Die 13. Hexe - Mark Hayden - E-Book + Hörbuch

Die 13. Hexe E-Book und Hörbuch

Mark Hayden

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Beschreibung

Conrad Clarke, ehemaliger Kampfjet-Pilot und vermeintlicher Verbrecher, erhält erst eine SMS und dann Besuch von keinem Geringeren als Odin. Der möchte, dass Conrad eine vermisste Hexe für ihn findet. Kein Problem, oder? Bevor Conrad "Ragnarök" sagen kann, taucht er in eine Welt voller Götter, Magier, Hexen, Zwerge und einem sehr aggressiven Riesenmaulwurf ein. Seine einzigen Waffen: sein schräger Humor und seine unkonventionellen Methoden.

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Seitenzahl: 426

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Zeit:9 Std. 31 min

Sprecher:Alexis Kara

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MARK HAYDEN

DIE 13. HEXE

Für Elle & Esmé,meine Mini-Nichte und meine Nano-Nichte

Inhalt

Prolog – Ein Phantom am Straßenrand

1 – Weihnachten in Gloucestershire

2 – Der Tower

3 – Gespräche mit seltsamen Menschen (Familie eingeschlossen)

4 – Unter die Erde

5 – Von Maulwürfen und Schwestern

6 – Hledjolfs Halle

7 – Schwestern, Schwestern

8 – Gastfreundschaft

9 – Schwung

10 – Zu viele Mütter

11 – Handtaschen in der Abenddämmerung

12 – Familien brauchen Väter. Offenbar.

13 – Zum Leidwesen mancher

14 – Die Vierzehnte Schwester

15 – Ein Gefallen für einen Gefallen

Anmerkung des Autors

Danksagung

Über den Autor

Prolog – Ein Phantom am Straßenrand

W ussten Sie, dass Götter Handys verwenden können? Nein? Ich auch nicht.

Es war ein höllischer Tag gewesen, und ich wusste, dass es noch viel schlimmer werden würde, wenn die Polizei mich einholte, vor allem, wenn sie das tat, solange ich noch die Waffe hatte. Warum sie nach mir suchten und woher ich meine Schussverletzung hatte, tut hier nichts zur Sache.

Die kugelsichere Weste hatte mir das Leben gerettet, aber meine Schulter pochte so stark, dass ich sicher war, sie sei gebrochen. Ich brauchte dringend einen Arzt, und zwar besser früher als später.

Aber erst mal musste ich die Waffe loswerden …

Es war in den frühen Morgenstunden, als ich meinen zuverlässigen Land Rover Defender auf der M40 in Richtung London steuerte und weg von der Spur aus Leichen, die zurück zur Morecambe Bay führte. Ich fuhr nur achtzig, denn das ist die höchste Geschwindigkeit, bei der sich der Defender noch wie ein normales Fahrzeug verhält. Fährt man schneller, wird man vom Fahrtwind taub, das Lenkrad vibriert wie ein Presslufthammer und das ganze Ding schaukelt wie eine Achterbahn bei einem Erdbeben. Außerdem schmerzte mein Bein. Ich fuhr über eine Bodenwelle, und die Erschütterung raste direkt durch mein Schlüsselbein. Reflexartig zuckte ich mit dem Arm, und wenn die Autobahn nicht komplett leer gewesen wäre, hätte ich eine Massenkarambolage verursacht. Als ich das Schild für eine Ausfahrt sah, beschloss ich, dass es Zeit war, ein ruhiges Plätzchen zu finden, um die Kalaschnikow loszuwerden und mich den Behörden zu stellen. Der Tag war grausame gewesen, aber er sollte noch viel merkwürdiger werden.

Ich hielt achthundert Meter von der Autobahn entfernt auf einem Rastplatz am Waldrand. Im Wagen war es knapp über dem Gefrierpunkt, draußen weit kälter. Allein der Gedanke, mit nur einer Hand ein Loch in den gefrorenen Boden graben zu müssen, war zu viel für mich. Vielleicht würden mich ein Kaffee und eine Kippe in Schwung bringen. Ich griff nach meinem Flachmann, als mein Handy piepte. Eine SMS.

Meine Hand erstarrte mitten in der Luft. Ich hatte mein Handy doch in St. Andrew’s Hall ausgeschaltet …

War es wahr, was man sich erzählte? Dass das GCHQ Handys über Fernzugriff einschalten konnte? Ich sah auf die SMS, die von jemandem stammte, der sich Allvater nannte. Ernsthaft? Doch ich hatte keine Zeit, um weiter darüber nachzudenken, denn die Nachricht lautete: Die Polizei wird in 10 Minuten hier sein. Suchen Sie einen Holzstapel 200 m vom Parkplatz entfernt im Wald.

Ich war noch nie so verwirrt und so schnell mit so vielen Problemen konfrontiert gewesen, doch in diesem Moment kamen meine Ausbildung, meine Erfahrung und mein ausgeprägter Überlebensinstinkt zum Tragen. Ich war früher bei der britischen Luftwaffe, flog für die Königin und das Land Hubschrauber, und zwar an einigen der unwirtlichsten Orte der Welt. Zu wissen, wann man handeln und wann man nachdenken muss, kann den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Jetzt war die Zeit zum Handeln gekommen.

Ich stieg mit schmerzenden Gliedern aus dem Land Rover und schnappte mir die AK-47, eine Decke und eine Taschenlampe. Dann machte ich mich auf den Weg in den Wald, wobei ich mein linkes Bein – das mit dem Schienbein aus Titan – nachzog. Im Wald lag viel Schnee, sodass mich die Reflexion meiner LED-Taschenlampe blendete, während ich in ihrem Licht nach einem Holzstapel Ausschau hielt. Als ich ihn fand, und zwar genau dort, wo er sich laut Nachricht befinden sollte, fragte ich mich, woher dieser Allvater eine so obskure Ecke Englands so gut kannte.

Der Holzstapel war mit frischem Schnee bedeckt und sah aus, als würde er bis zum Frühjahr unberührt bleiben. Mit den letzten Kräften meines unverletzten Arms rammte ich die Kalaschnikow in eine Lücke, legte die Decke darüber und bedeckte diese mit Schnee.

Schnaufend schleppte ich mich zurück zum Rastplatz und behielt dabei das grelle Licht der Scheinwerfer im Auge, die mich in die Wärme zurücklotsten. Auf halbem Weg erstarrte ich. Hinter meinem Auto stand er. Das Phantom.

Anfang des Jahres hatte ich eine Kopfverletzung erlitten. Seitdem tauchte in den merkwürdigsten Momenten eine schattenhafte, verhüllte Gestalt vor meinen Augen auf. Ich war als Privatpatient zu einer Neurologin gegangen, die mir sagte, ich hätte einen »Kurzschluss in der visuellen Verdrahtung«. Aber das wäre kein Grund zur Sorge. Vermutlich zumindest.

Der Defender hatte kein Rücklicht, aber ich sah das Phantom deutlicher als je zuvor: Hose aus grobem Stoff, langer Mantel und Kapuze über dem Gesicht. Bei jeder früheren Erscheinung hatte es einfach nur dagestanden. An diesem Abend hob es die Hand zum Gruß, und zwar genau in dem Moment, als mein Handy erneut piepte.

Die arktische Luft trieb mir Tränen in die Augen, und als ich sie endlich wegblinzelt hatte, war auch das Phantom verschwunden. Ich las die SMS: Gute Arbeit. Wir sehen uns nach der Wintersonnwende wieder.

Ich war wie betäubt. Betäubt vor Kälte, vor Schmerz, betäubt von dem, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden gesehen und getan hatte, und von dem Gedanken, dass ich möglicherweise den Verstand verlor, denn damit hätte ich auch verloren, wofür ich gekämpft und getötet hatte und wofür ich angeschossen worden war: eine weiße Weste, die Vergebung aller Sünden.

Die Zeit des Handelns war vorüber, jetzt war es an der Zeit, nachzudenken. Das dauerte etwa zwei Sekunden, dann jagte mir die Kälte einen Schauer über den Rücken und ins Schlüsselbein. Ich schrie vor Schmerz, was mir genug Energie gab, um mich zurück zum Rastplatz zu schleppen und mir einen Kaffee einzuschenken. Ich zündete mir eine Zigarette an und sah in der Ferne Blaulicht.

1 – Weihnachten in Gloucestershire

Nachdem das Krankenhaus mich wieder zusammengeflickt und die Polizei drei Tage lang meine Aussagen aufgenommen hatte, entließ man mich, damit ich mein neues Leben beginnen konnte. Haha.

Neben den lang- und kurzfristigen körperlichen Problemen hatte ich jetzt auch noch psychische. Die Sonnwende war vorbei, und ich hatte keinen Kontakt mehr zum Phantom, also konzentrierte ich mich auf das Hier und Jetzt.

Das Polizeirevier verließ ich mit einem Arm in einer Schlinge und ohne Transportmittel. Ich war in London, mein Zuhause war in Gloucestershire, und die Frau, die ich liebte, in Lancashire. Ich hoffte, dass eines Tages mein Zuhause, Mina und ich am selben Ort sein würden. Bis dahin arrangierte ich mich, so gut es ging.

Mina stand für mich an erster Stelle, aber unsere Zukunft, falls wir eine hatten, war kompliziert. Das größte Problem war, dass ich sie immer nur neunzig Minuten am Stück sehen konnte, und selbst dafür musste ich 400 Kilometer weit fahren. Aber das war es wert.

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, nahm ich ein Taxi zurück zum Bahnhof – es war Zeit, mich zu entspannen. Es war Heiligabend und ich auf dem Weg nach Hause, um dort Weihnachten zu verbringen.

Sie können sich nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich in Cheltenham Spa aus dem Zug stieg und meinen Dad sah, der an einer Zigarre paffte. Er sah aus wie immer: gut geschnittener Anzug, teurer Mantel und gebräunt von seinem Altersruhesitz in Spanien. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, wobei er weit nach oben schauen musste, denn ich bin einen Meter neunzig groß.

»Was ist passiert, Junge?« Er wies auf meinen linken Arm, der in der Schlinge steckte. »Das waren nicht die Taliban. Diesmal nicht.«

»Du solltest mal den anderen sehen. Er ist tot.«

Mein Vater warf mir einen finsteren Blick zu. »Will ich das wissen?«

»Du hast keine Wahl, ich werde es dir so oder so sagen. Kannst du mir mit dem Koffer helfen? Er ist zu schwer für mich. Es war schon ein Riesenproblem, ihn in den Zug zu bekommen.«

Er drückte den Stummel seiner Zigarre im Schnee aus und bewahrte ihn sorgfältig für später auf (im Auto durfte er auf Anweisung meiner Mutter nicht rauchen). Schnaufend und keuchend bugsierte er das Gepäckstück in den Kofferraum, dann machten wir uns auf den Weg aus Cheltenham in Richtung Clerkswell, das Dorf, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin.

Mit achtzehn zog ich von dort weg. Heute bin ich siebenunddreißig, aber mein Zuhause ist immer noch das Haus meiner Eltern. Allerdings steht jetzt sogar mein Name auf dem Eigentumsnachweis.

Während mein Vater unter erneutem Schnaufen den Koffer auslud, stand ich vor der Haustür. Elvenham House ist nicht besonders alt, der älteste Teil stammt aus den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts, als mein Urgroßvater James Clarke beschloss, dass ein solider, erfolgreicher Anwalt aus der Provinz ein solides, erfolgreiches Haus für seine wachsende Familie brauchte. Ich erwähne das nur, weil ich nicht den Eindruck erwecken will, dass ich in einem Schloss aufgewachsen bin, obwohl es zwei Treppenhäuser und Dienstbotenzimmer im Dachgeschoss hat. Nicht, dass wir Dienstboten hatten. Wir hatten immer nur eine Putzfrau und erst seit Kurzem Mrs Gower aus dem Dorf als eine Art Teilzeithaushälterin. Vielleicht lernen Sie sie später noch kennen.

Der auffälligste Teil des Hauses ist der gotische Mini-Turm zur Straße hin. Er ist zugleich der älteste Teil und über seiner Tür befindet sich ein abgenutzter Kalksteinblock, in den ein Drache eingemeißelt ist. Die Familienlegende besagt, die Steinmetzarbeit sei viel, viel älter ist als das Haus und man müsse den Drachen grüßen, wenn man von einer Reise zurückkehrt. Ich grüßte das Tier und hinkte um die Ecke. Mein Vater folgte mir und hatte Mühe, meinen Koffer über den Kies zu ziehen.

»Hallo, Schatz«, sagte meine Mutter. Sie stand mitten im kompletten Weihnachtschaos. Eine Rolle Geschenkpapier lag neben dem Truthahn, als hätte sie erst im letzten Moment gemerkt, dass es gar keine Alufolie war. Zwei Paar Socken (zweifellos mein Weihnachtsgeschenk) lagen gefährlich nahe an der Heizplatte des AGA-Herds und eine Schachtel Waitrose Luxury Pudding hielt die Seiten von Delia Smith’s Christmas offen. Meine Mutter ist keine schlechte Köchin – ganz im Gegenteil, sie ist sehr gut in allem, worauf sie sich konzentriert. Das Problem besteht darin, sie dazu zu bringen, sich zu konzentrieren. In diesem Augenblick überragte sie das Chaos, in der einen Hand ein iPad, in der anderen das Haustelefon.

Wenn ich sage, dass sie das Chaos überragte, dann meine ich das wörtlich – Mutter überragt alles außer mir. Einige sehr grausame Mädchen hatten ihr in Cambridge den Spitznamen Storch verpasst, und dieser Name blieb ihr während ihrer gesamten Zeit beim GCHQ erhalten. Der Ruhestand tut ihr auf eine Art und Weise gut, die Dad nicht nachvollziehen kann, weshalb er so tut, als sei er noch nicht in Rente.

»Es geht um Rachael«, sagte sie, starrte auf das iPad und ignorierte meine Verletzungen komplett. Wie immer. »Ich erreiche sie nicht. Deshalb weiß ich nicht, ob sie kommt oder wen sie mitbringt, wenn sie kommt.« Sie schenkte mir erstmals ihre volle Aufmerksamkeit. »Conrad, Schatz, glaubst du wirklich, dass sie lesbisch ist, oder ist das nur eine Phase?«

Meine Schwester war nicht geplant gewesen und ist zehn Jahre jünger als ich, also siebenundzwanzig. Ich bin zur Luftwaffe gegangen, als sie acht Jahre alt war, kenne sie also nicht sehr gut, aber ich weiß, dass sie nicht lesbisch ist. Das habe sogar ich mitbekommen. Wenn sie nicht nach Hause kam, dann wahrscheinlich deshalb, weil sie gehört hatte, dass ich hier sein würde.

Mein Vater hatte meinen Koffer im Flur abgestellt und stand in der Tür. »Brauchst du Hilfe, Mary?«, fragte er in der klaren Erwartung, dass sie keine brauchte. »Wenn nicht, habe ich gehofft, ich könnte das Wiedersehen mit dem Jungen ein bisschen feiern. Er hat eine Menge durchgemacht.«

»Später, Alfred. Ich brauche dich, um den Baum fertig zu schmücken, wenn Rachael nicht kommt und das übernimmt.«

Dad schaute verzweifelt in Richtung Dorfkneipe und legte seinen Mantel ab.

»Kann ich dir auch irgendwie helfen, Mum?«, fragte ich und deutete auf das Chaos.

»Geh auspacken. Du wärst mir nur im Weg. Wie soll ich dich begrüßen, Conrad?« Sie legte das iPad auf den Küchentisch und verstaute das Haustelefon in ihrer Schürze. »Darf ich dich umarmen oder bist du dafür zu schwer verletzt?«

Ich legte meinen unverletzten Arm um sie und küsste sie auf den Scheitel. So viel Mitgefühl hatte sie seit Jahren nicht mehr gezeigt.

Ich schleppte meinen Koffer die Haupttreppe hinauf, die, im Gegensatz zu der Mont-Blanc-Steigung der Dienstbotentreppe, zum Glück recht flach war. Oben ließ ich ihn fallen und sank auf dem Bett zusammen, erschöpft davon, dass ich jeden zweiten Muskel anspannen musste, damit sich mein Schlüsselbein und meine Rippen nicht bewegten. Kaum hatte ich »uff« gemacht, bekam ich eine SMS.

Zuerst hoffte ich, sie sei von Mina – sie hatte gesagt, dass sie versuchen würde, sich über Weihnachten ein Telefon zu leihen –, also rappelte ich mich wieder auf. Aber nein. Sie war von diesem Typen, diesem Allvater. Treffen an Ihrem Brunnen. In zehn Minuten.

Wer auch immer dieses Phantom erschaffen hatte und nun spielte, wusste genug über meine Familie, um von »unserem« Brunnen zu sprechen. Langsam beunruhigte mich das.

Die Familie Clarke lebt hier seit mindestens dreihundert Jahren, vielleicht sogar länger. Es ist gut dokumentiert, dass das Dorf früher ein Klostergehöft war und seinen Namen – Clerkswell – von einer Quelle hat, die von einem Angestellten des Klosters zur Wasserversorgung der Dorfbewohner verwendet wurde. Zu gegebener Zeit grub man in der Nähe der Kirche einen größeren, tieferen Brunnen, von dem alle nun glauben, er sei der Clerk’s Well. Ist er aber nicht. Der ursprüngliche Brunnen befindet sich am äußersten Ende unseres Grundstücks, wo das Land zum Kalksteinplateau der Cotswolds hin ansteigt, genau an der Stelle, wo man eine Quelle erwarten würde. Der Gemeinderat war nicht begeistert, aber meinem Vater gelang es, ihn davon zu überzeugen, dass Elvenham House den ursprünglichen Clerk’s Well besitzt, und so benannte man den Hochstaplerbrunnen in Church Well um. Es kostete Vater ein Vermögen, zu beweisen, dass wir den Originalbrunnen besitzen. Als erstes installierte er eine Leitung direkt zur Dorfkneipe, damit diese ihr eigenes Bier »mit Wasser aus dem originalen Clerk’s Well« brauen konnte. Das trinke ich immer, wenn ich dort bin, und es schmeckt sehr gut.

Diese Erinnerungen boten mir eine gute Möglichkeit, die Begegnung mit dem Phantom aufzuschieben. Jetzt hatte ich nur noch fünf Minuten Zeit.

Ich humpelte die Treppe wieder hinunter. Dad kam mit einer großen Kiste Christbaumschmuck aus dem Wohnzimmer. »Ich mache einen Spaziergang zum Wald«, sagte ich.

Er sah sich mein Bein an, das mit der Titanschiene. »Bist du sicher, dass du so weit laufen kannst?«

Ich war im Januar mit dem Hubschrauber abgestürzt, aber ich war nicht der Pilot gewesen. Der war gestorben, und ich hatte mir einend doppelten Splitterbruch zugezogen. Dazu gab es einen Orden für besondere Verdienste in der Luftwaffe und eine Entlassung aus medizinischen Gründen. Mein Vater war aus Spanien hergeflogen, um mich im Krankenhaus zu besuchen.

»Ehrlich gesagt, Dad, je mehr ich laufe, desto besser geht es wieder. Das bedeutet, dass ich später nicht humpeln werde, wenn wir ins Inkwell gehen.«

»Wie du meinst.«

In der Spülküche zog ich mir ein altes Paar Stiefel an und rüstete etwas auf. Ich hatte zwar die AK-47 in einem Stapel Baumstämme liegen lassen, aber das hieß nicht, dass ich unbewaffnet zu dem Treffen gehen würde. Im Waffenschrank befanden sich zwei Schrotflinten, doch die konnte man nicht einhändig abfeuern. Auf dem Schrank (wo nur ich sie erreichen konnte) stand eine Holzkiste mit der Aufschrift Schnüre – das war das Langweiligste gewesen, was mir eingefallen war. In der Kiste befand sich unter Unmengen von Schnüren eine alte .22er-Sportpistole, die noch aus der Zeit des Handfeuerwaffenverbots von 1996 stammte. Ich verließ die Küche und ging nach draußen.

Auf der Rückseite von Elvenham House erstreckt sich ein leider vernachlässigter französischer Garten, an den sich einige Bäume und ein (überwucherter) Tennisplatz, dann weitere Bäume und schließlich ein Weg über eine unwegsame Wiese zum Brunnen anschließen. Es wurde bereits dunkel, als ich am letzten Baum anhielt, um das Gelände zu erkunden. Es war niemand zu sehen. Ich zog die Pistole und ging den Pfad zum Brunnen hinauf, wobei ich ständig den Wald vor mir absuchte. Nichts. Ich setzte mich auf den Brunnenrand, legte die Pistole in meinen Schoß und holte meine Zigaretten heraus.

»Guten Tag, Geschwaderführer Clarke«, sagte eine Stimme hinter mir.

»Was zur Hölle …?«

Auf der anderen Seite des Brunnens stand das Phantom, kaum zwei Meter entfernt. Ich sprang auf, nahm die Pistole in die Hand und ließ die Zigarettenschachtel fallen.

»Mr Clarke reicht vollkommen.« Ich versuchte zu verhindern, dass meine Stimme eine Oktave höher schoss.

Die Spitze des Schattens bewegte sich leicht, als nickte er. »Auch recht. Ich möchte Ihnen eine Stelle anbieten.«

»Aha?«

Ich nahm den Rand des Schattens genauer in Augenschein, um zu sehen, ob es sich um ein Hologramm handeln könnte. Jemand hätte problemlos einen Projektor auf der Rückseite des Brunnens aufstellen können, indem er die Stromversorgung für die Wasserpumpe nutzte. Die nächste Bemerkung des Phantoms bestätigte, dass es nicht wirklich da war.

»Die Waffe können Sie sich sparen. Sie kann mir nichts anhaben. Ich habe schon seit einiger Zeit ein Auge auf Sie geworfen, Mr Clarke.«

»Sie können Conrad und du sagen, wenn Ihnen das lieber ist. Stört es Sie, wenn ich rauche?«

»Nein.«

Ich verstaute die Waffe in meiner Manteltasche und hob die Kippen auf, steckte mir eine in den Mund und griff nach meinem Feuerzeug.

»Mir wäre es lieber, wenn du das Feuerzeug nicht herausnehmen würdest«, sagte der Schatten. »Ich möchte Verwechslungen vermeiden.«

Diese Illusion war etwas zu real. Ich grinste. »Sie haben nichts dagegen, dass ich rauche, aber ich darf kein Feuerzeug benutzen?«

»Hier«, antwortete der Schatten.

Er umrundete den Brunnen und eine knorrige Hand kam aus einem langen Ärmel hervor. Eine sehr realistisch wirkende Hand. Kein Hologramm, kein Virtual-Reality-Kit und auch sonst keine Technologie kann eine solche physische Präsenz nur wenige Zentimeter vor der Nase des Betrachters nachahmen. Mein Magen krampfte sich zusammen.

Dann schnippte er mit den Fingern dieser knorrigen Hand und ihr Daumen ging in Flammen auf.

Ich zuckte zurück und mein Schlüsselbein schrie vor Schmerz auf. Mir drehte sich der Magen um. Ich wich hastig rückwärts vom Brunnen zurück, bevor ich mich übergeben musste. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig in die Büsche.

Wenn das Phantom nur ein Mensch war, würde ich mit ihm fertig werden. Wenn ich einen Hirnschlag hatte, würde mich bald jemand finden und einen Krankenwagen rufen. Ich richtete mich langsam auf, drehte mich um und sah das Phantom hinter dem Brunnen stehen. Ein verbeulter Silberbecher, der wie ein Messkelch aussah, stand auf dem Brunnenrand neben der Packung Kippen, von der ich sicher war, dass ich sie wieder fallen gelassen hatte.

Ich deutete auf den Becher. »Darf ich daraus trinken?«

Das Phantom nickte und ich brachte den Becher zu der Pumpe, von der aus unser Wasser ins Inkwell gelangt. Die Pumpe hat einen Hahn zum Testen. Ich füllte den Becher und spülte mir den Mund aus. Ich nahm einen Schluck, um die Säure in meinem Magen zu verdünnen, und steckte mir eine Zigarette in den Mund.

Das Phantom senkte langsam seine Kapuze. Die Hand, die in Flammen aufgegangen war, war weiß gewesen, aber jetzt waren seine Hände schwarz, genau wie das Gesicht unter der Kapuze. Die Gesichtszüge des Mannes waren alt und verhärmt, er hatte weißes Haar, das eng an der Kopfhaut anlag, und eine altmodische Piratenklappe über dem rechten Auge.

»Wollen wir es noch einmal versuchen?«, fragte er. Seine Stimme war völlig akzentfrei.

Ich richtete meinen Blick auf seine rechte Hand und beugte mich vor. Er schnippte mit den Fingern, eine Flamme erschien und ich zündete meine Zigarette an. Ich würde jeden Zug genießen.

»Du bist besorgt wegen der Kopfverletzung, nicht wahr?«, erkundigte sich das Phantom.

Ich nickte.

»Wenn das Trauma nicht gewesen wäre, wäre ich immer noch unsichtbar für dich. Ich war immer mal wieder in der Nähe, aber diese Verletzung hat einen Teil deines Gehirns dafür geöffnet. Das erlaubt dir, mich zu sehen.«

Ich nahm die Worte des Phantoms für bare Münze. »Ja, ich wurde vor Kurzem angeschossen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich mir noch einmal den Kopf angeschlagen habe, also wie kommt es, dass Sie plötzlich reden und nicht nur in den Schatten lauern?«

»Weil es meine Entscheidung war, leibhaftig zu erscheinen, und es mich eine Menge kostet, hier zu sein, also will ich nicht unnötig Zeit vergeuden.«

»Ich auch nicht. Dafür ist es zu kalt. Was kostet es Sie?«

»Lux. Du wirst sehen, was ich meine, wenn du die Herausforderung annimmst.«

Ich habe schon ein paar Mal in meinem Leben einen Schock erlitten. Man erinnert sich nicht wirklich daran. Jedenfalls an das meiste davon nicht. Soweit ich mich entsinnen konnte, war das hier nicht der Beginn eines Schocks im medizinischen Sinne. Aber es war schon verdammt seltsam.

Vorsichtig nahm ich den Gesprächsfaden wieder auf, den ich beim Erbrechen verloren hatte. »Ist es eine Herausforderung, die Sie anbieten, oder ein Job?«

»Eine Position. Nun, eigentlich zwei. Man muss die Herausforderung annehmen, um sie zu bekommen.«

»Jetzt, wo ich meine Arbeitgeber vernichtet habe, bin ich ziemlich aufgeschmissen. Was ist das für ein Job? Oder besser: Was sind das für Jobs?«

»Positionen. Die eine Position ist die Arbeit als mein Agent. Die andere ist die bei der Krone. Du bist kompatibel.«

Ich schloss den Reißverschluss meiner Fleecejacke bis ganz oben und fischte meinen anderen Handschuh aus der Tasche. Was auch immer er/es war, ich wollte nicht der Handlanger von jemandem sein, dessen Identität ich nicht kannte. »Wer sind Sie?«, fragte ich schlicht.

Das Phantom nickte, als hätten wir eine Art Grenze überschritten. »Ich bin Odin, Sohn des Bor. Ich bin viele Dinge, aber die meisten nennen mich den Allvater.«

Ich bin ein siebenunddreißig Jahre alter ehemaliger Luftwaffenoffizier. Mehrfach habe ich getötet und wäre beinahe umgekommen, aber ich gestehe, dass ich nur lachen konnte wie eine hysterische Hyäne. »Sind Sie nicht angeblich weiß?«, platzte ich heraus, ehe ich mich beherrschen konnte. Das Phantom blinzelte mit seinem einen Auge.

»Ich bin weder weiß noch schwarz. Dieses Aussehen habe ich dir zuliebe gewählt. Das nächste Mal sehe ich vielleicht skandinavischer aus. Darin habe ich mehr Übung.« Das Schmunzeln am Ende war definitiv nicht das eines Phantoms. Das war definitiv eine Art Mensch. Er nickte nochmals. »Du hältst das alles für eine Illusion. Das ist eine vernünftige Einstellung. Ich kann dir das Gegenteil beweisen, aber nur, wenn du die Position akzeptierst. Hör mir ein Weilchen zu.«

Ich trank einen Schluck aus dem Becher und kramte in meiner Erinnerung nach allem, was ich über die nordische Mythologie wusste. Yggdrasil … Loki … Walhalla … die Walküren …

»Muss ich tot sein, um für Sie zu arbeiten? Ich kann nicht behaupten, dass das ein großer Anreiz wäre, um ja zu sagen.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht mehr. Früher habe ich tote Krieger gesammelt, heute bevorzuge ich lebende.«

»Brauchen Sie die nicht für … Wie war das noch? Ragnarock?«

»Ragnarök. Nein, das ist bereits vorbei. Am Ende haben sie mir nicht geholfen.«

»Ach so. Ich dachte, Sie wären bei Ragnarök gestorben.«

»Bin ich auch. Jemand hat mich wieder zusammengeflickt.«

Ich runzelte die Stirn. Ich könnte bis zum Weihnachtsmorgen weiter solche Fragen stellen, es würde nichts beweisen. Aber es gab noch eine, die ich einfach loswerden musste. »Was ist mit der Erschaffung der Welt? Behaupten Sie, dafür verantwortlich zu sein?«

Er sah mich gequält an und rieb sich die Haut um seine Augenklappe. »Nein. Natürlich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie das Universum entstanden ist. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass ich mich an seine Erschaffung genauso lebhaft erinnere wie an Ragnarök. Ich bin sicher, die anderen Mächte haben ähnliche Erinnerungen.«

Der Gedanke an andere Mächte war zu schwer zu verdauen. Ich versprach mir noch eine Zigarette, bevor ich etwas tat – vielleicht einen Krankenwagen oder meine Mutter rufen. So was in der Art. Ich beugte mich vor, um mir die nächste Kippe an seinem Daumen anzuzünden. Diesmal starrte ich genau auf den Daumen des Phantoms: Die Flamme schien darüber zu schweben, ohne versteckte Röhren, nur eine kleine blaue Flamme.

»Okay. Gut«, sagte ich. »Was bedeutet es, Ihr Handlanger zu sein, und was ist das für ein Job bei der Regierung?«

»Handlanger ist ein altmodisches Wort. Betrachte dich als meinen Agenten. Du bist doch mit dieser Art von Arbeit vertraut.«

Das war korrekt. Ich hatte dasselbe für Sir Stephen Jennings getan, bis er sich vor ein paar Tagen erschossen hatte.

»Die andere Stelle ist bei der Königswacht.«

»Von welchem König reden wir?«

»Jakob VI. und I. Du wirst feststellen, dass die Welt der Magick an alten Titeln und Schreibweisen festhält. Mach dir nicht die Mühe, sie nachzuschlagen.«

»Ich nehme an, es ist gefährlich.«

»Oh ja. Sehr gefährlich.«

Die Kälte war wieder durch meinen Mantel, meine Handschuhe und meinen Schal gedrungen. Es war an der Zeit, mit diesem Quatsch Schluss zu machen. Ich hatte noch eine letzte Frage, nur um zu sehen, wie konsistent dieses Phantom war.

»Was ist mit Mina? Wir hatten noch nicht mal ein Date und ich werde sie nicht aufgeben.«

»Ich habe keine Einwände. Aber ich kann nicht für Ganesh sprechen.«

Das war tatsächlich beunruhigend. Ich dachte an mein Feuerzeug – es war ein gefälschtes Zippo mit einem Bild Ganeshas. Es war ein Geschenk von Mina, das einzige bisher, und sie hatte es gekauft, als sie eine wirklich schwere Zeit durchmachte. Ich wusste, dass sie in dieser Zeit viel zu Ganesha gebetet hatte, aber woher hatte das Phantom diese Information?

»Ganesha wird einen Preis verlangen …«, sagte das Phantom. »Aber er wird nicht überhöht sein. Ganesh mag einen guten Handel.«

Laut Mr Joshi mochte Ganesha nichts mehr als einen guten Handel. Mr Joshi war ein hinduistischer Priester und der einzige andere Mensch, der zu hundert Prozent hinter Mina stand. Ich drückte meine Kippe aus. »Na schön. Wie können Sie beweisen, dass Sie keine Illusion sind?«

»Du musst deinen Mantel ausziehen und deinen Rücken freilegen. Keine Sorge – ich werde dir etwas Gutes tun.«

Er bewegte die Hände wie ein Dirigent vor einem Orchester bei einem wirklich intensiven Stück von Mahler. Plötzlich brach mir der Schweiß aus. Die Luft um mich herum hatte sich locker um zwanzig Grad erwärmt. Mein Atem dampfte nicht mehr.

Ich knöpfte meinen dicken Mantel auf und öffnete den Reißverschluss der Fleecejacke. Schließlich knöpfte ich mein Hemd auf und streifte die drei Schichten über meine verletzte Schulter. Ich drehte mich um und schaute zum Brunnen.

»Es ist üblich, dass man sich hinkniet …«, sagte die Stimme hinter mir.

Ich stellte mich stattdessen breitbeinig hin, vor allem, weil mein Bein zu sehr schmerzte, um es zu beugen.

»Nimmst du mich als deinen Schutzherrn an und verbindest dein Schicksal mit dem meinen?«

»Ja.«

Ich spürte, wie es in meinem Nacken kribbelte, dann legte er eine Hand zwischen meine Schulterblätter.

Die Sache mit dem Knien kommt daher, dass man an diesem Punkt zusammenbricht. Der Schmerz war wie ein Schuss, aber ohne die kinetische Kraft einer Kugel, und ich spürte, wie er meinen Arm ergriff, um zu verhindern, dass mein Kopf gegen den Brunnen schlug. Er brachte mich in eine sitzende Position, seine Arme waren so real und so physisch wie die kalten Steine in meinem Rücken.

»Was zum Teufel war das?«, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ich habe dir ein Upgrade verpasst. Am Unsichtbaren Kolleg nennt man das enhancen.«

»Ich bin weder ein Handy noch ein Computer – ich brauche keine zusätzlichen Chips. Was haben Sie in meinen Rücken gesteckt?«

»Lass ein MRT machen. Es wird keine Chips oder sonstige Elektronik zeigen. Manchmal sind die alten Wege die besten.«

»Was haben Sie getan?«

Er schüttelte den Kopf und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Ich kenne keinen falschen Stolz – wenn ich Hilfe brauche, nehme ich sie an. Er zog mich hoch, als wäre ich eine Stoffpuppe. Die Temperatur sank wieder, also schloss ich den Reißverschluss meiner Fleecejacke und meinen Mantel, ließ aber mein Hemd offen. Mit einem Arm in einer Schlinge war es nicht einfach, ein Hemd zuzuknöpfen.

Statt meine Fragen zu beantworten, hob er die Plastikabdeckung des Brunnens an, öffnete den Kasten neben der Pumpe und nahm das Seil und die Flasche heraus, die wir für die Entnahme von Tiefenproben verwendeten.

Er warf die beschwerte Flasche über den Rand, zog sie dann wieder hoch und füllte vorsichtig etwas Wasser in den verbeulten Silberbecher. »Pass gut auf«, sagte er.

Er hielt die Hand über den Becher und sie glühte irgendwie. Ich sage irgendwie, weil ich nicht weiß, wie ich die Farbe beschreiben soll. Es war nicht wirklich eine Farbe, es war mehr wie das Gefühl, das man hat, wenn man neben einer sehr, sehr heißen Heizung steht. Die nächste Analogie, die mir einfällt, ist das Trittbrett einer Dampflokomotive – man spürt die Flammen, die Hitze und die Kraft, selbst wenn die Tür zum Feuerraum geschlossen ist. Wenn Sie noch nie auf dem Trittbrett einer Dampflok gestanden haben, lassen Sie einfach Ihre Fantasie spielen.

Das Phantom nickte, zufrieden mit seiner Arbeit. »Wenn du unerwartet wieder so ein Gefühl bekommst, dann sei auf der Hut. Mehr werde ich vorerst nicht sagen. Trink.«

Ich trank. Dann würgte ich. Statt Brunnenwasser hatte ich den Mund voller Inkwell Bitter. Das war ein Trick, den ich gerne gelernt hätte. Ich schluckte das Bier und das Gefühl des Glühens breitete sich in mir aus. Mein Schlüsselbein brannte und juckte eine Sekunde lang wie verrückt.

»Nur zu«, forderte mich das Phantom auf. »Versuch, den Arm zu bewegen.«

Wer Wasser ohne Malz, Hopfen und Hefe in Inkwell Bitter verwandeln konnte, verdiente es, dass man auf ihn hörte. Ich bewegte vorsichtig meinen Arm in der Schlinge und es tat nicht mehr weh. »Ich danke Ihnen. Denke ich. Wie soll ich das meiner Mutter erklären?«

»Dir wird schon eine passende Lüge einfallen. Normalerweise hast du damit doch keine Probleme.

Aah. Er muss mich genau beobachtet haben.

»Wie soll ich Sie nennen?«

»Allvater. Ich werde dich nicht ständig beobachten. Jetzt, wo du meine Rune auf dem Rücken trägst, wirst du sogar merken, wenn ich das tue. Du kannst mir eine SMS schicken, wenn du möchtest, aber ich antworte nicht immer. Wie ich schon sagte, es kostet mich viel, hier zu sein.«

Ich sollte an dieser Stelle klarstellen, dass ich keine Sekunde glaubte, gerade einen Deal mit einem Gott gemacht zu haben. Absolut nicht. Ja, ich war bereit zu glauben, dass jemand gerade meine Schulter geheilt hatte und dass ich jetzt ein nicht nachweisbares Implantat im Rücken hatte, aber ich war nicht bereit zu glauben, dass ich mich in der Gegenwart einer Gottheit befand. Das war einfach nur dumm.

»Genieße Weihnachten, Conrad. Ich werde dir bald eine SMS mit Anweisungen schicken.«

»Haben Sie noch einen Rat für mich?«

»Nimm stets ein Päckchen getrockneter Würmer mit, wenn du unter die Erde gehst.«

Na toll. Das war ja mal eine große Hilfe.

»Eins noch, Allvater …«, sagte ich höflich. »Wenn Sie das viel kostet, müssen Sie einen guten Grund haben, hier aufzutauchen. Nicht mal meine Mutter hält mich für so wunderbar. Vor allem nicht sie.«

Er lächelte noch einmal. Ich sah ihm in das (eine) Auge. Es blinzelte kein einziges Mal.

»Ich stehe in jemandes Schuld. Zwiefach. Dein Erfolg wird sie beide Schulden begleichen.«

»Weihnachten?«, versuchte ich, das Gespräch in Gang zu halten. »Haben Sie …«

»Ein andermal, Conrad«, unterbrach er meine Frage. »Deine Mutter wird sich Sorgen machen. Mach’s gut.«

Weg war er.

◊ ◊ ◊

Ich ging langsam zurück nach Hause. Was hatte ich getan? Entweder hatte ich gerade einen psychotischen Schub gehabt oder ich hatte ein Geschäft mit jemandem gemacht, der … was genau? Ich blieb am Tennisplatz stehen und öffnete meinen Mantel. Vorsichtig zog ich den linken Arm aus der Schlinge – nichts. Kein Schmerz, kein Knirschen von Knochen, nur ein wenig Steifheit. Ich streckte ihn ganz. Dabei taten mir die Rippen weh. Sie waren nicht geheilt, und das Ausmaß der Schmerzen sagte mir, dass das Phantom/der Allvater mir gerade eben kein starkes Schmerzmittel verabreicht hatte. Die Heilung meines Schlüsselbeins war lokal, augenblicklich und unmöglich.

Ich steckte den Arm wieder in die Schlinge und ging weiter, wobei ich meinen Erinnerungen und dem Lichtschein aus der Küche folgte. Was wusste ich mit Sicherheit? Jemand, der sich nach einem alten nordischen Gott nannte, hatte mit mir Kontakt aufgenommen. Er wollte, dass ich glaubte, dass er echt war, und das tat ich auch, aber was für eine Art von »echt« war das?

Er war zu ausgeklügelten Illusionen fähig (das Verschwinden, die Fingerflamme, die Verwandlung von Wasser in Bier), aber er verfügte auch über mächtige Technologie. Mein Schlüsselbein war der Beweis dafür, und, ja, ich fühlte mich anders, nachdem er meinen Rücken berührt hatte. Er wollte etwas und ich hatte nicht vor herauszufinden, was, indem ich mich im Kreis drehte. Ich würde wohl einfach abwarten müssen.

Zu Hause angekommen steckte ich die Pistole wieder in die Schachtel mit den Schnüren und hörte, wie meine Mutter aus der Küche aufgeregt nach Dad und mir rief. Wir traten gemeinsam ein und sie verkündete mit einem strahlenden Lächeln, dass Rachael kommen würde – zu Silvester.

»Allein?«, fragte Dad.

»Erinnerst du dich an Carole aus der Schule und dem College?«, lautete die Gegenfrage meiner Mutter.

Dad nickte. Ich musterte die Risse in der Decke. Mir gefiel nicht, welche Entwicklung dieses Gespräch nahm.

»Rachael hat sich vor einer Weile mit ihr getroffen. Carole sagte, sie führe über Silvester nach Hause, und fragte, ob sie Rachael mitnehmen solle. Es sollte eine Überraschung werden.«

»Wer genau wollte, dass es eine Überraschung wird? Rachael oder Carole?«, fragte ich.

Mutter warf mir einen ihrer Blicke zu. »Es geht nicht immer nur um dich, Conrad.«

Wie es sich für einen Diplomaten gehörte, schaltete sich Dad ein. »Das ist doch schön. Wann kommen die beiden denn?«

»Erst am Donnerstagabend. Da ich jetzt weiß, dass wir morgen zum Weihnachtsmenü nur zu dritt sein werden, werde ich heute Abend ein spätes Abendessen machen.«

»Noch besser«, sagte Dad. »Dann kann ich Conrad auf einen Drink einladen.«

Mutter hielt inne. Sie war darüber nicht glücklich und überlegte, ob sie Einspruch erheben sollte, bis ihr klar wurde, dass es nichts gab, was sie sagen konnte, ohne boshaft zu wirken. Sie entschied sich für ihr altes Lieblingsargument. »Darf man Alkohol mit starken Schmerzmitteln mischen?«, erkundigte sie sich bei mir.

Ich schaute theatralisch auf die Uhr. »In zehn Minuten darf ich. Jetzt, wo ich die Zugfahrt hinter mir habe, sollte ich die starken Medikamente nicht mehr brauchen.«

»Lass die Finger vom Whisky, Alfred«, sagte sie und wandte sich wieder ihren Schüsseln und Päckchen zu. Dad und ich machten uns schleunigst aus dem Staub.

Clerkswell ist kein allzu großes Dorf. Es war stark gewachsen, als die Great Western Railway um 1900 eine neue Strecke von Birmingham aus baute, hatte es dabei aber geschafft, die Heilige Dreifaltigkeit des Dorflebens zu bewahren – Laden, Pub und Schule, mit der Kirche als Bonus. Trotz unserer angeblichen Abstammung ist keiner der Clarkes Kirchgänger, und für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass ich wirklich einen Pakt mit einem nordischen Gott geschlossen hatte, wäre ich dort wohl auch nicht willkommen gewesen. Das brachte mich zum Lächeln – ebenso wie der Gedanke, Mrs Clarkes Prunkbau wiederzusehen.

William Clarke (einer meiner Vorfahren) hatte eine fromme Frau geheiratet, die es als ihre Aufgabe ansah, im Dorf eine methodistische Kapelle zu errichten, und zu diesem Zweck ein Stück Land stiftete. Als sie ein Kind erwartete, schwor sie dem Methodismus ab, und das Land blieb ungenutzt, bis William sie davon überzeugte, es für andere kommunale Zwecke zu nutzen. Seitdem ist Mrs Clarkes Prunkbau – und ja, das war der offizielle Name – das Vereinslokal des Clerkswell Cricket Clubs.

»Du siehst viel besser aus«, bemerkte Dad. »Der Waldspaziergang muss dir gutgetan haben.«

»Mehr, als du dir vorstellen kannst. Es ist schön, wieder daheim zu sein, auch wenn Rachael kommt und Carole wieder im Dorf ist.«

Dad verlangsamte seine Schritte. Elvenham House lag an der Straße, die vom Dorfanger nach Süden führte, einer Straße ins Nirgendwo. Wir näherten uns dem Zentrum des Dorfes, und bald würden wir die Kirche zu unserer Rechten und den Church Well zu unserer Linken haben. Dad blieb am Zaun des Kirchhofs von St. Michael stehen, kurz vor dem Friedhofstor. Hier konnten wir ungestört reden.

»Carole so abzuservieren, war nicht gerade eine Glanzleistung, mein Sohn, aber sie ist darüber hinweg.«

Das war nicht die ganze Wahrheit. Die Sache mit Carole, Rachael und mir war kompliziert. Dad wollte gerade weitergehen, als ich ihn am Arm berührte. »Hör zu, Dad, ich habe dir viel zu erzählen, aber es gibt eine Sache, die mir wichtiger ist als alles andere.«

Er drehte sich zu mir um. »Sprich weiter, Junge.«

Ich holte tief Luft. »Wenn wir gerade von Beziehungen sprechen: Ich weiß nicht, ob Mum sich freuen oder entsetzt sein wird, aber ich habe mich verliebt.«

»Oje. Bist du sicher, dass du dich nicht in die warme Kneipe setzen willst, um mir das zu erzählen?«

»Ich muss dir erklären, warum ich letzte Woche jemanden erschossen habe, und dafür brauche ich einen Drink, aber zuerst muss ich dir von Mina erzählen.«

Dad kramte die Reste der Zigarre hervor, die er am Bahnhof geraucht hatte. »Klingt, als gäbe es damit ein Problem, Junge. Was ist es? Hat die Gute sechs Kinder? Ist sie Journalistin? Mormonin? Was auch immer es ist, es kann nicht so schlimm sein wie damals, als du dich in diese Amelia verliebt hast.«

Die Kirchenorgel ließ das Vorspiel zu »Away in a Manger« ertönen. Der Bass klang sehr falsch und wer auch immer die Orgel spielte, hielt inne. Er oder sie fing wieder an, noch zittriger, und hörte dann verzweifelt auf.

»Aah. Ich habe ein paar Neuigkeiten über Amelia, aber dazu später.« Ich holte noch einmal tief Luft. »Mina war verheiratet, aber ihr Mann wurde ermordet, und zwar ausgerechnet am Valentinstag.«

»Unangenehm. Du hattest nichts damit zu tun, oder?«

»Nein. Ich habe versucht, ihm das Leben zu retten, und auf den Bastard geschossen, der ihn getötet hat. Mina hat ihn dann erledigt. Das ist einer der Gründe, warum sie im Gefängnis sitzt.«

»Verdammte Scheiße.« Er nahm einen Zug von seiner Zigarre und studierte deren Ende. »Mina? Ich erinnere mich, dass du mal in ein deutsches Mädchen verknallt warst. Ist das die Kurzform für Wilhelmina?«

Mein Vater war jahrelang im Antiquitätengeschäft tätig. Er war sehr scharfsinnig, wenn es um solche Dinge ging.

»Nein. Sie heißt Mina Desai. Ihre Familie stammt aus Mumbai. Ihr Mann war aber Engländer. Die beiden hatten keine Kinder.«

Dad grunzte. Das Fehlen von Kindern hebelte einen weiteren möglichen Einwand meiner Mutter aus. »Was ist der andere Grund, warum sie im Gefängnis ist und wie lange wird sie dortbleiben?«

»Geldwäsche. Sie sollte im Frühsommer rauskommen.«

Mein Vater nickte. Ich zündete mir eine Zigarette an und wir gingen langsam in Richtung Grünanlage. »Hat eure Beziehung vor oder nach dem Tod ihres Mannes begonnen?«, fragte er.

»Erst danach. Wenn man es denn eine Beziehung nennen kann. Wir kannten uns erst ein paar Wochen, als Miles starb, und haben uns seit ihrer Verhaftung nur ein paar Mal gesehen. Es beruht auf Gegenseitigkeit, so viel weiß ich.«

»Das ist alles, was zählt. Wenn sie ein guter Mensch ist und ihr einander liebt, werdet ihr das schon hinkriegen.«

So war Dad eben. Ein ewiger Optimist – eine seiner größten Qualitäten als Vater und eine seiner größten Schwächen als Antiquitätenhändler.

Er blieb abermals stehen. »Hast du ein Foto?«, fragte er grinsend.

Langsam holte ich meine Brieftasche heraus. Andere hätten eine ganze Reihe von Schnappschüssen auf ihren Handys gehabt – ich nicht. Nur ein Foto, in Hochglanz ausgedruckt. Ich hielt es ins Licht.

Vater schaute ruckartig auf. »Das Gefängnis wird kein Problem sein, mein Junge. Sie ist bezaubernd.« Er nickte langsam. »Wie alt ist sie?«

Darüber hatte ich auch schon oft nachgedacht. »So alt wie Rachael.«

»Hol sie am Gefängnistor ab und steck ihr schnell einen Ring an den Finger. Das würde ich jedenfalls tun.«

Das hatte er mehr oder weniger auch mit meiner Mutter gemacht und achtunddreißig Jahre später waren sie immer noch zusammen. Die Kirche fiel hinter uns zurück. Ein anderes, selbstbewussteres Paar Hände griff in die Tasten der Orgel. Irgendwo sangen vielleicht die himmlischen Heerscharen. Ich lauschte aufmerksam, hörte sie aber nicht. Allerdings hörte ich auch nicht den Walkürenritt, Bollywood-Musik oder irgendein anderes Zeichen göttlicher Intervention.

◊ ◊ ◊

Der offizielle Name des Dorfpubs lautet »Clerk’s Well Inn«. Irgendwann im 19. Jahrhundert hatte der Wirt befunden, das sei zu langweilig, und ein Schild anbringen lassen, das den tönernen Kopf eines Mönchs zeigte, der sich über ein Manuskript beugte. Im Vordergrund des Bildes befand sich ein großes Tintenfass – Sie verstehen? Das Essen war eher mäßig, aber seit der Pub sein eigenes Bier braute – und vor allem, seit man dafür Wasser aus unserem Brunnen verwendete –, kamen die Leute von weit her, um das Inkwell Bitter und das Inkwell Gall Ale zu probieren.

Wir waren früh genug dran, um uns einen Sitzplatz aussuchen zu können, und ich nutzte die fünf Minuten, die Dad damit verbrachte, mit den anderen Gästen zu plaudern, um einen Anruf zu tätigen. Dieser hatte nichts mit Phantomen zu tun. Es ging um etwas viel Persönlicheres.

Mein Vater kam mit den Getränken zurück und ich erzählte meine Geschichte. Ich hatte mein drittes Pint Inkwell Bitter ausgetrunken, bevor ich fertig war.

»Zeit für eine Zigarette«, sagte Dad. »Ich werde zuerst gehen, du hältst unsere Plätze frei. Das gibt mir Gelegenheit, deine Mutter anzurufen und sie vorzuwarnen, was Mina angeht. Sie scheint ein besonderes Mädchen zu sein.«

»Frau, Dad. Sie ist eine Frau, kein Mädchen.«

Er zuckte mit den Schultern und zog seinen Mantel an. »Willst du mir wirklich erzählen, dass du im Zusammenhang mit einem globalen Geldwäschesystem zwei Menschen getötet hast und ungeschoren davongekommen bist?«

»Abgesehen vom Bein, dem Arm, den Rippen, dem Schlüsselbein und der Kopfverletzung.«

Er klopfte mir auf die gesunde Schulter. »Ich habe immer gesagt, dass du ein Mann von altem Schrot und Korn bist. Gut gemacht, mein Junge.«

Ich lehnte mich zurück, um zu sehen, ob ich jemanden im Pub kannte. Früher hatte ich in der Cricket-Mannschaft des Dorfes gespielt, und viele der Leute, mit denen ich zur Grundschule gegangen war, waren immer noch da, auch wenn sich nicht alle von ihnen freuen würden, mich zu sehen. Vor allem Caroles Bruder, Ben Thewlis.

Carole hatte damals würdevolles Schweigen bewahrt, aber Rachael nicht. Sie hatte eine Menge Müll im Dorf herumerzählt, was einer der Gründe war, warum ich lange Zeit nicht nach Hause gekommen war. Ben hatte stellvertretend für seine Schwester gedroht, mir alles Mögliche anzutun, wenn ich mich im Cricket-Pavillon blicken ließe. Wir waren im Pub, nicht im Pavillon, aber Dad kam mit Ben im Schlepptau zurück.

Er kam direkt auf mich zu, mit festem Blick, und streckte mir die Hand hin. Ich schüttelte sie und er sagte: »Ich habe gehört, du bist so eine Art Kriegsheld, Conrad. Dein Bild war in der Zeitung, als du den Orden bekommen hast.«

»So würde ich es nicht nennen«, antwortete ich. »Ich freue mich, dich zu sehen. Treffen wir uns nächste Woche mal?«

»Wir haben am Montagabend ein Spiel. Wenn du Lust hast – wir könnten deine Beinarbeit im Sommer gebrauchen.«

»Ich freue mich auf Montag, aber wir müssen mal abwarten, ob ich wieder anfangen kann zu spielen. Mein nächster Besuch in Mrs Clarkes Prunkbau könnte als Schiedsrichter sein.«

Ben schnaubte. »Du? Schiedsrichter? Es gibt kein Team in Gloucestershire, das dir vertrauen würde.«

Ich legte meine Hand aufs Herz. »Du tust mir Unrecht. Ich bin heute ein anderer Mensch.« Von hinten zeigte mein Vater auf seine Uhr und die Tür.

»Wir sehen uns am Montag«, verabschiedete ich mich. Ben klopfte mir auf die Schulter (zum Glück auf die gesunde), und das war’s. Wir waren wieder Freunde.

Auf dem Rückweg fragte Dad: »Was schenkst du deiner Mutter zu Weihnachten?«

»Ein bisschen Schmuck und ich habe ein Geschenk für die ganze Familie. Ich habe gerade mit Rachael telefoniert, damit sie auch dabei ist.«

»Oh?«

»Der Job auf dem Fylde Racecourse, von dem ich dir gerade erzählt habe?«

»Der illegale Job, bei dem sechs Menschen beinah ihr Leben verloren haben, darunter auch du?«

»Ja, abgesehen von der Gefahr für Leben und Freiheit hat er mir wirklich Spaß gemacht. Ich habe für uns für den zweiten Weihnachtsfeiertag eine Loge beim Cheltenham-Festival gebucht. Sektempfang und Mittagessen.«

Mein Vater blieb stehen und sein breites Grinsen erhellte die schmale Gasse. »Willkommen zu Hause, mein Sohn. Das wird ein wundervolles Weihnachtsfest.«

2 – Der Tower

Dad behielt recht. Es war ein wundervolles Weihnachtsfest. Ich hatte eine tolle Zeit, bis ich kurz vor dem Treffen mit dem Cricket-Team am Montag eine SMS von diesem Allvater bekam:

Melde dich am Donnerstagmorgen in Merlyns Turm. Er befindet sich im Tower of London.

Ich machte mir nicht die Mühe, zu antworten. Stattdessen ging ich aus und amüsierte mich mit den Jungs, denn eines der vielen Dinge, die ich bei der Luftwaffe gelernt hatte, war, jeden Tag so zu nehmen, wie er kam, vor allem, wenn man seinen Marschbefehl erhalten hatte.

Am nächsten Morgen fand ich meine Mutter im Esszimmer. Sie legte sich am zweiten Weihnachtsfeiertag immer richtig ins Zeug und war gerade dabei, mit einem ausziehbaren Staubwedel die Spinnweben vom Kronleuchter zu entfernen. Ich weiß, das klingt ziemlich prunkvoll, und das war es wohl auch. Rachael war seit fast zwei Jahren nicht mehr in Elvenham gewesen und Mutter wollte es für sie so gemütlich wie möglich machen. Am Vortag hatte sie mich gezwungen, eine halbe Tonne Brennholz zu hacken. Jetzt, da es deiner Schulter wieder besser geht, mein Schatz.

Ich räusperte mich, um auf mich aufmerksam zu machen. »Wenn du dich fragst, warum Rachael nicht oft hierherkommt: Es liegt daran, dass euer Swimmingpool in Spanien viel verlockender für sie ist als das Wasser von Elvenham Well.«

Sie hörte auf, die Spinnweben zu bekämpfen. »Ich habe dich noch nie so viel über diesen verflixten Brunnen schwadronieren hören wie dieses Weihnachten.« Sie zeigte mit dem langstieligen Staubwedel auf mich. »Nur weil dir das Haus gehört, ist das noch lange kein Freibrief für Intrigen. Du bist genauso schlimm wie dein Vater.« Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. »Er hat dich doch nicht auf dumme Ideen gebracht, oder? Einmal hat er nämlich davon gesprochen, das Wasser in Flaschen abzufüllen. Bitte sag mir nicht, dass er versucht, dich dazu zu überreden. Es hat Jahre gedauert, bis wir das Geld, das wir für die Leitung zum Inkwell ausgegeben hatten, wieder hereingeholt hatten.«

»Aber das Bier, das sie brauen, ist jede Ausgabe wert, Mum.« Ich lächelte. »Dad hat noch nichts zum Thema Brunnen gesagt. Aber es ist eine verdammt gute Idee.«

»Conrad!«

»Vielleicht beschäftige ich mich damit, wenn ich diesen Job nicht kriege.«

Sie schien beruhigt darüber, dass ich keine unmittelbaren Pläne für den Brunnen hatte. Bonuspunkt für mich. Dann stutzte sie. »Welchen Job?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich würde für die Krone arbeiten, so viel weiß ich. Jedenfalls bin ich zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Am Donnerstag.«

»Oh.«

Meine Mutter kann gut mit Ohs umgehen. Dieses bedeutete so viel wie: Ich möchte, dass du hier beim Hausputz hilfst, aber mir wäre es lieber, wenn du einen Job hättest. Weil es meine Mutter war, stellte sie keine unangenehmen Fragen und akzeptierte, dass die Geschäfte der Krone Geheimsache waren.

Geheimsache. Das war gut. Ausnahmsweise war ich ehrlich gewesen, als ich gesagt hatte, ich hätte keine Ahnung, was das für ein Job – Entschuldigung, was das für eine Position – war.

»Ich werde am Mittwoch hinfahren. Wenn du Dad überreden kannst, mir den Jaguar zu leihen, sollte ich am Donnerstagabend wieder zu Hause sein und dir helfen können, alles für Rachaels Ankunft vorzubereiten. Du wirst Hilfe brauchen, um das gemästete Kalb für sie zu schlachten, nicht wahr?«

»Hör auf zu scherzen. Ich werde mit deinem Vater sprechen.«

Natürlich lieh Dad mir den Jaguar. Er hatte ja keine andere Wahl, oder?

◊ ◊ ◊

Am Mittwoch übernachtete ich in meiner Wohnung in Notting Hill. Ich hatte sie vor ein paar Jahren zum richtigen Zeitpunkt gekauft, was entweder Glück oder gutes Urteilsvermögen gewesen war. Allerdings hatte ich dort nie richtig gewohnt, und eine Reihe von Offizierskollegen, die man ins Luftfahrtministerium versetzt hatte, hatten die Hypothek von ihrem Spesenkonto bedient. Sie war als Clarkes Offizierscasino bekannt. Meine Mieter mussten mich dort schlafen lassen, wann immer ich es wollte – manchmal bekam ich das freie Zimmer, manchmal die Couch. Die Geschichte, wie Elvenham House in meinen Besitz gelangt war, war viel komplizierter.

Die derzeitigen Mieter von Clarkes Offizierscasino waren über Weihnachten nach Hause gegangen, also holte ich mir was zu essen und legte mit einer Flasche Rotwein und meinem Laptop die Füße hoch. Im Internet gab es viele Informationen über den Tower und viele über mögliche Wirkungsstätten Merlyns, aber nichts über beide zusammen. Shakespeare hatte anscheinend geglaubt, Julius Cäsar habe den Tower gebaut, aber niemand hatte jemals eine Verbindung zu König Artus oder seinem Zauberer konstruiert. Der einzige Hinweis, den ich fand, war, dass der Devereux-Turm früher als Robyn the Deville’s Tower bekannt war. Vielleicht bestand die Herausforderung darin, Merlyns Turm zu finden. Aber ich bezweifelte es.

Der knackige Frost und die geschlossene Schneedecke Gloucestershires hatten sich in London in Schlamm und kalten Nieselregen verwandelt – das schlechteste Wetter für mein verletztes Bein. Um mich für das Herumwandern im Freien zu stärken, kehrte ich in ein gemütliches, familiengeführtes Café in Moorgate ein. In der Stadt gab es viele Familienbetriebe, aber nur wenige davon unter englischer Führung.

»Heute ist es ruhig«, sagte ich, nachdem ich das ganz große Frühstück bestellt hatte.

»Ja. Der frühe Ansturm ist vorbei und die meisten Büros sind diese Woche geschlossen. Keine Ahnung, warum ich mir die Mühe gemacht habe, heute aufzumachen. Aber so komme ich nicht auf dumme Gedanken und muss nicht auf die Kinder aufpassen. Sagen Sie, kenne ich Sie? Waren Sie nicht mal mit ein paar von den Leuten von der Autovermietung hier? Ich bin sicher, ich habe Sie mit dieser Mina gesehen. Sie gingen damals auf Krücken.«

Ich errötete tief. Das Café lag gegenüber einer zwielichtigen Limousinenvermietungsfirma, bei der Mina die Hauptbuchhalterin und Geldwäscherin gewesen war. Das Problem, wenn man ein Meter achtzig groß ist und dann mit jemandem wie Mina das Brot bricht, ist, dass man in Erinnerung bleibt.

»Mhm. Ja«, bestätigte ich.

Die Matriarchin gab meine Bestellung an die Küche weiter und machte mir eine Kanne Tee. Sie hatte noch Redebedarf. »Armes Kind. Ich habe das von Miles gehört und dass man sie wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt hat.« Miles war Minas Ehemann gewesen.

»Ja«, antwortete ich.

Sie hielt die Kanne mit dem Tee fest und wollte mich nicht vom Haken lassen. »Sie laufen schon wieder herum? Alle anderen sind immer noch weggesperrt.«

Übersetzung: Sie müssen ein Polizeispitzel sein.

»Ich war noch nicht lange genug dort, um der Polizei ins Netz zu gehen. Die hatten nichts gegen mich in der Hand. Ich werde Mina von Ihnen grüßen.«