Dialektische Phantasie - Martin Jay - E-Book

Dialektische Phantasie E-Book

Jay Martin

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Beschreibung

Diese erste zusammenfassende Darstellung der Geschichte der Frankfurter Schule aus den Jahren 1923 bis 1950 zeichnet die politische ebenso wie die wissenschaftliche Entwicklung des Instituts auf. Der Verfasser hatte Zugang zu bis dahin unbekannt gebliebenen Dokumenten und Briefen. Daneben vermittelten Gespräche mit über 20 wichtigen Gestalten der Institutsgeschichte intime Kenntnisse der vielfältigen Institutsarbeiten sowie der inneren und äußeren Probleme des Instituts und der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Gegnern und in den eigenen Reihen. Jay rückt mit seiner differenzierten Arbeit die Frankfurter Schule und die keineswegs uniformen Positionen ihrer Vertreter in ein klares Licht und erschwert es den Kritikern – von rechts wie von links –, allzu leichtfertig beim Etikettieren dieser wichtigen Gruppe von Intellektuellen zu verfahren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 845

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Martin Jay

Dialektische Phantasie

Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950

Aus dem Amerikanischen von Hanne Herkommer und Bodo von Greiff

FISCHER Digital

Inhalt

Für meine Eltern, Edward [...]Vorwort zur deutschen AusgabeDie Aktualität der »Geschichte der Frankfurter Schule«Vorwort von Max HorkheimerEinleitungPersönlicher DankI Die Gründung des Instituts für Sozialforschung und seine ersten Frankfurter JahreII Die Genese der Kritischen TheorieIII Die Integration der PsychoanalyseIV Die ersten Untersuchungen des Instituts über AutoritätV Die Nazismus-Analyse des InstitutsVI Ästhetische Theorie und die Kritik der MassenkulturVII Die empirische Arbeit des Instituts in den vierziger JahrenVIII Zu einer Geschichtsphilosophie: Die Kritik der AufklärungEpilogAnmerkungenLiteraturverzeichnisVeröffentlichungen des InstitutsNamen- und Sachregister

Für meine Eltern, Edward und Sari Jay

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Im Jahre 1973, als das vorliegende Buch unter dem Originaltitel The Dialectical Imagination zuerst in Amerika und in Großbritannien erschien, war die Kritische Theorie außerhalb einiger weniger isolierter Zirkel in den Randzonen der Neuen Linken allenfalls vom Hörensagen her bekannt. Herbert Marcuse war gewiß Gegenstand nicht weniger, häufig erhitzter Diskussionen, doch man vernachlässigte dabei fast völlig die Tradition, aus der sein Werk sich speist. Theodor Adorno war bei Sozialwissenschaftlern eigentlich nur als einer der Verfasser von Die autoritäre Persönlichkeit ein Begriff – und dies zum Teil auch nur aufgrund des Zufalls, daß sein Name mit dem ersten Buchstaben des Alphabets beginnt und seine drei Mitarbeiter folglich unter die anonyme Rubrik et al. zusammengefaßt wurden. Zu seinem Tode im Jahre 1969 veröffentlichte die New York Times einen heute weithin bekannten Nachruf, der sich des längeren über eine dunkle Schrift ausließ, die Adorno einst über den Jitterbug geschrieben hatte, und der die große Zahl seiner anderen Schriften praktisch nicht berücksichtigte. Max Horkheimer und Friedrich Pollock kannten im Grunde genommen nur einige Intellektuelle, deren Wege sich mit den ihren während ihres amerikanischen Exils gekreuzt hatten, und andere Institutsmitglieder wie Erich Fromm, Leo Löwenthal, Friedrich Neumann und Karl August Wittfogel, die in der englischsprachigen Welt, in der sie nach 1945 geblieben waren, durchaus Ansehen genossen, wurden selten, wenn überhaupt, in Zusammenhang mit dem Institut gebracht.

Für den Unterschied zwischen damals und heute gebührt das Hauptverdienst den zahlreichen Übersetzungen von Texten der Frankfurter Schule, wie sie in den Verlagen Beacon, Heinemann Educational Books, New Left Review Books und Seabury veröffentlicht wurden. Zu ihnen zählen Arbeiten der zweiten Generation von Mitgliedern der Frankfurter Schule wie Jürgen Habermas, Alfred Schmidt und Albrecht Wellmer, weiche die ungebrochene Lebenskraft dieser Tradition zur Genüge nachgewiesen haben. In diesem Kontext vermochte das zur rechten Zeit erschienene Buch The Dialectical Imagination durch seine synoptische Darstellung der ersten entscheidenden Entwicklungsjahre seinen Beitrag zur Rezeption der Kritischen Theorie beizusteuern. Bald darauf folgten andere Bücher von jüngeren Gelehrten, häufig Anhängern der Neuen Linken, wie Bruce Brown, Russell Jacoby, William Leiss und Trent Schroyer, die sich dem Vermächtnis der Frankfurter Schule auf unterschiedlichen Wegen näherten. Zur gleichen Zeit widmete eine wachsende Zahl von Zeitschriften, unter ihnen vor allem Telos, New German Critique, Theory and Society, New Left Review, Cultural Hermeneutics und Salmagundi, einer sich lebhaft entwickelnden und ständig sich ausweitenden Diskussion über die Verdienste der Kritischen Schule (und in verschiedenen Fällen auch meiner Darstellung ihrer Geschichte) immer mehr Raum.

Die von einigen Kreisen geäußerte Befürchtung, all dies laufe auf eine »Industrie in Frankfurter Schule« hinaus, vermag ich nicht zu teilen; die darin anklingende Vorstellung, der kritische Impuls der Frankfurter Schule sei erlahmt, scheint mir nicht der wirklichen Sachlage zu entsprechen, jedenfalls weniger als im Fall von anderen theoretischen Alternativen auf seiten der Linken. Inmitten der Verwirrung und der Desillusionierung im Gefolge des Verfalls der Neuen Linken in Amerika und in Großbritannien ist die Kritische Theorie erneut zur Hauptstütze radikaler Hoffnungen geworden, wie zur Zeit ihrer Flucht aus Europa vor mehr als vierzig Jahren. Doch heutzutage ist sie nicht mehr das Reservat eines isolierten esoterischen Zirkels, dessen Stimmen sich im Getöse des orthodoxen Marxismus und des nicht weniger orthodoxen Liberalismus kaum bemerkbar machen konnten. Welchen Einfluß die Arbeit der Frankfurter Schule letztlich auf die angelsächsische Welt ausübt, läßt sich noch immer nicht abschätzen, doch ich glaube, es darf als ausgemacht gelten, daß keine künftige soziale Theorie oder radikale Bewegung, die diesen Namen verdient, es sich leisten kann, den Problemen aus dem Wege zu gehen, welche die Frankfurter Schule in so kritischer Schärfe aufgeworfen hat, auch wenn sie sie in vielen Fällen nicht zu lösen vermochte.

Angesichts der leidvollen Geschichte der deutschen Linken in den Jahren, nachdem sie die Frankfurter Schule für »überholt« erklärt hatte, dürfte eine ähnliche Prognose auch auf die deutsche Situation zutreffen. So ist es vielleicht angebracht, daß diese Übersetzung zu einem Zeitpunkt erscheint, da es der Mühe wert sein sollte, einige der nüchternen, verstandesklaren Lehren der Kritischen Theorie erneut zu überdenken. Obwohl die heftige Kontroverse der sechziger Jahre um die Frankfurter Schule einige ihrer Schwächen bloßlegte, so ist es ihr doch nicht gelungen, ihren vielen Stärken den Boden zu entziehen. In der Kritischen Theorie liegt ein dauerhafter Kern von Wahrheit beschlossen, der ihre Verleumder überdauert hat, aus welcher Ecke sie ihren Angriff auch vorgetragen haben mögen.

Dieser mein Ausdruck ungeschmälerten Glaubens an die heutige Bedeutung der Kritischen Theorie ist am rechten Platz in einer Zeit, da eine Anzahl von Lesern auf einen elegischen Unterton in der Dialektischen Phantasie hinweist. Der Hinweis ist nicht unberechtigt, doch der genannte Unterton gilt weniger den Ideen und Hoffnungen, die in dem Buch erörtert werden und von denen ich glaube, daß sie immer noch sehr lebendig sind, als vielmehr einigen der Männer, die sich für ihre Verbreitung eingesetzt haben. Seit der ersten Veröffentlichung des Buches haben sich Max Horkheimer, der wahre »Meister« der Frankfurter Schule, und Felix Weil, ihr Hauptförderer, Theodor Adorno und Friedrich Pollock und damit jenen Institutsmitgliedern angeschlossen, die mir einst Hilfe gewährt haben und die nun nicht mehr unter den Lebenden sind. In der Hoffnung, daß dieses Buch einen, wenn auch bescheidenen, Beitrag zu ihrem Gedächtnis und zu der ungebrochenen Lebenskraft ihrer Ideen leistet, übergebe ich es der deutschen Öffentlichkeit.

Die Möglichkeit dazu, dies sei zum Schluß hinzugefügt, verdanke ich einzig und allein der liebevollen und überaus sorgfältigen Arbeit von Hanne Herkommer und Bodo von Greiff. Ich bin sehr dankbar, daß ich hier Gelegenheit habe, ihnen zu versichern, wie sehr ich in ihrer Schuld bin. Wenn ich auch Adornos Behauptung, das Deutsche sei seinem Charakter nach dialektischer als das Englische, nicht vorbehaltlos unterschreiben kann, so bin ich doch durchaus bereit, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß hier der Fall eingetreten ist, daß ein Text durch die Übersetzung eher gewonnen als verloren hat.

 

Berkeley, im Juni 1976

Martin Jay

 

 

 

(Aus dem Amerikanischen v. W. Köhler)

Die Aktualität der »Geschichte der Frankfurter Schule«

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe

Der wahre Pluralismus gehört dem Begriff einer zukünftigen Gesellschaft an.

MAX HORKHEIMER

Vernunft und Selbsterhaltung

Die intensiven Bemühungen von Vertretern der Stadt und der Universität Frankfurt um eine Rückkehr des Instituts für Sozialforschung aus Amerika, mit der sie sichtbar und demonstrativ an die Zeit der Demokratie vor der Naziherrschaft anknüpfen wollten, hatten Erfolg: Der unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Nazis in die Emigration gezwungene und im April 1933 als einer der ersten offiziell aus dem Lehrkörper der Universität verstoßene Max Horkheimer trat 1949 seinen sechzehn Jahre zuvor abgeschafften und nun zur Doppelprofessur für Philosophie und Soziologie erweiterten Lehrstuhl an der Universität Frankfurt wieder an. Mit ihm kehrte auch das Institut nach Deutschland zurück.

»Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung von 1923–1950«, auf die der Historiker Martin Jay sich im vorliegenden Buch konzentriert, schien gleichsam ein gutes Ende gefunden zu haben. Und als Jay – in den späten sechziger Jahren – an der Dialektischen Phantasie arbeitete, erfuhr die Frankfurter Schule und mit ihr die im Kampf gegen den Faschismus entwickelte Kritische Theorie ihre größte wissenschaftliche und gesellschaftliche Anerkennung. Horkheimer war 1951 der erste remigrierte jüdische Rektor einer deutschen Universität, er hatte mit der Goethe-Plakette die höchste Ehrung der Stadt Frankfurt entgegengenommen und war 1960 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt worden. Ein Rückblick zu den Anfängen aus einer soweit gesicherten Position, wie sie ein an demokratischen Ansprüchen orientierter Staat auch seinen Kritikern gewährt, eine »Geschichte« schien angemessen. – Wie wenig an der Kritischen Theorie Geschichte war und welche Aktualität ihr nur wenige Jahre später zukommen würde, konnte Martin Jay kaum ahnen.

Wenn heute, 1976, die Übersetzung der Dialectical Imagination in Deutschland erscheint, wird der politisch wache Leser die Informationen über die erzwungene Odyssee des Frankfurter Instituts kaum mehr unbefangen zur Kenntnis nehmen können; er wird Schriften wie den Autoritären Staat oder die Dämmerung nicht nur verstehen, wie Jay es tun konnte, als Einsichten in den gehabten Faschismus, in eine vergangene Zeit – Gedanken an das Berufsverbot und die von ihm Betroffenen werden sich ihm notwendig aufdrängen. Der politisch wache Leser wird in der Dialektischen Phantasie nicht nur die Geschichte einer philosophischen und soziologischen Schule lesen, er wird bei der Rezeption der Institutsschriften die Gegenwart mitreflektieren und erkennen, wie lebendig und aktuell die Geschichte der Frankfurter Schule ist.

Die neuerlich repressiven politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik sind es, die der Kritischen Theorie ungewollt Aktualität im doppelten Sinn verschaffen. Angesichts des sogenannten »Ministerpräsidentenerlasses« und der Paragraphen 88 a und 130 a zum »Schutze des Gemeinschaftsfriedens« ist sie nämlich nicht nur ihres emanzipatorischen Gehaltes und ihrer in der marxistischen Tradition stehenden Kapitalismuskritik wegen wissenschaftlich und politisch sozusagen »positiv« aktuell; eine negative und traurige Aktualität erfährt die Kritische Theorie auch dadurch, daß ihr heute – keine 30 Jahre nach der gefeierten Rückkehr ihrer Vertreter aus der Emigration – bereits wieder ein politisches Verdikt droht.

Diejenigen, die den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung für sich gepachtet haben und jeden, der ebenfalls darauf steht – wenngleich im Geiste praktizierter demokratischer Freiheit und damit auch von Kritik – von diesem Grundbesitz herunterjagen, werden hier entrüstet einwenden, sie kennten kein solches drohendes Verdikt, sie werden nach dem Beleg dafür fragen, weil sie es nachlesen möchten. Und auf eine merkwürdig konkretistische Weise haben sie sogar recht: einen Paragraphen gegen die Kritische Theorie gibt es nicht. Der herrschende Geist oder Ungeist als solcher reicht aus, um die Kritische Theorie und ihre Repräsentanten – auch jene, die in Amt und Würden stehen – an den Rand der Wissenschaft zu drängen.

Ohne daß ein formelles Verbot sie dazu zwingt, fragen Studenten den Philosophiedozenten, an dessen Seminar über Horkheimer sie teilnehmen, ob man ein solches Thema im Studienbuch vermerken und beim Staatsexamen vorweisen könne, ohne bei der späteren Aufnahme in den Schuldienst in Schwierigkeiten zu geraten. So geschehen im Sommersemester 1975 an der Freien Universität Berlin. – Die Studenten üben vorbeugende Selbstzensur. Eine Selbstzensur allerdings, die auch und gerade in ihrer Unangemessenheit feinen Realitätssinn verrät: Jüngst wurde von den CDU/CSU-Kultusministern eine Rahmenrichtlinie für Politische Bildung an Schulen herausgegeben[1], die sich in ihrem ministeriellen Vorwort ausdrücklich als verfassungstreue »Alternative zu jenen Ansätzen, die der Kritischen Theorie verhaftet bleiben« vorstellt. Es ist die erste explizite Erwähnung der Kritischen Theorie von Amts wegen und damit derer, die sie verbreiten – in einem Kontext, der nachdrücklich suggeriert, wer in der Tradition der Frankfurter Schule stehe, sei nicht geeignet, Unterricht an deutschen Schulen im Sinne des Demokratieverständnisses der Verfassung zu erteilen. Man versteht, warum auch Jürgen Habermas aus der Frankfurter Nachfolgegeneration in München auf Einspruch der Fakultät nicht zum Honorarprofessor berufen wurde[2].

Als Opfer des Nazi-Regimes und zu den seltenen Ausnahmen unter den deutschen Wissenschaftlern zählend, die den Faschismus weder selbst propagierten, noch passiv hinnahmen, sondern frühzeitig die heraufziehende Dämmerung erkannten und zum Gegenstand ihrer Analysen machten, wurden die Mitglieder der Frankfurter Schule nach dem Kriege in die Bundesrepublik ehrerbietig zurückgebeten. Heute wird einer ihrer prominentesten Vertreter, Theodor W. Adorno, von einem pluralistisch eingestellten Wissenschaftler mit Heidegger in einem Atemzug genannt und seinerseits der »Unterstützung politischer Tendenzen mit absolutem oder totalitärem Anspruch« verdächtigt[3]. Die Zeiten haben sich gewandelt, der »Bezug zum Totalitären«, wie es zeitgemäß heißt, wird auf jene projiziert, die ihn bekämpfen. Ob das Institut für Sozialforschung auch heute noch zurückgerufen würde?

Die sorgfältige Geschichte der Frankfurter Schule, die Jay aufgezeichnet hat, verdient mehr als nur historisches Interesse –: sie hat noch nicht ihr Ende gefunden.

Hanne Herkommer und Bodo von Greiff

Vorwort

Lieber Martin Jay,

ich bin um ein Vorwort zu Ihrem Buch über die Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gebeten worden und komme diesem Wunsch nach der Lektüre Ihrer interessanten Arbeit nur allzu gerne nach. Mein Gesundheitszustand zwingt mich allerdings, meine Einleitung in die Form eines kurzen Briefes zu kleiden. – Dank gebührt Ihnen in erster Linie für die Sorgfalt, die Ihre Arbeit durchweg auszeichnet. Vieles fiele ohne Ihre Darstellung zweifellos der Vergessenheit anheim.

Die Arbeit, der sich das Institut vor seiner Emigration aus Deutschland widmete – ich denke u.a. an Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion, 1917–1927 von Friedrich Pollock oder die später veröffentlichte Gemeinschaftsarbeit Studien über Autorität und Familie –, stellte, verglichen mit dem, was damals im offiziellen Universitätsbetrieb üblich war, etwas Neues dar. Uns ging es um eine Art von Forschung, für die es an der Universität in jenen Tagen keinen Platz gab. Unser Vorhaben konnte auch nur gelingen, weil – dank der Unterstützung Hermann Weils und der Initiative seines Sohnes Felix – eine Gruppe von Leuten mit unterschiedlicher wissenschaftlicher Ausbildung und einem gemeinsamen Interesse an Gesellschaftstheorie sich in der Überzeugung zusammenfand, in der Epoche des Übergangs sei es wichtiger, das Negative zu artikulieren, als die je einzelne akademische Karriere zu verfolgen. Was die Gruppe miteinander verband, war ihre Kritik an der bestehenden Gesellschaft.

Bereits gegen Ende der zwanziger, ganz gewiß aber zu Beginn der dreißiger Jahre waren wir von der Wahrscheinlichkeit eines Sieges der Nationalsozialisten ebenso überzeugt wie davon, daß ihm nur durch revolutionäre Aktion entgegenzutreten sei. Daß ein Weltkrieg nötig sein würde, sahen wir damals noch nicht. Wir dachten an einen Aufstand im eigenen Land; und in diesem Zusammenhang begann auch der Marxismus seine maßgebliche Bedeutung für unser Denken zu gewinnen. Nach unserer Emigration über Genf nach Amerika blieb die marxistische Interpretation sozialer Geschehnisse ohne Zweifel weiterhin bestimmend für uns, was allerdings nicht hieß, daß wir unsere Position am Leitfaden eines dogmatischen Materialismus orientiert hätten. Die Betrachtung und Analyse politischer Systeme lehrte uns vielmehr, daß es, wie Adorno einmal gesagt hat, notwendig war, »die Forderung nach dem Absoluten nicht als bestimmte zu denken, und dennoch uneingeschränkt an der Berufung auf den emphatischen Begriff von Wahrheit festzuhalten.«

Berufung und Verweis auf ein ganz Anderes, auf eine ganz andere Welt als diese, hatten einen vornehmlich sozialphilosophischen Impuls. Letzten Endes führten sie aber auch zu einer positiveren Einschätzung bestimmter metaphysischer Tendenzen; denn: das empirische »Ganze ist das Unwahre« (Adorno). Die Hoffnung, irdisches Grauen möge nicht das letzte Wort haben, ist zweifellos ein nichtwissenschaftlicher Wunsch.

Diejenigen, die dem Institut einst verbunden waren, werden, soweit sie noch am Leben sind, in Ihrem Buch gewiß dankbar die Geschichte ihrer eigenen Ideen wiedererkennen. Ich möchte Ihnen, lieber Martin Jay, auch im Namen derer, die nicht mehr leben, wie Friedrich Pollock, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Franz Neumann und Otto Kirchheimer, meine Anerkennung und meinen Dank für Ihre Arbeit aussprechen.

 

Montagnola, Schweiz

Dezember 1971

Herzlichst

Max Horkheimer

Einleitung

Es ist üblich geworden, die Intellektuellen als unangepaßte, unzufriedene und ihrer Umwelt entfremdete Menschen zu betrachten. Sie als Außenseiter, Störenfriede, als Randseiter und dergleichen mehr anzusehen beunruhigt uns allerdings keine Spur, wir haben uns im Gegenteil zunehmend an dieses Bild gewöhnt. Das Wort von der »Entfremdung«, das unterschiedslos herhalten muß zur Erklärung der einfachsten Dyspepsie wie tiefster metaphysischer Ängste, ist zur wichtigsten Phrase unserer Zeit geworden. Auch dem aufmerksamsten Beobachter fällt es heute schwer, Realität und Pose auseinanderzuhalten. Zum Entsetzen derer, die mit Grund sagen können, daß sie unter ihren Auswirkungen zu leiden haben, hat sich Entfremdung als äußerst profitträchtige Ware auf dem Kulturmarkt erwiesen. Die moderne Kunst mit ihren Dissonanzen und Verzerrungen ist zur Massenkost eines immer gierigeren Heeres von Kulturkonsumenten geworden, die den Anlagewert in ihr erkennen. Die Avantgarde, sofern man diesen Begriff überhaupt noch verwenden kann, ist längst geschätztes Ornament unseres Kulturlebens, mehr gefeiert als gefürchtet. Die Existenzphilosophie, um ein anderes Beispiel zu nennen, für die vorige Generation durchaus noch eine frische Brise, ist zu einem Repertoire von Klischees, deren man sich jederzeit leicht bedienen kann, und von traurig-leeren Gesten herabgesunken. Ihr Zerfall trat ein – und das ist wichtig –, nicht weil analytische Philosophen die Bedeutungslosigkeit existentialistischer Kategorien aufgedeckt hätten, sondern infolge der unheimlichen Fähigkeit unserer Kultur, auch ihre unbeugsamsten Gegner zu vereinnahmen und sie aufzuweichen. Und ein letztes Beispiel: Kaum ein paar Jahre sind ins Land gegangen seit der so vielgepriesenen Geburt einer vermeintlichen Gegenkultur, und schon ist es – wir schreiben das Jahr 1972 – nur allzu offensichtlich, daß das Neugeborene, wenn schon nicht in der Wiege zu ersticken, so doch ganz leicht nach dem Muster seiner älteren Geschwister zu domestizieren war. Auch hier haben sich die Mechanismen von Absorption und Kooptation als enorm wirksam erwiesen.

Die Folge von alledem ist, daß Intellektuelle, die ihre kritische Funktion ernst nehmen, sich der zunehmend schärferen Herausforderung gegenübersehen, der Kultur in ihrer Fähigkeit, Protest zu betäuben, Einhalt zu gebieten, indem sie sie hinter sich lassen. Die immer krampfhaftere Flucht in den kulturellen Extremismus, der Wunsch, durch bewußtes Überschreiten der bisherigen kulturellen Toleranzgrenzen zu schockieren und zu provozieren, ist eine Art der Reaktion auf diese Situation, wobei sich diese Grenzen allerdings als sehr viel elastischer erweisen als vorhergesehen –: Was gestern noch obszön war, ist heute vielfach nur noch langweiliger Gemeinplatz. Die Unzulänglichkeit einer rein kulturellen Lösung vor Augen, haben viele kritische Intellektuelle versucht, ihren kulturellen Protest mit dem politischen zu verbinden. Radikale politische Bewegungen, bezeichnenderweise auf der Linken, sind für unzufriedene Intellektuelle heute so attraktiv wie ehedem. Dennoch erweist sich eine Allianz zwischen ihnen in den meisten Fällen als schwierig; insbesondere dann, wenn die an der Macht befindlichen Linksbewegungen Fakten schaffen, deren Widerwärtigkeit sich nicht mehr ignorieren läßt. Es ist also nicht verwunderlich, wenn die Fluktuation radikaler Intellektueller in den verschiedenen Linksparteien zu einem Dauerthema in der modernen Geschichte der Intellektuellen geworden ist.

Diesem Schwanken liegt indes noch ein zweites und tieferes Dilemma zugrunde, ein Dilemma, vor dem allein die Linksintellektuellen stehen. Das elitäre Bewußtsein jener nämlich, die ihren Extremismus ausschließlich auf die kulturelle Sphäre beschränken und sein politisches Korrelat ablehnen, zieht nicht notwendig Schuldgefühle nach sich. Für den radikalen Intellektuellen hingegen, der sich für ein politisches Engagement entscheidet, stellt sein Bestreben, sich eine kritische Distanz zu bewahren, ein besonderes Problem dar. Sich nicht nur aus der Gesellschaft als Ganzem herauszuhalten, sondern auch aus der Bewegung, auf deren Sieg man rechnet, erzeugt jene scharfe Spannung, die im Leben ernsthafter Linksintellektueller stets spürbar ist. Die endlose Selbstkritik der Neuen Linken in den vergangenen Jahren, darauf aus, auch die letzten Spuren elitären Bewußtseins abzubauen, zeugt überdeutlich von der Hartnäckigkeit dieses Problems. Schlimmstenfalls erwächst daraus eine sentimentale nostalgie de la boue; im besten Falle kommt es zum ernsthaften Versuch, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, ein Versuch freilich, der die Chancen einer solchen Einheit in einer unvollkommenen Welt realistisch in Rechnung stellt.

Was jedoch häufig vergessen wird bei dem Wunsch, den Begriff des »aktivistischen Intellektuellen« von seinen scheinbar widersprüchlichen Bedeutungselementen zu befreien, ist die Tatsache, daß Intellektuelle immer auch Akteure sind, allerdings in einem besonderen Sinne. Der Intellektuelle ist permanent in symbolischer Aktion, indem er sich seines Denkens auf vielerlei Weise entäußert. »Denker« sind nur dann von Bedeutung, wenn ihre Gedanken anderen durch dieses oder jenes Medium vermittelt werden. Die kritische Schärfe intellektuellen Daseins hat ihren Grund vornehmlich im Auseinanderklaffen von Symbol und dem, was wir in Ermanglung eines besseren Begriffs mit Realität bezeichnen wollen. Und paradoxerweise laufen die Intellektuellen, sobald sie versuchen, sich selbst zur Kraft zu machen, welche diese Kluft überbrückt, Gefahr, die kritische Perspektive, die ihnen eben diese Kluft ermöglicht, zu verlieren. Was gewöhnlich darunter leidet, ist die Qualität ihrer Arbeit, die zur Propaganda verkommt. Der kritische Intellektuelle ist in gewissem Sinne weniger engagé, wenn er befangen und parteilich ist, als wenn er an den Integritätsnormen festhält, die sein Handwerk ihm setzt. Yeats hat einmal gesagt, »der Geist des Menschen ist gezwungen, zu wählen zwischen der Perfektion des Lebens und der Perfektion der Arbeit«.[1] Identifiziert sich der radikale Intellektuelle bei dem Versuch, aus seinem elfenbeinernen Turm herauszukommen, allzu stark mit den allgemeinen Kräften der Veränderung, dann setzt er beiderlei Perfektion aufs Spiel. Zwischen der Scylla bedingungsloser Solidarität und der Charybdis eigensinniger Unabhängigkeit muß er sich einen Mittelweg bahnen oder scheitern. Wie gefährlich dieser Mittelweg sein kann, läßt sich am besten bei den radikalen Intellektuellen lernen, die das Thema der vorliegenden Untersuchung bilden.

An der sogenannten Frankfurter Schule, gebildet von bestimmten Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung[4], wird das Dilemma, in dem Linksintellektuelle in unserem Jahrhundert sich befinden, geradezu modellhaft sichtbar. Nur wenige ähnlich denkende Zeitgenossen empfanden und erkannten die alles integrierende Kraft der herrschenden Gesellschaft und ihrer angeblichen Gegner so deutlich wie sie. Solange das Institut existierte, ganz besonders jedoch in den Jahren zwischen 1923 und 1950, waren seine Mitglieder nie frei von der Furcht, vereinnahmt und integriert zu werden. Auch wenn sie, durch die historische Situation zum Exil gezwungen, Mitteleuropa erst nach 1933 gemeinsam mit dem Intellektuellentreck verließen, waren sie, was ihr Verhältnis zu ihrer Umwelt anlangte, doch bereits zu Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit ins Exil gegangen. Indes, weit davon entfernt, diesen Status zu beklagen, akzeptierten, ja hegten sie ihn als die conditio sine qua non ihrer intellektuellen Produktivität.

Mit ihrer unnachgiebigen Weigerung, ihre theoretische Integrität auf der Suche nach einer gesellschaftlichen Agentur zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen aufs Spiel zu setzen, antizipierten die Angehörigen der Frankfurter Schule viele eben der Probleme, die eine spätere Generation engagierter Intellekueller zur Verzweiflung bringen sollten. Hauptsächlich aus diesem Grunde erregten die Arbeiten ihrer frühen Jahre das Interesse der Nachkriegslinken in Europa und neuerdings auch in Amerika. Raubdrucke ihrer längst vergriffenen Schriften kursierten in einer ungeduldigen deutschen Studentenbewegung, deren Wißbegier geweckt und angestachelt worden war durch den lebendigen Kontakt mit dem Institut nach seiner Rückkehr nach Frankfurt im Jahre 1950. Der Ruf nach Wiederveröffentlichung von Aufsätzen, die seinerzeit für das Hausorgan des Instituts, für die Zeitschrift für Sozialforschung, geschrieben worden waren, hatte in den sechziger Jahren das Erscheinen von Sammlungen, wie Herbert Marcuses Negations[2] und Max Horkheimers Kritische Theorie[3], zur Folge; sie ergänzten die bereits neu aufgelegten ausgewählten Schriften anderer Institutsmitglieder, so von Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal, Walter Benjamin und Franz Neumann.[4] Wenngleich es nicht in meiner Absicht liegt, die Geschichte des Instituts nach seiner Rückkehr nach Deutschland in extenso zu kommentieren, so möchte ich doch darauf hinweisen, daß ein Großteil der Aufmerksamkeit, die ihm heute zuteil wird, dem Wiedererscheinen von Arbeiten zuzuschreiben ist, die in der relativen Verborgenheit seiner ersten 25 Jahre entstanden sind.

Warum bislang keine Geschichte dieser Periode geschrieben wurde, ist nicht schwer auszumachen. Die Arbeit der Frankfurter Schule umfaßt so viele verschiedene Gebiete, daß zur bündigen Analyse eines jeden einzelnen eine ganze Gruppe von Wissenschaftsexperten erforderlich wäre; die Musikwissenschaftler dürften ebensowenig fehlen wie die Sinologen. Kurz, eigentlich bedürfte es dazu einer eigenen Frankfurter Schule. Die Schwierigkeiten, die den vereinzelten Historiker erwarten, liegen damit auf der Hand. Und sie waren es auch, die mich bei der Entscheidung zögern ließen, mich überhaupt auf dieses Projekt einzulassen. Sobald ich mich aber dazu entschlossen hatte und mich in die Arbeit des Instituts vertiefte, stellte ich fest, daß die Fachkenntnis, die mir in spezifischen Disziplinen fehlte, gerade dadurch aufgewogen wurde, daß mein Ansatz umfassend war. Denn ich begriff, daß im Denken der Frankfurter Schule eine fundamentale Kohärenz bestand, eine Kohärenz, die sich auf die gesamte Arbeit in nahezu allen Bereichen erstreckte. Rasch erkannte ich, daß Erich Fromms Erörterung des sado-masochistischen Charakters und Leo Löwenthals Abhandlung über den norwegischen Romanschriftsteller Knut Hamsun sich gegenseitig Lichter aufsetzten und in erklärendem Zusammenhang standen; daß Theodor W. Adornos Kritik an Strawinsky und Max Horkheimers Widerlegung der Schelerschen philosophischen Anthropologie eng zusammengehörten, daß Herbert Marcuses Begriff von der eindimensionalen Gesellschaft in Friedrich Pollocks Modell vom Statskapitalismus bereits vorgeprägt war und noch vieles mehr. Ich sah auch, daß selbst dort, wo sich Streitpunkte und Kontroversen ergaben, wie etwa zwischen Fromm und Horkheimer oder Pollock und Neumann, sie in einem gemeinsamen Vokabular und auf der Basis mehr oder weniger gemeinsamer Voraussetzungen artikuliert waren. Eine Übersicht über die Entwicklung des Institutes erschien mir deshalb – trotz der möglicherweise oberflächlichen Behandlung einzelner Punkte – als ein vertretbares Vorhaben.

Zudem schien mir bei der Entscheidung für ein solches Projekt der Zeitpunkt eine maßgebliche Rolle zu spielen. Zwar war eine Reihe von Institutsmitgliedern nicht mehr am Leben – wie Franz Neumann, Walter Benjamin, Otto Kirchheimer und Henryk Grossmann, um nur die wichtigsten zu nennen –, viele aber lebten noch, waren aktiv und in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn an einem Punkt angelangt, an dem ein historischer Bericht auf Gegenliebe rechnen durfte. Meine ersten Bekundungen von Interesse an der Geschichte des Instituts wurden denn auch durchweg positiv aufgenommen. Wieviel Unterstützung ich bei der Arbeit letztlich erfuhr, zeigen die folgenden Seiten, auf denen ich meinen Dank abstatten will.

Bei aller Hilfe, die mir bei der Rekonstruktion der Vergangenheit des Instituts zuteil wurde, möchte ich das Resultat keinesfalls als »Hofbericht« verstanden wissen. Offen gestanden sah ich mich aufgrund der widersprüchlichen Darstellungen einzelner Begebenheiten und der häufig differierenden wechselseitigen Beurteilung von Arbeiten ehemaliger Institutskollegen mitunter in die Lage des Beobachters aus dem japanischen Film Rashomon versetzt, der nicht weiß, welche Version er als die richtige ansehen soll. Meine jeweiligen Entscheidungen werden sicher nicht bei allen meinen Informanten Anklang finden; trotzdem hoffe ich auf ihren Beifall bei meinen Bemühungen, so viele kontroverse Punkte wie möglich zu klären. Hinzu kommt, daß meine Einschätzung der Leistung des Instituts keinesfalls gleichzusetzen ist mit der seiner einzelnen Mitglieder. Daß ich einen Großteil ihrer Arbeit bewundere, ist nicht zu leugnen; daß ich auf Kritik nicht verzichte, wo ich sie für berechtigt halte, wird – so hoffe ich – gleichermaßen deutlich. Dem kritischen Geist der Frankfurter Schule durch Kritik treu zu bleiben, scheint viel eher der ihr zukommende Tribut zu sein als fraglose und kritiklose Billigung alles dessen, was sie gesagt oder getan hat.

Wenn mir irgendein Zwang auferlegt war, so allein der der Diskretion. Mein Einblick in die äußerst informative Korrespondenz zwischen Horkheimer und Löwenthal mußte notwendig dort auf Grenzen stoßen, wo die Korrespondenten noch lebende Personen vor Peinlichkeiten oder Schwierigkeiten bewahren wollten. Diese Art von Kontrolle, die im übrigen nur sehr selten ausgeübt wurde, war der einzige Nachteil, der mir aus der Tatsache erwuchs, daß ich über Lebende schreibe. Kaum ein Historiker hat die Möglichkeit, seine Fragen so direkt an die zu richten, denen seine Untersuchung gilt. Ich habe dadurch nicht nur viele Dinge erfahren, die aus Dokumenten einfach nicht hervorgehen können, sondern ich hatte auch Gelegenheit, das Leben der Institutsmitglieder aus erster Hand kennenzulernen und gleichsam an Ort und Stelle das Maß an Bedeutung einzuschätzen, das ihren persönlichen Erfahrungen als Intellektuelle im Exil zukommt. Wenn ich mich in meinem Buch hauptsächlich mit dem Denken der Frankfurter Schule befasse, so hoffe ich doch, daß es mir daneben auch gelingt, einige jener Lebenserfahrungen und ihren Stellenwert in diesem Denken sichtbar zu machen. In vieler Hinsicht, im Guten wie im Bösen, sind dies nämlich die ganz besonderen und einmaligen Erfahrungen einer ungewöhnlichen Generation, deren historischer Augenblick heute unwiderruflich vorbei ist.

Persönlicher Dank

Eine besonders erfreuliche Seite meiner Arbeit an der Dialektischen Phantasie bestand darin, daß sie mir Gelegenheit gab, mit Leuten zusammenzutreffen, die in der Geschichte der Frankfurter Schule eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Ich lernte sowohl Kritiker wie Verfechter ihrer historischen und geistesgeschichtlichen Leistung kennen, einer Leistung, die im übrigen stets kontroverse Ansichten hervorgerufen hat. Ich habe von beiden Seiten viel gelernt und freue mich, hier allen meinen Dank aussprechen zu können. Gleichermaßen froh bin ich über die Gelegenheit, Freunden, Lehrern und Kollegen danken zu können, die mir in allen Stadien der Abfassung dieses Buches mit Rat und Tat zur Seite standen.

Zu den ehemaligen Institutsangehörigen, die mir freundlicherweise Interviews gewährten, zählen Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno (kurz vor seinem Tode im Sommer 1969), Erich Fromm, Karl August Wittfogel, Paul Massing, Ernst Schachtel, Olga Lang, Gerhard Meyer, M.I. Finley sowie Joseph und Alice Maier. Horkheimer, Marcuse, Fromm und Wittfogel nahmen außerdem die Mühe auf sich, Teile des Manuskripts nach seiner Fertigstellung als Dissertation im Fach Geschichte an der Harvard-Universität mit Anmerkungen zu versehen. Auch Jürgen Habermas, Alfred Schmidt und Albrecht Wellmer, das heißt Vertreter der jüngeren Generation der Frankfurter Schule, waren bereit, mir Fragen zu beantworten. Felix J. Weil habe ich zwar niemals persönlich kennengelernt, doch führten wir eine ausgedehnte und lebhafte Korrespondenz über das Institut, an dessen Gründung er einen so großen Anteil hatte. Seine Kommentare zu meinem Manuskript waren ungeheuer wertvoll für mich, wenngleich in der Interpretation gewisser Punkte eine Übereinstimmung zwischen uns ausblieb. Auch Gretel Adorno und Gladys Meyer habe ich für ihre briefliche Unterstützung zu danken.

Es gibt drei an der Geschichte des Instituts Beteiligte, deren Kooperation weit über das hinausging, was ich billigerweise erwarten durfte. Friedrich Pollock ließ im März 1969 in Montagnola in der Schweiz während unzähliger Stunden die fast fünfzig Jahre seiner Verbundenheit mit dem Institut vor mir wiederaufleben. Nach meiner Rückkehr nach Cambridge korrespondierten wir kontinuierlich über den Fortgang meiner Arbeit. Die Kapitel, auf die sein prüfender Blick vor seinem Tode im Dezember 1970 noch fiel, kommentierte er mit großer Genauigkeit. Der große Stolz Professor Pollocks auf die Leistungen des Instituts läßt mich zutiefst bedauern, daß ich ihm nicht mehr das gesamte Manuskript vorlegen konnte.

Leo Löwenthal war einer der ersten aus der Frankfurter Schule, mit denen ich zu Beginn meiner Forschungsarbeit sprechen konnte. Er widmete mir im Sommer 1968 in Berkeley viel Zeit und versah mich großzügig mit Informationen, indem er mich geduldig auf wichtige Punkte in seiner aufschlußreichen Korrespondenz mit Horkheimer hinwies, die mir entgangen waren. Sein Interesse an meiner Arbeit erlahmte auch in den folgenden Jahren nicht, und er ging, wie Pollock, mit großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit den ersten Entwurf des Buches kapitelweise durch. Wich meine Interpretation eines bestimmten Sachverhalts von der seinen ab, was gelegentlich vorkam, so versuchte er niemals, mir seine Auffassung aufzunötigen. Er begleitete die Fertigstellung meines Manuskripts, die, seit ich in Berkeley lebe, unter seinen Augen vonstatten ging, stets mit Rat und Tat. Unter all dem Nutzen, den meine Forschungsarbeit mir eintrug, stellt Löwenthals Freundschaft einen Gewinn dar, den ich besonders hoch schätze. Und schließlich förderte auch Paul Lazarsfeld durch beständige Ermutigung und klugen Rat den Fortgang meiner Arbeit. Obgleich er nie zum inneren Kreis des Instituts gehörte, war er aber stets an seiner Arbeit interessiert und seit Mitte der dreißiger Jahre am Rande auch mit seinen Unternehmungen beschäftigt. Dokumente und Briefe aus jener Zeit, die er aufbewahrt hat, stellte Lazarsfeld mir bereitwillig zur Verfügung. Mehr noch, seine theoretische Distanz zur Frankfurter Schule half mir eine Perspektive gewinnen, unter der ich ihre Arbeit sonst möglicherweise gar nicht gesehen hätte.

Kurz, ich stehe bei den noch lebenden Mitgliedern des Instituts in tiefer Schuld. Nichts zeugt mehr davon als Professor Horkheimers Bereitschaft, meiner Arbeit trotz seiner sehr ernsten Erkrankung einige einleitende Bemerkungen mit auf den Weg zu geben.

Kein geringerer Dank gebührt all jenen, die nicht zum Institutskreis gehören und ebenfalls zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Ich denke insbesondere an H. Stuart Hughes, einen meiner Lehrer; er betreute meine Dissertation stets mit großem Wohlwollen. Auch Fritz K. Ringer bin ich verpflichtet; er war es, der mein Interesse an deutscher Geistesgeschichte weckte und mein Manuskript mit Sorgfalt und Strenge prüfte. Meinen Freunden in Cambridge kann ich hier nur noch einmal bestätigen, was sie hoffentlich längst wissen, nämlich wie sehr ich sie schätze. Paul Breines, Michael Timo Gilmore, Paul Weismann und Lewis Wurgaft haben nach meinem Universitätsabschluß viel mehr für mich getan, als nur meinen Text mit kritischen Augen zu lesen. Auch meinen neueren Freunden, mit denen mich ein gemeinsames Interesse an der Frankfurter Schule verbindet, danke ich für ihre Hilfe; ich spreche von Matthias Becker, Edward Breslin, Susan Buck, Sidney Lipshires, Jeremy J. Shapiro, Trent Shroyer, Gary Ulmen und Shierry Weber. Natürlich habe ich auch viel von Gesprächen mit älteren Wissenschaftlern profitiert, die sich bereits früher mit dem Werk der Frankfurter Schule befaßt haben, unter ihnen Everett C. Hughes, George Lichtheim, Adolph Löwe und Kurt H. Wolff.

Meine neuen Kollegen in Berkeley haben mir in der kurzen Zeit, die ich hier bin, bewiesen, daß die alte Vorstellung von einer Gemeinschaft von Gelehrten nicht tot ist, sondern voller Leben sein kann. So sind insbesondere die Hinweise von Fryar Calhoun, Gerald Feldman, Samuel Haber, Martin Malia, Nicholas Riasanovsky, Wolfgang Sauer und Irwin Schreiner meiner Arbeit, wie sie heute vorliegt, förderlich gewesen. Weiter möchte ich William Philipps vom Verlag Little, Brown danken, dessen unerschütterliche Begeisterung und dessen wachsames verlegerisches Auge mir große Unterstützung waren. Annette Slocombe aus Lexington, Massachusetts, und Bojano Ristich mit ihrem Personal am Institute of International Studies in Berkeley leisteten mir einen unschätzbaren Dienst, indem sie das Manuskript zur Veröffentlichung fertigstellten, ebenso wie Boris Frankel, der mir beim Register half. Und schließlich ist es mir eine besondere Freude, der Danforth-Stiftung für die finanzielle und anderweitige Unterstützung zu danken, die mir nach meinem Studium den Lebensunterhalt sicherte.

Ich hoffe, die Liste von Dankesbezeugungen scheint nicht über Gebühr lang; aber es ist mir einfach daran gelegen zu zeigen, wie sehr die Dialektische Phantasie einem Gemeinschaftsprojekt nahekommt. Viele der Stärken im Text beruhen gerade auf dieser Tatsache; die Schwächen allerdings fallen allein in meine Verantwortung.

 

M.J.

I Die Gründung des Instituts für Sozialforschung und seine ersten Frankfurter Jahre

Eine der folgenschwersten Veränderungen, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, zumindest in ihrer Auswirkung auf die Intellektuellen, war die Verlagerung des sozialistischen Gravitationszentrums nach Osten. Der unerwartete Erfolg der bolschewistischen Revolution – ganz im Gegensatz zum dramatischen Fehlschlag ihrer Nachahmung in Mitteleuropa – stellte all jene vor ein schweres Dilemma, die bis dahin im Zentrum des europäischen Marxismus gestanden hatten, nämlich die Linksintellektuellen in Deutschland. Ihnen blieben, grob gesprochen, nur folgende Möglichkeiten: Entweder sie unterstützten die gemäßigten Sozialisten und ihre eben gegründete Weimarer Republik, was bedeutete, daß sie sich gegen Revolution wie auch gegen das russische Experiment aussprachen; oder sie akzeptierten Moskaus Führung, schlossen sich der neugegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands an und arbeiteten an der Unterminierung des bürgerlichen Kompromisses von Weimar.

Obwohl durch den Krieg und den Aufstieg der gemäßigten Sozialisten zur Macht viel konkreter und drängender geworden, hatte diese Alternative in der einen oder anderen Form bereits über Jahrzehnte hinweg im Mittelpunkt sozialistischer Kontroversen gestanden. Ein dritter möglicher Aktionskurs ergab sich indes, man könnte fast sagen folgerichtig, aus der tiefen Zerrissenheit marxistischer Vorstellungen, einer Zerrissenheit, die der Krieg und seine Nachwirkungen hinterlassen hatten. Diese dritte Möglichkeit war die gründliche Neuüberprüfung der Grundlagen marxistischer Theorie, verbunden mit der doppelten Hoffnung, in der Vergangenheit begangenen Irrtümern und Fehlern auf die Spur zu kommen, sie zu erklären und zugleich zukünftiges Handeln vorzubereiten. Damit setzte ein Denkprozeß ein, der zwangsläufig in die spärlich erhellten Regionen von Marx’ philosophischer Vergangenheit zurückführte.

Eine der entscheidenden Fragen in der unter dieser Perspektive vorgenommenen Analyse betraf das Verhältnis von Theorie und Verfahren oder präziser von Theorie und Praxis, wie der gebräuchliche marxistische Terminus dafür lautet. Locker definiert, stand Praxis für eine Art von sich selbst hervorbringendem Handeln im Unterschied zu äußerlich motiviertem Verhalten, welches durch Kräfte verursacht wird, die nicht der Kontrolle des Einzelnen unterliegen. Obwohl ursprünglich, soll heißen in der Metaphysik von Aristoteles, als Gegensatz zur kontemplativen theoria verstanden, implizierte Praxis im marxistischen Sprachgebrauch ein dialektisches Verhältnis zur Theorie. Tatsächlich bestand ein ganz wesentliches Kriterium von Praxis im Gegensatz zu bloßem Handeln darin, daß sie aus theoretischen Überlegungen gespeist wird. Als Ziel revolutionärer Aktivität wurde die Einheit von Theorie und Praxis angesehen, eine Einheit also, die in direktem Gegensatz zu der unter dem Kapitalismus herrschenden Situation steht.

Wie problematisch dieses Ziel in Wirklichkeit war, wurde in den Nachkriegsjahren, als erstmals sozialistische Regierungen an der Macht waren, immer deutlicher. Die sowjetische Führung sah ihre Aufgabe in erster Linie im Überleben und erst in zweiter Linie in der Verwirklichung sozialistischer Ziele – eine keineswegs unrealistische Einschätzung unter den herrschenden Umständen, aber kaum dazu angetan, Sozialisten vom Schlage einer Rosa Luxemburg zu beruhigen, die lieber überhaupt keine Revolution wollte als eine verratene. Auch die sozialdemokratische Führung der Weimarer Republik sah, wenngleich unter anderer Perspektive, ihr vordringlichstes Ziel im Erhalt der neuen Staatsform und nicht in der Verwirklichung des Sozialismus. Dem Gewerkschaftsbewußtsein, das sich, wie Carl Schorske gezeigt hat,[5] lange vor Ende des Zweiten Reiches in der Sozialdemokratie breitmachte, ist zuzuschreiben, daß alle, aber auch alle Chancen und Gelegenheiten einer Revolution in Deutschland vergeben und vertan wurden. Die Spaltung der Arbeiterbewegung in der Weimarer Zeit in eine bolschewisierte kommunistische Partei (KPD) und eine nichtrevolutionäre sozialdemokratische Partei (SPD) war für alle, die an der Reinheit der marxistischen Theorie festhielten, ein trauriges Schauspiel. Einige versuchten, sich der einen oder anderen Fraktion anzunähern. Aber wie die Geschichte von Georg Lukács zeigt, der gezwungen war, sich von seinem klugen Buch Geschichte und Klassenbewußtsein kurz nach dessen Erscheinen im Jahr 1923 zu distanzieren, bedeutete dies in vielen Fällen das Opfer der intellektuellen Integrität auf dem Altar der Parteisolidarität.

Wenn sich hingegen infolge persönlicher Vorlieben eine stärkere Bindung an die Theorie entwickelte als an die Partei, dann waren, selbst wenn damit auf die Einheit von Theorie und Praxis zeitweilig verzichtet wurde, die Ergebnisse im Hinblick auf theoretische Innovation mitunter außerordentlich fruchtbar. Eine zentrale These dieses Buches wird denn auch sein, daß die relative Autonomie jener Wissenschaftler, die die sogenannte Frankfurter Schule des Instituts für Sozialforschung bildeten, zwar einige Nachteile mit sich brachte, daß sie aber eine der Grundbedingungen für die theoretischen Leistungen war, die aus ihrer Zusammenarbeit hervorgingen. Ohne großen Einfluß in der Weimarer Republik und fast bedeutungslos in der Folgezeit des Exils, sollte die Frankfurter Schule in der Nachkriegszeit zu einer ganz entscheidenden Kraft bei der Wiederbelebung des Marxismus in Westeuropa werden. Und schließlich verschaffte Herbert Marcuses plötzliche Popularität in den späten sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule einen erheblichen Einfluß auch auf die Neue Linke in den USA.

Unabhängigkeit wurde im Institut von Anfang an als notwendige Voraussetzung für eine Arbeit erachtet, die Theoriebildung und uneingeschränkte Sozialforschung zum Inhalt haben sollte. Glücklicherweise standen die Mittel, die solche Bedingungen garantierten, auch zur Verfügung. Der Gedanke, diese Ziele im Rahmen eines Instituts zu verwirklichen, kam Felix J. Weil im Jahr 1922[6]. Er war der einzige Sohn des deutschstämmigen Getreidegroßkaufmanns Hermann Weil, welcher um 1890 aus Deutschland nach Argentinien ausgewandert war und dort ein beträchtliches Vermögen durch Weizenexport nach Europa erworben hatte. 1898 in Buenos Aires geboren, kam Felix Weil im Alter von neun Jahren nach Frankfurt aufs Goethe-Gymnasium, um sich später auch an der neugegründeten Universität dieser Stadt zu immatrikulieren. Von zwei wichtigen Semestern 1918–1919 in Tübingen abgesehen – Weil engagierte sich hier zum erstenmal für die Sache der Linken –, blieb er bis zu seiner Promotion (magna cum laude) in politischer Wissenschaft in Frankfurt. Seine Dissertation über die praktischen Probleme der Verwirklichung des Sozialismus[7] erschien in einer Monographienreihe, deren Herausgeber Karl Korsch war; Korsch war es übrigens auch, der als einer der ersten Weil für den Marxismus interessierte. Aus seinem ansehnlichen mütterlichen Erbe sowie aus dem Vermögen seines Vaters begann Weil eine ganze Anzahl radikaler Aktivitäten in Deutschland zu finanzieren.

Da war zunächst die Erste Marxistische Arbeitswoche (EMA), die im Sommer 1922 in Ilmenau in Thüringen stattfand. »Ihr zugrunde lag«, so Weil, »die Hoffnung, die verschiedenen marxistischen Strömungen könnten, wenn man ihnen nur Gelegenheit gab, ihre Differenzen auszudiskutieren, zu einem ›wahren‹ oder ›reinen‹ Marxismus gelangen.«[8] Unter den Teilnehmern der einwöchigen Konferenz befanden sich Georg Lukács, Karl Korsch, Richard Sorge, Friedrich Pollock, Karl August Wittfogel, Bela Fogarasi, Karl Schmückle, Konstantin Zetkin (der jüngere der beiden Söhne von Klara Zetkin), Hede Gumperz (damals mit Julian Gumperz, einem der Herausgeber der Roten Fahne, später mit Gerhart Eisler und schließlich mit Paul Massing verheiratet),[9] sowie etliche Ehefrauen, darunter Hedda Korsch, Rose Wittfogel, Christiane Sorge und Käthe Weil. Den größten Teil der Zeit verbrachte man mit der Diskussion von Korschs noch nicht veröffentlichtem Manuskript »Marxismus und Philosophie«. »Die EMA«, so schrieb Weil,[10]»war völlig informell, es hatten sich ausschließlich Intellektuelle zusammengefunden«, und »weder der Intention noch dem Resultat nach hatte sie auch nur im entferntesten etwas mit Fraktionierung oder Parteibildung zu tun.« Zu einer erwarteten Zweiten Marxistischen Arbeitswoche kam es deshalb nicht, weil eine ambitiösere Alternative an ihre Stelle trat.

Während der EMA war Weil die Idee einer festeren Institution gekommen; verschiedene Freunde an der Frankfurter Universität bestärkten ihn darin, und in gemeinsamen Überlegungen kristallisierte sich rasch eine klare Vorstellung davon heraus. Einer dieser Freunde war Friedrich Pollock; er hatte ebenfalls an den Diskussionen in Ilmenau teilgenommen. 1894 als Sohn eines assimilierten jüdischen Kaufmanns in Freiburg geboren, hatte sich Pollock, ehe er Soldat wurde, auf den Beruf des Kaufmanns vorbereitet. Nach Kriegsende nicht länger an Handel und Geschäft interessiert, studierte er an den Universitäten München, Freiburg und Frankfurt Politik und Ökonomie. 1923 promovierte er in Frankfurt summa cum laude zum Doktor rer. pol. mit einer Arbeit über die Theorie des Geldes bei Marx. Pollock hatte bereits vor dem Kriege, im Jahre 1911, Max Horkheimer kennengelernt, sie waren Freunde geworden, und nun pflichtete Horkheimer, der später zur wichtigsten Figur in der Geschichte des Instituts werden sollte, Pollock in der Unterstützung des Weilschen Planes zur Gründung eines Instituts für Sozialforschung bei.

Horkheimer, neun Monate jünger als Pollock, war 1895 in Stuttgart geboren. Auf Drängen seines Vaters Moritz, eines prominenten jüdischen Fabrikanten, erhielt auch er eine kaufmännische Ausbildung, ehe er in den Militärdienst trat. Horkheimer befolgte den Rat seines Vaters indes auch in anderen Dingen und unternahm 1913 und 1914 ausgedehnte Reisen nach Brüssel und London, um Englisch und Französisch zu lernen; er machte diese Reisen übrigens gemeinsam mit Pollock. Zu keinem Zeitpunkt jedoch waren seine Interessen allein die eines aufstrebenden Geschäftsmannes. Beweis dafür sind die zahlreichen Romane, die er (wenn auch, ohne sie zu veröffentlichen) in dieser Phase seines Lebens schrieb. Nach 1918 besuchte er in der Absicht, sich eine solide und profunde geistige Ausbildung zu erwerben, die drei Universitäten, an denen auch Pollock studierte. Er arbeitete zunächst auf dem Gebiet der Psychologie, und zwar unter dem Gestaltpsychologen Adhemar Gelb, schlug dann aber einen andern Weg ein, als er in Frankfurt erfuhr, daß ein dem seinen ganz ähnliches Projekt anderswo bereits ausgeführt war. Das Gebiet, dem er sich nun zuwandte, war die Philosophie, und sein neuer Mentor war Hans Cornelius.

Obgleich Cornelius niemals in direkter Verbindung zum Institut stand, übte er auf Horkheimer und seine Freunde großen Einfluß aus; wie groß er war, wird im nächsten Kapitel deutlich, wo wir die Elemente der Kritischen Theorie diskutieren wollen. Horkheimer promovierte 1922summa cum laude bei Cornelius mit einer Arbeit über Kant.[11] Drei Jahre später habilitierte er sich mit einer weiteren kritischen Würdigung von Kants Werk und hielt im Mai 1925 seine Antrittsvorlesung als Privatdozent über Kant und Hegel.[12]

 

Horkheimers Verhältnis zu Pollock war einer der Eckpfeiler des Instituts; es sei deshalb hier kurz erörtert. Aufschluß darüber gibt beispielsweise eine Passage in Ludwig Marcuses Autobiographie. Ludwig Marcuse – er hat nichts zu tun mit Herbert Marcuse – war in den zwanziger Jahren Theaterkritiker bei einer Frankfurter Zeitung. Eines Tages brachte Cornelius seine beiden jungen Schützlinge zu ihm ins Büro. Er hatte bei sich »einen werbenden, von Herzlichkeit überquellenden Mann, Max Horkheimer, und seinen reservierten, äußerlich strengeren Freund, Fritz Pollock; aber man sah auch ihm ein wenig an, was sich hinter seiner Zurückhaltung verbarg.«[13] Zu den Eigenschaften Pollocks, auf die Marcuse angespielt haben dürfte, gehörte eine außerordentliche Bescheidenheit und eine bedingungslose Ergebenheit Horkheimer gegenüber, die beider Freundschaft während der sechzig Jahre ihrer Dauer bis zu Pollocks Tod im Winter 1970 kennzeichnete. Von kurzen Unterbrechungen abgesehen, lebten die beiden Männer ihr ganzes Leben lang stets in nächster Nähe zueinander. Pollock übernahm die Rolle des pragmatischen, besonnenen Realisten, der in vielen Fällen die Angelegenheiten des Alltags regelte, um Horkheimer ein Höchstmaß an Zeit für seine wissenschaftliche Arbeit zu sichern. Horkheimer war ein sehr behütetes Kind gewesen; später fungierte Pollock immer wieder als Puffer zwischen ihm und der rauhen Wirklichkeit. Horkheimer, so erinnert sich ein Beobachter[14], war oft launisch und reizbar. Pollock dagegen war ausgeglichen, geradezu stur-solide. Die wechselseitige Ergänzung dieser beiden Charaktere war eine der Quellen für den Erfolg des Instituts. Daß Pollocks eigene wissenschaftliche Karriere bis zu einem gewissen Grad darunter litt, war ein Preis, den er zu zahlen gewillt schien. Obendrein war ein solches Ergebnis in den zwanziger Jahren natürlich kaum vorauszusehen.

Eigentlich hätten beide Männer und vermutlich auch Weil auf ihrem jeweiligen Gebiet mit einer erfolgreichen Karriere rechnen dürfen. Das äußerst rigide deutsche Universitätssystem hätte von ihnen dafür allerdings die Beschränkung ihrer umfassenden Interessen auf eine Disziplin, auf ein Fach verlangt. Zudem stieß die Art von radikaler Wissenschaft, die sie treiben wollten, auf wenig Gegenliebe in der etablierten akademischen Hierarchie. Selbst der nichtmarxistische, aber unkonventionelle Cornelius wurde von seinen Kollegen nicht als einer der Ihren betrachtet. Vor diesem Hintergrund schien Weils Idee eines selbstfinanzierten, eigenen Instituts für Sozialforschung eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich den üblichen Kanälen universitären Lebens zu entziehen. Themen wie Geschichte der Arbeiterbewegung und Ursprünge des Antisemitismus, die im Standardlehrplan für die deutsche Universitätsausbildung nicht vorkamen, konnten hier mit einer bislang unbekannten Sorgfalt und Gründlichkeit erforscht werden.[15] Der Plan wurde Felix’ Vater, Hermann Weil, vorgetragen und fand seine Zustimmung. Hermann Weil stellte als Anfangsfinanzierung zunächst 120000 Mark im Jahr zur Verfügung. Pollock schätzte den damaligen Wert dieses Geldes auf ein Vierfaches seines Nennwerts im Jahre 1970. Ein unverheirateter Assistent am Institut brauchte für seinen Unterhalt ungefähr 200 Mark im Monat. Im Lauf der Zeit wurde dieses Anfangskapital durch weitere Geldspenden, zum Teil von Weil, zum Teil aus anderen Quellen, erweitert. Es gibt jedoch meines Wissens keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß irgendwelche politischen Geldgeber im Spiel waren, auch wenn in späteren Jahren Verleumder des Instituts entsprechende Behauptungen in Umlauf setzten. Jedenfalls erlaubte Hermann Weils Stiftung, wenngleich es sich nicht um Riesensummen handelte, die Gründung und Erhaltung eines Instituts, dessen finanzielle Unabhängigkeit sich in seiner späteren Geschichte stets als großer Vorteil erwies. Obgleich Unabhängigkeit, und zwar finanzielle wie geistige, oberstes Ziel der Institutsgründer war, hielten sie es für tunlich, eine lockere Angliederung an die Frankfurter Universität anzustreben, zu der es allerdings erst im Jahr 1924 kam. Die ursprüngliche Idee, dem Institut den Namen Institut für Marxismus zu geben, wurde als zu provokant wieder fallengelassen und eine eher aesopische Alternative gesucht (übrigens nicht zum letzten Mal in der Geschichte der Frankfurter Schule). Der Vorschlag des Kultusministeriums, es Felix-Weil-Institut für Sozialforschung zu nennen, wurde von Weil mit dem Argument abgelehnt, »das Institut möge bekannt, vielleicht sogar berühmt werden aufgrund seiner Beiträge zum Marxismus als einer wissenschaftlichen Disziplin, nicht aber wegen des Geldes seines Begründers.«[16] Man entschloß sich zu dem schlichten Namen »Institut für Sozialforschung«. Weil lehnte auch ab, sich zu habilitieren und Privatdozent zu werden oder die Möglichkeit einer weiteren akademischen Karriere ins Auge zu fassen, um dann Direktor des Instituts werden zu können, weil, wie er meinte, »viel zu viele Leute denken würden, ich hätte mir die ›venia legendi‹ und später den Lehrstuhl ›gekauft‹«.[17] Der Leiter des Instituts mußte allerdings – so war es in der mit dem Kultusministerium erreichten Übereinkunft als Bedingung festgelegt – ordentlicher Professor an der Universität, d.h. Staatsbeamter sein. Weil schlug als Kandidaten einen Ökonomen von der Technischen Hochschule Aachen, Kurt Albert Gerlach, vor. Er selbst übernahm den Vorsitz in der Gesellschaft für Sozialforschung, dem Finanz- und Verwaltungsgremium des Instituts.

Gerlach teilte mit den Institutsgründern eine ästhetische und politische Abneigung gegen die bürgerliche Gesellschaft. Die ästhetische Abneigung hatte er im Kontakt zum Stefan-George-Kreis entwickelt, die politische durch Bekanntschaft mit den Fabians[5] während seiner Studienzeit in England. Sein Herz schlug eindeutig links. Pollock spricht von ihm viele Jahre später als einem nichtparteigebundenen Sozialisten[18], während die englischen Historiker F.W. Deakin und G.R. Storry in ihrer Studie über Richard Sorge schreiben: »Wahrscheinlich war er damals, ebenso wie Sorge, Mitglied der Kommunistischen Partei.«[19] Wie im einzelnen die politische Linie Gerlachs auch ausgesehen haben mag, er wurde auf Vorschlag Weils von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät als Professor und vom Kultusministerium als erster Direktor des Instituts akzeptiert. Anfang 1922 schrieb er ein »Memorandum zur Gründung des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt am Main«[20], in dem er die einzelnen Ziele des Instituts und ihren Zusammenhang klarlegte. Bald darauf kündigte er seine erste Vorlesung über Anarchismus, Sozialismus und Marxismus an, zu der es allerdings nicht kam, weil Gerlach bereits im Oktober 1922 im Alter von sechsunddreißig Jahren der Zuckerkrankheit erlag. (Seine Bibliothek von achttausend Bänden hatte er Weil vermacht, der sie dem Institut überließ.)

Die Suche nach einem Nachfolger konzentrierte sich auf einen älteren Wissenschaftler, der die Zeit überbrücken sollte, bis eines der jüngeren Gründungsmitglieder alt genug für ein Ordinariat an der Universität sein würde. In Betracht kam zunächst Gustav Mayer, der bekannte Historiker des Sozialismus und Biograph von Engels. Die mit ihm geführten Verhandlungen scheiterten jedoch nach Mayers Erinnerung an dem Anspruch Weils – den er später kurzerhand als Edelkommunisten abtat – auf totale Kontrolle über das geistige Leben des Instituts.[21] Falls dem so war, beharrte Weil zumindest nicht lange auf dieser Forderung; denn der nächste Kandidat, der den Posten dann auch übernahm, setzte sich sehr schnell durch. Weils Einfluß auf die geistigen Belange scheint in Wirklichkeit nie sehr groß gewesen zu sein.

Die Wahl des Nachfolgers für Gerlach fiel schließlich auf Carl Grünberg, der nach vielem Zureden seine Professur in Rechts- und Politikwissenschaft an der Universität Wien aufgab und nach Frankfurt kam.[22] Grünberg war 1861 in Foscani in Rumänien als Sohn jüdischer Eltern geboren (um in Wien einen Lehrstuhl übernehmen zu können, war er später zum Katholizismus übergetreten). Von 1881 bis 1885 hatte er in der österreichischen Hauptstadt Jura studiert, um danach – ebenfalls dort – die Laufbahn eines Juristen mit der eines Hochschullehrers zu verbinden. 1909 wurde er in Wien Professor, ein Jahr später begann er mit der Herausgabe des Archivs für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, kurz als Grünbergs Archiv bekannt geworden. Politisch war Grünberg erklärter Marxist, er wurde sogar als »Vater des Austromarxismus« bezeichnet.[23] Der Historiker dieser Bewegung hat die Berechtigung einer solchen Charakterisierung allerdings in Zweifel gezogen, als er schrieb, sie sei gerechtfertigt nur »insofern, als die Repräsentanten des Austromarxismus an der Universität Wien seine Schüler waren, nicht aber in dem Sinn, daß Grünberg selbst den Austromarxisten zuzuzählen wäre, da seine Arbeiten überwiegend historischen Charakter hatten und nicht dazu bestimmt waren, eine Einheit von Theorie und Praxis herzustellen.«[24] Grünberg scheint seine relative Indifferenz theoretischen Fragen gegenüber auch in Frankfurt nicht verloren zu haben. Auch wenn seine Zeitschrift hie und da einen theoretischen Artikel brachte, wie etwa im Jahr 1923 Karl Korschs wichtigen Aufsatz über »Marxismus und Philosophie« oder drei Jahre später Georg Lukács’ Kritik an Moses Hess[25], war sie doch vornehmlich historischen und empirischen Untersuchungen vorbehalten, die gewöhnlich auf einem recht undialektischen, mechanistischen Marxismus der Engels-Kautskyschen Prägung fußten. Mit Weils theoretischen Interessen stand es nicht viel anders, und Grünberg dürfte sich in voller Übereinstimmung mit der herrschenden Zielvorstellung von einem interdisziplinären Institut befunden haben, das seine Aufgabe in der radikalen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft sah. Das Problem der Nachfolge für Gerlach war damit zu dem Zeitpunkt, da das Institut mit der Arbeit beginnen konnte, befriedigend gelöst. Grünberg war, nebenbei gesagt, der erste erklärte Marxist, der in Deutschland einen Lehrstuhl innehatte.

Die offizielle Gründung des Instituts fand am 3. Februar 1923 aufgrund einer Verfügung des Kultusministeriums statt; ihr war eine Übereinkunft zwischen dem Ministerium und der Gesellschaft für Sozialforschung vorausgegangen. Professor Drevermann vom Senckenberg-Museum für Naturwissenschaft hatte dem Institut seine Räume zur vorübergehenden Benutzung angeboten, eine Einladung, die gerne angenommen wurde; man begann sofort mit der Arbeit, »inmitten von halbausgepackten Bücherkisten, an improvisierten Schreibtischen aus Brettern und unter den Skeletten eines Riesenwals, eines Diplodokus und eines Ichthyosauriers«, wie Weil sich erinnert.[26]

Im März 1923 wurde mit der Errichtung eines Gebäudes, welches das Institut beherbergen sollte, in der Viktoriaallee 17, nahe der Bockenheimer Landstraße im Universitätsviertel, begonnen. Franz Röckle, der von Weil beauftragte Architekt, entwarf einen schmucklosen, kubischen, fünfstöckigen Bau im Stil der Neuen Sachlichkeit, den die Avantgarde Weimars damals in Mode brachte. Die Ironie, daß das Institut in einem Haus logierte, dessen Architektur den Geist reiner »Sachlichkeit« spiegelte, über den die Kritische Theorie so häufig spottete[27], entging seinen Mitgliedern später keineswegs. Trotz alledem leisteten der Lesesaal mit seinen sechsunddreißig Plätzen, die sechzehn kleinen Arbeitszimmer, die vier Seminarräume mit hundert Plätzen und die Bibliothek, die Raum hatte für 75000 Bände, dem jungen Institut gute Dienste.

Am 22. Juni 1924 wurde das eben fertiggestellte Haus offiziell eröffnet. Grünberg hielt die Festrede.[28] Er betonte zunächst die Notwendigkeit einer forschungsorientierten Akademie, die er im Gegensatz sah zu der im deutschen Bildungswesen damals üblichen Tendenz, der Lehre auf Kosten von Forschung und Wissenschaft den Vorzug zu geben. Obwohl das Institut mit einem gewissen Lehrangebot aufwarte, wolle es unbedingt vermeiden, eine Ausbildungsstätte für »Mandarine«[29] zu werden, die nichts anderes gelernt hätten, als im Sinne des Status quo zu agieren. Indem er auf die Tendenz deutscher Universitäten hinwies, zu Zentren eines Spezialunterrichts – Institute zur Ausbildung von »Mandarinen« – zu werden, legte er den Finger auf eine alte Wunde der deutschen Geschichte. Mehr als hundert Jahre zuvor hatte Wilhelm von Humboldt versucht, eine Verbindung herzustellen zwischen »Universitäten«, die sich mit praktischer Ausbildung befaßten, und »Akademien«, die reine Forschung pflegten.[30] Im Laufe der Zeit war die kritische »Akademie« jedoch eindeutig von der auf Anpassung bedachten Universität als dem gültigen Modell höherer Ausbildung in Deutschland zur Seite gedrängt worden. Das Institut wollte diesem Trend von Anfang an entgegenwirken.

Des weiteren skizzierte Grünberg die Unterschiede zwischen der Verwaltung des Instituts und der anderer neugegründeter Forschungsgesellschaften. Im Unterschied etwa zum Führungskollegium des neu geschaffenen Kölner Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften, das von Christian Eckert, Leopold von Wiese, Max Scheler und Hugo Lindemann geleitet wurde, werde das Frankfurter Institut nur einen einzigen Direktor mit »diktatorialen« Befugnissen haben. Zwar sei die Unabhängigkeit seiner Mitglieder gesichert, die Bestimmung über die finanziellen Mittel des Instituts und über die Konzentration seiner Energien liege jedoch fest in der Hand der Leitung. Entsprechend war auch der dominierende Einfluß Max Horkheimers in Institutsangelegenheiten in späteren Jahren unbestritten. Dies mag zwar weitgehend der Kraft seiner Persönlichkeit und seines Intellekts zuzuschreiben sein, doch wurzelte seine Macht auch in der Struktur des Instituts, wie sie ursprünglich konzipiert war.

Grünberg schloß seine Eröffnungsansprache mit einem klaren Bekenntnis zum Marxismus als wissenschaftlicher Methode. So wie Liberalismus, Staatssozialismus und historische Schule in anderen Instituten beheimatet seien, werde das bestimmende Prinzip am Institut der Marxismus sein. Grünbergs Vorstellung von materialistischer Analyse war unkompliziert. Sie sei, so sagte er, »eminent induktiv; ihre Resultate beanspruchen keine Geltung in Zeit und Raum«, sondern hätten »nur relative, jeweils geschichtlich bedingte Bedeutung«.[31] Wahrer Marxismus, so fuhr er fort, sei nicht dogmatisch und suche nicht nach ewigen Gesetzen. Mit dieser Feststellung befand sich Grünberg in voller Übereinstimmung mit der Kritischen Theorie, wie sie später entwickelt wurde. Seine induktive Erkenntnistheorie hingegen fand nicht die Billigung von Horkheimer und den anderen jüngeren Mitgliedern der Gruppe. Dennoch war in den ersten Jahren des Instituts der Grünbergsche Ansatz bestimmend. In Grünbergs Archiv lag das Hauptgewicht stets auf der Geschichte der Arbeiterbewegung, auch wenn dann und wann eine theoretische Schrift erschien, z.B. Pollocks Untersuchung über Werner Sombart oder Horkheimers Aufsatz über Karl Mannheim.[32] Der Ton der Grünberg-Jahre, ein erheblich anderer, als er hernach mit Horkheimer als leitendem Direktor im Institut herrschte, ist recht gut eingefangen in einem Brief, den Oscar H. Swede, Student am Institut, im Jahre 1927 an den amerikanischen Marxisten Max Eastman richtete. Die relative Orthodoxie des Marxismus am Institut frustrierte den jungen Schweden, der darüber klagte, er verbringe seine Zeit

»… mit stundenlangen, ärgerlichen Diskussionen in einem marxistischen Institut, an dem eine jüngere Generation sich einer orthodoxen Religion und der Anbetung einer ikonographischen Literatur verschreibt, gar nicht zu reden von den Tafeln, voll gekritzelt mit mathematischen Kunststücken wie 1000 c + 400 v, soll heißen mit Marxschen Ausrechnungen von Kapitalfunktionen und dergleichen. Mein Gott! Wie viele Stunden habe ich damit zugebracht, Debatten in Seminaren und Studentenzirkeln zu lauschen, die sich um die Hegelsche Dialektik drehten, und keine einzige Stimme erhob sich, die darauf hingewiesen hätte, daß sich die Probleme nicht mehr durch »philosophische« Haarspaltereien lösen lassen (wenn sie sich überhaupt jemals so lösen ließen). Selbst der Leiter des Instituts [Grünberg] ist, konfrontiert mit einem Auditorium von enthusiastischen jungen Leuten, die davon überzeugt sind, daß die Relativitätstheorie nur eine Fortführung der bürgerlichen Ideologie ist, ersetze sie doch Newtons absoluten Materialismus durch beständig sich ändernde Vorstellungen, ferner, daß der Freudianismus (sic) und der Bergsonismus heimtückische Attacken aus dem Hinterhalt sind, und schließlich, daß der Krieg geführt werden kann mit dem Schwert in der einen und der ›Geschichte des Historiko-Materialismus‹ in der andern Hand … selbst er ist konstant dazu gezwungen, gegen die inneren Widersprüche einer marxistischen M.I. H.[6] zu argumentieren, und muß Abwehrmittel gegen die logische Folgerung ersinnen, wir könnten ruhig die Arme unter der Brust kreuzen und auf das Paradies warten, das aus dem Kompost kapitalistischer Fäulnis erblühen werde. Tatsache ist, daß ökonomischer Determinismus weder kämpferische noch schöpferische Kräfte hervorbringt; es wird keinen Kommunismus geben, wenn wir uns auf Kälte, Hunger und niedrige Löhne als Schleifer unserer Rekruten verlassen müssen.«[33]

Den von Swede geäußerten Unwillen über den phantasielosen Marxismus der Grünbergschen Jahre verspürten auch jene, die später das Institut leiten und schließlich die Frankfurter Schule bilden sollten; dennoch geschah in den zwanziger Jahren auf theoretischem Gebiet wenig Neues in dem von den Studenten so genannten »Café Marx«.

Symptomatisch für seine Position waren die engen Bande, die zwischen dem Frankfurter Institut und dem Marx-Engels-Institut in Moskau unter der Leitung von David Ryazanow bestanden.[34] Man fotokopierte unveröffentlichte Marx- und Engels-Manuskripte, die ein Kurier jede Woche aus der SPD-Zentrale in Berlin brachte, und sandte sie anschließend nach Moskau, wo sie in die gesammelten Werke, in die berühmte MEGA (Marx-Engels Historisch-Kritische Gesamtausgabe)[35] aufgenommen wurden.

Zur gleichen Zeit begann sich im Institut eine Gruppe junger Assistenten zu etablieren, deren Vergangenheit und Interessen recht unterschiedlich waren. Unter ihnen befand sich auch Richard »Ika« Sorge, der zwar für die spätere Entwicklung des Instituts die geringste Bedeutung hatte, dafür aber eine der faszinierendsten Figuren war, die je zum Institut gehörten. Die ungewöhnliche Geschichte seiner Spionagetätigkeit für die Russen im Fernen Osten während des Zweiten Weltkrieges und in der Zeit davor braucht nicht rekapituliert zu werden; sie ist allseits bekannt. Zunächst unabhängiger Sozialist und nach 1918 Kommunist, war Sorge Doktorand von Gerlach in Aachen. Er verband seine akademischen Aktivitäten mit Parteiarbeit; beispielsweise organisierte er illegal Arbeiter im Ruhrgebiet. 1921 heiratete er Gerlachs geschiedene Frau Christiane, was ihn erstaunlicherweise nicht die Freundschaft mit seinem Professor kostete. Als Gerlach ein Jahr später nach Frankfurt übersiedelte, folgte ihm Sorge dorthin. Nach dem plötzlichen Tod Gerlachs, der erster Direktor des Instituts hatte werden sollen, blieb Sorge noch für kurze Zeit Assistent; er wurde mit dem Aufbau der Bibliothek betraut. Das war eine Arbeit, die ihm gar nicht schmeckte, und als die Partei ihn 1924 nach Moskau rief, stand seinem Gehorsam nichts im Weg; er verließ Frankfurt ohne Zögern. Seine Verbindung zum Institut kann laut Deakin und Storry »nur eine nominelle, eine Möglichkeit der Tarnung«[36] seiner Arbeit für die Partei gewesen sein. Die übrigen Institutsmitglieder erfuhren jedenfalls erst in den vierziger Jahren, nach Sorges Enttarnung als Spion, von seiner beachtlichen Karriere als Geheimagent.[37]

Andere Assistenten am Institut betätigten sich trotz des offiziellen Vorsatzes der Gründungsmitglieder, das Institut von jeder Parteibindung freizuhalten, offen linkspolitisch. Karl August Wittfogel, Franz Borkenau und Julian Gumperz waren alle drei Mitglieder der Kommunistischen Partei. Politische Betätigung als solche stellte demnach also keinen Grund für Ablehnung oder Ausschluß aus der Gruppe dar. Dennoch konnte sie sich als hinderlich erweisen, wie das Beispiel von Karl Korsch zeigt, der in der thüringischen Regierungskoalition von SPD und KPD im Jahr 1923 Justizminister gewesen war und auch danach noch bis 1926 als prominenter Linksoppositioneller in der KPD arbeitete. Allein Wittfogel erinnert sich der Rolle Korschs in den ersten Jahren des Instituts als einer zentralen Rolle, alle anderen noch lebenden Mitglieder weisen diese Version zurück. Tatsächlich war Korsch an einigen Seminaren im Institut beteiligt und schrieb auch vor und in der Emigration hin und wieder Rezensionen für Institutspublikationen, eine volle Zugehörigkeit wurde ihm jedoch nie angeboten.[38]