war sie prall und schön, doch dann verlor sie langsam, aber stetig an Umfang, bis sie immer kleiner und kleiner wurde und schließlich drohte, ganz zu verschrumpeln. Er wollte nicht, dass wir als luftleeres Häuflein Elend endeten. Also hatte er sich dazu entschlossen, eine Nadel zu Hilfe zu nehmen und – Peng! – dem Ganzen ein Ende zu setzen.

Leider hatte er dabei nicht beachtet, dass man sich selbst als verstümmelter Luftballon noch besser fühlte als ich mich nach unserer Trennung. Ich verstand nicht, dass jemand einfach so die Gefühle für einen Menschen verlieren konnte, den er vorher sehr geliebt hatte. Tage- und nächtelang grübelte ich, was ich falsch gemacht hatte. Noch nie in meinem Leben war es mir so schlecht gegangen. Erst aß ich ganze drei Tage lang nichts und versteckte mich in meinem Bett, nur um in den nächsten zwei Wochen alles Essbare in mich hineinzustopfen und fünf Kilo zuzunehmen. Nicht einmal Oma Margi konnte mich aufmuntern, obwohl ihre frechen Sprüche sonst nie ihre Wirkung verfehlten.

»Wat biste denn so still, mien Deern? Immer noch wegen dem Dösbaddel Lukas?«, fragte sie, als ob sie meine Gedanken lesen könnte.

»Nein«, wehrte ich ab und wollte etwas sagen, doch mir fehlten die richtigen Worte. Zwar war ich noch nicht über Lukas hinweg, aber mir ging es deutlich besser. Was war es denn, was mich so ins Grübeln versetzte?

»Vielleicht will ich doch gar nicht studieren«, platzte es aus mir heraus.

»Nun red mal keinen Quatsch!« Oma beugte sich entrüstet nach vorn, sodass ihr Lehnstuhl ein lautes Knarren von sich gab.

»Ja, aber ob Germanistik die richtige Wahl war?« Mein Verstand erstellte simultan eine ellenlange Liste mit Gründen, die gegen mein Fach sprachen: brotlose Kunst, kein Arbeitsplatz, staubtrockenes Studium … Mal ganz abgesehen davon, dass der Frauenanteil in diesem Fach bei etwa 99,9 Prozent lag. Adieu, universitärer Heiratsmarkt!

»Kathi, wir haben das Thema doch zur Genüge diskutiert.« Ich zuckte zusammen, denn ich hatte gar nicht bemerkt, dass meine Mutter ins Wohnzimmer getreten war. »Papa und ich sind zwar nicht, sagen wir mal –«, sie hielt kurz die Luft an, »uneingeschränkt begeistert, aber es ist letztendlich deine Entscheidung. Wir unterstützen dich, solange du deine Pflichten auf dem Hof wahrnimmst.«

»Ich weiß«, sagte ich und seufzte. Dieser Deal bedeutete allerdings: Ich musste bei meinen Eltern wohnen bleiben und auf dem Hof helfen, während meine beste Freundin Lena direkt nach Hamburg zog. Nun würde ich täglich von der Infrastruktur der Metropole Horst profitieren können. Horst–Hamburg in ökonomischen 77 Minuten und die Pünktlichkeit der deutschen Bahn gab es gratis dazu!

Kein Scherz, das Dorf hieß wirklich so. Ich verstand echt nicht, wieso Horst nicht schon längst zum UNESCO-Weltkulturerbe erkoren worden war, denn allein für seinen Namen verdiente es das Bundesverdienstkreuz: Wer möchte schon in einem Ort wohnen, dessen Name ein Synonym für absolute Volltrottel ist? Den etwa 857 Seelen, die dort vor sich hin vegetierten, fügte diese Ortsbezeichnung wohl nur deshalb kein Trauma zu, da ungefähr 80 Prozent von ihnen das Mindesthaltbarkeitsdatum sowieso längst überschritten hatte.

Vielleicht hatte ich meine Studienwahl jedoch gerade der Tatsache zu verdanken, dass Horst kulturell und freizeittechnisch einem atomaren Ground Zero glich. Seit ich lesen konnte, flüchtete ich mich in meine Bücherwelt, ich konnte mich stundenlang mit Geschichten, ihren Charakteren und Ereignissen auseinandersetzen. Ein Buch aufzuschlagen, seinen ganz besonderen Geruch einzuatmen und mit dem Finger die Buchstabenreihen entlangzufahren war für mich wie der Eintritt in eine andere Welt, ein Urlaub von dem öden Landleben. Am liebsten mochte ich Liebesgeschichten. Ich hatte sogar ein paar romantische Kurzgeschichten verfasst, doch die versteckte ich in einer Schachtel ganz hinten im Kleiderschrank. Gnade mir Gott, sollte sie jemals einer finden.

»Kathi, hörst du mir überhaupt zu?« Meine Mutter strich sich ihr kurzes braunes Haar zurück und stemmte die Arme in ihre breiten Hüften. »Ich hab dein Lieblingsessen gemacht, Wiener Schnitzel. Kommst du nicht zum Essen?«

»Ja, Mama.« Jetzt ist es sowieso zu spät, meine Wahl zu ändern, dachte ich. Denn nächste Woche war schon mein erster Tag an der Uni.

Odyssee, die erste

Molekulargenetische und anatomische Vergleiche beweisen die enge biologische Verwandtschaft des Vollhorstes mit dem Vollpfosten. Dagegen ist umstritten, ob der Dösbaddel als ein plattdeutscher Vorläufer bewertet werden kann.

»Wo zum Teufel bin ich?« Verzweifelt blieb ich stehen. Vor mir lag eine vierspurige Hauptverkehrsstraße, aber nicht der Philosophenturm, den ich seit etwa einer Stunde suchte. Eigentlich dürfte das riesige Ungetüm mit seinen 14 Stockwerken doch nicht zu übersehen sein. In ihm hatten die Geisteswissenschaftler der Universität Hamburg ihre Heimat und somit würde auch mein erstes Seminar dort stattfinden. Hilflos drehte ich die Karte hin und her, doch es war sowieso schon zu spät: Ich hatte vollends die Orientierung verloren.

In meinem Heimatdorf war alles etwas übersichtlicher: Dort gab es nicht einmal mehrspurige Straßen, geschweige denn verschiedene Buslinien, mit denen man sich verfahren konnte. Genau das schien mir jetzt passiert zu sein. Ich war an der »Hallerstraße« ausgestiegen und hatte mich dann verirrt. Nervös schaute ich auf die Uhr. Meine erste Veranstaltung fing in zehn Minuten an! Panisch und den Tränen nahe, fragte ich zum gefühlten hundertsten Mal einen Passanten nach dem Weg. Der ältere Herr schien Mitleid mit mir zu haben und begleitete mich ein Stück, sodass ich es nach einer geschlagenen Stunde und zehn Minuten endlich schaffte, an mein Ziel zu kommen.

Im Gegensatz zu mir hatte Homer auf seiner Odyssee eine dynamische Route gewählt.

Doch damit war der Irrsinn noch nicht beendet. Die Suche nach dem richtigen Raum gestaltete sich ebenfalls komplizierter, als ich gedacht hätte. Woher sollte ich denn wissen, dass Raum 956 sich auf der rechten Seite des neunten Stocks befand und nicht auf der linken, auf der ich etwa 15 Minuten lang verzweifelt auf und ab rannte?

Als ich endlich im Seminar ankam, war die Sitzung natürlich schon in vollem Gange. Alle Köpfe drehten sich nach mir um und betrachteten mich wie eine Außerirdische, als ich hochrot und völlig durch den Wind neben der Tür stehen blieb.

»Na, dann können Sie sich ja gleich mal als Erste vorstellen«, sagte die Dozentin, eine nicht mehr ganz junge, extrem dünne Frau mit den schmalsten Lippen, die ich je gesehen hatte. Blöde Kuh, hätte ich am liebsten gerufen, doch ich brachte stattdessen nur ein gestammeltes »Hallo« heraus. Verzweifelt blickte ich mich nach einem freien Stuhl um. In Ermangelung dessen blieb ich jedoch stehen, verschwitzt, außer Atem und die krausen Haare wie ein explodierter Handfeger in alle Richtungen abstehend.

»Wir warten?« Die Dozentin, die höchstwahrscheinlich Frau Müller-Rosenbrecht war, hob ihr spitzes Kinn und sah mich erwartungsvoll an.

»Äh, ich bin Katharina Wietzholz und studiere im ersten Semester Germanistik. Äh, und ich komme aus Horst.« Ich erntete ungläubige Blicke und ein betretenes Schweigen, ehe die ersten loskicherten.

»Aus Horst?«, echote ein Junge, der mich mit seiner Baskenmütze und den langen schwarzen Haaren entfernt an Che Guevara erinnerte.

»Ja, aus Horst. Liegt in Niedersachsen.«

»Aha«, meinte er nur, grinste und rückte sich die Kappe zurecht.

»Hat jemand vielleicht einen Stuhl für mich?«, fragte ich mit piepsiger Stimme.

Gnädigerweise fand sich noch ein freier Platz in der ersten Reihe, der Anlaufstelle für die Freaks und Streber. Ich setzte mich neben einen Jungen im schwarzen Ledermantel, der düster aus dem Fenster starrte.

Willkommen in der Hölle, dachte ich. Wo bin ich hier bloß gelandet?

Single (lat. singulus, homos unos)

Nun war ich also »Single«. Das kleine, aber gemeine Wort, das, wenn man es sich auf der Zunge zergehen ließ, eine Geschmacksexplosion aus »alleine«, »verlassen«, »deprimiert« und »fünf Kilo zu viel auf den Hüften« ergab. Aber nicht mit mir! Ich würde von nun an einer dieser coolen, mondänen und zu beneidenden Singles sein. Ich würde mich selbst neu erfinden, mein Leben mit erfüllenden Dingen bereichern und bis in die letzte Faser meines Körpers unabhängig sein! Ach ja, die Seele aus dem Leib feiern würde ich mir auch.

So weit der Plan. Doch jetzt stand ich verlassen auf der Tanzfläche, die Füße brannten in den High Heels und mein Bauch fühlte sich in der kneifenden Jeans an wie der zusammengepresste Inhalt eines Koffers. Ja, genau wie einer, auf den man sich mit vollem Gewicht setzen musste, um den Reißverschluss zu schließen. Dazu bekam mein Magen regelmäßig dumpfe Schläge vom Ellenbogen des wild tanzenden Mädchens neben mir ab. Und dann war auch noch Lena spurlos in diesem Hexenkessel aus Erstsemesterstudenten verschwunden! Bevor irgendjemandem meine missliche Lage als stehen gelassener Vollpfosten auffiel, genehmigte ich mir einen Drink an der Bar. War auch erst der dritte, oder äh, vielleicht der vierte an diesem Abend.

War mir schwindelig, oder warum drehte sich die Mensa, in der die Studentenparty stattfand, plötzlich wie ein Kettenkarussell? Ich entschied, ein wenig frische Luft zu schnappen, denn ich wollte nur noch eines: raus aus diesem Sodom und Gomorrha! Seit ich als Kind im Fahrstuhl eines Kaufhauses stecken geblieben war, bekam ich Panikattacken, wenn ich mich eingeengt fühlte. Es fing mit Kurzatmigkeit, Schwitzen und Schwindel an und konnte sich – Gott bewahre – bis zum Übergeben steigern. Ja, ich hatte einen Reizmagen, der auf so ziemlich alles höchst empfindlich reagierte. Da half auch keine Entspannungstechnik wie dieses blöde autogene Training, das mir mein Hausarzt immer andrehen wollte. Ohne Rücksicht auf Verluste drängelte ich also gen Ausgang. Leider traf dabei die Spitze meines Ellenbogens ziemlich unsanft auf die Magengrube eines Studenten. Er krümmte sich vor Schmerz.

»Oh, entschuldige!« Ich fragte ihn zerknirscht, ob alles okay war.

Er grinste nur gequält und nahm meine Entschuldigung an.

Ich stellte überrascht fest, dass er echt süß aussah. Zwar war er kein Adonis, aber in seinem grauen Sweatshirt und der etwas zu groß geratenen Jeans hatte er etwas Niedlich-Unschuldiges an sich. Seine Haarfarbe war irgendwas zwischen Rot und Braun, so genau konnte ich das im Dämmerlicht nicht erkennen. Trotz der unsanften Begrüßung kamen wir schnell miteinander ins Gespräch. Er hieß Matthias, war 22 Jahre alt und studierte im dritten Semester Physik. Nicht gerade mein Traumstudiengang, aber ich wollte für den Anfang nicht zu hohe Ansprüche stellen.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Matthias.

»Gerne.« Meine Panik war plötzlich wie weggeblasen. Singleleben, freie Fahrt voraus!, dachte ich und folgte ihm zurück an die Bar, an der ein Gedränge herrschte, als ob es die letzten Jahre nichts zu trinken gegeben hätte.

»Bist du alleine hier?« Er rieb sich nervös mit dem Zeigefinger an der Nase.

»Nein, eigentlich nicht.« Ich bestellte einen Wodka. »Ich bin mit meiner Freundin Lena hier, aber die ist plötzlich verschwunden.« Ich hob ratlos die Schultern.

Lena war mit ihren langen blonden Haaren und ihrer Modelfigur ein Männervamp, wie er im Buche steht. Egal wo wir hingingen, sie schaffte es immer, sich in Sekundenschnelle einen heißen Typen zu angeln und sich mit ihm zu vergnügen. Was das anging, hatte sie wirklich keinerlei Skrupel. Immerhin hatte sie mir einige Jahre Singledasein voraus und konnte entsprechend mehr Übung vorweisen.

Ich beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen und den unerwarteten Flirt in vollen Zügen zu genießen. Matthias spendierte mir noch zwei weitere Drinks, ehe ich mich mit einer Runde Kurzen revanchierte.

»Hui, das haut ja rein!« Ich kicherte, als mein Getränk überschwappte und direkt in meinen Ausschnitt tropfte.

»Oh, brauchst du ein Taschentuch?« Unbeholfen kramte er in seiner Hosentasche.

»Danke, das geht schon«, murmelte ich und nestelte an meinem BH herum, dessen mit Strass besetzter Träger sich immer an meinem Top verhakte. Gut, dass niemand wusste, dass ich einen dieser sündhaft teuren Mega-Push-up-BHs mit aufblasbaren Einlagen trug. Genervt zog ich an dem widerspenstigen Träger – und plötzlich machte es »Zissssschh!«.

Erschrocken starrte ich auf mein Dekolleté, das auf der rechten Seite wie von Zauberhand zusammenschrumpfte.

»Scheiße!« Ich hatte bei meiner Aktion irgendwie das aufblasbare Kissen meines BHs geöffnet! Feuerrot im Gesicht hielt ich mir die Hand vor die rechte Brust. »Ich, ähm, muss jetzt mal los.«

Matthias starrte neugierig auf mein Top. Als er meinen Blick bemerkte, schaute er jedoch beschämt zur Seite und kratzte sich an der Nase. Täuschte ich mich, oder war das eine merkwürdige Angewohnheit von ihm? Ich drehte mich weg und wollte Hals über Kopf davonstürmen, doch er hielt mich an der Schulter fest und fragte so flehend nach meiner Handynummer, wie ein Ertrinkender sich an einen Rettungsreifen klammerte. Er tat mir irgendwie leid, sodass ich sie schnell runterratterte und dann die Biege machte.

»Hey, da bist du ja!« Als ich ins Freie trat, fiel Lena mir überschwänglich um den Hals, als hätten wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen. »Oh, was ist denn mit deinen Brüsten passiert?« Sie verfiel in schallendes Gelächter. »Das sieht ja komisch aus!«

»Frag nicht. Sag mir lieber, wo du die ganze Zeit gesteckt hast.«

Ich war ziemlich sauer auf sie.

»Ach, ich war draußen mit diesem süßen Typen, du weißt doch, der mich an der Bar angesprochen hat …«

»Hm.« Ich hatte absolut keine Lust, mir ihre x-te Knutschstory anzuhören.

»Oh, der war so niedlich! Er studiert auch BWL und wohnt bei mir in der Nähe …« Lena schien sich nicht an meiner Müdigkeit zu stören und verfiel in einen endlosen Redeschwall, dem ich nur mit halbem Ohr folgte.

Ich musste zugeben, dass ich etwas neidisch auf meine beste Freundin war, denn sie hatte sich in den letzten Jahren radikal verändert. Als wir uns in der Grundschule angefreundet hatten, war sie genauso unscheinbar gewesen wie ich. Lena lebte bei ihrer alleinerziehenden Mutter, die sich mit Aushilfsjobs gerade so über Wasser hielt und wie meine Eltern an allen Ecken und Kanten sparen musste. Dementsprechend trugen wir keine coolen Jeans, hatten kein Nokia 3210 und mussten uns die Bravo Hits 32 und das Tamagotchi vom Taschengeld absparen – halt all die Sachen, die für uns 90er-Jahre-Kids den Unterschied zwischen »cool« und »uncool« ausmachten. Wir trafen uns fast jeden Nachmittag, lästerten über die blöden Mitschüler ab, die uns nicht in ihre Geheimclubs aufnehmen wollten, und schwärmten beide (erfolglos) für Patrick, den süßesten Jungen aus unserer Klasse. Wir waren wie Hanni und Nanni, wir passten zusammen wie das Happy Meal und das Spielzeug, wie Siegfried und Roy.

Es hätte alles ewig so weitergehen können, wäre uns nicht die Pubertät dazwischengekommen. Lena entwickelte schnell ein überaus reges Interesse für das andere Geschlecht, während ich Spätzünder erst mit 17 meinen ersten Kuss bekam. Sie nahm mehrere Kilos ab, ließ sich die Haare blondieren und begann, sich kunstvoll die Augen mit Concealer und Kajal zu umranden, während ich nur einen Labello besaß. Leider wurde sie mit der Zeit immer attraktiver, während ich – nun ja, ich wurde einfach älter.

»Kathi, hörst du mir überhaupt zu?« Lena zupfte an ihrem Seidentop und tippte nebenbei auf ihrem iPhone. Seit sie vor zwei Monaten in ihre WG nach Hamburg gezogen war, zeigte sie permanent dieses geschäftige »Großstadtgehabe«: ständig am Telefonieren, Tippen und Auf-dem-Sprung-Sein, ganz zu schweigen von ihrem neuen Look, irgendwas zwischen Vintage und Hipster, so genau kannte ich mich da nicht aus.

»Sag mal, wollen wir nicht langsam nach Hause?« Ich war so müde, dass ich auf der Stelle einschlafen konnte.

»Hmm«, murmelte sie und tippte weiter wild auf ihr Handy ein, als würde sie einen verbissenen Kampf führen.

»Geile Titten!«, brüllte mir ein Typ hinterher, doch ich zeigte ihm nur den ausgestreckten Mittelfinger.

Am nächsten Morgen riss mich der schnarrende Sound meines in die Jahre gekommenen Handys aus dem Schlaf. Es gab doch keinen effektiveren Wecker als den durchdringenden Vibrationsalarm meiner alten Nokia-Telefonzelle. Erschrocken fuhr ich hoch und wäre fast von Lenas unbequemem WG-Klappbett gefallen, als ich die SMS las: Hey Kathi, hast du gut geschlafen? Wollen wir am Freitagabend was trinken gehen?

Ach ja, Matthias! Hoffentlich hatte er mein BH-Desaster vergessen. Sollte ich ihm antworten? Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wie er aussah.

Lena, die erst zwei Stunden später aus ihrem Koma erwachte, war der Meinung, dass ich nichts zu verlieren hatte. Außerdem fiel mir siedend heiß ein, dass ich ja jetzt ein aufregendes Singleleben führen wollte. Gesagt, getan! Matthias’ Antwort kam postwendend: Er schlug das »Egypt« in Eimsbüttel als Treffpunkt für unser erstes Date vor. Ich hatte noch nie von dieser Bar gehört, aber es gehörte zu meinem Plan, von jetzt an neue Dinge auszuprobieren.

Quadratisch, praktisch, gut

Mit klopfendem Herzen wartete ich am Freitag vor dem besagten Egypt. Es war mein erstes Date nach der Trennung von Lukas und ich war extrem nervös. Oma Margi hatte mir noch eindringlich auf den Weg mitgegeben: »Moog mir keene Fisimatenten!«, was so viel heißt wie »Mach mir keine Dummheiten!«. Auch wenn Oma manchmal etwas altmodische Ansichten hatte, hatte sie mir doch einiges an Lebensweisheit voraus. Und im Gegensatz zu meiner Mutter, die immer überbesorgt und ängstlich war, konnte ich ihr alles erzählen, ohne sie sofort in Panik zu versetzen.

Meine Nervosität begründete sich nicht nur darin, dass dies mein erstes Date nach zwei Jahren Flirt-Abstinenz war. Irgendwie war mir diese Bar nicht geheuer: Sie bestand aus einem riesigen, dunklen Turm ohne Fenster, der sich wenig einladend vor mir aufbaute.

Eine meiner größten Macken war, immer gleich Panik zu schieben. Egal ob es sich um überfüllte Plätze, große Höhen oder unerwartete Veränderungen handelte – ich schaffte es, vor so ziemlich allem Angst zu haben. Das hatte ich definitiv von meiner Mutter geerbt, der ich – wie ich zu meinem eigenen Erstaunen feststellen musste – immer ähnlicher wurde. Oma lachte immer liebevoll über uns »Schietbüxen«.

Ehe ich mir noch weitere Sorgen machen konnte, tauchte zum Glück Matthias auf. »Na, dann lass uns mal reingehen«, sagte er schüchtern, umarmte mich unbeholfen und kratzte sich an der Nase.

Ich musterte ihn verstohlen, als wir uns zum Eingang begaben. Er trug einen merkwürdigen Regenanorak in Blau-Gelb, obwohl es nicht regnete. Der Anorak und Matthias’ schlammfarbene, quadratisch-praktische Schnürschuhe sahen aus wie von Mami höchstpersönlich gekauft. Mich beschlich eine ungute Vorahnung. Trotzdem trottete ich ihm brav zum Eingang der Bar hinterher. Als wir ins Innere traten, schlug uns ein muffiger Geruch entgegen, eine Mischung aus schweißigen Schuhen, ungelüftetem Keller und feuchtem Schimmel. Matthias schien das jedoch nicht zu stören. »Ich bin öfter mit Kommilitonen hier. Es ist wirklich nett, wenn man oben angekommen ist.«

Oben angekommen?!?Meine Kehle schnürte sich zusammen, als wir einen engen Gang betraten, der sich wie eine Wendeltreppe nach oben schlängelte. Je weiter wir nach oben kamen, desto schlimmer wurde der Geruch. Und es gab nicht mal ein Fenster, das man hätte öffnen können!

Ganz ruhig bleiben. Alles wird gut, wiederholte ich in Gedanken mein Mantra gegen Panikattacken. Wäre ich als Kind nicht mit diesem verdammten Fahrstuhl gefahren und eine Stunde darin stecken geblieben, wäre mein Leben jetzt um einiges entspannter.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich oben ankamen. Zu meiner Besorgnis sah es dort nicht besser aus: Es gab immer noch keine Fenster, sondern nur eine schummrige Beleuchtung und gruselige ägyptische Zeichnungen an den Wänden. Matthias setzte sich an den erstbesten Tisch. Als er seine Regenjacke auszog, hätte ich beinahe erschrocken aufgestöhnt. Darunter trug er ein schwarzes, überdimensionales T-Shirt mit einem aufgedruckten Periodensystem!

Auf der Party hatte er irgendwie anders ausgesehen, wunderte ich mich. Irgendwie – attraktiver. Verdammter Wodka. Nun gut, jetzt musste ich meine Sünden ausbaden. Angespannt starrten wir auf unsere Getränkekarten, bis uns endlich eine Kellnerin erlöste und unsere Bestellungen entgegennahm.

Ich hatte bisher kaum ein Wort gesagt, was Matthias wohl aus dem Konzept brachte. Nervös fummelte er an seinem T-Shirt herum und kippelte mit dem Stuhl. Als er im 10-Sekunden-Takt begann, sich an der Nase zu kratzen, erbarmte ich mich und fing ein Gespräch an. »Und du studierst also Physik?«

»Äh, genau.«

»Cooles T-Shirt.«

»Danke.«

»Und was macht ihr in Physik gerade so?« Mir fiel einfach keine bessere Frage ein, doch anscheinend hatte ich den richtigen Nerv getroffen. Seine Augen leuchteten und er hörte mit dem Kippeln auf.

»Im Moment haben wir ein Projekt über atomare Teilchenphysik, also wir berechnen da die Durchmesser und die Beschleunigung von Atomen … und wie sich das auf die Materie auswirkt …«

Schon bei dem Begriff »atomare Teilchenphysik« schaltete mein Gehirn auf den Modus »Durchzug«. Nur noch einzelne Satzfetzen drangen zu mir vor und vermischten sich mit der bedrückenden Atmosphäre der Bar zu meiner ganz eigenen hochexplosiven Materie. Schon nach wenigen Minuten wollte ich nur noch eins: weg! Schweiß trat auf meine Stirn und mir wurde leicht schwindelig, ein sicherer Vorbote meiner Platzangst. Wenn ich mich richtig in die Panik hineinsteigerte, würde ich für nichts mehr garantieren können – denn dann drehte sich mit Vorliebe mein Magen um und ich musste mich übergeben. Kein Scherz.

Ich reagierte auf Matthias’ Redeschwall mit vereinzelten »Hm«- und »Ach ja, wirklich? Das ist ja interessant«-Kommentaren. Um mich von meiner Panik abzulenken, betrachtete ich konzentriert sein Gesicht. Er war nicht unattraktiv, aber seine Kleidung und seine Art zu gestikulieren wirkten sehr unmännlich. Es war, als ob ich mich mit einem Schuljungen unterhielt, der seiner Mutter von einer aufregenden Physikstunde erzählte. So schnell konnte man sich also im Dämmerlicht einer Party irren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich die Kellnerin mit unseren Cocktails. Matthias hatte eine Kreation mit dem Namen »Fruity Strawberry Dream« bestellt, die zu allem Überfluss mit einem riesigen puscheligen Cocktailschirmchen garniert war. Als er das Glas hob und mir zuprostete, stieß er sich das Schirmchen in das rechte Nasenloch. Reflexartig fasste er sich sofort an die Nase und warf dabei fast noch sein Glas um.

Ich musste mich zusammenreißen, nicht laut loszulachen.

»Jetzt aber mal zu dir. Was studierst du denn eigentlich?«, fragte er schließlich betont lässig, umklammerte dabei aber das Cocktailglas so fest, dass seine Adern auf den blassen Händen bedrohlich hervorquollen.

Ich hätte am liebsten laut gerufen: »Lass das!« Der Anblick ekelte mich dermaßen an, dass mein Magen sich zusammenzog.

Dezent räusperte ich mich. »Ich studiere Germanistik.«

»Ah.«

Ich wusste, was jetzt kommen würde.

»Oh, und was kann man damit machen?«

Genau diese Frage hatte ich ungefähr schon tausendmal gehört, die Kommentare meiner Eltern nicht mit eingerechnet.

»Vieles«, sagte ich und seufzte. Ich hatte wirklich keine Lust, einen Vortrag über den Sinn oder Unsinn eines Germanistikstudiums zu halten. Von der Tatsache, dass ich selbst noch nicht wusste, worauf es hinauslaufen sollte, mal ganz zu schweigen.

»Und dein Traum war es schon immer, Physik zu studieren?«, lenkte ich vom Thema ab.

»Ja, ganz genau! Ich hab schon als Kind immer Physikbücher gelesen und hatte so Experimentierkästen …«

Matthias verfiel erneut in einen Redeschwall, dem ich beim besten Willen nicht folgen konnte. Diese Gelegenheit kam meiner Panik gerade recht – sie hatte wieder meine volle Aufmerksamkeit. Ich versuchte, an etwas Angenehmes zu denken, doch es funktionierte einfach nicht. Wie zwangsgesteuert musste ich auf Matthias’ blaue Venen starren, die mit jeder Minute größer zu werden schienen. Nervös nippte ich an meinem Cocktail, der schal und abgestanden schmeckte. Mein Magen rebellierte.

»Ähm du, äh …«, unterbrach ich Matthias schließlich, der immer noch wild gestikulierte und mich gar nicht mehr wahrzunehmen schien. »Ähm, ich verschwinde mal kurz!«, sagte ich etwas lauter und stand auf.

»Für kleine Königstigerinnen? Geh einfach ein Stück zurück, ist nicht zu übersehen!«, erwiderte er grinsend.

Königstigerinnen? Wohl eher für kleine Erdbeerpuschel!Als ich außer Sichtweite war, nahm ich die Beine in die Hand und rannte panisch in Richtung Toilette. Mein Magen drehte sich wie eine Waschmaschine im Schleudergang und ich ahnte, dass es gleich ein Unglück geben würde.

Je näher ich den Toiletten kam, desto schlimmer wurde der muffige Geruch, der sich schon an unserem Tisch verbreitet hatte. Das gab meinem Magen den Rest. Die Magensäure bahnte sich ihren Weg nach oben, ich blickte mich hektisch um und schaffte es gerade noch zu einem Schirmständer, in den ich mich lautstark übergeben musste. Wie peinlich!

Nachdem mein Magen sich wie ein nasser Waschlappen ausgewrungen hatte, flitzte ich die restlichen Meter zur Toilette und verbarrikadierte mich in einer Kabine. Hoffentlich hatte das keiner gesehen! Zum Glück war die Bar nicht sonderlich gut besucht. Ich spülte meinen Mund mit Wasser aus und warf einen Blick auf meine Uhr. Wir waren erst seit einer halben Stunde hier! Weitere 30 Minuten würde ich wohl noch überstehen müssen und mir dann eine gute Ausrede einfallen lassen, warum ich plötzlich gehen musste. Ich konnte schließlich nicht sagen: »Du, sorry, aber mein Reizmagen hält es hier nicht länger aus.«

Nur was sollte ich tun, wenn ich mich wieder übergeben musste? Ich konnte doch nicht einfach vom Tisch wegrennen; aber ihm auf die Füße kotzen war auch keine gute Idee.

Auf dem Weg zurück zu meinem Date überlegte ich immer noch fieberhaft, was ich tun sollte. Matthias lächelte mir freundlich entgegen und tat mir fast leid dabei.

»Und wie war’s?«, fragte er, kratzte sich an der Nase und lachte sich über seinen Witz kaputt.

Haha,dachte ich nur. Halt bloß die Klappe. Für eine endlose Minute schwiegen wir uns an, bis ich schließlich das Wort ergriff. »Bist du eigentlich schon lange Single?«

Im selben Moment hätte ich mir vor den Kopf schlagen können. Was für eine dämliche Frage!

Nun hatte ich ihn vollends aus der Fassung gebracht. Er kippelte mit seinem Stuhl und drehte nervös das Cocktailglas in seinen Händen, wobei das Schirmchen mit dem Puschel herunter und ihm genau zwischen die Beine fiel. Mit hochrotem Kopf griff er danach. »Also, die Sache ist die …«

»… du bist vergeben!«, sagte ich, hocherfreut, endlich einen Grund zum Gehen zu haben.

»Nein!«, entfuhr es ihm. Er schaute mich entrüstet an. »Es ist eher so …«

»Ja?« Ich blickte ihn neugierig an.

»… dass … also..«

»Nun mach es nicht so spannend!« Gedankenlos nahm ich einen großen Schluck von meinem Cocktail, sodass mein Magen sich erneut zusammenzog. Bitte nicht schon wieder!

»Ich hatte noch nie eine Freundin. Genau genommen bin ich seit 22 Jahren Single.«

Mir fiel die Kinnlade herunter. »Was?«, fragte ich und räusperte mich sogleich verlegen. »Ich meine, wie bitte?«

»Du hast schon richtig gehört«, murmelte Matthias und blickte beschämt zu Boden.

Ich wurde rot und schämte mich regelrecht mit. »Aber das ist doch nichts Schlimmes!« Trotzdem werde ich dich nicht von deiner Jungfräulichkeit erlösen, fügte ich gemeinerweise in Gedanken hinzu.

»Ja, das stimmt schon. Aber es wirkt ja gerade so, als wenn ich ein Vollhorst wäre, der es nicht schafft, eine Frau abzubekommen!«

Bingo!, plärrte es in meinem Kopf. »Ach was!«, sagte ich. Insgeheim dachte ich, dass er seine Situation schon treffend beschrieben hatte. Leider war er wirklich ein Vollhorst, der die Frauen durch seine unbeholfene Art abschreckte. Ein intelligenter und netter Vollhorst simplex, aber Vollhorst bleibt eben Vollhorst.

Irgendwie schaffte ich es, die nächsten 30 Minuten mit belanglosem Geplauder zu überstehen. Zerknirscht erklärte ich ihm, dass ich noch mit einer Freundin verabredet sei und jetzt unbedingt losmüsse. Ich bemerkte seinen traurigen Blick, als die Kellnerin kam, um unsere Getränke getrennt abzurechnen. Gut, dass er mich nicht einlud, denn irgendwie hätte ich es nicht annehmen wollen. Schweigend gingen wir zum Ausgang. Als wir wieder an der frischen Luft waren, atmete ich erleichtert auf.

»Vielen Dank für den schönen Abend«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln.

»Ja bitte, ich danke dir ebenso«, erwiderte Matthias steif, rieb sich die inzwischen leicht gerötete Nase und trat einen Schritt auf mich zu.

Ich umarmte ihn kurz und meinte dann: »Wir sehen uns, mach’s gut!«

»Ja, auf jeden Fall! Hast du morgen Zeit?«

Oh nein, er kapierte es nicht! »Ähm, sorry, morgen bin ich …« Mir fiel so schnell nichts ein. »… auf einem Geburtstag!«

»Ach so. Ich schreibe dir!« Matthias grinste siegessicher und wandte sich zum Gehen.

»Tschüss!«, rief ich und machte mich schnell auf die Socken.

2

Der höher entwickelte Vollhorst (horstus totalus elaboratus)

Eine Einführung in das Studium der Männeranalyse

Das Imperium des Horsts ist beeindruckend: Nach ihm wurden nicht nur über 20 Orte in Deutschland benannt, sondern auch Horst aan de Maas in den Niederlanden und Horst bei Groß Döbern in Polen. Nicht zu vergessen: die Insel Horst im Schweriner See.