Diät-Pralinen - Lucy Diamond - E-Book

Diät-Pralinen E-Book

Lucy Diamond

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Beschreibung

Maddie, Jess und Lauren lieben Schokolade und alles Kalorienhaltige. Ihre Freizeit verbringen sie lieber auf dem Sofa als auf dem Hometrainer. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, wo den dreien klar wird, dass sie abnehmen müssen. Maddie, um ihre Familie zu beeindrucken, Jess, um ins Hochzeitskleid zu passen, und Lauren, um endlich den Mann fürs Leben zu finden. Doch eigentlich haben sie nicht so sehr Probleme mit den paar überschüssigen Pfunden als vielmehr mit ihrem Selbstbewusstsein. Und mit der Liebe. Nur gut, dass ihre Freundschaft durch dick und dünn geht!

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Seitenzahl: 499

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Lucy Diamond

Diät-Pralinen

Roman

Aus dem Englischen von Nicole Seifert

1.Fix und fertig

MADDIE

Der peinlichste Moment überhaupt? Davon gab es schon einige in meinem Leben. Einmal ging ich die Harborne High Street hinunter, und mein Rock steckte aus Versehen im Höschen. Ich hab zwar gemerkt, dass die Leute kicherten und auf mich zeigten, dachte aber, das wären nur die üblichen Idioten, die denken, Übergewichtige sind entweder taub oder völlig immun gegen verletzende Kommentare.

Als mich eine freundliche Frau darauf hinwies, dass ich den Passanten einen hübschen Anblick böte, dachte ich, ich sterbe vor Demütigung. Es klatschte sogar jemand, als ich hinten an meinem Rock zerrte. Ich hab richtig gemerkt, wie mein Gesicht rot und heiß wurde. Im Café Nero musste ich mir dann erst mal zwei Mandelcroissants und einen großen Cappuccino genehmigen, bevor ich auch nur daran denken konnte, mich wieder auf die Straße zu trauen.

Es ist wohl überflüssig zu sagen, dass mich das Ewigkeiten verfolgt hat. Aber dann ist letzten Sommer bei der Arbeit was passiert, das noch tausendmal peinlicher war. Noch peinlicher sogar als damals mit sieben, als mein Kopf in einem Tor feststeckte (über eine Stunde lang) oder als ich bei dem Versuch, ein Foto von meiner Familie zu machen, rückwärts in einen Teich gefallen bin.

Ich arbeitete in Teilzeit bei einem der großen Radiosender in Birmingham, und ich liebte meinen Job. Na ja, bis zu jenem Tag jedenfalls. Das Radio war schon mein Freund, als ich noch ein schüchterner Teenager war, der im Schatten seiner gestylten Mutter stand. Mein Vater hatte unsere Familie schon lange verlassen – ein Glück für ihn–, es gab also zu Hause nur noch Mom und mich. Dabei war sie nicht gerade ein Fan des ruhigen Familienlebens. Jedes Wochenende gab sie Dinner- und Cocktailpartys und füllte das Haus mit schicken, schrill lachenden Frauen und kräftigen Kerlen mit dröhnenden Stimmen aus dem Theater. Ich verkrümelte mich lieber mit meinem Radio und diversen Süßigkeiten nach oben.

Das Radio hat mir an unzähligen Abenden Gesellschaft geleistet. Mein Lieblings-DJ war ein Typ mit honigsüßer Stimme, der Alex Morley hieß und mir das Gefühl gab, nur zu mir zu sprechen. Ich habe ihn mir als großen Mann vorgestellt, mit strubbeligen strohblonden Haaren, funkelnden blauen Augen und zerschlissenen Jeans. (Und ungefähr so sexy wie Sawyer aus Lost.) Ich habe es mir dann in meinem Sitzsack gemütlich gemacht, Lakritzschnecken gemampft und in Zeitschriften geblättert, während Alex mir was vorspielte. Die Enttäuschung war riesig, als Mom für mich ein signiertes Foto von ihm besorgte und sich herausstellte, dass er schwabbelige Pausbäckchen hatte, leicht schielte und dass nur ein paar fusselige Strähnchen seine Glatze überdeckten.

Na ja, wie auch immer. Durch das Radio habe ich mich weniger allein gefühlt, und ich konnte Alex Morley sogar seine schreckliche Frisur und seine gutgepolsterten Wangenknochen verzeihen (es stand mir schließlich kaum zu, darüber zu urteilen!). Seit damals träumte ich davon, dass eines Tages ich es sein würde, die in ein Mikrophon sprach und jemandem das Gefühl gab, mit der Welt in Verbindung zu stehen…

In meinem späteren Job war das allerdings nicht besonders wahrscheinlich, leider. Ich war Produktionsassistentin bei unserem lokalen Sender, Birmingham FM, und hatte das Glück, für Chip Barrett zu arbeiten, den Silberfuchs mit der sanften Stimme, der seit Jahren die Mittagssendung moderierte und bei «Frauen eines gewissen Alters» sehr beliebt war. Aber seit der neue Controller, Andy, angefangen hatte, sollte der Sender cooler und moderner werden. Also wurde der arme alte Chip ins Nachtprogramm verbannt, zwischen zwei und sechs Uhr morgens. Für seine alte Sendung wurde das hinterhältigste Biest im ganzen Land gefunden – für die ich dann das Pech hatte zu arbeiten.

«Guten Morgen, Birmingham! Ich bin Collette McMahon, und ich bin hier, um eure Augen zum Funkeln zu bringen und ein Lächeln auf euer Gesicht zu zaubern.» Das sagte sie jeden Tag zu Beginn ihrer Sendung. Sie war eine ziemliche Schlange, denn während sie dieses ganze süßliche Zeug redete, gestikulierte sie wild in meine Richtung oder schickte eine E-Mail, in der stand: «MADDIE, WIR HABEN HIER DRIN KEINEN KAFFEE MEHR!!!»

Jedes Mal überkam mich der Wunsch, ihr eine runterzuhauen. Ich bin Maddie Lawson, und ich bin hier, um dir einen spitzen Bleistift ins Auge zu rammen und dir eine zu kleben, Collette! Denn erstens hasste ich E-Mails in Großbuchstaben (viel zu aufdringlich), und zweitens war es nicht mein Job, der Moderatorin ihren Scheißkaffee zu bringen, und das wusste sie ganz genau.

(Hatte ich erwähnt, dass Collette McMahon gertenschlank ist und sehr attraktiv, mit schulterlangen schwarzen Haaren und graublauen Augen mit unverschämt langen Wimpern? Das machte es noch schlimmer.)

An diesem speziellen Tag kam Collette mal wieder zu spät. Ihre Sendung begann um elf Uhr morgens, und wir sollten beide um Punkt zehn da sein, damit wir den Ablauf mit Becky, der Produzentin, durchgehen konnten und genug Zeit hatten, alles vorzubereiten. Chip war immer schon um neun im Studio gewesen, er schrieb dann noch seine Überleitungen und bastelte an seiner Playlist – ein vollendeter Profi. Aber Collette flatterte herein, wann es ihr passte.

«Goooott, ist das heiß draußen», sagte sie, als sie gegen halb elf hereingebummelt kam, ihre Tasche auf den Tisch schleuderte und sich die riesige Designer-Sonnenbrille in die Haare schob. Sie hatte eine laute Stimme mit ziemlich vornehmem Akzent und wollte gern, dass jeder mitbekam, wann sie das Gebäude betrat. «Alles klar? Alle bereit für eine großartige Sendung?»

Becky sah verwirrt aus. «Sag du’s mir, Collette», antwortete sie. «Wo hast du gesteckt?»

Collette zog eine Grimasse. «Kein Grund, zickig zu werden», sagte sie. Dann guckte sie in meine Richtung, als würde sie mich zum ersten Mal sehen. «Hol uns einen Kaffee, Schätzchen, ich verdurste. Ist ziemlich spät geworden gestern.»

Kein bitte, wie ihr vielleicht bemerkt habt. Und dieses nervige «Schätzchen», als wäre ich sechzehn oder eine Praktikantin oder so was. Dabei war ich doch ein Jahr älter als sie, die dumme Kuh.

Ich wollte gerade aufstehen, als Becky eine Hand auf meinen Arm legte, um mich davon abzuhalten.

«Maddie hat keine Zeit, rumzurennen und dir Kaffee zu machen», sagte sie kühl. «Wir brauchen sie hier, damit sie mit uns die Sendung vorbereitet. Also, wenn du so weit bist, sollten wir jetzt den Ablauf durchgehen. Wir sind in nicht mal einer halben Stunde auf Sendung, also lass uns schnell machen.»

Collette wirkte eingeschnappt, befahl einer der Sekretärinnen, ihr Kaffee zu holen, und erdolchte mich mit ihren Blicken, als wäre es meine Schuld.

Die Sendung war eine Mischung aus Musik und Gesprächen, mit Anrufern und verschiedenen Ratespielen, je nach Wochentag. Zu meinem Job gehörte es, das Gerüst der Sendung zu erstellen, lokale Themen zu recherchieren, über die Collette vielleicht reden wollte, und Interviewpartner zu organisieren. Chip hatte gern Geschichten gemocht, in denen es menschelte – über den guten Samariter von nebenan oder das Mädchen, das Leukämie hatte und nochmal nach Disneyland fahren durfte, so etwas in der Art. Betty und ich wussten immer noch nicht genau, was Collettes Geschmack traf. Bisher schien sie vor allem daran interessiert zu sein, sich über Prominente lustig zu machen und Klatsch und Tratsch zu verbreiten.

«Okay», fing ich an und sah auf meine Notizen. «Um 11.15Uhr haben wir die Mittwochs-Anrufrunde – da könnten wir was über die Sommerferien machen, die bald anfangen und–»

«Nee.»

Ich starrte Collette irritiert an, weil sie mich so dreist unterbrochen hatte. «Äh… na ja, eine Menge unserer Hörerinnen sind Mütter, und deshalb–»

«Deshalb wollen sie über die verdammten Schulferien ganz bestimmt nicht sprechen, Schätzchen!», schnaubte sie. «Schon mal was von Realitätsflucht gehört? Was hast du sonst noch?»

Ich sah mit brennendem Gesicht auf meine Notizen. Chip hätte niemals so mit mir geredet. «Also, heute Abend werden die Birmingham-Restaurantpreise verliehen», begann ich zögernd. «Vielleicht…»

Sie schnalzte mit der Zunge. «Nicht besonders sexy», sagte sie. «Hör mal, überlass das mir, ja? Mir fällt für die Anrufrunde schon was Besseres ein. Was noch?»

Und so ging es weiter, Becky wurde ähnlich behandelt. Auch gefiel Collette das Mittwochsrezept von Phil, dem Küchenchef, nicht. («Ziemlich langweilig, oder? Er soll uns was Exotischeres vorschlagen.») Bei der Erwähnung einer Samba-Band, die ins Studio kommen und was vorspielen würde, verdrehte sie die Augen. Und als Becky sie an das Mittagsquiz erinnerte, gähnte Collette doch tatsächlich.

«Wir sollten langsam anfangen», sagte Becky irgendwann schnippisch und wickelte eine ihrer kastanienbraunen Korkenzieherlocken fest um den Finger. (Immer ein schlechtes Zeichen.) «Collette, ich fürchte, du wirst improvisieren müssen. Maddie, kümmerst du dich bitte um die Überleitungen.»

«Keine Sorge», sagte Collette, die Ruhe selbst, und stolzierte in den Aufnahmeraum.

«Natürlich», sagte ich – und war meinerseits alles andere als ruhig. Ich wusste inzwischen, wie Live-Sendungen im Radio funktionierten, klar. Aber bei Chip war immer jede Minute der dreistündigen Sendung geplant gewesen. Heute sah der Programmablauf erschreckend dünn aus, da Collette die Hälfte des Materials, das Becky und ich zusammengetragen hatten, ablehnte.

Ich hätte mir allerdings keine Sorgen zu machen brauchen. Collette hatte immer eine Menge zu sagen, das meiste entnahm sie direkt der Sun. Außerdem gab es ein ziemlich langes Telefonat, in dem es vor allem darum ging, die Big Brother-Teilnehmer niederzumachen. Kurz darauf begann sie einen Monolog darüber, ob sie sich am Wochenende die Haare kurz schneiden lassen sollte.

Und dann ließ sie die Bombe platzen.

«Ihr wollt im Sommer doch alle so gut aussehen wie möglich, oder, Leute?», gurrte sie ins Mikro. «Deshalb starte ich heute die Macht-Birmingham-schön-Kampagne, und zwar hier und jetzt. In den nächsten Monaten wird sich mein ganzes Team von Birmingham FM einer Schönheitsoffensive unterziehen.»

Becky wirkte nervös. «Wovon redet sie denn da?», zischte sie in meine Richtung. Wir saßen nur ein paar Meter von Collette entfernt, waren aber durch die schalldichte Glasscheibe des Studios von ihr getrennt. «Weißt du irgendwas davon?»

«Nein», sagte ich, ebenfalls nervös. Mir gefiel das boshafte Blitzen in Collettes Augen nicht, als sie zu mir herübersah.

«Ich zum Beispiel werde ein paar Beauty-Produkte testen, die uns das Bliss Spa vom Perfect Body-Fitnessstudio freundlicherweise geschickt hat.» Unbeirrt laberte sie weiter. «Und ich werde Vorher/​Nachher-Fotos in meinen Blog stellen, also seht sie euch an! Ich habe auch ein paar Shampoos und Proben von Saks für Becky organisiert, unsere wunderbare Produzentin. Die könnte sie mal ausprobieren.»

Becky lächelte – erleichtert, glaube ich – und zeigte Collette den erhobenen Daumen.

«Und was ist mit unserem süßen Controller, Andy Fleming?», fuhr Collette fort. «Schließlich ist er mein Boss… Also habe ich was ganz Besonderes für ihn: einen Tag im Spa des Serenity Hotels. Der hat’s gut! Wollen wir mal hoffen, dass er sich daran erinnert, wenn es um die jährliche Gehaltserhöhung geht, was, Andy?» Sie lachte über ihren eigenen Witz, dann sah sie mich an, und sofort fühlte ich mich wie eine Maus, die von einer gefährlichen Kobra entdeckt worden war.

«Und für Maddie, unsere Superassistentin…», gurrte Collette mit leuchtenden Augen. Sie machte eine Pause und lächelte dann ihr Killer-Lächeln. «Also, Maddie wird den Pfunden den Kampf ansagen! Ja, so ist es: Maddie wird eine FatBusters-Diät-Gruppe ausprobieren. Solche Gruppen gibt es in der ganzen Stadt, geht auf unsere Website, wenn ihr selbst ein paar Kilos loswerden wollt. Ich halte euch auf dem Laufenden, wie wir in den nächsten zwei Wochen vorankommen, also bleibt dran…»

Schnapp. Das Schicksal der Maus war besiegelt, die Kobra hatte gesiegt.

Meine Hände zitterten, mein Mund war trocken, und ich hätte am liebsten vor lauter Scham losgeheult. Ich brauchte jeden verbliebenen Fetzen Stolz, um nicht im selben Moment aus dem Studio zu rennen.

«Alles okay, Maddie?», fragte Becky besorgt.

Collette hatte den neuesten Hit von Girls Aloud aufgelegt und tanzte herum, als wäre nichts gewesen. Doch ihre Worte waren wie ein Stachel, der immer noch tiefer eindrang. Maddie wird den Pfunden den Kampf ansagen! Maddie wird eine FatBusters-Diät-Gruppe ausprobieren!

Diese schreckliche, schreckliche Frau! So eine Ziege. Jeder bekam irgendwas Nettes, nur ich nicht. Ich war die Witzfigur.

«Maddie? Alles okay?»

Ich nickte Becky stumm zu, war aber nicht imstande zu sprechen. Collette McMahon hatte gerade Tausenden von Hörern erzählt, dass ich fett war und etwas dagegen tun musste. Sie hatte mich vor der ganzen Stadt gedemütigt.

Als Kind war ich dünn. Groß und dünn, mit langen knochigen Beinen und spitzen Ellbogen. Aber irgendwie hat sich das geändert. Irgendwie bin ich immer dicker und dicker und dicker geworden, bis ich einen Meter fünfundfünfzig groß war und über hundert Kilo wog. Halb Frau, halb Kloß, das war ich. Im Supermarkt spürte ich die Blicke der Leute. Diese Blicke wanderten von mir direkt in meinen Einkaufswagen, offenbar in der Erwartung, dort Berge von Knabberzeug und Süßigkeiten vorzufinden. Also ignorierte ich sie und legte noch mehr Obst und Gemüse hinein. Das erwarteten sie nämlich nicht. Ich genoss die überraschten Gesichter. Sie wussten natürlich nicht, dass ich das andere Zeug online bestellte. Es wurde geliefert, wenn die Kinder in der Schule waren – meine geheimen Freuden: Käse, tütenweise Chips und diese kleinen Schokoriegel, die man auf Kindergeburtstagen verteilt. Guck, wie brav ich bin, sagte ich mir, wenn ich ein Mini-Mars aufriss und meine Zähne darin versenkte. Nur ein winziger kleiner Schokoriegel für mich! Später aß ich dann noch vier weitere. Bis ich am Ende des Tages schließlich auch die restlichen verschlang.

Das Problem war, ich liebte Essen. Das war schon immer so gewesen. Ich konnte kein Rezeptbuch zum reinen Vergnügen lesen – hmmmm, Hähnchenpastete und Kartoffelpüree mit Soße… ooooh, Schweinelendchen mit Knoblauch und Lorbeerblättern… mariniertes Lamm auf Rosmarinkartoffeln… Ich saß im Bett und bemühte mich, nicht auf die Seiten zu sabbern.

Es gibt aber auch nichts Besseres, als wenn Familie und Freunde am Tisch sitzen, die Küche voller wohlriechender Essensdämpfe, und ich mit gerötetem Gesicht und überglücklich einen riesigen Braten mit knusprigen, goldenen Kartoffeln servieren kann. Die Oooohs! und Aaaahs! und Das ist so köstlich! und Maddie, du bist die Größte! Wer würde das nicht mögen?

Die Kehrseite war, dass mir immer weniger gefiel, wie ich aussah. Ich schaute überhaupt nicht mehr in den Spiegel, weil ich keine Lust hatte, meine Doppelkinne zu zählen. Das Fett schien wie eine wabbelige rosa Hülle über mich gekrochen zu sein. Vom Hals bis über meine Knie. Auch um meine Taille befanden sich mehrere deutlich sichtbare Rollen, und wenn ich mich setzte, hatte ich immer Sorge, dass der Stuhl zusammenbrach.

Ich träumte davon, wieder dünne, schön geformte Beine zu haben, einen flachen Bauch, einen überschaubaren Hintern. Heimlich wünschte ich, ich hätte den Mut (und das Geld), mir das Fett absaugen und den Magen verkleinern zu lassen.

Glücklicherweise schien es Paul nichts auszumachen. Mein Mann liebte mollige Frauen. «Mehr zum Festhalten», sagte er liebevoll, wenn auch eher unromantisch. «Für mich siehst du immer noch aus wie eine Prinzessin, Babe.»

Wenigstens sah einer von uns das so.

Am Tag nach der Radio-Pleite wurde dann alles noch schlimmer. Die Schule meiner Kinder feierte den «Tag des Sports», und die Mütter sollten ein Wettrennen veranstalten: Willkommen in der Hölle.

Ich hatte nur wenig geschlafen und fühlte mich immer noch verwundbar wegen des vergangenen Tages. Meine Tochter Emma spürte diese Schwäche und stürzte sich auf mich.

«Mom, weißt du noch, dass heute Tag des Sports ist?», fragte sie. «Du kommst doch heut Nachmittag, oder?»

«Ähm…», hob ich an und strich Butter auf einen Frühstückstoast. Ich hatte den Nachmittag frei und eigentlich vorgehabt, mit der Heckenschere den Dschungel zu bearbeiten, zu dem unser vernachlässigter Garten geworden war.

«Bitte, Mom, du kommst nie zum Tag des Sports!», beklagte sich nun auch ihr Bruder Ben. «Alle anderen Mütter kommen.»

«Außerdem möchte ich so gerne, dass du zuschaust, wenn ich mit Amber das dreibeinige Wettrennen mache», fügte Emma hinzu. «Wir haben so viel geübt, und wir sind wahnsinnig schnell. Wir könnten sogar gewinnen!»

Ich blieb stumm. Es war ja überhaupt kein Problem, ihnen dabei zuzusehen, wie sie übers Spielfeld rannten. Ich hatte nur all diese Horrorgeschichten über die obligatorischen Wettrennen der Mütter aus den letzten Jahren gehört, und es war absolut klar, dass mich keine zehn Pferde dazu bringen würden, da mitzumachen.

«Das ist mein letztes Jahr in Highbridge», fuhr Emma in leicht anklagendem Ton fort. «Und du warst nicht bei einem einzigen Tag des Sports. Letztes Jahr, als ich das Sackhüpfen gewonnen hab, hätte ich mir so gewünscht, dass du da gewesen wärst…»

Langsam fühlte ich mich unwohl. Ich bin morgens um Viertel vor acht nicht gerade auf der Höhe meiner Schlagfertigkeit und kann es nur schwerlich mit den Finessen einer Zehnjährigen aufnehmen.

«Ich muss arbeiten», sagte ich, stellte den Teller mit Toasts auf den Tisch und nahm mir einen.

«Aber nicht heute Nachmittag», entgegnete Emma vorlaut. «Du arbeitest doch donnerstags nur vormittags, oder nicht? Da kannst du doch am Nachmittag kommen.» Ihre Augen verengten sich, und dann holte sie zum Tiefschlag aus. «Also, wenn’s dich interessiert, meine ich, wenn’s dir nicht egal ist!»

«Oh, Emma», seufzte ich. «Natürlich interessiert es mich.» Ihre Worte machten mir ein schrecklich schlechtes Gewissen, und schon hörte ich mich selbst sagen: «Na gut… ich komme.» Sie hatte mich bezwungen. Ein lausiger Tag des Sports. Ein blödes Wettrennen der Mütter, das nach wenigen Minuten vorbei wäre. Wie schlimm konnte das schon sein?

Wenige Stunden später wurde mir klar, wie schlimm so etwas sein konnte. Ich war schon verspannt, bevor überhaupt der Startschuss ertönte – mein Herz klopfte wie verrückt, mein ganzer Körper war ein einziges Nervenbündel. Die Sonne brannte und hüllte alles in gleißendes Licht. Die anderen Läuferinnen redeten fröhlich miteinander, aber ich war innerlich so aufgewühlt, dass ich mich nicht konzentrieren, geschweige denn mich bewegen konnte. Warum hatte ich mich nur dazu überreden lassen?

Die Mütter neben mir an der Startlinie trugen alle knappe Hemdchen und Shorts und zeigten ihre gebräunte Haut. Ich war der weiße Fleck am Horizont, die Einzige in langen XXL-Hosen und einem überdimensionalen Oberteil, das so wenig Fleisch wie möglich zeigte. Plötzlich wünschte ich, ich hätte den vierten Toast zum Frühstück nicht gegessen. Oder die fettigen, salzigen Fritten zum Mittagessen. Oder die Berge von Kuchen und Schokolade und Käse und Nudeln, die ich in den letzten Wochen verdrückt hatte…

Halt den Mund, Maddie, befahl ich mir. Zu spät ist zu spät. Außerdem befanden sich in der Menge zwei strahlende Kinder, die mir ermutigend zuwinkten. Ich erinnerte mich an Emmas zweiten Platz beim dreibeinigen Rennen mit ihrer Freundin Amber und an Bens begeisterten Gesichtsausdruck, als er an den anderen Zweitklässlern vorbeizog, um als Sieger das Ei auf dem Löffel ins Ziel zu bringen… Weiß der Himmel, wie eine Tonne wie ich zwei so schlanke, athletische Kinder hervorbringen konnte.

Als Mrs.Gable, die Konrektorin, zu uns herübersah und die Startpistole hob, entstand an der Startlinie leichtes Gedrängel. Ich entdeckte Vanessa Gray in meiner Nähe. Sie trug teuer aussehende Laufschuhe und hatte diesen entschlossenen Ausdruck in den Augen, den ich schon von den vielen Elternvertretertreffen an ihr kannte. Verstohlen schob sie ihren linken Ellbogen vor Jane Willis und setzte ihren Fuß ein paar Zentimeter weiter vor.

«Auf die Plätze…»

O Gott. Es geschah wirklich. Die Angst schwappte in mir herum wie das Wasser in einer Waschmaschine.

«Fertig…»

Vanessa Grays gesamte Haltung war angespannt, die Knie leicht gebeugt, wie ein Jaguar kurz vorm Sprung. Ihre Beine steckten in Radlerhosen aus Lycra, und die Haare wippten in einem perfekten, glänzenden Pferdeschwanz.

PENG!

Ungefähr vierzig Mütter rasten über den Sportplatz, die Jubelschreie und Anfeuerungsrufe der Zuschauer klangen in unseren Ohren. Vanessa sprintete voraus wie eine Besessene. Wahrscheinlich hatte sie das ganze Jahr lang dafür trainiert.

Ich dagegen keuchte, als würde meine Brust gleich explodieren. Wumm-wumm-wumm machten meine Turnschuhe (noch jungfräulich und weiß glänzend, gekauft nach einem guten Vorsatz für das neue Jahr) auf der Rennstrecke. Ich prustete wie eine Dampfmaschine, mein Gesicht war heiß und glänzend. Ich lief, so schnell ich konnte. Allerdings liefen die anderen Mütter irgendwie schneller.

Mein gequältes Lächeln gefror in dem Moment, in dem Vanessa Gray als Erste über die Ziellinie schoss und siegreich die Arme hochwarf, als hätte sie einen Weltrekord gebrochen. Widerstrebender Applaus von den Lehrern. Von denen mochte sie auch keiner.

Wumm-wumm-wumm. Vor mir ein Meer aus knackigen Hintern, rasenden Beinen und pumpenden Ellbogen.

Das Publikum, hundertsiebzig Kinder, saß im Schneidersitz auf beiden Seiten der Rennbahn. Alles um mich herum verschwamm. Hilfe! Ich war kilometerweit abgeschlagen. Inzwischen kamen noch andere Mütter über die weiße Ziellinie. Sie lachten und strichen sich die Haare aus dem Gesicht. Nur ich war noch auf dem Feld. Die Zeit schien stillzustehen.

Wumm-wumm-wumm.

Mrs.Gable erhob das Megaphon, um mich anzufeuern. Sie meinte es gut, gab mir aber den Rest. «Schneller, Mrs.Lawson, Sie schaffen das!»

O Gott, lass mich sterben, jetzt!

Die Kinder kicherten und lachten über die fette, unfähige, keuchende Mrs.Lawson, als sie endlich – endlich! – über die Ziellinie watschelte.

«Puuuh», keuchte ich und zwang mich zu lächeln, obwohl ich fürchtete, gleich einen Herzinfarkt zu erleiden. «Das reicht jetzt aber für diese Woche.»

Vanessa Gray hörte mich und schenkte mir ein frostiges Grinsen, das eindeutig Versager! bedeutete.

Ich suchte meine Kinder in der Menge, weil ich Bestätigung brauchte. Ich wollte sehen, dass ihre Daumen immer noch hochgereckt waren. Aber da stand Emma, mit vor Scham ganz roten Wangen, starrte mich finster an und blickte dann schnell in die andere Richtung. Ben wurde gerade von seinen Freunden aufgezogen und mit den Ellbogen bearbeitet. Er hielt zum Schutz die Arme vors Gesicht und sah verschämt zu Boden.

Mit jedem keuchenden Atemzug fühlte ich mich mehr wie die schlechteste Mutter im ganzen Land.

«Na, dann mach doch was dagegen», sagte Mom im Kommandoton, als ich später in ihrem Wohnzimmer saß und von meinem katastrophalen Tag des Sports erzählte. «Sieh’s positiv – als Motivation. Krieg deinen Hintern hoch und – warte mal.»

Ich versuchte, nicht zu stöhnen, als sie plötzlich mit ihrem türkisfarbenen Handy herumwedelte.

«Wo ist denn die Nummer vom Fitnessstudio? Die muss doch hier irgendwo sein», murmelte sie.

«Mom, ich geh nicht in dein Fitnessstudio», sagte ich. Aber sie hatte schon das Handy am Ohr, hob gebieterisch die Hand und verbot mir weiterzusprechen.

«Hallo, hier ist Anna Noble», säuselte sie. Die Stimme meiner Mutter klang so rauchig, dass sie einen eigenen Aschenbecher gebraucht hätte. «Ja, sehr gut, danke, Schätzchen. Ich wollte nur fragen, ob ich eine Probestunde für meine Tochter vereinbaren kann… Ja, sie möchte vielleicht einen Vertrag abschließen… Genau.»

«Möchte ich nicht!», zischte ich wütend und starrte sie an. Ganz bestimmt nicht. Fitnessstudios und ich passten einfach nicht zusammen. Ich hatte es mit Gymnastik probiert, aber wir waren ebenfalls kein gutes Paar – wie Fritten und Blutwurst: eine wirklich schlimme Kombination.

Und wieder fuhr ihre Hand hoch, wie bei einem Verkehrspolizisten. Stopp. Nicht sprechen.

Ich sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, aber sie schrieb irgendwas auf und merkte es nicht. «Diesen Samstag – oh, das ist wunderbar, Schätzchen, danke. Und vielleicht eine Tageskarte für den Rest der Familie? Ja, ein Erwachsener und zwei Kinder. Das ist großartig. Vielen Dank. Dann bis bald.»

Meine Mutter war in Birmingham recht bekannt, so eine Art Mythos. In den frühen Achtzigern war sie eins der Martini-Mädchen gewesen, damals, als alkoholische Getränke noch mit etwas mehr Sex beworben werden durften. Sie war die attraktive Frau im weißen Badeanzug, die in einer Flasche Bianco tauchte. Von allen Reklamewänden in Birmingham strahlte ihr makelloser Körper. Ich bin in der Schule damit aufgezogen worden («Ich hab heut Morgen die Möpse von deiner Mom gesehen») – aber das machte mir nichts. Ich war stolz auf sie. Außerdem hatte sie durch die Kampagne genug Geld für ein großes Haus in Edgbaston verdient und die Werbung als Sprungbrett für ihre spätere Karriere als Schauspielerin genutzt. Inzwischen war aus den langen Haaren ein glatter kastanienbrauner Bob geworden, und ihr Hals war ein bisschen faltig, aber sie hatte immer noch diese glühenden mandelförmigen Augen und fabelhafte Beine. Und offensichtlich glaubte sie immer noch, mich herumkommandieren zu können wie ein Kind.

Mit einem triumphierenden Blick legte sie das Telefon beiseite.

«Also, du bist Samstagmorgen um zehn bei einem Trainer namens Jacob gebucht», erklärte sie mir, stand auf und hielt eine Kristallkaraffe in meine Richtung. «Sherry?»

«Aber ich will nicht ins Fitnessstudio!», rief ich. Ich war vierunddreißig Jahre alt, aber ich fühlte mich wieder wie ein bockiger Teenager. «Ich will nicht zu diesem Jacob, ich…» Sie hielt mir immer noch die Karaffe entgegen, mit hochgezogenen Augenbrauen, als hätte sie meinen Ausbruch nicht mitbekommen. «Nein, danke», murmelte ich und knirschte mit den Zähnen.

Achselzuckend goss sie sich selbst etwas Sherry ein und nippte daran. Dann setzte sie sich neben mich auf das riesige rote Sofa und schlug graziös die Beine übereinander.

«Liebling», sagte sie sachlich. «Du bist hergekommen, damit ich dir helfe. Ich werde dir nicht wie Paul auf den Rücken klopfen und sagen, ‹Mach dir nichts draus, ich finde dich immer noch schön.›»

Ich senkte irritiert den Blick. Paul hatte tatsächlich genau das gesagt, als ich ihm die Geschichte erzählt hatte. Mach dir nichts draus, für mich bist du immer noch wunderschön. Was gibt’s zum Abendessen? Er schien kaum hingehört zu haben, es interessierte ihn überhaupt nicht, er hatte einfach das gesagt, was ich hören wollte.

«Ich bin deine Mutter», fuhr sie fort, als müsste ich daran erinnert werden. «Ich kann ein paar unangenehme Wahrheiten ertragen. Ja, du bist meine hübsche Maddie, die wunderbarste Tochter und der großartigste Mensch, den ich kenne.» Meine Augen kribbelten bei diesem unerwarteten Kompliment. «Aber du bist auch übergewichtig und alles andere als fit. Und deshalb werde ich dir dabei helfen, dieses Problem anzupacken.»

Ich hüllte mich in Schweigen und wünschte, ich hätte doch einen Sherry genommen. Einen ganzen Krug von dem Zeug.

«Samstag also», sagte sie, und damit war das Thema für sie beendet.

2.Sweets for my Sweet

JESS

«Oja», stöhnte er unter mir. «Ohhhh… Ja… Das ist so verdammt gut…»

Lächelnd beugte ich mich über ihn. Es ist doch immer wieder schön, ein Kompliment zu bekommen.

«Du bist wunderbar», murmelte er mit belegter Stimme. «Du bist einfach die Beste…»

«Ich wette, das sagst du zu allen Mädchen, Matt», neckte ich ihn und fuhr mit der Hand über seinen geölten, glänzenden Körper. Er hatte einen der haarigsten Rücken, die mir je untergekommen sind, aber das störte mich nicht. Ich hatte in meinem Job schon alles Mögliche gesehen.

«Nein», sagte er und verdrehte den Kopf, um mich anzusehen. «Mache ich nicht. Ich war wahnsinnig enttäuscht, als sie mir letztes Mal gesagt haben, dass du im Urlaub bist. Das andere Mädchen, das es letztes Mal gemacht hat, konnte dich nicht ersetzen, Jess.»

Ich erstarrte. Im Urlaub? Ich war seit Monaten nicht weg gewesen. Schön wär’s!

Kräftig knetete ich seine Schulterblätter weiter. «Wann war denn das?», fragte ich möglichst beiläufig.

Er war eine Weile still, solange ich einen Knubbel bearbeitete. Diese Typen aus der Wirtschaft sind an den Schultern immer furchtbar verspannt, voller Knoten und Unebenheiten, wie eine Seite mit Blindenschrift.

«Müsste im Juni gewesen sein», sagte er und seufzte wohlig, während meine Finger sich an ihm zu schaffen machten. «Ich hab angerufen und… Ooooh… JA! Sie sagten, du wärst nicht da und ich müsste stattdessen zu Juliet. Es war erbärmlich, sie hat Hände wie nasse Salatblätter. Überhaupt keine Muskeln.»

Ich grub mich in seine Schulter und drückte kräftig auf seine blasse, teigige Haut. Das war schon mal passiert. Dass Kunden nach mir fragten und gesagt bekamen, ich sei nicht da. Was sollte denn das?

«Mmmm…», sagte er und schnurrte fast vor Behagen. «Es ist jedenfalls gut, wieder in deinen fähigen Händen zu sein, Jess.»

«Das höre ich gern», antwortete ich. «Besteh nächstes Mal ruhig darauf, zu mir zu kommen. Ich hab keinen Urlaub geplant, lass dir also nichts erzählen… Und sonst? Was macht das Leben so?»

Matt sprach von seiner Arbeit, der Wohnung, die er in der Nähe von Cannon Hill Park gekauft hatte, und vom Fußball. (Er war ein großer Villa-Fan, wie mein Dad.) Und bevor ich michs versah, war die Stunde um und seine Haut ganz rot. Ich bedeckte ihn mit einigen unserer flauschigen grünen Handtücher und dimmte das Licht noch weiter runter.

«In Ordnung so?», fragte ich leise. «Ich gehe jetzt. Lass dir so viel Zeit, wie du willst. Bis nächstes Mal.»

Er grunzte leise, hob zum Abschied eine Hand und murmelte «Danke». Er klang, als würde er gleich einschlafen.

Ich verließ den Raum und war selbst ziemlich müde. Samstag ist der anstrengendste Tag der Woche, und ich hatte schon zwei Ganzkörpermassagen hinter mir, eine Bikini-Enthaarung, die eher einer Abforstung des Regenwalds gleichkam, plus eine Pediküre der müffelndsten Füße, die mir seit langem untergekommen waren. Am späteren Nachmittag würde noch ein Junggesellinnenabschied bei uns stattfinden, und das bedeutete für mich und meine Kolleginnen French Manicure und Gesichtsbehandlungen ohne Ende.

Aber jetzt hatte ich erst mal Pause. Ich griff nach meinem Portemonnaie und steuerte das Café ganz oben im Gebäude an. Unser Beauty-Salon war Teil eines großen schicken Fitnessstudios am Stadtrand, mit einem riesigen Gerätebereich, Swimmingpool, Squash-Plätzen, einer Sauna und drei Studios, in denen Kurse stattfanden. Nicht dass ich irgendwas davon genutzt hätte. Die Angestellten bekamen die Mitgliedschaft zwar ermäßigt, aber der Preis lag immer noch weit über meinen Möglichkeiten. Außerdem sparte ich schließlich gerade. Ich würde direkt vor Weihnachten heiraten und legte jeden Penny zur Seite, den ich in die Finger bekam.

Das Café lag im zweiten Stock, und man konnte von dort auf den Pool sehen und beobachten, wie die Schwimmer ihre Bahnen zogen, während man selbst fröhlich Kuchen in sich hineinstopfte. Kuchen würde es für mich heute allerdings nicht geben.

Ich werde brav bleiben, ich werde brav bleiben, schwor ich, als ich mich in die Schlange stellte. Ich würde nur einen Apfel nehmen (höchstens 47Kalorien) und eine Tasse Tee – natürlich mit entrahmter Milch! Ich musste nur immer an mein Brautkleid denken, sagte ich mir. Ich wollte schließlich eine verführerische Braut sein, kein weißer Elefant.

Gianni, der Besitzer des Cafés, sah mich und zwinkerte mir zu. «Oh, Jessica, Süße!», rief er. Er war in Walsall geboren, kam aber sehr italienisch rüber, wenn er ein bisschen theatralisch wurde. Die Mädchen liebten das. «Lass mich raten: Du willst heute was von meinem Zitronenkuchen, oder?»

Der verdammte Gianni mit seinen Tricks, er schien Gedanken lesen zu können! «Äh… für mich nur einen Apfel, danke», sagte ich und versuchte, nicht zu den Kuchen hinüberzugucken. Ich erspähte dennoch eine dicke Karamellschicht auf einem Schokoladenkuchen und musste den Blick abwenden, bevor ich schwach wurde. «Und eine Tasse Tee.»

«Aber ich hab ihn extra für dich gebacken», entgegnete Gianni und blickte mich mit schiefgelegtem Kopf und großen, traurigen Hundeaugen an. «Er ist so saftig und köstlich, mit knusprigen Zuckerkristallen obendrauf… Ich schneide dir ein großes Stück ab, ja?»

Ich schwankte. Und beging dann einen fatalen Fehler. Ich guckte mir den Kuchen an. Der cremige Guss glänzte gelb; die Mitte war ein wenig eingesunken und würde wunderbar klitschig sein. Einen Moment lang schien die Erde stillzustehen, und in meinem Kopf entbrannte ein Streit.

Nein, tu es nicht, das sind zu viele Kalorien, zu viel Zucker, denk an das Brautkleid! – Aber ich bin so müde und hab solchen Hunger, ich brauche was zu essen, nur ein winziges Stück, ich verspreche auch, nichts zu Abend zu essen, das gleicht es dann wieder aus…

«Also gut», hörte ich mich mit einem kleinen Seufzen sagen.

Während Gianni das Kuchenmesser schwang, ging in meinem Kopf sofort der Kalorienzähler an. Ratter, ratter, ratter: 330Kalorien, schätzte ich schuldbewusst, als das Messer in den Kuchen sank. Oder eher 400, bei dem Riesenstück, das Gianni gerade abgeschnitten hatte. Mein mittäglicher Salat – vergebene Mühe. In einem einzigen Moment hatte ich alles zunichtegemacht. Was war bloß los mit mir? Ich war so willensschwach. Erbärmlich. Ich war eine Versagerin.

«Danke», sagte ich, zahlte und nahm mein Tablett. Na ja, wenigstens hatte ich bei Matts Ganzkörpermassage gerade einige hundert Kalorien verbrannt. Außerdem musste ich mich für den Junggesellinnenabschied stärken.

Es herrschte ziemlicher Betrieb im Café, und kein einziger Tisch war mehr frei. Ich stand da mit meinem Tablett und fühlte mich einen Moment lang wie gelähmt. Ich wollte den Kuchen nicht durch den ganzen Fitnessbereich bis zum Aufenthaltsraum der Angestellten tragen – als Kosmetikerin trug man keine kalorienreichen Leckereien durch die Gegend, wenn rundherum lauter sportliche Typen versuchten, ihr überschüssiges Fett wegzubekommen. Und wenn Louisa mich mit dem Kuchen sah, würde sie bestimmt missbilligend die Augenbrauen hochziehen. «Sekunden im Mund – ewig am Bund», würde sie spotten.

«Darf ich mich dazusetzen?», fragte ich eine blonde Frau, die allein an einem Zweiertisch am Fenster saß und einen Kaffee trank. Sie war ganz schön mollig und schien den Plastikstuhl ziemlich unbequem zu finden. Ich wusste, wie sie sich fühlte. Diese Stühle waren ganz offensichtlich nur für athletische Hintern gemacht.

Sie nickte zerstreut – sie telefonierte gerade mit ihrem Handy –, aber erst, als ich mich setzte, merkte ich, dass sie weinte. Die Tränen liefen ihr nur so über die Wangen. O nein! Ich fühlte mich schrecklich. Die arme Frau… Das Letzte, was sie wollte, war sicher, dass ich in ihre Privatsphäre eindrang.

Ich knabberte verlegen an dem Kuchenstück, Zitronenguss und Zucker explodierten auf meiner Zunge, und gab vor, den Schwimmern zuzusehen. Ich wollte wirklich nicht darauf achten, was sie sagte.

«Das war mir so wahnsinnig peinlich», schluchzte die blonde Frau leise, einen Arm um ihre Körpermitte geschlungen, als wolle sie sich trösten. «Das war so gemein, wie er mich angesehen hat, als…» Sie sah mich an und senkte ihre Stimme. «Als wäre ich ein Stück Scheiße, Nic. Als wäre ich völlig wertlos.»

Ich zuckte zusammen, nippte an meinem Tee und sah zu, wie ein Kerl mit schütterem Haar und Wampe einer schlanken Frau im schwarzen Bikini zulächelte. Sie war eine dieser Frauen, die perfekt geschminkt ins Wasser gehen und es schaffen, dass ihre Haare trocken bleiben. Oh, das ist süß, dachte ich. Die beiden sind nicht mehr ganz jung, aber immer noch verliebt… Hoffentlich werden Charlie und ich auch so.

«Und jetzt sitze ich hier, und Paul macht der verdammten Vanessa Gray im Pool schöne Augen», sprach die blonde Frau unglücklich in ihr Telefon, «und er achtet noch nicht mal auf die Kinder. Seinetwegen könnten sie ertrinken!»

Hinter dem Kerl mit schütterem Haar alberten zwei Kinder herum. Aaaah! War der Glatzkopf etwa ihr Paul?, fragte ich mich und nahm noch einen Bissen von dem Kuchen.

«Ja, das wäre schön», fuhr die Frau fort, putzte sich die Nase und setzte sich etwas aufrechter hin. «Nach der Mistwoche muss ich entweder meine Sorgen oder mich selbst ertränken. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was besser wäre.» Sie kritzelte etwas auf ein Stück Papier. «Okay. Bis bald.»

Seufzend legte sie ihr Telefon auf den Tisch und nahm einen großen Schluck Kaffee, ihre Augen waren immer noch gerötet. Sie war vermutlich ein bisschen älter als ich, vielleicht Mitte dreißig. Ihr Gesicht war ziemlich hübsch, auf so eine Goldie-Hawn-hafte Weise, aber ihre Haut wirkte fleckig und geschwollen. Die Haare hingen ihr schlapp auf die Schultern, als hätte sie sich seit Monaten nicht um sie gekümmert. Sie war wie ich ein dickes Mädchen, mit Doppelkinn und ein paar Pfunden zu viel, die sie versuchte unter einem riesigen T-Shirt zu verstecken.

Ich räusperte mich. Ich war nicht gut darin, mich irgendwo einzumischen, aber ich konnte nicht anders. Ich hasste es, wenn es anderen schlechtging. «Sagen Sie mir einfach, wenn ich Sie in Ruhe lassen soll. Aber… ist alles okay?», fragte ich zaghaft.

Es gab eine Pause, und ich wollte mich gerade verziehen und mich dafür entschuldigen, meine Nase in ihre Angelegenheiten gesteckt zu haben, als sie endlich etwas sagte.

«Ich bin gerade mehr oder weniger misshandelt worden im Fitnessstudio», sagte sie mit einem schiefen Lächeln. «So ein pickliger pubertärer Typ namens Jacob hat mir gesagt, dass ich krankhaft fettleibig bin und lieber mal ein paar Übungen machen soll, bevor ich dem unmittelbar bevorstehenden Tod in die Arme taumele.»

«O nein!», rief ich entrüstet. «Das klingt ja furchtbar.»

«Ja», sagte sie und rieb sich mit der Papierserviette die Augen. «Ich weiß, dass ich fett bin, ich weiß, dass ich nicht Kate Moss bin, aber… Ehrlich, damit hat er nur bewirkt, dass ich nie wieder in ein Fitnessstudio gehe.»

«Das ist wirklich gemein», sagte ich. «Jacob, haben Sie gesagt? Und er arbeitet hier? Sie sollten das dem Manager melden. Das ist absolut nicht in Ordnung.» Ich wühlte in meiner Tasche und gab ihr ein Taschentuch. «Hier.»

«Danke.» Sie putzte sich die Nase und trank gierig den Rest ihres Kaffees. Dann stand sie auf, sie sah müde aus. «Na ja, ich gehe jetzt besser. Danke nochmal.»

«Gerne», sagte ich. «Machen Sie’s gut.»

Ich sah ihr nach, wie sie mit hängenden Schultern das Café verließ, als trüge sie alle Sorgen der Welt. Sie brauchte eine meiner Aromatherapie-Anwendungen, das war offensichtlich. Aber so zerknirscht und abwehrend, wie sie war, so guck-mich-bloß-nicht-an, war klar, dass sie mich abweisen würde, selbst wenn ich ihr jetzt hinterherrannte und ihr einen Gutschein gab. Ich war schließlich genauso: Ich konnte es nicht ertragen, wenn irgendjemand meinen nackten Körper sah. Außer Charlie natürlich. (Obwohl sogar er sich nicht gerade schmeichelhaft über ihn äußerte.)

Dann fiel mir siedend heiß ein, dass es schon fünf vor halb drei war und dass in fünf Minuten die Junggesellinnen zur Maniküre kamen. Ich stopfte das letzte Stück Kuchen so schnell in mich hinein, dass ich fast nichts schmeckte, und eilte davon.

Den Rest des Nachmittags war ich komplett beschäftigt. Es gehörten zehn Frauen zu dem Junggesellinnenabschied, und sie hatten eins unserer Extrazimmer gebucht, in dem sie zwischen den Behandlungen Perlendes und teure Snacks zu sich nahmen. Als ich der künftigen Braut die Nägel machte, sprudelte sie vor Aufregung fast über. «Die Hochzeit ist schon nächsten Monat! Mein Kleid ist von Caroline Castigliano, und es ist wunderschön», schwärmte sie. «Das sollte es aber auch sein, für das Geld! Mehr als zwei Riesen hat es mich gekostet. Aber beim Hochzeitskleid kann man doch nicht auf den Preis gucken, oder?»

«Nein, kann man nicht», bestätigte ich und strich eine dünne Schicht Unterlack auf ihren linken Daumennagel. Na ja. Man konnte schon auf den Preis eines Hochzeitskleides gucken. Ich hatte allerdings nicht vor, ihr zu erzählen, dass ich meins bei eBay ersteigern wollte und dass mein Budget bei 150Pfund lag.

«Für den Empfang haben wir im Langley Manor reserviert», fuhr sie träumerisch fort. «Hundertdreißig Gäste.»

«Ooh, toll», sagte ich und beugte mich über ihre Hand. Sie hatte einen riesigen Diamanten an ihrem Ringfinger, die Glückliche. «Und wo geht die Hochzeitsreise hin?» Erzähl mir mehr, dachte ich, erzähl mir von deinem Glück, bis mir vor Neid schlecht wird.

«Auf die Malediven, zwei Wochen.» Sie strahlte. «Sonne, Meer, Sand… und viel Sex. Ich meine, wenn wir–»

Sie unterbrach sich, und ich machte feinfühlig eine Pause beim Lackieren und steckte den Pinsel zurück in sein Fläschchen.

«Ich meine, wenn wir die Hochzeit überstehen», sagte sie schließlich und lachte nervös. «Ich stehe unter so einem Druck, damit der Tag absolut perfekt wird. Aber Damon scheinen die Blumen und die Gedecke nicht besonders zu interessieren, wir streiten uns dauernd, weil mich das wütend macht, und…»

Oh, Ärger im Paradies, also doch. Ich drehte das Fläschchen mit Unterlack fest zu und tätschelte ihren Arm.

«Wissen Sie was?», sagte ich. «Ich sehe hier ständig Bräute – jede Woche. Und sie sagen alle das Gleiche. Ich garantiere Ihnen, da muss jeder durch. Sogar ich. Ich heirate im Dezember und bin schon völlig gestresst.»

Na ja, das stimmte nicht ganz. Ich war zwar gestresst, aber eigentlich nur, weil Charlie die Hochzeit schon wieder verschieben wollte. Dabei sollte er mich jetzt endlich vor den Altar führen und mir den Ring anstecken. Ich wollte endlich heiraten!

Sie starrte mich unter ihren Wimpern hervor an, die so lang und dicht waren, dass Bambi neidisch geworden wäre.

«Wirklich?»

«Wirklich.»

Ich nahm den weißen Lack zur Hand und bestrich damit vorsichtig die Spitzen ihrer Nägel.

«Das wird alles wunderbar. Sie heiraten den Mann, den Sie lieben. Sie haben ein großartiges Kleid und ein tolles Restaurant. Familie und Freunde werden da sein… Also, versuchen Sie, daran zu denken. Das sind die Dinge, auf die es ankommt.»

Sie lächelte. Es war ein erleichtertes Lächeln. «Danke», sagte sie. «Wahrscheinlich haben Sie recht.»

«Und», fuhr ich fort, «kommen Sie am Tag vor Ihrer Hochzeit nochmal wieder, dann mache ich Ihnen die schönsten Nägel, die Sie jemals hatten.»

«Das tue ich», sagte sie ernst. «Das tue ich ganz bestimmt – wenn Sie mir versprechen, mich dann wieder so aufzumuntern. Ich werde dann sicher in einem schrecklichen Zustand sein.»

Ich grinste. «Das glauben Sie», sagte ich. «Ich wette, dass Sie dann viel ruhiger sind. Bis dahin ist alles organisiert. Und alles, was Sie dann noch tun müssen, ist, sich zurückzulehnen und die Dinge leichtzunehmen, ehe der Spaß dann am nächsten Tag losgeht.»

Ich konnte förmlich sehen, wie sie sich bei meinen Worten entspannte – ihre Schultern waren weniger angespannt, und ihre ganze Haltung wurde weniger steif. «Kosmetik-Therapeutin» wäre eine sehr viel passendere Berufsbezeichnung als das schlichte «Kosmetikerin», meiner Meinung nach. Tagein, tagaus hörte ich alle möglichen Bekenntnisse und Ängste der Leute. Eine gute Zuhörerin zu sein war in meinem Job genauso wichtig, wie die Produkte zu kennen. Die Kunden gingen glücklicher, als sie gekommen waren, und das machte mich auch zufrieden. Und wenn ich dann sah, dass sie wieder einen Termin bei mir gebucht hatten… das war das schönste Kompliment überhaupt. Denn dann wusste ich, dass ich es gut gemacht hatte.

Um fünf Uhr war ich endlich fertig und ging in den Aufenthaltsraum, um mich umzuziehen. Wir mussten im Salon eine weiße Tunika mit kleinem Mandarin-Kragen und ausgefallenen Metallknöpfen tragen. Für mich hatten sie extra eine in Größe vierundvierzig bestellen müssen, was ich von Louisa, der Assistentin der Managerin, immer wieder zu hören bekam. Seit Karen, unsere Managerin, im Mutterschutz war, wurde Louisa immer zickiger zu mir. Aber eines Tages, sagte ich mir, wenn ich endlich eine Diät gefunden hatte, die funktionierte und mich in Twiggy verwandelte, würde ich auch in Größe 36 passen wie meine Kolleginnen. Und es würde mir großen Spaß machen, Louisa die XXL-Tunika direkt ins Gesicht zu werfen und ihr Panda-Make-up überall zu verschmieren. Von diesem Moment träumte ich.

Meine Kollegin Phoebe zog sich gerade ein enges schwarzes Spaghettiträger-Top an, als ich den Aufenthaltsraum betrat. «Hi, Jess», sagte sie und fummelte sich vorm Spiegel die Haare hoch. «Du hast wohl heute alles richtig gemacht, wie? Ich hab gesehen, dass so ein Typ dir ein dickes Trinkgeld hinterlassen hat. Und eine der Junggesellinnen hat dich schon für die Anschlussmaniküre nächsten Monat gebucht.»

Ich wurde ganz rot vor Freude und fragte mich, ob das wohl die künftige Braut war. Dann fiel mir schlagartig etwas ein, und ich runzelte die Stirn. «Louisa hat gar kein Trinkgeld erwähnt», sagte ich.

Phoebes schmale Augenbrauen schossen in die Höhe. «Nein? Dann solltest du sie auf alle Fälle danach fragen. Zwanzig Pfund hat er dir dagelassen. Großer Typ, braune Haare.»

Matt. Was für ein Schatz. Ich legte mein T-Shirt bereit, ehe ich meine Tunika aufknöpfte. Zeig so wenig Fleisch wie möglich, das war mein Motto. Ich war am Anfang ziemlich entsetzt gewesen, als ich erfuhr, dass es keine separaten Umkleidekabinen gab. Seitdem war ich Expertin darin geworden, mich umzuziehen, ohne irgendwas zu enthüllen.

«Danke, dass du’s mir gesagt hast», sagte ich, als Phoebe ein bisschen Lippenstift auflegte und dann zum Ausgang eilte. «Hab ein schönes Wochenende.»

«Werd ich haben. Ich geh heut Abend mit den Mädels ins Gatecrasher – du musst irgendwann auch mal mitkommen, Jess!»

Ja, genau. Das Gatecrasher mit seinem Glamour-Dresscode, wo man nicht reingelassen wurde, wenn man nicht entweder Designerklamotten anhatte oder umwerfend attraktiv war.

«Ja, klar», war alles, was ich sagte. «Bis dann.»

Ich mochte Phoebe. Sie erinnerte mich an mich selbst vor ein paar Jahren – temperamentvoll und lebendig, immer mit den Mädels unterwegs, immer was zu lachen. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen, könnte wieder die sein, die mit Gemma, Nat und Shelley in einer WG zusammenlebte. Ich musste an all die verrückten Abende denken, an denen wir wilde Partys feierten, in unseren frechen schwarzen Kleidern und mit Absätzen, die so hoch waren, dass wir kaum auf ihnen laufen konnten. Und an die unzähligen Mädchenabende, die wir zu Hause verbracht hatten. Wir saßen in unseren Schlafanzügen und dicken flauschigen Socken rum, alle bekamen von mir eine Schönheitsbehandlung, und dann sahen wir zum x-ten Mal Schlaflos in Seattle und sprachen die Dialoge mit.

Aber so konnte man schließlich nicht für immer leben, oder? Und jetzt hatte ich ja Charlie.

Normalerweise verließ ich den Salon, indem ich durch das Fitnessstudio und durch den Haupteingang auf den Parkplatz ging. Aber es gab auch einen Ausgang zur Straße raus, durch den Salon und an der Rezeption vorbei. Louisa kümmerte sich noch um die Buchungen, hinter ihr die Glasregale, auf denen unsere schicken Kosmetikprodukte aufgereiht waren.

«Tschüs, Jess», sagte sie lässig, als ich auf sie zuging. Die alte Ziege hatte offenbar nicht vor, Matts Trinkgeld zu erwähnen.

Ich blieb vor ihr stehen und zwang mich zu einem Lächeln. «Ich hab gehört, es ist Trinkgeld für mich abgegeben worden.» Das war für mich ungewöhnlich dreist, aber zwanzig Pfund sind schließlich zwanzig Pfund. Ich würde bestimmt nicht zulassen, dass die in ihre Tasche wanderten. Außerdem dauerte es noch eine ganze Woche, bis das nächste Gehalt kam.

Louisas Augen weiteten sich überrascht. «O ja, das wollte ich gerade sagen», antwortete sie. Sie war so eine schlechte Lügnerin, es war ein Wunder, dass ihre Nase nicht einen ganzen Kilometer wuchs. Sie öffnete die Kasse, und ich sah ihre Hand über einem Stapel Zehner schweben. O nein, das machst du nicht, dachte ich, aber dann zog sie einen Zwanziger hervor und gab ihn mir.

Ich wusste, dass Louisa mich nicht mochte. Allerdings wusste ich nicht, warum. Ich war gut in meinem Job, ich arbeitete wirklich hart, ich war immer freundlich zu allen… und trotzdem lächelte sie mich nie an oder sagte irgendwas Freundliches.

«Ich hab auch gehört, dass eine der Junggesellinnen mich schon wieder gebucht hat», fügte ich hinzu. Wer A sagt, muss auch B sagen, dachte ich.

Sie erstarrte. «Jaaa», antwortete sie und tippte etwas in den Computer. «Ich hab überlegt, den Termin an Maisie zu geben, weil du an dem Tag schon ziemlich viele hast.»

«Das schaffe ich schon», sagte ich so energisch wie möglich. Ich konnte sehen, dass sie den Termin schon bei Maisie eingetragen hatte, also blieb ich stehen, bis sie die Namen geändert hatte, und merkte mir das Datum. Die Kundin– Francesca hieß sie – hatte eine Maniküre und eine Rücken-, Hals- und Schultermassage gebucht, offenbar vertraute sie mir. Als künftige Braut sollte Francesca eine Behandlung bekommen wie ein Star, das hatte ich ihr versprochen. Und ich wollte nicht, dass vor der großen Hochzeit die verdrehte Maisie auf sie losgelassen wurde, unsere Auszubildende.

«Gut», sagte Louisa spitz. «Also dann, tschüs.»

«Tschüs», sagte ich und steckte das Geld in mein Portemonnaie. Ich ging mit erhobenem Kopf hinaus, aber innerlich kochte ich. Was hatte Louisa bitte für ein Problem?

«Bist du da, Schatz? Ich bin zu Hause!»

Charlie brüllte immer, wenn er reinkam, obwohl wir nur eine kleine Erdgeschosswohnung mit Gipswänden hatten. Aber so war er eben – er liebte den großen Auftritt.

«In der Küche», rief ich und hörte, wie er im Flur seine Turnschuhe auszog.

Ich hatte mich so über Louisa aufgeregt, dass ich nicht wie sonst nach einer Samstagsschicht direkt nach Hause gefahren war, sondern am Supermarkt in Selly Oak gehalten und meine zwanzig Pfund für ein paar Leckereien ausgegeben hatte. Ja, ich weiß, wir sollten eigentlich für die Hochzeit sparen, aber manchmal muss man sich auch was Gutes tun, oder?

Ich wusste genau, was ich wollte: zwei saftige Steaks, einen Beutel junge Kartoffeln und knackigen grünen Salat. Das würde ein schönes Abendessen zu zweit geben! Ich nahm außerdem noch einen Schokoladen-Käsekuchen mit, und irgendwie gelangte auch eine Flasche Rotwein aus dem Sonderangebot in meinen Einkaufskorb.

Ich rührte gerade den gehackten Thymian und den Schnittlauch in meine Béarnaise-Soße, als Charlie in die Küche kam. Mein Charlie! Ich konnte immer noch nicht richtig glauben, was für ein Glück ich mit ihm gehabt hatte. Er war absolut traumhaft – eins dreiundachtzig groß, mit einem breiten Lächeln und perfekten Zähnen, schwarzen Haaren und den allerschönsten braunen Augen. Ich schmolz dahin wie die Butter in meiner Soße, wenn ich auch nur in seiner Nähe war.

Ich hatte Charlie kennengelernt, als ich noch mit den Mädels zusammenwohnte. Wir kamen auf unserem Weg in den Pub immer an seinem Haus vorbei, und da die Vorhänge im Wohnzimmer nie zugezogen waren, konnten wir ihn drinnen mit seinen Freunden vor dem Fernseher sitzen sehen. «Was für eine Verschwendung», klagte Gemma eines Abends, als wir die attraktiven Jungs mal wieder vor der Kiste sitzen sahen. «Warum gehen die denn nie aus? Wir wüssten mit denen schon was anzufangen, oder?»

«Fragen wir sie doch, ob sie mitkommen wollen», kicherte ich übermütig, denn wir waren auf dem Rückwegvom Pub, und ich hatte schon einige Weißweinschorle intus.

«Du meinst, wir sollen klingeln?», fragte Nat, die schon so wackelig auf den Beinen war, dass sie sich am nächsten Laternenpfahl festhalten musste. «Ist das dein Ernst?»

«Wir können ihnen auch einen Zettel schreiben», schlug ich vor. «Jungs, kommt doch mal raus, spielen…»

Jetzt kicherten wir alle. «Ja, hört auf, Fußball zu glotzen, ihr Idioten», warf Shelley ein. «Ihr werdet im White Lion gebraucht!»

Und so schrieben wir ihnen tatsächlich einen Zettel, als wir wieder zu Hause waren.

Hey, Jungs,

ihr müsst wirklich mehr ausgehen. Wie wär’s, wenn wir uns am Donnerstagabend im White Lion treffen? Wir sind um acht Uhr da.

Liebe Grüße, eure Mädels.

Ich hatte so viel getrunken, dass ich mutig genug war, um zurückzulaufen und den Zettel in den Briefkasten zu werfen. Und der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.

«Hattest du einen schönen Tag?», fragte Charlie und küsste mich auf den Kopf.

Ich lehnte mich dankbar an ihn. «War okay», sagte ich. «Viel los. Das hier ist in zehn Minuten fertig, okay?»

«Wunderbar», sagte er. «Ich geh nur kurz und guck, wie’s beim Cricket läuft.»

Unsere Küche war so schmal, dass kein Tisch hineinpasste, deshalb aßen wir abends meistens vor dem Fernseher. Heute Abend allerdings war mir nach einem festlicheren Rahmen gewesen. Ich hatte die Terrassenstühle und den Tisch aus dem Schuppen geschleppt, damit wir draußen essen konnten. Ich hatte die Spinnweben abgebürstet und die wild wuchernde Rose, die ich an der Rückseite des Hauses zog, nach ein paar samtigen Blüten abgesucht, die jetzt in einer breiten Vase schwammen. Dann war es auch schon an der Zeit gewesen, die Steaks in die Pfanne zu tun – Charlie mochte seins so roh, dass es einen praktisch noch anmuhte – und den Wein einzuschenken.

Da saßen wir also und aßen unser wunderbares Mahl im Abendsonnenschein, und alles schien perfekt. Erst als ich das Dessert und die Schlagsahne holte, kippte die Stimmung. Und ab da ging alles schief.

Charlie hob eine Augenbraue, als er den Käsekuchen sah, und blickte mich ernst an.

«Jess… was ist das?»

Ich presste nervös die Lippen aufeinander. «Der war runtergesetzt und…»

Er schüttelte den Kopf, und meine Worte erstarben.

«Böse, böse», sagte er und wedelte mit dem Finger. «Was ist denn mit deiner Diät, hm? Ich dachte, wir wären uns da einig.»

«Ja, aber…» Ja, aber ich hatte einen harten Tag, und die zwanzig Pfund haben ein Loch in meine Tasche gebrannt und… na gut, dann bin ich schwach geworden. Weil ich erbärmlich bin.

«Wenn du wirklich heiraten willst, Jess, dann musst du ein bisschen abnehmen. Weißt du noch?»

Ich ließ den Kopf hängen. Der Teller mit dem Käsekuchen war plötzlich schwer wie Blei. Ich hatte vierzehn Kilo zugenommen, seit ich mit Charlie zusammen war, und wir wünschten uns beide, dass ich schlanker wäre.

«Tut mir leid», sagte ich.

«Schon gut», sagte er. «Und jetzt schneid mir ein Stück ab, sei ein braves Mädchen.»

Ich schnitt ihm ein Stück ab und sah sehnsüchtig zu, während er seinen Kuchen aß und sich die Lippen leckte. Als er fertig war, tätschelte er sich zufrieden den Bauch. «Gutes Zeug», sagte er. «Danke, Schatz. Gib mir einen Kuss.»

Ich konnte die Süße auf seinen Lippen schmecken. Dann nahm er mich in den Arm. Und alles war wieder gut.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, weil ich immer an den Käsekuchen denken musste. Ich lag im Bett und stellte mir vor, wie es wäre, hineinzubeißen – den süßen, knusprigen Boden zu schmecken und die sahnige, weiche Schokoladenschicht. Ich konnte fast riechen, wie der köstliche Duft aus dem Kühlschrank drang. Also versuchte ich, an etwas anderes zu denken. Brautkleider zum Beispiel. Ich hatte neulich im Internet ein schönes gesehen, das angeblich perfekt war für eine vollere Figur, mit tiefem Ausschnitt und kurzen Puffärmeln. (An meinem Hochzeitstag würde ich auf keinen Fall meine fetten Schultern entblößen.) Die untere Hälfte fiel von der Taille ganz fließend in einer A-förmigen Linie. Das war die Art Kleid, die ich wollte. Startpreis bei eBay waren fünfzig Pfund. Nie getragen, hatte die Besitzerin geschrieben, wegen unvorhergesehener Umstände. Ob das hieß, dass sie eine Tonne abgenommen hatte und jetzt ein engeres Kleid kaufen musste? Ich hoffte es.

Aber es gelang mir nicht, mir das Brautkleid an mir vorzustellen. Der Käsekuchen interessierte mich viel mehr. Wenn ich was davon aß, würde Charlie es allerdings bestimmt merken und mir wieder vorhalten, dass er keine fette Braut wollte. Ich hasste es, wenn er das tat. Und ich wollte ihm wirklich keinen Grund geben, die Hochzeit erneut zu verschieben.

Charlie schnarchte neben mir, also kroch ich aus dem Bett und tappte durch die Küche. Nur die paar Krümel, die sowieso danebenliegen, sagte ich mir. Oder vielleicht eine ganz, ganz dünne Scheibe, dann würde ich endlich schlafen können.

Ich leckte den Finger an und las damit die Krümel auf (enttäuschend wenige), und dann schnitt ich – buchstäblich sabbernd – ein winziges Stückchen ab und verschlang es gierig. Es war köstlich. Aber der Genuss hatte nur ein paar Sekunden gedauert, da war er schon vorbei. Und nun?

Ich stöberte in den Schränken. Mein Appetit war jetzt angeregt. Toast? Dauerte zu lange. Müsli? Nein – zu kalt, mit der ganzen Milch. Ahhh! Cracker und Käse. Perfekt.

Ich stand in der dunklen Küche und aß Cracker mit dicken Scheiben Brie und fühlte mich dabei so verschlagen und schuldbewusst, als würde ich eine Bank ausrauben. Normalerweise tröstete mich so ein mitternächtlicher Imbiss. Aber in dieser Nacht stellte ich fest, während ich kaute und schluckte, kaute und schluckte, dass ich Tränen in den Augen hatte. Tränen, die meine Wangen nur so herunterliefen.

In letzter Zeit kam es mir vor, als wäre in mir eine Leere, die nie gefüllt werden würde, egal, wie viel Essen ich in mich hineinstopfte.

3.Klein beigeben

MADDIE

«Sie wollen sicher zu FatBusters. Gleich hinter der Doppeltür dort, Schätzchen», erklärte die lächelnde Frau und zeigte hinter sich.

Na, wunderbar. Ich hatte noch nicht mal gesagt, was ich im Gemeindezentrum wollte, aber sie hatte nur einen Blick auf mich geworfen und es erraten. Wieso dachte sie nicht, dass ich zu der Pilates-Stunde im ersten Stock wollte?

Ich lächelte höflich zurück und ging weiter, obwohl ich viel lieber sofort den Rückweg angetreten hätte. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich wirklich hier war. Als Collette live auf Sendung verkündete, dass ich im Rahmen ihres dummen Projekts an einem Diät-Kurs teilnehmen würde, hatte jede einzelne Zelle in meinem Körper rebelliert. Auf gar keinen Fall, hatte ich mit zitternder Stimme zu Becky gesagt. Selbst dann nicht, wenn ich so was eigentlich vorgehabt hätte – schon allein, weil der Vorschlag von Collette kam. Ich hätte bei meinem Nein bleiben sollen.

Aber nach der Katastrophe am Tag des Sports und dem Albtraum im Fitnessstudio war ich zu der schmerzhaften Einsicht gelangt, dass ich es, obwohl die böse Collette es vorgeschlagen hatte, vielleicht doch durchziehen sollte.

Ich sprach immer noch nicht wieder mit meiner Mutter, immerhin hatte sie mir diese Erfahrung im Fitnessstudio beschert. Mit der ganzen Familie war ich dort gewesen. Ein strammer Jüngling namens Jacob führte mich in einen kleinen Extraraum. Er hatte lange, muskulöse Beine und ein Sixpack, das sich unter seinem T-Shirt abzeichnete wie Wellblech. Das klingt jetzt vielleicht wie der Anfang eines Pornofilms, aber es wurde bald zu einem nicht jugendfreien Horrorstreifen!

Daran, wie Jacob vor mir durch die Tür schritt, konnte ich sehen, dass er nie ein Problem mit seinem Selbstwertgefühl gehabt hatte und noch nie beim Anblick seines Spiegelbildes zusammengezuckt war. Das machte mir Sorgen. Ziemlich große Sorgen sogar.

«Gut, dann wollen wir Sie mal auf die Waage stellen», sagte er mit leiser Skepsis in der Stimme, als frage er sich, ob er dafür ein Fuhrunternehmen beauftragen müsse.

«Soll ich meine Schuhe ausziehen?», fragte ich und deutete auf meine immer noch glänzenden Turnschuhe.

Er schüttelte den Kopf. «Nein, das ist nicht nötig», sagte er. Die Botschaft war offensichtlich: Was sollen die paar Gramm bei deiner Masse schon bringen, Dickerchen?

Mit angehaltenem Atem stieg ich auf die Waage, unfähig, ihm ins Gesicht zu sehen, als er mein Gewicht ablas.

«Oooo-kayyy», rief er. «Hundertvier Komma acht… Da tragen Sie ja eine ganze Menge mit sich rum, Mrs.Lawson.»

Ich ließ geknickt den Kopf hängen. «Ich weiß.»

«Lassen Sie uns mal ein paar Maße nehmen», sagte er und griff nach einem Gerät, das aussah wie eine große Pinzette. Dann schnürte er meinen Körper an verschiedenen Stellen ein und vermaß die dicksten Bereiche: Oberarm, Taille, Hüfte, Hintern. Es war quälend, wie nah dieser Adonis von einem Mann meinem schwabbeligen Körper dabei kam. Ich wusste, dass er sich ekelte.

Bemüht professionell stellte er ein paar Berechnungen an und vertiefte sich dann in eine Tabelle.

«Also, im Grunde sind Sie krankhaft fettleibig», erklärte er beiläufig, als sprächen wir über das Wetter. Bildete ich mir das nur ein, oder stand so etwas wie Verachtung in seinen Augen? «Oje, Mrs.Lawson», fuhr er fort. «Da haben wir aber einiges zu tun.»

Haben wir das?, dachte ich verzweifelt. Vielleicht beschloss er ja, dass ich ein hoffnungsloser Fall war. Aber unglücklicherweise waren die Demütigungen noch nicht vorbei.

Jacob führte mich durch das Fitnessstudio, das voll mit athletischen Leuten war, die auf Laufbändern und anderen Foltergeräten ackerten, alle mit ernster Ich-muss-fitter-werden-Miene. Aus den Lautsprechern plärrte laute Musik, und von den Wänden schrien motivierende Plakate:

Du SCHAFFST das!

Fitter, schneller, stärker!

Sag unserem Bauchmuskeltrainer

den Kampf an – heute!

Ich hasste es schon jetzt. Alles – die Musik, die Plakate, die dünnen Menschen. Ich begann, auch meine eigene Mutter zu hassen, weil sie das für eine gute Idee gehalten hatte.

«Dann wollen wir Sie mal aufs Trainingsrad hieven und sehen, wie fit Sie sind», sagte Jacob.

Hieven. Das hat er tatsächlich gesagt. Hieven, als wäre ich ein Wal – was ich in seinen Augen wahrscheinlich auch war. In einem Paralleluniversum hätte eine mutigere Version meiner selbst ihn in diesem Moment am Kragen gepackt, ihn gegen das Bauchmuskeltrainer-Plakat geschleudert und ihm gesagt, wie grob er zu mir war und wie schrecklich ich mich seinetwegen fühlte. Aber in der echten Welt schüchterten mich all die dünnen Leute in ihren Lycra-Klamotten zu sehr ein. Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie mich noch mehr angestarrt hätten als ohnehin schon. Also hievte ich mich auf das Trainingsrad.

«Hier muss man das Gewicht eingeben», erklärte Jacob und tippte auf einen kleinen Nummernblock. «Wie war das noch… ach ja – einhundertfünf Kilo.»

Die Frau auf dem Rad neben mir wandte uns neugierig das Gesicht zu, und ich spürte, wie ich rot wurde. Hatte Jacob überhaupt kein Taktgefühl? Oder war es seine Absicht, mich bloßzustellen?

«So», sagte er. «Zehn Minuten auf Level vier. Los geht’s.»

Tja, los ging’s. Es dauerte genau dreißig Sekunden, bis sich meine Beine anfühlten wie Wackelpudding, meine Lungen fast kollabierten und meine verschwitzten Haare sich aus meinem Pferdeschwanz lösten. Ich keuchte so laut, dass die Leute mich anstarrten, als wäre ich ein Freak. Am liebsten wäre ich sofort rausgelaufen, aber ich biss die Zähne zusammen und machte weiter. Und weiter. Und weiter.