Die Akte R.O.T.H. - Mala Niem - E-Book

Die Akte R.O.T.H. E-Book

Mala Niem

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Beschreibung

Der Bankier Dr. Grohmann wird während seiner Verhaftung auf den Treppenstufen seiner Bank erschossen. Seine Mitarbeiterin Laura Junginger erhält daraufhin von ihrem toten Chef konkrete Anweisungen und verschlüsselte Botschaften. Sie soll Beweise für einen Skandal herbeischaffen, der seinesgleichen sucht. Dr. Grohmann schickt sie nach Fuerteventura. Dort erfährt sie von ihrer bisher unbekannten Herkunft. Ehe sie sich versieht, steckt sie bis zum Hals in dem Sumpf der organisierten Kriminalität. Dort, wo Geldwäsche und Menschenhandel an der Tagesordnung sind, stößt sie auf die abscheulichsten aller Verbrechen: dem Baby- und Organhandel. Laura schwebt in größter Gefahr und braucht Hilfe. Diese findet sie bei Dr. Grohmanns Freunden. Für sie ist nichts mehr, wie es war, und es wird nie wieder so sein. Freuen Sie sich auf ein spannungsgeladenes Buch und auf viele Überraschungen.

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Seitenzahl: 600

Veröffentlichungsjahr: 2023

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WER DER MEINUNG IST, DASS MAN FÜR GELD ALLES HABEN KANN, GERÄT LEICHT IN DEN VERDACHT, DASS ER FÜR GELD ALLES ZU TUN BEREIT IST.

(BENJAMIN FRANKLIN)

Hinter der gepolsterten Eichentür ging es ziemlich turbulent zu. Laura hörte ihren Chef schreien und toben. Genauso tobte allerdings auch der Kunde. „Na, wenn das mal gutgeht.“ Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Nach dem hitzigen Schlagabtausch schien jetzt wieder Ruhe eingekehrt zu sein. Lauras Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Herr Grohmann bestellte bei ihr Kaffee und Cola.

Eifrig machte sich Laura daran, die bestellten Getränke zu servieren.

Die Luft im Zimmer ihres Chefs war sehr stickig. Sie getraute sich aber nicht, Herrn Dr. Grohmann darauf hinzuweisen und ihn zu bitten, doch ein Fenster zu öffnen. Sie lächelte in sich hinein. „Dicke Luft“, dachte sie.

„Laura, vielen Dank. Ihr Kostüm steht Ihnen wirklich sehr gut, reizend, wie die Damen eben so sind.“ Dann wandte er sich an den Kunden: „Kostüm, Handtasche, Schuhe, alles vom Feinsten.“

Der Kunde nickte ziemlich verwirrt und schnappte sich seine Cola, um einen großen Schluck zu trinken.

„Aber Ihre rote Handtasche, das ist wirklich eine kleine Sensation, wie es Ihre Kolleginnen neidvoll bemerkten.“

Laura lächelte und kniff ganz kurz die Augen zusammen. Sie hatte verstanden. Und Herr Dr. Grohmann wusste es.

Zwar blieb im Gesichtsausdruck des Kunden eine leichte Verwirrung zurück, diese legte sich rasch, als Grohmann sich seines Problems wieder annahm und das Gespräch nun auf eine sachliche Ebene lenkte.

Laura vermutete richtig, der Kunde hatte sich um einiges verspekuliert. Große Summen seines mehr oder weniger schwer verdienten Geldes hatten sich in Luft aufgelöst. Nun wollte er deshalb sicherlich Martin Grohmann zur Verantwortung ziehen.

Der Kunde wusste jedoch nicht, dass ein Herr Dr. Martin Grohmann niemals zur Verantwortung gezogen wird, niemals! Er hatte Verantwortung ja klar, aber wenn etwas daneben ging, fand er immer einen Weg, diese Verantwortung auf jemand anderen zu übertragen. So würde es auch in diesem Fall laufen. Alle anderen waren schuld, aber niemals die Bank, schon gar nicht Martin Grohmann. Tatsächlich war es in den meisten Fällen eben genau so.

Vermutlich würde er Tom Seifmann wieder einen Fehler nachweisen. Grohmann würde ihm den Fehler nicht einfach so unterschieben, er würde Tom wegen seiner Oberflächlichkeit und seiner mangelnden Kontrollen kritisieren, die stets zu diesen ausufernden Fehlern führten.

Die meisten Fehler, die Tom machte, konnte Laura ausbügeln, bevor etwas Schlimmeres passierte, aber all seine Arbeit konnte sie nun einmal nicht übernehmen. Etwas schlupfte immer durch, was dann zu den Szenen in Grohmanns Büro führte.

Meistens gelang es Grohmann seine Kunden wieder in die Spur zu bringen, indem er auf kleinem Dienstweg die Sache in Ordnung brachte. Alle waren zufrieden, und das war die Hauptsache.

Als Laura zurück in ihr Vorzimmer kam, wartete dort schon Nathalie, die mit ihr in die Pause gehen wollte. Nathalie hatte die unangenehme Eigenschaft immer hereinzuplatzen, wenn es äußerst ungünstig war. Viel schlimmer noch, sie hatte alle Zeit der Welt und plauderte mit Vorliebe.

„Na, wie sieht`s aus, können wir?“

„Nein, leider. Das dauert hier noch. Ich muss warten, bis der Besuch beim Boss gegangen ist.“

„Ach nö, der ist doch gerade erst gekommen! Das dauert ja noch ewig“, schmollte sie.

„Gerade gekommen? Nein, das stimmt ja nun auch wieder nicht. Er ist schon eine halbe Stunde beim Chef, und es sieht so aus, als würde der Besuch noch etwas dauern. Ich komme so schnell es geht nach, versprochen.“

Wenn Laura die Hoffnung hatte, Nathalie würde jetzt allein in die Pause gehen, so hatte sie sich geirrt.

„Auch gut. Dann warte ich hier auf Dich!“ Schon hatte sie es sich in der Sitzgruppe in der Ecke bequem gemacht.

Laura drehte sich weg und rollte die Augen. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um Nathalie loszuwerden.

Laura beschloss, sich nicht weiter um sie zu kümmern und beschäftigte sich intensiv mit einem Artikel aus dem Handelsblatt. Laura hoffte, Nathalie würde sich sehr bald langweilen, da ihr jedwede Unterhaltung fehlte.

Schon nach kurzer Zeit stand Nathalie tatsächlich auf, kam zu Laura an den Schreibtisch und gackerte: „Ich glaube, ich gehe doch schon vor. Offensichtlich bist Du heute nicht sehr gesprächig!“

„Natti, bitte entschuldige, aber ich habe die Anweisung hier zu bleiben, bis der Besucher gegangen ist. Ich kann jetzt keine Pause machen. Ich komme nach, sobald…“

„Ja, ja, ich hab`s begriffen.“ Ein kühles Lächeln huschte über Nathalies Gesicht. „Dann frage ich Tom, ob er gerade Zeit für eine etwas umfangreichere Pause hat!“ Schadenfroh drehte sie sich um und verschwand.

Laura schluckte schwer. Tom!

Diese blöde Kuh. Nathalie wusste genau, dass Laura mehr als ein Auge auf ihn geworfen hatte, hier und da sogar mit ihm ausgelassen flirtete. Jetzt versuchte Nathalie, sich dazwischenzudrängen.

Schnell schob sie den Gedanken wieder beiseite und konzentrierte sich auf die Anweisung, die sie durch die Blume von Martin Grohmann erhalten hatte.

Laura arbeitete seit zehn Jahren als erste Sekretärin für Martin Grohmann, einem der Vorstandsvorsitzenden der Privatbank Blower and Sons Trade & Financing in Frankfurt.

Zehn Jahre lang schon ertrug sie seine Launen, seine Wutausbrüche und seine sonstigen mehr oder minderschweren Gefühlsschwankungen.

Trotzdem fühlte sie sich an ihrem Arbeitsplatz wohl, nicht zuletzt, weil sie eine überdurchschnittlich hohe Entlohnung dafür erhielt.

Schon nach kurzer Zeit arrangierte sie sich mit Grohmann, war äußerst loyal zu ihm. Er wiederrum behandelte sie als Gegenleistung mit Respekt.

Mit der Zeit hatte sie auch gelernt, mit seinen Macken umzugehen. Inzwischen verstand sie jede verschlüsselte Anweisung, und Herr Grohmann war sichtlich dankbar dafür.

Was Anwesende als völlig harmlose Bemerkung wahrnahmen, war für Laura eine klare Anweisung, ohne dass alle anderen Anwesenden mit der Aussage etwas anfangen konnten.

Ganz oft schon hatte sie befürchtet, ihr Chef sei nicht gerade das, was im Bankgewerbe als seriös gilt. Dennoch war er bei den Kunden äußerst beliebt, obwohl auch diese seine emotionale Breitseite abbekamen. Aber – er machte sie reich, meistens jedenfalls.

Grohmann, ein gewiefter Finanzmakler und Börsenberater, roch das Geld schon aus der Ferne. Er gab sich stets sehr risikofreudig, aber niemals leichtsinnig im Umgang mit Kundengeldern und war vielleicht gerade deshalb so sehr erfolgreich.

Laura hatte viele zwielichtige Erscheinungen in das pompös ausgestattete Chefzimmer geführt, aber auch sehr viele seriöse Unternehmer und Wirtschaftsgrößen. Das Gros der Klientel war steinreich und erhoffte sich von Grohmann, noch reicher zu werden.

Mehrfach hatte er ihr gegenüber erklärt, dass wohlhabende, gar reiche Kunden, persé einen gewissen Luxus erwarten würden, wenn sie zu einer Beratung oder zu einem Gespräch in die Bank kämen. Je protziger die Einrichtung sei, je größer sei die Bereitschaft der Kunden, Geld zu investieren. Der überwältigende Luxus suggeriere Erfolg, und Erfolg sei nun einmal unweigerlich verknüpft mit Statussymbolen und Geld.

Wenn eine Bank ein pompöses Flair vermittle, so manipuliere sie dadurch die Sichtweise der Kunden. Demnach müsse die Bank an ihren Kunden ziemlich gut verdienen und dies wiederum könne sie nur, wenn auch der Kunde mit einem Geldsegen überschüttet würde.

Einfache psychologische Strategie! Marketingstudium - erste Stunde!

Selbstverständlich enthielt auch Lauras Büro diverse luxuriöse Vorzüge, obwohl ihr Büro deutlich mehr nach Arbeit aussah als es bei Grohmann der Fall war.

Laura spottete oft, Grohmanns Büro gliche einer Ausstellung für komfortable Designer-Büromöbel.

Außer einem Block mit aufgedrucktem Bankenlogo von Blower and Sons Trade & Financing, auf dem ein goldener, mit Diamanten besetzter Cartier Kugelschreiber lag, befanden sich in Grohmanns Büro keinerlei Papiere, Akten oder Ordner. Lediglich ein PC mit drei Bildschirmen und einige gerahmte Fotos auf dem Schreibtisch deuteten gelegentliches geschäftiges Treiben an.

Dass hinter der Bürotür nicht alles mit rechten Dingen zuging, hatte Laura natürlich längst begriffen. Es lag etwas in der Luft, aber Laura hatte sich nun einmal für Loyalität entschieden. Sie stellte keine Fragen, tratschte nicht herum und erfüllte die Anweisungen, die sie erhielt. Dr. Grohmann konnte sich blind auf sie verlassen. Wahrscheinlich war sie sogar die einzige Person, auf die sich Grohmann tatsächlich verlassen konnte.

Sie musste sich beeilen, bevor nochmals jemand ungebeten hereinschneite.

„Ihre rote Handtasche ist wirklich eine Sensation“, hatte Grohmann gesagt. Also schnappte sie sich die Akte Roth Investment und stopfte sie in ihre Handtasche. Sie würde die Akte unbemerkt aus dem Gebäude bringen und an dem gewohnten Platz, unter einem Stapel Frauenzeitschriften, in ihrer Gartenlaube deponieren. Irgendwann würde Martin Grohmann unbemerkt diese Akte abholen.

Laura wohnte am Stadtrand Offenbachs, in einer gemütlichen, doch spießigen Siedlung mit gepflegten Vorgärten und schmucken Einfamilienhäusern. Es roch dort geradezu nach Familienidyll.

An den Fenstern der schmucken Siedlungshäuser hingen saubere weiße Gardinen oder moderne Rollos. Die Männer gingen morgens aus dem Haus zur Arbeit. Die Frauen folgten, sie arbeiteten meistens, wenn überhaupt, halbtags und brachten mittags die Kinder mit aus dem Kindergarten oder aus der Schule. Die Bewohner des prädestinierten Stadtteils erfreuten sich eines recht üppigen Wohlstands. Mit Statussymbolen wie dicken Autos, teuren Uhren, teurer Kleidung, trugen sie ihren Reichtum ganz öffentlich zur Schau.

Vormittags war die Siedlung wie ausgestorben, nur hier und da surrte ein Rasenmäher vor dem Mittagessen. Dort zumindest, wo die Hausbesitzer einen Gärtner engagiert hatten. Kaum jemand in der Siedlung griff nicht auf dieses Privileg zurück. Selbst Laura leistete sich hier und da einen Gärtner.

Am Nachmittag jedoch lebte die Straße auf, Kinder spielten, Frauen sah man bei einigen leichteren Gartenarbeiten, beim Fegen oder beim Fensterputzen. In den meisten Fällen waren es jedoch nicht die Bewohnerinnen der wohlhabenden Haushalte selbst, die Hand anlegten. Diese Arbeiten wurden vielmehr von ihren Bediensteten übernommen, die vormittags den Haushalt im Inneren der Gebäude erledigten. Die Dame des Hauses zog es vor, zum Shoppen zu fahren oder mit Gleichgesinnten auf der Terrasse Sekt und Champagner zu schlürfen.

In den kalten Monaten reduzierte sich das Leben auf der Straße zwar, kam aber nie ganz zum Erliegen.

Lauras Grundstück befand sich am Ende der Straße, einer Sackgasse. Sie gönnte sich den Luxus eigenen Personals nicht, bis auf den Gärtner für die schwereren Arbeiten in ihrem ohnehin verhältnismäßig kleinen Garten.

Die Lage des Grundstücks ermöglichte jedem Besucher, gänzlich unbemerkt in den hinteren Teil ihres Gartens zu gelangen, wo sich die Gartenlaube befand.

Kurz nach ihrem Eintritt bei Blower and Sons Trade & Financing konnte Laura das Anwesen günstig erwerben und nach ihren Bedürfnissen einrichten. Sie fühlte sich dort wohl, zumal die Nachbarn sich untereinander in Ruhe ließen.

Privatsphäre war ihr wichtig. Sie war nicht sehr gesellig und zog die Einsamkeit vor.

Niemand nahm von Laura Notiz, als sie während der Mittagspause das Bankgebäude verließ. Wenn sie sich beeilte, würde sie pünktlich um fünfzehn Uhr wieder zurück sein, je nachdem, wie stark sich der Verkehr um diese Zeit durch die Stadt quälte.

Für die Strecke von nur zwölf Kilometern benötigte sie zwischen fünfundzwanzig Minuten und einer Stunde. Sie schaffte es heute in vierzig Minuten, deponierte die Akte an der vorgesehenen Stelle und hatte sogar noch genügend Zeit, sich einen Salat zuzubereiten.

Pünktlich um fünfzehn Uhr saß sie wieder in ihrem Vorzimmer.

Martin Grohmann war nicht mehr in seinem Büro. Er kam auch an diesem Tag nicht zurück. Jedoch war das nichts, was Laura beunruhigen musste.

###

Der Auftrag war klar und unmissverständlich. Er erteilte ihn an einen Profi. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Schaden war angerichtet, wie umfangreich, das würde sich vielleicht nie herausstellen.

Die Verluste waren groß, sehr groß, gar immens. Lange hatte er nicht bemerkt, was da vor sich ging. Er hatte Grohmann vertraut, Millionen mit ihm verdient, über Jahre immer mehr Millionen. Million um Million wuchs an.

Irgendwann hatte er den Überblick über sein Vermögen und über seine Investitionen verloren. Hier ein paar Millionen investiert, dort wieder herausgezogen, umgeschichtet, Aktienpakete angelegt, wieder verkauft, wieder gekauft. Immobilien gekauft, vermietet, verkauft, weitere gekauft. Er hatte gar keine Ahnung mehr, wie viel Grundbesitz und in welchem Ausmaß und wo und was in der ganzen Welt er sein Eigentum nennen konnte.

Er besaß mehrere Konten in mehreren europäischen Ländern, unter anderem in der Schweiz, Monaco, Luxemburg, außerhalb Europas auch in Dubai und auf einigen tropischen Inseln. In seinem Tresor türmten sich Gold und Bargeld in verschiedenen Währungen.

Dann hatte er begonnen, in den Südstaaten von Amerika zu investieren, eine Goldmine hier, ein Kaufhaus da, Baumwollplantagen und Zuckerrohr. Sogar in erneuerbaren Energien wurden einige Millionen versenkt.

Schmutziges Geld wurde sauber.

Zusammen mit Grohmann und einem weiteren Fachmann hatte er ein wasserdichtes Konzept erarbeitet, wie er um die Versteuerung seiner Gewinne herumkam. Trotz der strengen Überprüfungen durch die deutschen Behörden war es ihm gelungen, sein Vermögen am Fiskus vorbeizuschleusen. Das musste er Grohmann neidlos lassen, in dieser Beziehung verstand er sein Handwerk.

Grohmann hatte lange Zeit das Vermögen mit Hedgefonds abgesichert, Leerverkäufe getätigt, Kapital verzigfacht, ohne überhaupt Kapital eingesetzt zu haben. Er machte Gewinne mit Verkaufserlösen aus geliehenen Aktien. Er hatte ein Gespür für diesen Markt. Dafür bewunderte er ihn noch immer uneingeschränkt.

Doch nun war sein Vermögen geschrumpft, hatte sich in Luft aufgelöst. All die Profite waren schleichend irgendwie abhandengekommen. Lange, viel zu lange unbemerkt. Zu allem Überfluss erschütterte dann Anfang März 2020 eine weltweite Pandemie die Finanzwelt. Damit war das Schicksal der Investitionen besiegelt.

Er konnte nichts tun, nur zuschauen und retten, was zu retten war. Es blieben noch einige Millionen übrig, auch seine Investitionen litten keinen Schaden, aber der komplette Profit war weg.

Es dauerte Monate, bis er das Geflecht durchschaute und sich Klarheit über seine Situation verschaffen konnte.

Als er den Schaden bemerkte, war es schon zu spät. Grohmann wusch seine Hände in Unschuld und versicherte ihm, alles getan zu haben, was in seiner Macht stand, um ihn vor größeren Verlusten zu bewahren. Die wirtschaftliche Lage in dem einen und dem anderen Land hätten ihn gezwungen, gegenzusteuern. Der rasante Verfall sei, nicht zuletzt wegen der allseits prognostizierten, bevorstehenden Wirtschaftskrise in einigen der Investitionsländer, ausgelöst unter anderem durch die Covid-19-Pandemie, nicht mehr aufzuhalten gewesen. Die Lage durch die Pandemie sei unsicher und beflügle den Verfall.

Hinzu kamen immense Verluste durch den WIRECARD-Skandal. Daran mochte er gar nicht mehr denken, er weigerte sich, seinen Verlust allein auf diesem Sektor näher zu durchleuchten.

Grohmann versuchte ihm einzureden, in Wirklichkeit gar keine Verluste gemacht zu haben, denn der ursprünglich eingesetzte Investitionsbetrag sei vollumfänglich noch vorhanden. Er solle im Gegenteil noch froh sein, nicht alles verloren zu haben. Dreist behauptete Grohmann, dies sei allein sein Verdienst durch sein umsichtiges und verantwortungsvolles Handeln!

Das konnte er natürlich nicht widerlegen. Was Grohmann behauptete, entsprach der Wahrheit. Er war nicht ärmer geworden, aber auch keinen Cent reicher. Die Krise hatte alles verändert. Viele Läden schlossen und öffneten auch nach der Pandemie nie mehr. Die Wirtschaft lag weltweit zeitweise völlig lahm. Lieferprobleme, Zahlungsaufschübe, Im-und Exportbeschränkungen und Reiseverbote, in Verbindung mit der Einstellung des Flugbetriebes, sorgten in der ganzen Welt für Stillstand. Nur schleppend rappelte sich die Konjunktur wieder hoch, um dann doch wieder zu kollabieren. Börsen verzeichneten Gewinne, um diese dann wieder einzubüßen. Inflationswarnungen schürten das Feuer weiter an. Ein ewiges Hin und Her.

Wie ihm, ging es noch mehreren seiner Mitstreiter und Kollegen. Sehr viel Mehreren.

Irgendwann schlossen sie sich zusammen, wollten etwas gegen Grohmann unternehmen. Aber was? Schwierig, denn sie alle hatten vor lauter Gier das Gesetz gebrochen.

Schlussendlich blieben sie mit ihrer Wut allein. Sie hatten den Staat allesamt um Milliarden betrogen. Wenn sie gegen Grohmann vorgingen, wären sie mit dran. Richtig dran sogar, Steuerhinterziehung ist eben kein Kavaliersdelikt, sondern wird mit harten Haftstrafen und hohen Geldstrafen geahndet. Der Fiskus würde sie der Geldwäsche überführen, dessen waren sie sich alle einig. Und, die Behörden würden noch viel mehr aufdecken, was lieber nicht ans Tageslicht gezerrt werden sollte. Niemals und unter gar keinen Umständen dürfe Derartiges geschehen!

Nicht nur diese Szenarien zogen die Geprellten mit in ihre Überlegungen ein. Eine derartige Steuerfahndung - mit allen rechtlichen Konsequenzen - würde die anderen, noch immer laufenden lukrativen Geschäfte stören, wenn nicht sogar völlig zum Erliegen bringen. Das Risiko war viel zu groß. Also zogen sie die Köpfe ein und schluckten die bittere Pille.

Gesamtheitlich gesehen wäre Schweigen und Nichtstun der vernünftigere und sicherste Weg.

Bislang hatten sie tatsächlich ihre Investitionen noch. Wenn sie Grohmann nun an den Pranger stellten, würde ihr Vermögen nun doch zusammenschrumpfen, und ihr Image wäre unwiederbringlich ruiniert. Unter dem Imageverlust litt dann auch die Familie und das Unternehmen. Alle Beteiligten würden unausweichlich einen erheblichen Schaden davontragen. Dieser Imageverlust wog schwerer als der Verlust des Geldes.

Und wer weiß, was ansonsten noch alles ans Licht käme! Möglicherweise würde die Justiz ein Verfahren eröffnen wollen und sie für Jahre in den Knast schicken. Zeugen müssten und würden dann sicherlich aussagen. Geheime Dokumente kämen aus jeder Ecke hervor, die von allen Seiten betrachtet und so lange verzerrt würden, bis sie die Grundlage für eine Verurteilung rechtfertigten.

Nein, diesen Preis wollten die Akteure nicht bezahlen. Alle, ohne Ausnahme, nicht! So schlichen sie zurück in ihre Villen und schwiegen, leckten ihre Wunden und machten weitere Millionen auf andere Art und Weise.

Nur einer ertrug es nicht, hereingelegt worden zu sein! Er hatte schließlich gute Beziehungen, kannte die richtigen Leute. Er würde es auf seine Weise lösen. Niemand führt einen wie ihn vor! Niemand!

###

In der Bank verbreitete sich bereits die allgemein verhasste Montagmorgenstimmung, als Laura das Bankgebäude betrat. Vor der Tür standen schon, trotz des leichten Nieselregens, ungeduldig einige Kunden, die es kaum erwarten konnten, ihre Konten wieder zu plündern. Montag und Monatserster, eine Kombination, die von den Angestellten an den Bankschaltern alle Kraft und Geduld abverlangte. Immer, wenn der Monatsletzte auf einen Samstag oder Sonntag fiel, waren Freitage und Montage richtige Kampftage für alle Beteiligten.

Laura war froh, keinen Schalterdienst mehr machen zu müssen. Kunden, die am Ultimo ihr heiß ersehntes Geld nicht auf dem Konto hatten, konnten in allen Facetten unangenehm sein. Manche sehr verzweifelt, manche tobend, wenn die Bank sich weigerte, Geld auszuzahlen.

Nach ihrem Abitur hatte sich Laura für eine Lehre als Bankkauffrau entschieden und studierte nebenbei Betriebswirtschaft und Wirtschaftswissenschaften. Mit Ach und Krach hatte sie trotz hervorragender Abschlussnoten in einem Provinznest eine Arbeitsstelle ergattert. Mit dieser Stelle war eben auch der Schalterdienst verbunden. Bereits damals hatte sie sich geschworen, der Enge der Provinz zu entfliehen und dem Drehkreuz des Geldes nach Frankfurt zu folgen. Sie hatte Glück und bekam den Job bei Dr. Martin Grohmann. „Folge dem Geld“, war ihre Devise.

Anfänglich tat sie sich schwer, in der Großstadt und in der Bank Fuß zu fassen, aber Laura hatte Biss und Ehrgeiz, und so gelang es ihr recht schnell, Grohmanns Vertrauen zu gewinnen.

An diesem hektischen Montagmorgen war Dr. Martin Grohmann bereits in seinem Büro. Die Tür stand weit offen. Er wirkte nervös. Wippend und mit Händen in den Hosentaschen stand er am Fenster und drehte ihr den Rücken zu.

Laura dachte oft, „Wenn man ihn von hinten sieht, ist dieser Herr eine akzeptable Erscheinung.“ Allerdings war seine Frontseite alles andere als anziehend. Er trug viel zu langes Haar für einen seriösen Bankkaufmann, das er zudem auch noch mit Gel bearbeitete, manchmal auch zu einem Zopf zurückband. Zu allem Überfluss hatte er dieses zudem über den Kopf zurückgekämmt. Seine dunklen Augen waren ohne Ausstrahlung, seine Lippen viel zu schmal und sein Gesicht insgesamt etwas zu lang geraten. Außerdem war er von einer Traumfigur weit entfernt. Würde er keinen so teuren Anzug tragen, würde er als unterdurchschnittlich kategorisiert werden.

Laura blickte kurz herein, begrüßte ihren Chef und nahm dann ihren Platz am Schreibtisch ein. Später erinnerte sie sich nicht mehr daran, ob Martin Grohmann ihren Gruß erwiderte, oder ob er sie überhaupt bemerkt hatte. So trüb und kalt wie das Wetter draußen, war auch die Aura an diesem Morgen im Büro. Ihr blieb nicht lange Zeit, um darüber nachzudenken. Das Schicksal hatte bereits Anlauf genommen.

Sie hatte sich noch nicht ganz gesetzt, als die Tür aufgerissen wurde und eine Horde Polizisten hereinstürmte. In Begleitung der Beamten befanden sich der völlig überforderte Bankdirektor Fritz Lauterbach sowie ein Herr von der Bankenaufsicht, selbstverständlich gefolgt von neugierigen Mitarbeitern der Bank. Diesen Neugierigen wurde allerdings kurzerhand die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Ohne Laura zu beachten, rannten die ungebetenen Besucher durch das Vorzimmer direkt zu Martin Grohmann, der nicht einmal überrascht zu sein schien. Entweder er hatte die Truppe erwartet oder aber vom Fenster aus gesehen, wie die uniformierte Mannschaft in das Bankgebäude stürmte.

Laura fühlte sich sofort verpflichtet, ihrem Chef beizustehen und wollte zu ihm gehen, als eine grobe Gestalt sie am Weitergehen hinderte. So musste sie hilflos mit ansehen, wie sie Martin Grohmann Handschellen anlegten, ihn mit allen möglichen Vorwürfen überschütteten und ihm seine Rechte vorlasen.

Dann zerrten sie ihn in Richtung Ausgang. Als er auf Höhe von Laura war, sagte er zu ihr: „Passen Sie auf, dass diese Deppen nicht das Bild meiner lieben Frau zerstören!“

Dann stießen die Beamten Herrn Grohmann aus der Tür und verschwanden.

Ein Beamter wurde abgestellt, Grohmanns Büro und das Vorzimmer zu bewachen.

Laura wurde barsch angewiesen, an ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen und sich nicht aus diesem Büro zu entfernen. Sie würde später noch zu diversen Vorfällen befragt werden.

Alle anderen Mitarbeiter wurden ebenfalls sehr unmissverständlich gebeten, wieder ihre Arbeitsplätze einzunehmen. Keiner aber durfte das Gebäude verlassen.

Der Direktor, der sich unentwegt mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht wischte, bekam die Anweisung, die Bank für heute geschlossen zu halten. Sein Protest und seine Gegenwehr waren zu schwach, um Eindruck zu erwecken. Der Mensch von der Bankenaufsicht schaute grimmig.

Lauterbach blickte zu Laura. Das blanke Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Sein Blick bettelte Laura an, kein Wort zu sagen, das nicht zuvor mit ihm abgesprochen war.

Laura hatte sowieso nicht vor, irgendetwas zu sagen.

„Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss und werden hier die gesamte Etage, und wenn es sein muss, die gesamte Bank auf den Kopf stellen! Gleichzeitig durchsuchen wir die Villa Grohmanns. Sie bleiben so lange hier, bis wir denken, dass Sie gehen können! Ich hoffe, Sie haben mich verstanden!“ Die Stimme dieses unsympathischen Beamten dröhnte bis in den Flur.

„Oh Gott“, schoss es Laura durch den Kopf, „hoffentlich durchsuchen die nicht auch mein Haus.“ Grohmann hatte die Akte Roth Investment nicht abgeholt.

Oder war es gar gut, wenn die Akte nicht bei Grohmann gefunden wurde? Hatte Grohmann von diesem Einsatz Wind bekommen? Aber wie um alles in der Welt sollte sie das Vorhandensein dieser Akte in ihrem Haus begründen? Suchte etwa die Polizei genau nach dieser Akte?

Es gelang ihr, sich wieder etwas zu beruhigen. Es gab keinen Grund für eine derartige Aktion in ihrem Haus, jedenfalls momentan noch nicht. Sie würde heute Abend die Akte sofort umlagern.

Dann besann sie sich auf Grohmanns Worte: „Passen Sie auf, dass diese Deppen nicht das Bild meiner lieben Frau zerstören!“

„Was meint er?“, grübelte Laura. Sie ermahnte sich: „Laura, reiße Dich zusammen und denke nach!“

Grohmann war momentan nicht verheiratet. Seine zweite Ehe war vor über einem Jahr geschieden worden, also hatte er auch kein Bild seiner lieben Frau auf dem Schreibtisch stehen. Auch nicht von einer seiner vielleicht vorhandenen Geliebten. Es standen zwar Bilder auf dem Schreibtisch, aber zu keinem passte diese Beschreibung. Und wieso liebe Frau? Wieso betonte er das Wort liebe so sehr? Verflixt, sie musste in Grohmanns Zimmer, vielleicht würde sie dort erkennen, was zum Teufel Grohmann gemeint hatte. Allerdings stand vor der Tür ein Beamter, der sich ziemlich breit machte und ganz und gar nicht danach aussah, als würde er Laura ins Zimmer spazieren lassen.

Plötzlich krachte es aus dem Funkgerät des Beamten. Eine hektische Stimme verkündete, jemand habe auf den Verhafteten geschossen, als dieser gerade das Gebäude über die Treppen verließ. „Alle Einsatzkräfte sofort zum Eingang!“

Der Beamte, der eigentlich den Raum überwachen sollte, eilte davon.

Laura brauchte eine ganze Weile, bis sie begriff, was sie da soeben gehört hatte. Sie raste schockiert zum Fenster im Büro ihres Chefs, wo ihr kurze Zeit zuvor noch Martin Grohmann den Rücken zugewandt hatte. Vom Fenster aus war das Geschehen vor dem Bankgebäude und auf der Straße gut zu überblicken. Für das ansonsten herrliche Panorama auf die Frankfurter Skyline, hatte sie in diesem Moment keinen Blick übrig.

Grohmanns Büroräume befanden sich im vierten Stock, somit konnte sie das Szenario unter sich gut beobachten.

Tatsächlich lag Grohmann mit dem Gesicht nach unten in einer Blutlache. Sein Körper, der in seinem hellgrauen Designeranzug steckte, lag ungewöhnlich verrenkt quer über den Stufen der breiten Treppe - kopfabwärts. Da seine Hände auf dem Rücken mit Handschellen fixiert waren, hatte er nicht einmal den Hauch einer Chance, den Sturz abzufangen, falls er den Schuss überhaupt überlebt hatte. Einen Schuh hatte er verloren, dieser stand auf der oberen zweiten Stufe.

Es regnete jetzt etwas stärker. Einige hektisch herumwirbelnde Beamte suchten Zuflucht unter Schirmen. Das Bild auf der Treppe und auf dem Gehweg wirkte auf Laura gespenstisch, und sie schüttelte sich unbewusst.

Laura hatte den Drang herunterzurennen, um zu schauen, ob Grohmann noch lebte. Sie verwarf den Gedanken sofort wieder, denn das Gebäude war sicherlich abgeriegelt, niemand würde mehr herauskommen. Krankenwagen und weitere Polizisten erschienen, Straßen wurden gesperrt und gegenüberliegende Gebäude abgeriegelt.

Es sah nicht gut aus für Grohmann, da niemand zunächst ernstlich Erste Hilfe leistete, vermutete Laura zu Recht, Grohmann habe den Schuss nicht überlebt.

Ungewöhnlich schnell war ein Notarzt herbeigeeilt. Wer hatte diesen so schnell informiert? Oder war er sowieso in der Nähe? Hatte das Einsatzkommando stets einen Notarzt bei ihren Einsätzen dabei, weil von vornherein Ausschreitungen zu befürchten waren? Dies fiel Laura auf, sie machte sich jedoch darüber keine weiteren Gedanken. In Frankfurt gehörte ein Notarztwagen zum alltäglichen Stadtbild.

Grohmann wurde schnell auf eine Trage gelegt und in einen Krankenwagen geschoben. Er war noch immer gefesselt, aber daran störten sich scheinbar die Ersthelfer nicht. Der Krankenwagen raste mit Blaulicht und Sirene davon.

Laura schöpfte kurz Hoffnung. Krankentransporte erfolgen nur mit Lebenden. Ein bereits verstorbener Patient darf gar nicht mit einem Krankenwagen abtransportiert werden! Für Tote fahren doch Leichenwagen vor! Lebte ihr Chef vielleicht doch noch? Sie schloss kurz die Augen.

Der Polizei gegenüber hatte der Notarzt erklärt, noch einen geringen Puls gespürt zu haben. Er gehe aber davon aus, Grohmann würde das Krankenhaus dennoch nicht mehr lebend erreichen.

Langsam, wie in Trance und völlig fassungslos, wandte Laura sich ab und ging zu Martin Grohmanns Schreibtisch, um sich mit beiden Händen darauf abzustützen. Noch immer tief erschüttert, welche Szenen sich innerhalb der letzten Minuten hier abgespielt hatten, spürte sie, wie stark sie zitterte. Sie schluckte schwer. Martin Grohmanns letzte Worte hallten durch sein Büro nach und brachten sie wieder zur Besinnung.

„Passen Sie auf, dass diese Deppen nicht das Bild meiner lieben Frau zerstören!“

Das Bild der lieben Frau! Laura sah sich um. Auf dem Schreibtisch standen tatsächlich Bilder, aber wie sie richtig in Erinnerung hatte, war keines der Bilder mit einer entsprechenden Frau darauf abgebildet. Grohmann beim Angeln, Grohmann beim Skifahren, Grohmann an einer exotischen Bar. Laura konnte mit diesen Fotos nichts anfangen. Sie musste sich beeilen, bevor der Beamte sich erinnerte, dass er ja eigentlich das Büro bewachen sollte.

An der hinteren Wand des Büros, gegenüber der Fensterfront, hingen zwei Gemälde. Eines davon war einmal richtig teuer gewesen. Laura wäre es im Traum nicht eingefallen, auch nur einen Cent für dieses Geklecksel auszugeben.

Liebe Frau, verflixt.

Auf dem anderen Gemälde befand sich ein Gebäude, ein Schloss. Dann hatte sie es verstanden! Kein Schloss, nein! Das war das Bild eines Klosters. Das Kloster „Mia Cara Donna - Meine liebe Frau“, irgendwo in der Toskana, wohin Grohmann des Öfteren reiste.

Vorsichtig hing sie das Bild ab und betrachtete es genauer. Das Bild war schwer. Laura legte es auf den Boden und hoffte inständig, niemand möge jetzt hereinkommen.

Noch immer ratlos drehte sie das Bild um, so lag es nun mit der Vorderseite nach unten. Laura untersuchte die Rückseite. Nichts. Sie tastete mit den Fingern am Rahmen entlang und entdeckte tatsächlich einen Hohlraum, in dem ein Schlüssel steckte. Sie nahm eine Schere zur Hilfe, um den Schlüssel unter dem Rahmen hervorzuholen.

Ungläubig betrachtete sie den Schlüssel, dann besann sie sich wieder, hängte das Bild an seinen Platz und befestigte den Schlüssel an ihren eigenen Schlüsselbund.

Gerade noch rechtzeitig, denn die Tür wurde wieder aufgerissen, und der wachhabende Beamte nahm erneut seinen Platz ein.

Plötzlich wurde Laura ganz übel und sie fürchtete, sich übergeben zu müssen. Langsam begann ihr Gehirn zu realisieren, was überhaupt geschehen war.

Grohmann verhaftet, dann niedergeschossen. Drei Gruppen gleichzeitig, die es auf Grohmann abgesehen hatten. Einmal die Polizei- und Zollbehörde, dann die Bankenaufsicht und drittens diejenigen, die verhindern wollten, dass Grohmann den Polizeieinsatz überhaupt überlebte und zwitschern würde wie eine Nachtigall.

Eiskalter Schweiß brach ihr aus.

„Ich bin seine Sekretärin, ich weiß alles, was auch er weiß, zumindest glauben das bestimmt diejenigen, die ihn erschossen haben! Ebenso denken das die Polizisten, und mit der Bankenaufsicht ist auch nicht zu spaßen.“

Eintausend Gedanken schossen Laura gleichzeitig durch den Kopf. Sie rieb sich die Stirn. Unter Stress bekam sie Kopfschmerzen.

„Wieso wurde Grohmann auf offener Straße und vor den Augen der Polizei erschossen? Wenn jemand ihn schon ermorden wollte, wieso war er nicht heute Morgen vor seinem Haus bereits erschossen worden? Sollte hier ein Exempel statuiert werden? An wen war diese Message überhaupt gerichtet? Hatte Grohmann seinen Tod vorausgesehen, als er ihr den Schlüssel anvertraute? Was in drei Teufelsnamen hatte das alles zu bedeuten?“

Das Zimmer um Laura begann sich zu drehen und der Boden zu schwanken. „Werde jetzt bloß nicht ohnmächtig!“, kämpfte sie mit sich. Sie atmete tief durch.

„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte der Beamte besorgt, der offensichtlich Lauras Unwohlsein bemerkt hatte.

„Es geht schon wieder, danke. Es ist nur … alles… so schrecklich!“

Lauras Gedanken kreisten weiter. „Werde ich beobachtet, verfolgt? Vielleicht planen sie meine Entführung, oder schlimmer noch, wollen von mir etwas wissen, was ich nicht weiß, oder etwas haben, was ich nicht habe! Oder doch? Die Akte? Den Schlüssel? Warum war dieser überhaupt versteckt? Wollen sie den Schlüssel? Ahnen sie, dass ich ihn habe? Oder brauchen sie die Akte? Was steht darin? Wer im Himmel sind DIE?“

Laura schloss die Augen und rieb sich die Stirn erneut. Sie musste sofort an etwas anderes denken, um nicht doch noch zu kollabieren. „Nur nicht hysterisch werden, alles, nur das nicht!“

Es gelang ihr relativ schnell, sich einigermaßen wieder zu fangen.

„Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte sie den Beamten. „Ich würde nämlich gerne Kaffee kochen, wenn ich darf.“

Der Typ lächelte sie an. „Nein danke, aber Sie dürfen selbstverständlich Kaffee kochen und auch sonst ruhig Ihrer Arbeit nachgehen, wenn Sie können!“

Als der duftend heiße Kaffee durch ihren Körper strömte, fühlte sie neue Kraft aufkommen.

Sie war die Sekretärin von Dr. Martin Grohmann, ihm gegenüber loyal, auch über seinen Tod hinaus. Deshalb war sie als solche zur Verschwiegenheit verpflichtet. Sie würde sich auf das Bankgeheimnis berufen, basta!

Die Verhaftung an sich war schon Schock genug, dann noch ein kaltblütiger Mord…. Sie müsste betroffen sein. Betroffen, schockiert, traurig und verwirrt…, dann würde die Polizei sie vielleicht eher in Ruhe lassen, ihr glauben, dass sie von nichts wusste.

Ansonsten würden die Spürnasen bestimmt bald herausfinden, wie wenig sie die Durchsuchung und Verhaftung Grohmanns überrascht hatte. „Ich weiß, was er weiß! Und das ist eine ganze Menge. Und das, was nur er weiß und ich nicht, aber alle glauben, dass ich es weiß, macht für mich die Sache nicht einfacher“, überlegte sie. „Von mir erfährt niemand nichts!“

Laura startete ihren PC und versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie öffnete ihre E-Mails und begann, diese abzuarbeiten, soweit es ihr möglich war.

Plötzlich stutzte sie. Eine E-Mail von Dr. Martin Grohmann.

„Sehr geehrte Frau Junginger,

gerne bewillige ich Ihren Urlaubsantrag vom 08.-26. März und wünsche Ihnen in dieser Zeit einen erholsamen Urlaub in Fuerteventura.“

Ihr Martin Grohmann“

Laura stutzte, sie hatte gar keinen Urlaubsantrag gestellt und schon gar nicht die Absicht, auf die kanarische Insel nach Fuerteventura zu fliegen. Ging das überhaupt? Mitten in Coronazeiten? War der Flugverkehr nicht eingestellt?

Ab und zu sah sie über Frankfurts Wolken noch vereinzelt Flugzeuge, jedoch war dies kein Vergleich mit dem Verkehr vor den Reisebeschränkungen.

Ließ Spanien denn überhaupt Touristen ins Land?

Die E-Mail war heute Morgen um 07.23 Uhr abgeschickt worden. Es gab keinen Zweifel, Grohmann selbst hatte ihr diese Nachricht zukommen lassen.

Schnell klickte sie sich in den Urlaubsplan der Bankmitarbeiter ein und suchte nach diesem vermeintlich beantragten Urlaub.

Da stand es schwarz auf weiß! Ab der kommenden Woche war sie für drei Wochen für einen Urlaub geplant. Sie fand tatsächlich auch ihren eigenen Urlaubsantrag.

Laura musste sich zusammenreißen, damit aus ihrem Gesicht die Verwirrung nicht herauszulesen war, was ihr erstaunlich professionell gelang.

Sie beschloss, diese Mail auszudrucken, um sie dann später an sich zu nehmen.

Irgendetwas hatte Dr. Grohmann gewusst! Er wusste, die Behörden waren ihm auf die Schliche gekommen. Vielleicht ahnte er auch, dass er sterben würde? Laura wusste nicht, ob Grohmann sie beschützen oder benutzen wollte, als er sich entschied, sie aus der Schusslinie zu nehmen. „Ich bin loyal“, sagte sie sich immer wieder.

Trotz der traurigen Umstände war diese obskure Situation für sie wider Erwarten sehr spannend. Mal schauen, wohin sie der Weg führen wird. Mal sehen, wohin Grohmann sie führte. Fast schämte sie sich für diese Gedanken.

Laura nahm die ausgedruckte Mail und legte sie in den Ablagekorb. In einem unbeobachteten Moment würde sie das Schreiben in ihren Besitz nehmen, ein Versteck an ihrem Körper würde sich schon finden.

Erneut wurde die Tür aufgerissen. Drei Beamte von der Spurensicherung, ausgestattet mit großen Stapelboxen, begaben sich geradewegs in Grohmanns Büro. Der Direktor erschien wieder, auch dieses Mal war sein Protest viel zu schwach.

Der Beamte unterrichtete sie davon, dass Dr. Martin Grohmann auf dem Weg ins Krankenhaus an den Schussverletzungen verstorben sei. Keinen Moment lang hatte Laura daran geglaubt, Martin Grohmann könnte das Attentat doch überlebt haben.

Kurz entstand ein betretenes Schweigen. Laura weinte echte Tränen.

Einer der Beamten räusperte sich und kam auf Laura zu. „Wir werden jetzt hier alles beschlagnahmen! Später auch werden wir uns um Ihren Arbeitsplatz kümmern. Wir müssen auch Ihre Unterlagen aus diesem Büro und Ihren PC konfiszieren.“

Laura tat erschrocken, doch mit nichts anderem hatte sie gerechnet.

„Zuvor brauchen wir allerdings von Ihnen eine aktuelle Kundenliste. Ferner eine Kundenliste ehemaliger Kunden und den Grund, weshalb die Geschäftsbeziehung geendet hat. Sagen wir, aus den letzten fünf Jahren?“

Laura blickte Lauterbach an, der jedoch keinen Ton sagte, sich auch nicht ansatzweise zur Wehr setzte.

„Herr Lauterbach?“ Laura wollte sich nicht so einfach überrumpeln lassen. „Darf ich das überhaupt? Steht dem nicht das Bankgeheimnis entgegen, ich meine…“

„Hören Sie!“, mischte sich der Beamte ziemlich wirsch ein. „Wie ich bereits sagte, beschlagnahmen wir hier alles. Und wir werden auch auf die Kundenliste stoßen, wenn sich unsere IT-Spezialisten erst einmal mit den Computern befassen. Wir knacken auch das Passwort. Also! Ersparen Sie uns die Zeit. Machen Sie sich an die Arbeit. Und Ihr Passwort sollten Sie uns ebenfalls aufschreiben. Wie gesagt, es bleibt eh kein Geheimnis.“

Dann wandte er sich ab, kam aber nochmals zurück. „Kennen Sie die Login-Daten für den Computer Ihres Chefs?“

Entgeistert schaute Laura ihn an. „Nein, natürlich nicht!“, log sie.

Grohmann hatte sie einmal in seiner Abwesenheit telefonisch gebeten, in seinem PC etwas nachzuschauen. Daraufhin hatte er ihr seine Login-Daten gegeben. Damals fand sie es schon sehr seltsam, wegen einer Lappalie diese sensiblen Daten zu erhalten. Jetzt aber begann alles einen Sinn zu machen. Sie fürchtete, diese Daten würde sie später nochmals benötigen. Aufgrund ihres fantastischen Gedächtnisses für Zahlen und Worte, hatte ihr Gehirn das Passwort abrufbereit abgespeichert.

Zwar behauptete Grohmann immer, sein Passwort täglich zu ändern, Laura glaubte es ihm aber nicht. Dennoch hatte sie danach niemals mehr versucht, es auszuprobieren. Grohmann sollte ihr vertrauen können. Ein Versuch, das Passwort nochmals einzugeben, wäre einem sehr großen Vertrauensbruch gleichzusetzen.

Sie begann die Liste der Kunden zusammenzustellen und fügte alles hinzu, was sie an Kontaktdaten im System finden konnte. Bevor sie die Liste ausdruckte, überflog sie sie nochmals. Der Kunde Roth Investment war nicht dabei!

Weder in der aktuellen Aufstellung noch in der ehemaligen Kundenliste.

Unmöglich! Nochmals schauen, vielleicht unter `I´. Nichts.

Unter einer der großen Bankmetropolen? Nichts. Verflixt.

Selbstverständlich sagte sie keinen Ton, druckte die Liste aus und übergab sie den Beamten. Zwischendurch hatte sie sich immer wieder die eine oder andere fiktive Träne aus dem Auge gewischt. Lauter als nötig schniefte sie mehrmals in ihr Taschentuch, um zu signalisieren, wie nah ihr doch Dr. Grohmanns Tod ging, und wie sehr sie unter der gesamten makabren Situation litt.

„Geben Sie uns noch eine Liste der Mitarbeiter, die im engeren Rahmen mit Herrn Grohmann zu tun hatten.“

Auch diese Liste erstellte Laura. Dieses Mal ohne Widerspruch.

„Ist Ihnen in der Vergangenheit etwas aufgefallen? Gab es Kunden, die unzufrieden waren? Haben Sie gehört, ob Dr. Martin Grohmann bedroht wurde? Kennen Sie seine Ehefrauen? Gab es da vielleicht in letzter Zeit wieder Stress? Oder ist eine seiner Freundinnen hier einmal aufgeschlagen?“

Natürlich behauptete Laura, nichts von alldem zu wissen. Ihr Chef sei sehr korrekt gewesen. Er hätte ihr nie einen Einblick in sein Privatleben gestattet. Unzufriedene Kunden gab es natürlich hin und wieder, ganz besonders, wenn die Aktien fielen. Wenn die Werte an den Börsen stiegen und sich damit das Vermögen der Kunden vermehrte, waren logischerweise diese besser gelaunt.

„Herr Grohmann hat es verstanden, mich aus Details herauszuhalten. Ich war bei Kundengesprächen immer nur kurz zugegen, um Kaffee oder Getränke zu bringen. Gespräche mit Kunden waren vertraulich, fanden nur bei Dr. Grohmann im Büro bei geschlossener Tür statt. Gesprächsinhalte wurden nicht einmal in dieses Vorzimmer getragen. Ich erhielt Anweisungen und führte diese aus, ohne jede Erklärung durch Herrn Dr. Grohmann, warum und wieso das so ist.“

Schnell nickte Lauterbach.

„Wollen Sie behaupten, Sie hätten nie bemerkt, welche Geschäfte und Transaktionen hinter dieser Tür stattfanden?“

„Wir sind hier eine Bank! Hier geht es um viel Geld. Zuweilen um sehr viel Geld! Da ist doch selbstverständlich oberste Verschwiegenheit von allergrößten Nöten, vielleicht mehr noch als in einer Anwaltskanzlei. Das, was Sie in den Akten finden, das weiß ich natürlich. Alle weiteren Heimlichkeiten hat dann wohl Herr Dr. Grohmann mit ins Grab genommen“, antwortete sie einen Tick zu schnippisch.

Wieder nickte Lauterbach, der den Unterton in ihrer Stimme offenbar gar nicht wahrgenommen hatte. Vielleicht war er ihr auch nur dankbar, dass sie im Gegensatz zu ihm den Mut hatte und dem unfreundlichen Kripobeamten Paroli bot.

„Nun gut, wir werden Sie sicher nach der Auswertung nochmals befragen, halten Sie sich also zu unserer Verfügung!“

Erst jetzt realisierte Laura, dass sich der Beamte bei ihr überhaupt nicht vorgestellt hatte. Sie vermied es aber dann doch, ihn nach seinem Namen zu fragen.

Lauterbach, der nun offensichtlich wieder in der Gegenwart angekommen war, sagte: „Sie können jetzt nach Hause gehen, denke ich. Hier gibt es jetzt im Moment nichts mehr zu tun für Sie. Wenn der Spuk vorbei ist, unterhalten wir uns, wie es weitergeht, im Augenblick jedoch…“ Er blickte auf den Beamten, in der Hoffnung, dieser möge ihm zustimmen.

Das war Lauras Stichwort: „Ich habe sowieso ab der nächsten Woche Urlaub.“ Sie nahm das Schreiben aus dem Ablagekorb und hielt es Lauterbach unter die Nase, ohne es jedoch aus der Hand zu geben. Auch der Beamte warf einen Blick darauf, nahm es ihr allerdings auch nicht aus der Hand. Mit einem erleichterten Lächeln wies Fritz Lauterbach mit der Hand zur Tür.

Der Beamte eilte nochmals heran. „Hinterlassen Sie uns eine Telefonnummer, unter der wir Sie auch während Ihres Urlaubs erreichen können. Wir werden Sie sicherlich im Laufe dieser Woche noch einmal zu uns bitten müssen, um noch vor Ihrem Urlaub ein Protokoll aufzunehmen.“

Laura wandte sich zum Gehen, jedoch hielt sie der unfreundliche Beamte abermals zurück. „Werden Sie verreisen?“

Laura zögerte, bestätigte es dann aber.

„Wenn sich aus Ihren Aussagen dann keine Verdachtsmomente ergeben, können Sie Ihren Urlaub antreten, allerdings sollten Sie auch währenddessen erreichbar für uns bleiben.“

„Verdachtsmomente? Was denn für Verdachtsmomente?“ Laura war fassungslos. „Ich habe hier nur meinen Job gemacht, wie alle anderen in diesem Gebäude auch nur ihren Job tun. Als auf Herrn Grohmann geschossen wurde, war ich hier an meinem Schreibtisch. Ihr Mitarbeiter saß bei mir im Zimmer!“

Laura schnappte sich ihre Handtasche. „Meine Handynummer steht bei meinen Kontaktdaten auf der Mitarbeiterliste, darüber bin ich erreichbar.“

Der Beamte gab ihr die Hand, die Laura zögerlich annahm. Eigentlich wollte sie nach ihrer empörten Äußerung durch die Tür stürmen, ohne sich zu verabschieden.

Wütend und verwirrt trat sie hinaus auf den Flur, wo sich eine beträchtliche Anzahl von Mitarbeitern herumdrückte, um vielleicht das eine oder andere aufzuschnappen, was hinter der verschlossenen Tür zu Grohmanns Büro vorging. Laura stürmte an ihnen vorbei, ohne auf die Fragen zu antworten, noch immer das Schreiben in der Hand haltend. Niemand hinderte sie.

„Von wegen erreichbar, die spulen mir bestimmt eine Ortung auf!“, fluchte sie ärgerlich vor sich her.

Am Ausgang traf sie auf einige verunsicherte Kollegen. Nathalie und Tom waren nirgendwo zu sehen. Laura war sich sicher, beide würden noch heute versuchen, mit ihr ins Gespräch zu kommen, um aus „erster Hand“ etwas zu erfahren.

Ohne sich umzudrehen, eilte Laura zum Parkplatz und stieg in ihr Auto. Sie zögerte. Sie musste sich normal und ruhig verhalten, obwohl sie nicht schnell genug nach Hause kommen konnte, um die Akte Roth Investment zu verstecken. „Falls mir jemand folgt, darf ich auf gar keinen Fall den Eindruck erwecken, als hätte ich es eilig.“ Sie holte ein paar Mal tief Luft, atmete aus und wieder ein, bis ihr Puls heruntergefahren war.

Spontan kam ihr die Idee, erst in den Supermarkt zu fahren, um sich dort in aller Seelenruhe etwas für den heutigen Abend zu besorgen.

Sie ließ die Stadt hinter sich. Obwohl sie keinen Verfolger ausspähen konnte, blieb eine innere Unruhe.

Im Supermarkt zwang sie sich zur Entschleunigung und bummelte herum. Laura nahm Waren aus dem Regal, betrachtete sie länger als nötig, um sie dann wieder zurückzustellen. Sie kaufte Pflegemittel, Wein, Gemüse und Schnitzel und noch einige Knabbereien für den Abend, an dem sie mit Sicherheit Gäste haben würde.

Immer wieder ermahnte sie sich zur Ruhe. Zwang sich häufig wieder erneut zur Langsamkeit. Es fiel ihr unsagbar schwer.

Zuhause parkte sie ihr Fahrzeug wie gewohnt in der Garage. Ohne Hast trug sie die Einkäufe ins Haus.

Dort angekommen verbrachte sie ihre Einkäufe in die Küche und stellte diese erst einmal dort ab. Dann lief sie durch jedes Zimmer, um zu prüfen, ob irgendjemand vor ihr in dem Haus gewesen war. Sie konnte nichts entdecken. Vorsichtig spähte sie durch alle Fenster, doch auch draußen sah sie nichts Ungewöhnliches.

Vorsichtig öffnete sie die Terrassentür, um von dort ins Gartenhaus zu gelangen. „Das ist zu auffällig! Wenn mich nun doch jemand beobachtet? Wenn ich zuerst ins Gartenhaus hetze, dann spätestens kann sich auch der dümmste Beobachter denken, dass etwas ganz gravierend nicht stimmt.“

Die Wäsche! Sie hatte noch Wäsche in der Waschmaschine! Wäsche aufhängen im Garten würde sicherlich harmlos auf den Beobachter wirken. Gott sei Dank hatte es aufgehört zu regnen. Die Sonne bemühte sich sogar, einige Strahlen zur Erde zu schicken. Laura suchte sich einen Korb und holte die Wäsche aus der Waschmaschine.

Wenigstens ließ das Wetter es bereits zu, die Wäsche nach draußen auf die Wäscheleine hinter ihrem Gartenhaus zu hängen. Das Ende des Winters war unweigerlich eingeläutet. Zwar waren die frostigen Tage noch nicht ganz vorbei, aber die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich ihren Weg frei. Einige Nachbarinnen hatten offenbar bereits den gleichen Gedanken, und so flatterte auf einigen Wäscheleinen frisch gewaschene Wäsche im Wind.

„Umziehen! Ich muss mich zuerst umziehen! Wäsche aufhängen im Kostüm und mit Stöckelschuhen kommt nicht gut!“

Laura eilte nach oben in ihr Schlafzimmer und zog sich eine bequeme Jogginghose an. Sie nahm sich extra die Zeit, das Kostüm sauber auf den Bügel zu hängen und rannte die Treppe bis in den Keller wieder herunter.

Sie hängte die Wäsche hinter dem Gartenhaus auf. Wieder zwang sie sich, es langsam und gemächlich zu tun. Die Bettwäsche verdeckte jedem Beobachter den Blick auf die Tür des Gartenhauses. Laura sprang hinein, schnappte sich die Akte und warf sie in den Wäschekorb und stellte den Beutel mit den Wäscheklammern darüber. Dabei fiel etwas auf den Boden. Zuerst dachte sie, eine Wäscheklammer sei ihr heruntergefallen, dann realisierte sie, dass es sich um einen USB-Stick handelte. Sie hob ihn auf und warf ihn in den Klammerbeutel. Ihre Hände zitterten.

Laura wurde tatsächlich beobachtet, doch noch bemerkte sie es nicht.

Der Beobachter, der ihr schon von der Bank aus gefolgt war, hatte nichts Außergewöhnliches bemerkt. In der Nachbarschaft waren einige Wäscheleinen mit frisch gewaschener Wäsche bestückt. Er fand an Lauras Tun nichts Ungewöhnliches.

Laura beendete ihre Tätigkeit in aller Seelenruhe. Langsam ging sie wieder ins Haus zurück, den Wäschekorb mit dem darin befindlichen Klammerbeutel unter ihrem rechten Arm geklemmt. Noch einmal vergewisserte sich Laura allein zu sein und blickte vorsichtig durch die Fenster. Sie hatte sich seitlich ans Fenster gestellt, damit von außen niemand ihre Silhouette erkennen konnte. Niemand spähte hinein. Es war auf dem Grundstück nichts Verdächtiges zu sehen. Dann widmete sie sich der Akte.

Grohmann musste doch gekommen sein! Aber anstatt die Akte zu holen, hatte er weitere Dinge in der Laube deponiert. Er musste den USB-Stick in die Akte gelegt haben.

Laura öffnete die Akte, konnte aber auf den ersten Blick nichts weiter feststellen. Offenbar war seither in der Akte an sich nichts verändert worden. Warum hatte Grohmann die Akte bei ihr gelassen und nicht an sich genommen? Was war auf dem Stick?

Der Inhalt der Akte erschloss sich ihr momentan genauso wenig. Zahlen, Zahlen, Zahlen, und eine Anreihung verschiedener Buchstaben, die keinen Sinn ergaben. „Irgendwer wird schon etwas damit anfangen können“, sagte sie sich.

Hilfesuchend blickte sie sich in der Wohnung um. Wohin mit dem Ding? Der USB-Stick lag im Wäscheklammerbeutel erst einmal ganz gut. Aber diese Akte war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Schlüssel zu all dem Dilemma, das seit heute Morgen über sie hereingebrochen war. „Na, da es sich ja wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um Geldwäsche handelt, wäre die Waschmaschine ein geeigneter Ort!“

Sie ging wieder hinunter zurück in die Waschküche. Unter der Waschmaschine war ein geeigneter Platz. Zu dumm nur, das Ding war so furchtbar schwer. Mit ein paar Holzkeilen gelang es ihr schließlich, die Maschine leicht anzuheben, die Akte darunter zu verstauen und die Waschmaschine wieder abzulassen. Sie prüfte von allen Seiten genau, ob irgendetwas von der Akte noch zu entdecken war. Alles war perfekt.

Bevor Laura wieder in die Küche ging, um dort nun endlich ihre Einkaufssachen zu verstauen, holte sie noch die Post aus dem Briefkasten. Werbung, eine Rechnung der Installationsfirma, ein Brief ihrer Freundin Stefanie und ein dicker Umschlag eines Reiseunternehmens. Laura trug ohne Hast die Post ins Haus.

Sie riss den Umschlag des Reiseunternehmens auf und fand ihre Reiseunterlagen für ihren Urlaub auf Fuerteventura. Abflug am 06. März, Samstagfrüh, 6.30 Uhr. Ankunft um 10.25 Uhr. Transfer zum Hotel „Princess Paradise“. Drei Wochen Luxus, Sonne und Meer.

Der Lockdown während der Corona-Pandemie hatte weltweit den Hotels Zwangspausen verordnet, offenbar jedoch war dieses Hotel wieder bereit, Gäste zu empfangen.

„Gut, wenn Du es unbedingt willst, dann reise ich dorthin, dann tue ich das, Martin Grohmann! Aber wehe ich komme in etwas hinein, wo ich nicht mehr herauskomme“, murmelte sie vor sich hin.

Nach dem Abendessen würde sie sich intensiver mit dieser Reise beschäftigen.

Plötzlich überfiel sie eine erschreckende Erkenntnis. Der Gedanke traf sie so unvorbereitet, dass sie sich setzen musste.

Es konnte nämlich durchaus sein, über Videokameras überwacht zu werden. Augenblicklich brach ihr wieder der Schweiß aus. Dann hätte in jedem Fall derjenige gesehen, wie sie die Akte in Besitz nahm und wohin sie die Akte getragen hatte.

Sie schaute sich um. „Klar, da braucht niemand ums Haus zu schleichen, falls DIE schon hier drin waren, glotzen DIE mir von zuhause aus gemütlich zu!“

Sie wusste, wenn dem so war, würde sie so leicht die Kameras nicht finden.

Laura schluckte schwer. In Ordnung, sie würde sich ab sofort nur noch ganz normal verhalten, keine Akte wieder hervorholen, kein Stick einstecken, nichts dergleichen. Morgen würde sie sich im Internetcafé kundig machen, wie sie Verstecke von Videokameras und Abhörgeräten aufspüren oder sie zumindest stören könnte.

Sie nahm sich auch vor, keine Selbstgespräche mehr zu führen. Sollten die Kameras bereits schon auf sie fokussiert sein, würde sie es innerhalb kürzester Zeit schon merken. Wenn keine Kameras installiert waren, auch gut.

Sie öffnete die weiteren Briefe. Die Rechnung legte sie zu den anderen noch unbezahlten Rechnungen.

Ganz besonders freute sie sich, endlich einmal wieder etwas von Stefanie zu hören. Stefanie, ihre alte Schulfreundin, ihre ehemalige Nachbarin. Sie kannten sich bereits aus der Sandkastenzeit. Der große Sandkasten, der hinter ihrem Elternhaus von ihrem Vater eigenhändig gebaut worden war, wurde von den beiden Mädchen stark beansprucht. Manchmal kam sogar noch ein drittes Mädchen hinzu. Laura konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie von diesem Mädchen immer Eintritt für den Sandkasten verlangt hatten. Bonbons, Schokolade oder Kuchen, ohne diese Präsente durfte Lisa den Sandkasten nicht betreten und mitspielen.

Bei der Erinnerung daran schmunzelte Laura. Lisa war inzwischen Richterin am Landgericht in Köln. Sollte Laura jemals vor den Kadi kommen, dann hoffentlich nicht vor Lisa. Stefanie hingegen war glücklich in ihrer Rolle als Dreifachmutter. Ein- bis zweimal im Jahr traf sich das Dreiergespann, und Lisa brachte stets Schokolade und Pralinen mit.

Der Brief jedoch, den sie voller Vorfreude in ihren Händen hielt, war nicht von Stefanie. Laura erschauderte und war zutiefst irritiert.

Liebe Frau Junginger,

bitte geben Sie gut Acht auf die rote Akte und auf das beigelegte Zubehör. Darin ist Ihre Lebensversicherung. Die brauchen Sie ja jetzt wohl mehr als ich!

Trauen Sie niemandem, schon gar nicht jemandem aus der Bank, aber vertrauen Sie mir!

Täuschen Sie Ihre Beobachter, indem Sie sich normal bewegen.

Genießen Sie den Urlaub, und passen Sie gut auf sich auf.

Sie wissen, was Sie mit diesem Brief tun müssen.

Ich vertraue Ihnen. Sie hören wieder von mir!

Es grüßt Sie Martin Grohmann

Laura rang um Fassung. Grohmann forderte ihr Vertrauen ein, weil er ihr ebenso bedingungslos vertraute. Über den Tod hinaus! Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hielt eine Botschaft eines Toten in den Händen, der ihr einen Schlüssel, eine Akte und einen Stick anvertraute. Und mit diesen drei Dingen konnte sie nichts anfangen. Jedenfalls in der momentanen Situation noch nicht!

Laura fühlte sich überrumpelt und für etwas missbraucht, dessen Auswirkungen sie nicht abschätzen konnte. Erst die E-Mail und jetzt der Brief!

Was zum Teufel sollte das heißen? Täuschen Sie Ihre Beobachter, indem Sie sich normal bewegen.

Ein weiterer Abschnitt des Briefes verängstigte sie noch mehr. Sie hören wieder von mir! Wie um alles in der Welt kann ein Toter weiterhin mit ihr in Kontakt treten? Gab es einen Mittelsmann? Würde sie noch mehr seltsame Mails und Briefe erhalten? Aber wer wäre dann der Verfasser? Tote schreiben weder Mails noch Briefe! Und Grohmann war verdammt noch mal tot!

Ihre Intuition hatte sie vorher schon einmal gewarnt. Das Bewusstsein jedoch, ihre Eingebung könnte der Wahrheit entsprechen, machte sie fassungslos. Noch einmal stellte sie sich die Frage: „Beschützt er mich, oder benutzt er mich?“

Grohmann hatte den Brief am vergangenen Samstag zur Post gebracht. Der Poststempel war gut lesbar.

Damit stand für Laura außer Frage, dass er seinen Tod vorausgesehen oder sogar billigend in Kauf genommen hatte. Aber warum nur? Warum ist er nicht einfach nur untergetaucht? Oder weshalb ging er nicht zur Polizei? Warum das alles? Weshalb dieses Selbstmordkommando?

Ganz kurz dachte Laura daran, Grohmann habe vielleicht selbst die Behörden bestellt und genau gewusst, was ihn erwartete. Er stand auf der sprichwörtlichen Abschussliste. Aber das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Warum auch sollte er so etwas Irres tun?

Unruhig lief sie in der Wohnung umher. Woher kennt er Stefanie? Hatte sie Stefanie in einem Gespräch erwähnt? Sie konnte sich nicht erinnern, mit Martin Grohmann jemals über ihre Freundinnen gesprochen zu haben.

Laura durchfuhr ein ungutes Gefühl. Sie setzte sich wieder an den Esszimmertisch, weil sie befürchtete, gleich den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Entweder hatte Grohmann sie ausgeschnüffelt, oder aber jemanden auf sie angesetzt, der alles über sie in Erfahrung bringen sollte. Und wie lange schon? Vielleicht schon seit damals, oder noch weiter davor, als er zu ihr wie rein zufällig an den Schalter ihrer Bank kam?

Hatten ihr Verhalten und ihr Lebenswandel ihn dazu bewogen, sie als Vertrauensperson auszuwählen, die das zu Ende bringt, was er angefangen hatte? Aber was um alles in der Welt konnte das sein?

Wählte er sie aus, weil sie alleinstehend war? War das der Grund? Dachte er vielleicht, sie sei einsam, ohne jegliche sozialen Kontakte, und niemand würde überhaupt bemerken, wenn auch sie fehlen würde? „Spinnt der?“, entfuhr es ihr.

Wiederum erschrak Laura über ihre eigenen Gedanken. „Was aber soll zu Ende gebracht werden? Was hat er angefangen? Was könnte das sein? Besteht ein Zusammenhang zwischen seiner Verhaftung und seinem Tod?“

Die Polizei hatte ihn jedenfalls nicht erschossen, soviel hatte Laura inzwischen mitbekommen. Das Bestreben der verhaftenden Behörde war ja wohl eher, Auskünfte von ihm zu erhalten, gegen ihn zu ermitteln und ihn unter Anklage zu stellen. Aber was hatte er denn getan? Stand das überhaupt in irgendeinem Zusammenhang mit der Bank? Oder hatte die Polizei ihn nur dort verhaftet, weil sie ihm in seinem Haus nicht habhaft werden konnten?

Diesen letzten Gedanken musste sie allerdings sofort wieder verwerfen. Alle Andeutungen der Beamten liefen auf eines hinaus: Grohmann hatte seine Hände in schmutzige Geldgeschäfte.

Gehörte Grohmanns Tod zu einem Plan? Seinem Plan?

Wieso war Grohmann damals überhaupt auf sie aufmerksam geworden? Zufällig? Sie kam zu keinem Ergebnis. Sie fand keinerlei Erklärung für das alles. Alle Spekulationen, die Laura in den Sinn kamen, machten sie nur noch nervöser und unsicherer.

Die Toilettenspülung verschluckte sprudelnd die Spuren des Briefes.

Laura blieb vorsichtig.

Noch wurde Laura weder abgehört noch durch Kameras im Haus beobachtet. Das aber würde sich sehr bald ändern.

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Fritz Lauterbach hoffte inständig, der Verdacht gegen Grohmann würde sich schnellstens als haltlos erweisen. Er wusste zwar, Grohmanns Klientel hatte nicht gerade immer eine weiße Weste, aber er konnte sich bei Gott nicht vorstellen, dass Grohmann die Sicherheit des gesamten Bankhauses Blower and Sons Trade & Financing aufs Spiel setzte und krumme Geschäfte machte. Nicht Martin Grohmann. Niemals!

Die Vorwürfe der Geldwäsche und der Insidergeschäfte waren geradezu lächerlich! Aber warum wurde Grohmann erschossen?

In einigen Minuten musste er zusammen mit der Bankenaufsicht eine Presseerklärung abgeben. Wie immer in solchen Fällen, würde mit vielen Worten nichts gesagt. Ganz selbstverständlich war Grohmann ein Opfer eines bedauerlichen Irrtums. Auch die Sprecher der Bankenaufsicht und der Polizei würden sich zurückhalten.

Um Laura Junginger machte er sich keine Sorgen. Zum einen sah er ihre Position als nicht so gewichtig an, zum anderen wusste er, wie sehr sie ihrem Chef, und somit auch dem Bankhaus, treu ergeben war.

Ihr Urlaub kam in dieser prekären Situation gerade recht. So war sie doch einige Zeit aus der direkten Schusslinie. Wenn sie zurück war, hatte sich hoffentlich die ganze Aufregung gelegt. Er würde sie in der Position belassen, für sie würde sich nichts ändern. Er hielt es für das Beste, um dem internen Gerede keinen Nährboden zu geben. Laura bekäme einen neuen Chef, und das Leben ginge genauso weiter.

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Er hatte es tatsächlich geschafft. Der Mann hatte ganze Arbeit geleistet und war jeden verdammten Euro wert. Er hatte ihn fürstlich bezahlt. Der Profi war längst wieder über alle Berge, niemand würde zu ihm eine Verbindung herstellen.

Damit war nun auch dem letzten Zweifler klar, wie schlecht es demjenigen erginge, der auch nur den leisesten Versuch unternahm, ihn vorzuführen. Die Genugtuung war ihm viel wichtiger als das ganze Geld.

Er ging zum Schrank und goss sich großzügig einen Whisky ein, den er trotz der frühen Tageszeit mit einem Zug in sich hineinkippte.

Seine Mitstreiter hatten sich bereits gemeldet und ihm gratuliert.

Selbst hartgesottene Mitglieder international organisierter Verbrecherbanden atmeten aufgrund Grohmanns Tod wieder befreiter.

Zwar würde niemand mehr sein verlorenes Geld je zurückholen können, dennoch war die Nachricht über Grohmanns Tod überaus beruhigend. Grohmann, der einzige Mitwisser außerhalb des Clans, konnte nicht mehr reden.

Der Clan kannte den Auftraggeber des Todesschützen, niemand würde je ein Wort darüber verlieren. Alle Mitwisser zeugten diesem Auftraggeber ihren größten Respekt. Schweigen war die Waffe, mit der alle Behörden und Gegner geschlagen werden konnten.

Schweigen ist das fundierte Gesetz jeden Kartells.

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Laura hatte es richtig vermutet. Der Besuch stand um achtzehn Uhr vor ihrer Tür. Sie war vorbereitet. Die beiden Besucher würden ihre Nervosität nicht bemerken.

„Guten Abend, Laura. Tom und ich dachten, Du könntest nach der heutigen Aufregung Gesellschaft brauchen. Wir wollten Dich in der Situation einfach nicht allein lassen.“ Nathalie trat einen Schritt nach vorne.

Tom stand daneben wie ein begossener Pudel. Mehr als ein verlegenes Nicken brachte er nicht zustande.

„Das ist aber wirklich sehr aufmerksam von Euch“, heuchelte Laura. „Kommt doch rein!“

Nathalie drängte sich an Laura vorbei in die Wohnung, dicht gefolgt von Tom. Noch bevor Laura sie bitten konnte Platz zu nehmen, hatten sich Natti und Tom bereits nebeneinander auf die Wohnzimmercouch gesetzt.

Laura holte Weingläser und das Knabbergebäck und goss großzügig Wein in die Gläser. „Ja, das war heute ganz schön heftig! Ich glaube, da können wir alle einen großen Schluck vertragen.“

„Lauterbach hat behauptet, er hätte Dich bis auf Weiteres beurlaubt?“ Nathalie provozierte, noch bevor Laura den ersten Schluck Wein getrunken hatte.

„Ach Quatsch! Welcher Flurfunk macht denn da wieder die Runde? Ich habe ab nächste Woche sowieso drei Wochen Urlaub geplant, der übrigens schon lange vorher von Herrn Grohmann genehmigt worden war.

Da ja die Polizei alle Akten und auch den Computer mitgenommen hat, habe ich momentan keinen Arbeitsplatz mehr. Deshalb hat Lauterbach mich schon heute nach Hause geschickt.“

„Du hast mir gar nichts von Deinem Urlaub erzählt?“, meldete sich Tom zu Wort.

„Steht das hier jetzt wirklich zu Diskussion, mein Urlaub?“

„Komisch ist das schon!“, Nathalie sprang Tom zur Seite.

Laura ging in die Küche und holte ihre Reiseunterlagen. Aus der Ferne winkte sie damit. „Ich habe schon vor geraumer Zeit meinen Urlaub gebucht. Bis dato war es ja mehr als fraglich, ob aufgrund der Covid-Pandemie überhaupt eine Reise möglich ist. Es war gar nicht klar, ob die Hotels geöffnet sind oder gar Flugzeuge fliegen! Aber - ich frage mich jetzt, seit wann ich meine Urlaubspläne mit Euch abstimmen muss – was Ihr umgekehrt auch noch nie mit mir getan habt!

Und vor allem wusste ich zu dem Zeitpunkt logischerweise auch noch nicht, dass die Behörden die Bank stürmen und Grohmann erschossen auf der Treppe liegen wird.“

„Ist ja gut, wir wollten Dich nicht verärgern!“ Tom ruderte zurück.

„Das alles ist wirklich schrecklich! Ich kann es immer noch gar nicht fassen. Tom hat Recht, wir wollten Dich nicht in Verlegenheit bringen. Wir stehen wohl alle noch unter Schock“, flötete Nathalie versöhnlich.

„Ich muss mich doch vor Euch nicht rechtfertigen, wann ich meinen Urlaub nehme, der mir zusteht.“ Noch immer ärgerte sich Laura maßlos.

Nathalie nippte an ihrem Wein und setzte ihre Unschuldsmiene auf. Dann veränderte sich ihr Gesicht plötzlich, als hätte sie eine Eingebung. „Das heiß dann aber, Du bist gar nicht bei der Beerdigung dabei? Laura, das kannst Du doch nicht machen!“

Die Beerdigung! Wollte Grohmann sie bewusst fernhalten? Laura war erstaunt, weil Nathalie daran dachte. Laura hingegen hatte zuvor noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet.

„Wie ich schon sagte, ich habe die Reise schon lange geplant. Als ich die Reise gebucht habe, stand der Beerdigungstermin noch nicht im Kalender, und Grohmann erfreute sich ausgezeichneter Gesundheit! Wer konnte denn so etwas ahnen?“ Laura nahm einen Schluck Wein.

„Und außerdem dauert das mit der Beerdigung sicher noch eine ganze Weile, bis die Gerichtsmedizin seine Leiche freigibt. Und je nachdem, was die Polizei sonst noch ermittelt.“

„Trotzdem Laura, Du musst zur Beerdigung kommen, das geht nicht anders.“

Laura zuckte mit den Schultern. „Wir werden sehen.“

Laura überkam ein Blitzgedanke. Grohmann wollte wohl gar nicht ihre Anwesenheit bei der Beerdigung. Wieso sonst hatte er, nachdem er die Todesahnung hatte, sie auf eine dreiwöchige Reise geschickt? Laura war sich sicher, die Leiche würde innerhalb der nächsten zwei Wochen beerdigt sein. „Wieso will er mich aus der Schusslinie haben?“, dachte sie.

„Hat Dich die Polizei noch verhört?“, wollte Tom wissen.

Laura war auf all diese Fragen vorbereitet. Nathalie war aus purer Sensationsgier gekommen. Sie erhoffte sich News aus erster Hand, mit denen sie dann am nächsten Tag hausieren gehen würde, um sich wichtig zu machen. Laura konnte es sich bereits bildlich vorstellen.