Wir sehen den selben Mond - Mala Niem - E-Book

Wir sehen den selben Mond E-Book

Mala Niem

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Beschreibung

Tahila wächst in Afghanistan in unsagbarer Armut in den Bergen auf. Der Krieg ist allgegenwärtig. Sie erfährt es am eigenen Leib, als eines Tages Attentäter eine Bombe auf dem Markt in Kabul hochgehen lassen. Dennoch ist Tahila glücklich und entbehrt nichts. Aber sie will zur Schule, denn ihr Traum ist es, einmal Ärztin zu werden. Ein hoffnungsloser Plan, denn mit 8 Jahren hat ihr Vater sie bereits einem Mann versprochen, Heirat spätestens mit 14. Doch Tahila gibt nicht auf und lernt heimlich lesen und schreiben. So jung sie auch ist, durch ihren Wissensdurst kann sie erreichen, dass auch die Mädchen zur Schule gehen dürfen. Als sie dann eines Tages ein Lexikon geschenkt bekommt, tut sich für sie eine ganz andere Welt auf. Zu einem der stationierten Soldaten hat sie ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut, und dieser erzählt ihr von einer ihr unbekannten Welt. Dort will sie hin. Ihr Entschluss, Ärztin zu werden wird dadurch nur stärker. Ein scheinbar hoffnungsloser Weg liegt vor ihr. Schafft sie es, aus der Wüste an die Uni? Dann aber beginnt der Albtraum. Tahila wird mit dem Neffen des mächtigen Imams verlobt und ist fortan den Schikanen der Imam-Ehefrauen und der Schwiegermutter ausgesetzt. Ihr Bruder Patu und die Schwägerin des Imams scheinen ein Doppelleben zu führen und halten Kontakt zu internationalen Hilfsorganisationen. Beeindruckend und lebensnah wird das Leben eines Mädchens in Afghanistan geschildert, das fest entschlossen aus einem Traum Realität machen möchte. Ein schier hoffnungsloser Kampf gegen die Moralvorstellungen der Eltern, gegen die Armut und gegen alle bisherigen Werte ihres Lebens beginnt. Gedemütigt und missbraucht und trotzdem stark! Gelingt ihr das Unmögliche? Wer nie die Hoffnung aufgibt und für das eintritt, an das er glaubt, wird gewinnen ... ... denn wir alle sehen denselben Mond. Lernen Sie Tahila kennen, hoffen, bangen und leiden Sie mit ihr.

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Seitenzahl: 473

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Gewidmet:

Allen Tahilas dieser Welt

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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Epilog

1.

Tahila wurde durch einen warmen Sonnenstrahl geweckt. Sie blinzelte und schloss die Augen wieder. Heute würde wieder ein heißer Tag werden.

Mit einem Mal war sie hellwach. Heute war ein besonderer Tag, Mittwoch, der Markttag! Sie würde ihre Mutter begleiten. Sie liebte den Markt. Dort duftete es nach Gewürzen, Fleisch und frischem Gemüse!

Mühsam reckte sie sich auf ihrer Bastmatte, die auf dem harten Steinboden lag. Ihre fünf Brüder schliefen noch tief und fest, aber die Erwachsenen waren wohl schon aufgestanden.

Tahila richtete sich auf und blickte umher. Mutter saß vor dem Eingang und hatte ein Feuer gemacht, um Teewasser zu kochen. Die Männer, Vater, Großvater und Onkel, saßen auf einem Stein und unterhielten sich mal wieder von etwas, was Tahila nicht verstand. So etwas wie Politik, wie sie es nannten.

Sie reckte sich nochmals und stand auf. Heute Nacht hatte sie keine Decke gehabt, sie hatte die Decke ihrem kleinen Bruder gegeben, der nicht einschlafen konnte, weil er so gefroren hatte. Die Nächte in den Bergen waren oft bitterkalt, dafür schien tagsüber die Sonne unerbittlich auf die Felsen.

„Tahila komm, der Tschai ist heiß und ich habe ein Stück Nan für Dich“, strahlte ihre Mutter ihr entgegen.

Die Männer sahen auf, als Tahila aus dem Eingang der Felsenhöhle hervortrat. Die Sonne blendete sie so sehr, dass sie sich die Hand als Schirm vor die Augen legte.

„Na, mein kleiner Sonnenschein“, sagte der Vater, „hast Du gut geschlafen?“

„Ja!“, quietschte Tahila und gab ihrem Vater einen Kuss.

Sie setzte sich zu den Männern, trank den warmen Tee und aß das trockene kleine Stück Brot. Sie mochte dieses Brot, das ihre Mutter tagtäglich backte, sofern Salloma Salz, Kleie und Mehl auftreiben konnte.

„Jetzt geh´ und wasch Dich, damit wir noch rechtzeitig zum Markt kommen!“, drängte ihre Mutter Salloma.

Das Bad bestand aus einer mit Wasser gefüllten Schüssel, in der sich heute schon mehrere Personen gewaschen hatten. Es gab kein fließendes Wasser. Wasser war ein kostbares Gut und wurde wie ein Schatz behandelt. Es musste in großen Behältern täglich aus der Quelle geholt werden, ein Fußmarsch von einer guten Stunde.

Seife gab es heute nicht, aber Mutter hatte versprochen, auf dem Markt danach zu sehen, sofern es heute welche gäbe und der Preis einigermaßen erschwinglich sei.

Tahila wusste, dass sie die Schüssel nicht leeren durfte, denn offensichtlich war es das letzte Wasser. Ihre Brüder Ali und Moha waren heute an der Reihe, neues zu holen. Tahila hatte sich gestern damit abschleppen müssen. Wasser holen war für sie keine Last oder gar Strafe, denn an der Quelle gab es immer Aufregendes zu erleben, man traf Freunde, manchmal waren dort auch Soldaten, die den Kindern Bonbons gaben. Die Quelle wurde von den Frauen auch zum Wäschewaschen benutzt, manchmal badete man auch darin.

Eine Toilette gab es in den Felswohnungen nicht, die Notdurft wurde schlicht im Freien verrichtet. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass es weder Strom noch Gas gab!

Doch die Familie hatte ein Radio und wenn irgend möglich, auch Batterien dafür. Auf diesen Besitz waren sie besonders stolz. Die Männer legten Wert darauf, dass das Radio so gut wie immer funktionstüchtig war. Manchmal aber war der Empfang zu schlecht, außer ein lautes Rauschen war dann nichts zu hören.

Damals hatte die Taliban-Regierung Radios und Fernsehgeräte verboten, aber irgendwie hatte dieses Ding das Regime und die Flucht in die Berge überlebt.

„Fertig, wir können gehen!“, trällerte Tahila und schnappte sich einen Korb.

„Nicht so eilig, kleiner Sonnenschein", mahnte der Vater, „erst das Gebet!“

Natürlich! Tahila hatte es in der Hektik und Vorfreude vergessen. Alle anderen hatten ihr morgendliches Gebet schon abgeschlossen. Tahila holte ihren Gebetsteppich, wandte sich Richtung Mekka und betete zu Allah. Es war erst sechs Uhr früh, aber die Temperatur kletterte bereits stetig. Auch Salloma nahm einen Korb, setzte ihn geschickt auf ihren Kopf und nahm Tahila an die Hand.

Heute würde sie kein Mahram begleiten, was ausgesprochen gefährlich für die Frauen war. Noch immer gab es Ordnungshüter auf dem Markt, die alleingehende Frauen beäugten und mit ihren Peitschen auf sie einschlugen, sobald sie sich in ihren Augen unsittlich benähmen. Da genügte es schon, wenn sie alleine über den Markt schlenderten.

Aber ein Nachbarehepaar, das ebenfalls zum Markt gehen wollte, würde sich ihnen anschließen und der Nachbar übernahm für den Marktgang die Aufgabe des Mahrams. So war es abgesprochen.

Barfuß und im Ganzkörperschleier brachen sie auf, der Fußweg nach Mhásu würde gut zwei Stunden betragen.

Die Burqa war für Tahila, wie auch für andere Frauen, oft hinderlich, aber sie schützte sie vor Übergriffen fanatischer Islamisten.

Während der Feldarbeit trugen die Frauen auf dem Land keine hinderliche Ganzschleierbekleidung. Allerdings achtete stets ein männliches Familienmitglied peinlichst genau darauf, dass so viel wie möglich von Körper, Gesicht und Fuß verborgen blieb.

In der Öffentlichkeit gab es für die Frauen jedoch keine andere Wahl, sobald der Ort verlassen wurde, trugen sie Burqa.

Bis zu der über 1000 m hoch gelegenen größten Stadt des Bezirks Mhásu in der Provinz Helmand, durchzogen von dem Mhásu River, führte ein steiniger, staubiger Weg durch die Felsenwüste. Eine richtige Straße gab es nicht, die Route zog sich durch eine desolate und weitestgehend grenzen- und gesetzlose Gegend, die hauptsächlich von patschunitischen Stämmen besiedelt wurde.

Nachdem schon jahrelang die Taliban das Land in Angst und Schrecken versetzte, war die Familie in die Berge geflohen.

Damals wohnten sie in Mhásu und die Männer hatten zwei Rinder, ein paar Schafe und drei Ziegen. Ab und zu sogar auch Hühner. Sie besaßen mehr oder weniger fruchtbares Land für den Ackerbau und litten keine Not. Jedenfalls mussten sie nicht um das tägliche Mahl betteln gehen.

Sie lebten in einem, wenn auch kleinen Bauernhaus aus Lehm. Auf dem Hof war sogar ein eigener Brunnen, um den sie manche Nachbarn beneideten. Damals hatten sie draußen einen Herd und einen Ofen und Mutter zauberte die schönsten Dinge.

Außer Wawuk, dem uralten Esel und dem alten Radio, war der Familie nichts geblieben. Jetzt hatten sie nicht einmal mehr ausreichend Kleidung oder Decken für die Nacht. Zwölf Personen lebten jetzt in der Höhle, Tahila und ihre fünf Brüder, die Eltern und Großeltern und ihr Onkel mit seiner schwangeren Frau Mukka.

Die Rebellen kamen damals immer näher, die Soldaten aus den vielen fremden Ländern auch, und auf ihrem Hof wurde es zu unsicher. Als Tahila fünf Jahre alt war, flohen bei einer Nacht und Nebelaktion die Einwohner des Dorfes in die Berge, viele ihrer alten Nachbarn waren jetzt auch ihre neuen. Manche Bekannte flohen nach Pakistan, manche in andere Länder, viele kamen nicht mehr zurück.

Die Bevölkerung traute den Friedenstruppen noch immer nicht, hatte sich aber an die uniformierten Soldaten mit ihren bedrohlichen Gewehren um die Schultern gewöhnt. Sie gehörten zum tagtäglichen Leben und die neunjährige Tahila kannte es gar nicht anders.

„Tahila, was trödelst Du denn wieder so?“, ermahnte die Mutter, als Tahila einer kleinen Schlange auf einem Felsen zusah, wie sie sich in der Sonne räkelte.

„Komme schon!“, tänzelte das unbeschwerte Kind weiter.

Fröhlich hüpfend schlängelte Tahila sich durch die Erwachsenen durch.

Sie liebte es, mit ihrer Mutter durch die scheinbar unwegsame Gebirgskette zu laufen. Ein Fremder tat sich hier schwer, denn augenscheinlich sah alles gleich aus, Felsen und Sand und Sand und Felsen.

Manchmal war der Pfad sehr eng und steil, ein anderes Mal unendlich breit und eben. Meistens jedoch gab es gar keine sichtbaren Wege, aber die Einheimischen kannten den Weg auch so. Irgendwie gab dies ihnen auch einen gewissen Schutz. Sand und Felsen, Felsen und Sand.

Die Mutter verlangsamte plötzlich ihren Schritt. Motorengeräusche! Sie bat Tahila, sich hinter dem Felsvorsprung zu verstecken. Der Nachbar und seine Frau taten es ihnen gleich.

Sie hatten untereinander noch kein Wort geredet, so würde es auch bleiben. Der Nachbar würde nur mit Tahilas Mutter reden, wenn er für sie auf dem Markt mit einem männlichen Verkäufer über den Preis verhandeln müsse.

Die Motorengeräusche kamen unaufhaltsam näher. Unmerklich war der Weg etwas breiter geworden, hier konnten Jeeps fahren.

Na ja, fahren konnte man das nicht nennen, eher quälten sich die Fahrzeuge durch die Gebirgskette. Nicht selten mussten die Jeeps für einen Kilometer eine ganze Stunde Fahrzeit einrechnen.

Die Felsendorfbewohner, dessen Ohren auf Geräusche besonders reagierten, die nicht mit der natürlichen Umgebung in Einklang standen, hatten einen ausgeprägten Selbstschutzinstinkt.

Man konnte bei derartigen Motorengeräuschen nie sicher sein; waren es Soldaten, dann wären sie für den Moment in Sicherheit, oder waren es Rebellen, dann konnte es sein, es wurde ihnen ihr Geld abgenommen, oder noch schlimmer, es wurde ihnen etwas angetan, wobei eine Vergewaltigung noch das Harmloseste war.

Salloma und Thalia drückten sich an den Felsen. Die Jeeps kamen näher und die Gruppe erkannte im Staub zwei Fahrzeuge. Salloma atmete erleichtert auf. Es waren Soldaten. „Kommt weiter!“

Ohne dass sich das Militär um sie kümmerte, fuhren die Jeeps an ihnen vorbei und die kleine Gruppe erreichte den Markt von Mhásu ohne weitere Zwischenfälle.

Es roch wie immer herrlich! Unzählige Menschen waren schon dort, um zu kaufen und zu feilschen, um Waren anzubieten oder zu erwerben. Ein buntes Treiben.

Hier auf dem Markt wurde einfach alles angeboten, sogar Rinder oder Parfüm. Aber für Parfüm hatte Tahilas Familie kein Geld. Ihre Einnahmen waren dürftig, manchmal mussten sie sogar betteln gehen.

Die Männer gingen in die Stadt und hofften jeden Tag aufs Neue, Arbeit zu finden. Manchmal gab es Arbeit, dann wieder nicht. Die paar Münzen für ihre Arbeit wurden eisern gespart.

Heute brauchte die Mutter nicht nur Lebensmittel und Seife, sondern auch Stoff, um sich und noch einigen Familienmitgliedern neue Kleidung nähen zu können. Tahila besaß nur ein einziges Kleid und das war schon recht aufgetragen.

Manchmal ging die Großmutter auch selber auf den Markt, um das zu verkaufen, was sie selbst herstellte, falls sie etwas hatte, um daraus etwas herstellen zu können. Manchmal kleine Deckchen, manchmal Konfitüre.

2.

Der Markt war natürlich nicht so groß, wie der, den Tahila vor zwei Jahren in Kabul besucht hatte, als ihr Vater und Großvater sie einmal dorthin mitnahmen.

Damals waren sie mit dem Esel und einem Karren aufgebrochen. Sie mochte daran gar nicht mehr denken, aber ab und zu schreckten sie die Erinnerungen daran auf! Ali dufte damals auch mit, und Josa.

Beide hatten mehr Glück als sie.

Zu der Zeit hatten sie tagelang von nichts anderem geredet, als von der Reise nach Kabul. Alle waren aufgeregt und sie planten, den einfachen Holzkarren bis oben hin zu beladen mit allem, was sie finden würden, um ihr Heim wohnlicher zu machen. Wären sie nur nicht aufgebrochen!

Wawuk hatte sie tapfer durch die Wüste geführt, alle waren fröhlicher Stimmung, als sie Kabul erreichten. Sie mussten durch die Sicherheitsschleusen des Militärs, was aber kein Problem darstellte.

Wawuk kam in die Obhut von Josa am Rande des Markttreibens, die anderen machten sich auf.

Großvater erwarb einen Stuhl und einen Sack Mehl und Reis. Gemeinsam mit Ali ging er zurück zu Wawuk, um den Karren mit den Errungenschaften zu beladen.

Vater und Tahila wollten noch rasch nach ein paar Decken sehen, als ein ohrenbetäubender Knall die Luft zerriss! Schreiende Menschen liefen umher, überall Blut.

Auch Tahila blutete, ein Glassplitter hatte ihre linke Wange aufgeschlitzt, ihr Vater lag am Boden. Tahila begann zu schreien, obwohl sie keine Schmerzen spürte. Sie sah nur ihren Vater dort liegen. Bewegte er sich noch?

Tahila wurde plötzlich von einem Mann in Uniform gegriffen, der mit ihr losrannte. Sie schrie und schrie, mehr aus Angst vor der fremden Uniform und vor Angst, von ihrem Vater getrennt zu werden, als vor Schmerz. Den spürte sie nämlich noch immer nicht.

Irgendwo in dem Durcheinander tauchten Sanitäter auf. Offensichtlich war Tahila eine der Ersten, die ärztlich an Ort und Stelle versorgt wurden.

Ein Arzt nahm sie entgegen und redete beruhigend auf sie ein. Ehe sie sich versah, säuberte er ihr die Wunde. Erst jetzt tat es plötzlich höllisch weh und sie spürte die Nadel, die sich in ihre Wange immer und immer wieder bohrte. Eine Krankenschwester hielt ihre Hand. Betäubungsmittel gab es hier nicht.

Das stationäre Lazarett war eine Einrichtung der Stadt mitten im Marktgeschehen. Zu häufig explodierte in Kabul, besonders in den lebhaft besuchten Marktgegenden, eine Bombe, weshalb man sich entschloss, hier vor Ort eine Erstversorgungsstelle zu errichten. Zum Glück!

Obwohl so viele Menschen nach und nach in Panik herbeiströmten, blieben die Ärzte und Schwestern besonnen. Tahila bekam noch ein Pflaster auf ihre Wunde.

Die Schwester fragte, wie ihr Name sei und wer sie begleitet hatte.

Tahila begann zu weinen und konnte nicht reden. Was war mit ihrem Vater? Ihre Tränen kullerten und kullerten und ihr Schluchzen wurde lauter. Sie konnte gerade noch „Vater“ stammeln.

Die Krankenschwester schlug vor, mit Tahila durch die Reihen zu gehen, vielleicht würde sie ihren Vater ja finden.

In der Tat, irgendwo zwischen all den vielen verletzten Menschen, dem Geschrei und dem vielen Blut, fand sie ihn. Er saß kauernd in einem Eck, schien aber nicht sonderlich verletzt zu sein. Die Wucht der Detonation hatte ihn zu Boden gerissen, wo er einige Zeit benommen dalag, da er direkt mit dem Kopf aufgeschlagen war. Außer einer Beule aber blieb er wie durch ein Wunder unverletzt.

Auch er weinte. Tahila hatte ihn noch nie weinen sehen. Glücklich schloss sie ihn in die Arme.

„Mein armes Kind, bist du verletzt? Ich hätte Euch nicht mitnehmen dürfen, mein armer Sonnenschein.“.

„Papa, es tut so weh!“ Mit diesen Worten brach Tahila in den Armen ihres Vaters zusammen und kam erst wieder zu sich, als sie auf dem Karren zwischen Reis und Mehl in die Gesichter von Ali, Josa und ihrem Großvater blickte.

Wawuk schnaufte unruhig. Sie hatten wirklich Glück im Unglück gehabt! Wären sie nur ein paar Meter näher am Explosionszentrum gewesen, hätten sie zu den fünfundsechzig Toten gehört.

Wie viele Menschen tatsächlich verletzt waren, war überhaupt noch nicht auszumachen. Es war ein Schlachtfeld, wie es sich niemand in den kühnsten Träumen vorzustellen vermag. Menschen jeder Altersgruppe lagen mit abgetrennten Gliedmaßen überall herum, Blut, Blut und Schreie! Militär und Sanitäter.

Das ausgebrannte Fahrzeug, in dem die Bombe explodiert war, stand immer noch brennend inmitten der Obst- und Gemüsestände, oder besser gesagt, inmitten dessen, was einmal ein Obst- und Gemüsestand war. Es war grauenhaft.

„Ich wünschte, ich hätte Euch den Anblick ersparen können“, schluchzte Vater. „Wir sollten sehen, dass wir hier weg kommen!“

Schweigend verharrten sie noch eine Weile, als Großvater vorschlug, sich zu erkundigen, ob sie aus der Stadt herauskämen.

Es dauerte noch bis zum Einbruch der Dunkelheit, als sie endlich aus der Stadt herausgeschleust wurden, umgeben und begleitet von Militär.

Nach drei Tagen erreichten sie wieder die sicheren Felsen hinter Mhásu. Das Geschrei, das die Frauen machten, war beinahe so groß, wie auf dem Markt in Kabul nach der Explosion.

Die Wunde verheilte, Vater selbst hatte dann die Fäden aus Tahilas genähter Wange gezogen.

Heute sieht man die Narbe nur noch ganz leicht, Tahilas Gesicht wurde dadurch nicht entstellt.

3.

„Mutter schau, da gibt es Seife! Bitte Mutter, kaufe mir doch Seife!“, freute sich Tahila ungeduldig.

„Hmmm. Eigentlich wollte ich Seife nur kaufen, wenn das Geld reicht...“

Aber weder ihr Vater noch Salloma konnten Tahila etwas ausschlagen, sofern es im Rahmen ihrer Möglichkeiten blieb.

Salloma wartete geduldig, bis Mustafa, ihr Nachbar, ihr die nötige Aufmerksamkeit schenkte und die Verhandlungen mit dem Verkäufer übernahm.

Trotz Aufhebung der von der Taliban auferlegten Einschränkungen, war Vorsicht geboten und Frauen ließen lieber den Mahram verhandeln, um nicht der Unsitte angeklagt zu werden. Unweigerlich würde das mit der Peitsche an Ort und Stelle bestraft.

Tahila hatte einmal beobachtet, wie in Mhásu eine Frau nach dem Preis des Gemüses fragte. Obwohl ihr Mann in unmittelbarer Nähe war, kamen Ordnungshüter und peitschten auf sie ein.

Mit dem Seifenhändler feilschte Mustafa hin und her und schien sich mit ihm nicht einig zu werden. Tahila griff nach einer Seife, die so herrlich roch, wie sie es noch nie gerochen hatte. „Das ist Rosenduft!“, versicherte der Verkäufer.

Aber der Preis war unerschwinglich für die Mutter. 50 Afghani. Unmöglich! Tahila setzte ihren Ach-bitte-Blick auf und legte den Kopf schief, so dass sich trotz Burqa auch der Verkäufer dieser Wirkung nicht entziehen konnte. „Oh, schönes Mädchen, wenn Du meine Frau wirst, dann schenke ich Dir jeden Tag ein Stück Rosenseife!“, alberte er.

Mutter entschied sich dann für ein Stück Seife, das nach gar nichts roch, dafür aber ganz billig war.

Traurig legte Tahila das Stück Rosenduft zurück. Salloma bezahlte. Als sie sich umdrehten rief der Händler Tahila zu: „Schönes Mädchen, komm doch nochmal her.“

Er hatte ein Messer genommen und die Rosenseife halbiert. „Ich schenke sie Dir, aber dann bist Du jetzt meine Verlobte.“

Er zwinkerte ihr lächelnd zu und reichte ihr das Stück Seife, eingewickelt in dünnem weißen Papier. Salloma und Tahila sahen sich um, hoffentlich würde der Mahram nichts mitbekommen!

Tahila strahlte und nahm es freudig an sich. Ihre Mutter war ganz ergriffen und schämte sich beinahe, nur so ein kleines billiges Stück Seife gekauft zu haben.

„Na gut“, entgegnete Tahila, „dann sind wir jetzt verlobt. Aber heiraten kann ich Dich nicht. Ich bin nämlich schon vergeben.“

„Ich werde Dich freikaufen“, witzelte der Händler weiter.

Vorsichtig, als sei sie zerbrechlich, legte Tahila die Seife in ihren Korb und konnte nicht aufhören, an ihrer Hand zu riechen, um den allerletzten Hauch des Duftes auch noch aufzufangen.

Ängstlich sah sich Mutter um, ob einer der Ordnungshüter sie nicht beobachtet hatte.

Scheinbar schien niemand etwas bemerkt zu haben.

Mustafa hatte eh alle Hände voll zu tun, um dem Temperament seiner Frau Einhalt zu gebieten.

Kieafa war nicht so ängstlich wie Salloma und brachte des Öfteren ihren Mann in eine heikle Lage. Unter normalen Umständen hätte der Ehemann dafür wohl seine Frau an Ort und Stelle, spätestens jedoch daheim verprügelt, aber Mustafa hatte es offensichtlich längst aufgegeben.

Tahila konnte ihr Glück noch immer nicht fassen.

Es war nahezu unmöglich, etwas geschenkt zu bekommen, denn niemand hatte mehr, als unbedingt zum Leben notwendig war, manche hatten viel zu wenig. Und so säumten sich an allen Rändern des Marktes Bettler. Alte Männer, alte Frauen, meistens Witwen, die zu diesem Leben durch den Tod ihres Mannes verdammt waren, Kinder, Menschen ohne Beine oder Arme, alle Varianten.

Auch Tahila hat schon gebettelt, hier in Mhásu auf dem Markt, als Großmutter verzweifelt versuchte, ein paar selbstgemachte Tücher zu verkaufen. Die Einnahmen waren dürftig.

Aber Kinder bekamen meistens vom Militär etwas zugesteckt. Einmal bekam sie von einem deutschen Soldaten eine Flasche Bier für ihren Vater. Das war ein Fest. Alle Männer teilten es sich abends am Feuer, obwohl die Männer so gut wie keinen Alkohol tranken. Aber jedes Geschenk war einfach zu wertvoll, um es zu verachten.

Mutter erledigte die Einkäufe und beschränkte sich auf das Allernotwendigste. Vom Gemüsehändler bekam sie für ein paar Puls eher das, was man als Abfälle bezeichnen konnte. Ein paar Früchte noch und Salz, Mehl und Kleie und den mal wieder überteuerten Reis, genug für die Woche.

Am Stand mit den Stoffen blieben sie dann noch einmal stehen. Die Preise hatten schon wieder angezogen und die Auswahl war alles andere als üppig. Sie fand einen Stoff aus dunkelgrünem Leinen. Sie, besser Mustafa, handelte einen Preis für fünf Meter aus, sie erwarb noch Garn und verstaute alles in ihrem Korb. Jetzt hatte Salloma noch 35 Puls.

Liebend gern hätte Tahila ein buntes Kleid gehabt, aber farbenfrohe Farben galten als sexuell anziehende Farben. Das hatte ihre Großmutter gesagt. Was das genau bedeuten mochte, dahinter war sie noch nicht gekommen. Wie dem auch sei, das nächste Kleid würde dunkelgrün.

„Tahila, wir machen uns jetzt auf den Heimweg. Unterwegs machen wir es uns noch einmal gemütlich, wir können dann einen Apfel und Root essen.“ Salloma drängte sich mit ihrem Korb auf dem Kopf durch die Menge und auch Tahila hatte ihren beladenen Korb aufgesetzt.

Sie konnte durch alle Düfte des Marktes den Duft der Rose wahrnehmen. Es war ein so schöner Tag.

In der Mitte des Marktplatzes stand ein Minarett, dort hallte fünf Mal täglich der Ruf des Mu` adhdhin zu den vorgegebenen Gebetszeiten.

Die Stimme des Ausrufers, der die gläubigen Muslime zum As-salat ruft, tönte weit über die Stadttore hinaus.

Der in arabischer Sprache ausgerufene Gebetsruf Adhan beginnt stets mit den Worten „Allah-o-Akbar“. Der Mu´adhdhin ist kein Geistlicher sondern gehört zum Personal der Moschee.

In Tahilas Dorf gab es kein Minarett und die Aufgabe des Ausrufers hatten normale Gläubige, nämlich die Dorfältesten, übernommen. Dabei standen sie nicht einmal auf einem Podest, sondern riefen den Adhan barfüßig im staubigen Wüstensand aus.

Später würde einmal ein ausländischer Soldat Tahila gegenüber den Ruf des Muezzins mit einem Glockenläuten im Christentum vergleichen.

Am Rande des Marktes warteten sie geduldig, bis auch Kieafa alles in ihrem Korb verstaut hatte. Sie musste die Einkäufe selbst tragen, Mustafa half ihr nicht. Tahila nahm das wahr, aber es war nichts Außergewöhnliches.

Die Sonne brannte unerbittlich, als sie sich auf den Heimweg machten. Beladen würden sie langsamer vorankommen, es würde gut eine halbe oder gar eine Stunde länger dauern, bis sie wieder den Schutz des Ortes erreichten.

Eine Pause gab ihnen Kraft und sie teilten den süßen Kuchen und das Obst miteinander, denn auch Kieafa und ihr Mann hatten reichlich Wegzehrung dabei.

4.

Sehnsüchtig wurden sie bereits von den übrigen Familienmitgliedern erwartet. Die Errungenschaften auf dem Markt wurden stets sorgfältig begutachtet und gefeiert wie ein Fest.

Vater hatte an diesem Tag sogar Arbeit bekommen und Patu, dem ältesten Bruder Tahilas, war es gelungen, ein paar Autos bei den Militärs zu putzen und wurde dafür nicht nur großzügig entlohnt, sondern hatte auch noch ein paar Süßigkeiten ergattert.

Ali und Moha hatten es sogar noch besser, sie erhielten an der Wasserstelle von einem amerikanischen Soldaten je einen Kugelschreiber.

Selbstverständlich erlaubte Tahila, allen Frauen, sich auch einmal mit ihrer Seife zu waschen.

Ali und Moha hatten frisches Wasser besorgt und Josa das Gras für den Esel.

Die Familie war sehr gläubig, deshalb zogen sich die Männer zum Abendgebet zurück, und auch die Frauen begaben sich in ihren Gebetsbereich, bevor Mutter und Großmutter mit der Zubereitung des Essens begannen. Das Gemüse wurde gekocht, dazu gab es für jeden eine Hand voll Reis und etwas Brot. Fleisch gab es selten, es war zu teuer. Nach dem Essen reichte Großmutter heißen Kaimgh-Tschai.

Die Familie genoss die gemeinsame Mahlzeit und Tahila wurde nicht müde, von ihrer Rosenseife zu erzählen. Niemand tadelte Tahila oder Salloma, weil sie ohne den Mahram die Seife angenommen hatten.

Die Felsendorfbewohner wärmten sich in der Dunkelheit am Feuer und wusste allerlei Dinge zu berichten.

Moha war so unendlich stolz auf seinen Kugelschreiber, der mindestens so kostbar war wie Gold.

Alle Jungen gingen zu Schule, aber sie hatten nicht immer einen eigenen Kugelschreiber oder Bleistift. Solche Dinge mussten gut behütet werden, denn wenn diese Kostbarkeiten auch nur einen kurzen Moment unachtsam zur Seite gelegt wurden, lösten sie sich in Luft auf.

Mehr als einmal gab es an der Schule Prügeleien, weil wieder einmal ein wichtiges und rares Utensil verschwand.

Na ja, Schule konnte man das eigentlich nicht nennen, die Menschen in den Bergen hatten sich organisiert.

Einer von ihnen war sogar Lehrer und die Dorfgemeinschaft hatte eine eigene Schule gegründet. Die Schüler und der Lehrer trafen sich täglich unterhalb der Felsen in einem Holzverschlag, in dem jeder Schüler sogar einen eigenen Tisch und einen Holzstuhl hatte.

Für Moha und seine Brüder Josa und Ali war der Weg zur Schule nicht so weit, nur ungefähr fünfzehn Minuten benötigten sie, es sei denn, sie prügelte sich mal wieder mit anderen Jungen.

Es gab eine Tafel und meistens auch Kreide. Bücher teilten sich die Kinder und Hefte gab es selten.

Wenn jemand ein Heft erhalten hatte, wurde er vom Lehrer aufgefordert, die Seiten sorgfältig zu zerteilen, damit jeder Schüler davon profitierte.

Nur mit den Stiften war es anders. Diese waren wohlbehütetes Eigentum eines Einzelnen.

Patu ging nicht mehr zur Schule, er verdiente mit den Männern bereits Geld, Mehmet war noch zu klein. Ob er je zur Schule gehen würde, zog er jedenfalls immer in Zweifel, denn er wollte lieber genau wie Patu, Geld verdienen.

Mukka war ausgesprochen still an diesem Abend. Die fortgeschrittene Schwangerschaft machte ihr zu schaffen und Großmutter sagte, es könne jederzeit so weit sein.

Irgendwann forderte Salloma die Kinder auf, sich schlafen zu legen und sich die Decken so gut als möglich zu teilen.

Die Kinder rutschten aneinander und auch der Rest der Familie legte sich nach und nach schlafen. Mutter hatte in dieser Nacht keine Decke abbekommen, sie drückte sich deshalb näher an ihren Ehemann Kayrmar.

Aus der Ferne war ab und zu Gewehrfeuer zu hören. Niemand aber war deshalb beunruhigt. Es gehörte dazu, dass ab und zu ein paar Rebellen in die Luft Gewehrsalven abschossen, einfach so, völlig normal.

Durch einen erbärmlichen Schrei, den Mukka mitten in dieser Nacht von sich gab, waren alle plötzlich hellwach. Mutter und Großmutter jagten die Kinder nach draußen, sie sollten sich an das noch lodernde Feuer setzen, auch die Männer mussten raus.

Eiligst holte Salloma Wasser aus dem Vorratsbehälter und erhitzte es in dem Kessel. Sie sagte zu Tahilas Onkel, er solle schnell das Feuer weiter schüren, dann verschwand sie mit ein paar Fackeln in die dunkle Behausung.

Von Innen hörte man Mukka unter Schmerzen schreien und Großmutter und Mutter gleichzeitig auf sie einreden. Es ging los, das Baby kam. Alle waren gespannt.

Ben, Thailas Onkel, lief aufgeregt hin und her.

Die Frauen waren auf sich allein gestellt. Weit und breit war kein Arzt oder gar eine Hebamme.

Tahila hatte nur einmal einen richtigen Arzt gesehen, damals in Kabul.

In einer der Felshöhlen wohnte aber eine Frau, die bereits einmal ein paar Wochen zusammen mit dem Ärzteteam Ärzte ohne Grenzen unterwegs war, als diese Organisation vor langer Zeit in der Nähe von Mhásu zeitweise stationiert war. Wenn etwas schief ginge, würde man sie holen.

Aber es wurde nicht nötig. Nach einigen Schreien von Mukka ertönte ein noch lauteres Geschrei eines Babys und Großmutter rief freudestrahlend: “Ein Junge, Allah, es ist ein Junge!“

Alle wollten hineinstürmen, aber Mutter hielt die Kinder zurück. Nur Ben durfte hinein.

Mukka war mit einem Mal ganz still geworden. Sie wurde nachversorgt und bekam ihr Baby auf den Arm. Als wieder Ruhe eingekehrt war, durfte der Rest der Familie den neuen, noch immer schreienden Erdenbürger im Schein der Fackeln bewundern.

Die Frauen und auch Ben waren ganz begeistert und beteuerten immer wieder, welch hübsches Baby Mukka geboren hatte. Tahila jedoch fand das kleine schreiende Etwas überhaupt nicht so entzückend.

Mukka und das Baby bekamen jeweils eine Decke, was bedeutete, dass der Rest der Familie mit zwei Decken weniger in der Nacht auskommen musste. Aber es störte niemanden, weil in dieser Nacht niemand mehr richtig schlafen konnte.

Das Baby schrie und die Gewehre donnerten in der Ferne.

5.

Freitags war keine Schule, nur Gebet, und so versammelten sich die Kinder in dem Holzverschlag, um aus den Schriften des heiligen Buches des Islams zu lesen. Manchmal durften auch Mädchen dazu kommen.

Tahila gehörte zu den sunnitischen Muslimen, ahl as-sunna wal-dschamā˛a, dem Volk der Tradition und Einheit der Muslime, einem Zweig des Islams, der aus dem von Abu Bakr gegründeten Kalifat hervorgeht. Sie ehren und respektieren den Propheten Mohammed, seine Familie und Anhänger.

Tahila durfte nicht zur Schule. Jedenfalls noch nicht. In der Schule waren überhaupt keine Mädchen, und wenn, dann nur an bestimmten Tagen, wenn sie speziell eingeladen wurden, zum Beispiel um die Worte des Korans zu hören.

Die Talibanregierung hatte es damals untersagt, dass Frauen und Mädchen zur Schule gingen. Frauen durften auch keine Berufe ergreifen.

Zwar hatte die neue Regierung die Beschränkungen wieder aufgehoben und es gab sogar in der Stadt arbeitende Frauen, aber hier auf dem Land galt es immer noch als unüblich, ja sittenwidrig.

Eine Frau war einzig dazu da, dem Ehemann zu dienen sowie seine Neigungen zu befriedigen.

Was genau das war, wusste Tahila nicht so genau, aber sie ahnte es. Eine Frau war für Haushalt, Kinder und Ehemann zuständig. Mehr nicht.

Ob es bei Mustafa und Kieafa auch so war, bezweifelte nicht nur Tahila.

Tahila hatte schon arbeitende Frauen gesehen, aber eigentlich nur damals in Kabul im Lazarett. Ja, auch bei den Ärzten ohne Grenzen waren Frauen dabei, aber auf dem Markt hinter den Verkaufsständen, da gab es natürlich keine Frauen.

Man hörte von Frauen, die ausgepeitscht, verschleppt oder getötet wurden, nur weil sie arbeiteten.

Der Koran verhieß jedoch genau das Gegenteil!

Besonders gefährdet waren Lehrerinnen, die es wagten, Mädchen zu unterrichten. Wen wundert da noch eine Analphabetenrate von 90 % bei den Frauen, aber immerhin noch 70 % bei den Männern?!

Tahila ärgerte es sehr, dass Mädchen nicht zur Schule gehen durften, zumindest kannte sie Keines.

Dabei hatte sie den Befehl des Korans, erwähnt gleich schon in den ersten Versen, deutlich im Kopf: Jeder Mensch müsse zur Verbreitung von Wissen und Kultur lesen und lernen.

Sie war sicher, dass mit <jeder Mensch> auch Mädchen gemeint waren. Diese Auslegung des Problems war wohl eher kultureller und traditioneller Natur, als fundierte Rechtsgrundlage des Islams.

Tahila wollte auch lesen und schreiben lernen, genau wie ihre Brüder, aber die Erwachsenen fanden, dies sei unnötig und absolut überflüssig. Wer solle auch die Mädchen unterrichten? Den Männern war es nicht erlaubt und Frauen arbeiteten nicht. Ein schier unlösbares Problem.

Keinesfalls ist der Koran eine Gebrauchsanweisung zur Durchführung von Terroranschlägen oder gar ein Handbuch zur strategischen Anleitung im Umgang und zur Umsetzung irgendwelcher militärischen Aktionen. Auch keine Bedienungsanleitung, wie strategisch und kontinuierlich Frauen zu unterdrücken sind. Für Tahila ging manche Auslegung, so wie es die Erwachsenen vorlebten, nicht mit dem Inhalt des Korans konform.

Ob nötig oder nicht, spätestens mit vierzehn Jahren würde sie eh heiraten. Ihr Vater hatte auch schon diesbezüglich Verhandlungen geführt. Obwohl Tahila damit gar nicht einverstanden war.

Der Bewerber war mindestens fünfzehn Jahre älter als sie und hatte schon zwei Frauen. Aber er war sehr vermögend und hatte eine großzügige Anzahlung auf Tahila gemacht. Damit galt Tahila als verlobte Frau und war zum Tragen der Burqa in der Öffentlichkeit verpflichtet.

„Vater, den will ich aber nicht heiraten!“, hatte sie einmal gesagt.

Hierüber aber konnte sie mit dem Vater nicht reden, er war unerbittlich und unnachgiebig. Er sprach von Versprechen und Ehre.

Tahila war besorgt, aber es würden ja noch ein paar Jahre ins Land gehen, obwohl der Bräutigam mindestens einmal im Jahr vorbeischaute und dabei Tahila immer so merkwürdig gierig ansah. Tahila schauderte es.

Eigentlich hatte die neue Regierung das heiratsfähige Alter der Frauen auf sechzehn Jahre hochgesetzt, aber hier auf dem Land galten andere Gesetze. Eigene Gesetze. Da ging es ums Überleben. Was machten da schon zwei oder drei Jahre aus?

Tahila kannte Mädchen, die waren mit zwölf und dreizehn Jahren schon Mutter geworden. Kinder- und Zwangsehen, Frauentausch zur Schlichtung oder Beendigung von Familienfehden sind noch immer trotz des ausdrücklichen Verbotes wegen der Unvereinbarkeit mit dem islamischen sowie dem staatlichen Recht, weit verbreitet. Die physischen und psychischen Folgen sind, besonders für die betroffenen Frauen und Kinder, verheerend.

Nicht selten werden sie in den Selbstmord getrieben oder zur Flucht gezwungen. Nicht selten zerbrechen ganze Familien an diesem Schicksal.

Das Leben eines gläubigen Moslems richtet sich in allen Lebenslagen nach den Worten des Korans. Nur werden häufig die Worte falsch oder unwissentlich nicht korrekt interpretiert.

„Warum hast Du nur eine Frau und Murat Om-ben schon zwei? Und wer weiß wie viele er hat, bis ich auch noch seine Frau bin?“, fragte Tahila neugierig ihren Vater.

Kayrmar lächelte. „Weißt Du, ich bin zu arm, um mehrere Frauen zu haben, aber Großvater hatte auch eine Zweitfrau, die starb aber, bevor du geboren wurdest.

Er hat mit ihr drei Töchter, die irgendwo in der Nähe von Kabul verheiratet sind. Großvater war damals reich. Aber die Zeiten haben sich geändert. Frauen sind Luxusware geworden. Viel zu teuer beim Einkauf und im Unterhalt!“, scherzte er.

Allerdings war das für Tahila kein Scherz! Sie war doch keine Ware, die auf dem Markt angepriesen werden konnte und dann dem Meistbietenden verkauft würde!

Sie kannte die Heiratsmärkte in der Stadt, sie wusste, dass dort Mädchen zusammen kamen, nein, besser zusammengetrieben wurden wie Kamele auf dem Viehmarkt. Und so wurden sie auch behandelt.

Männer grapschten an diesen hilflosen Geschöpfen herum. Und ohne dass ihr Gesicht entblößt wurde, denn sie trugen eine Burqa, riss man ihnen unter dem Schleier den Mund auf, um anhand ihrer Zähne den Gesundheitszustand zu ermitteln. Wie beim Vieh.

Diese Mädchen wurden anschließend an irgendwelche Männer verkauft, versteigert oder verschachert, je nachdem, wie man es nennen mag. Manchmal sahen diese Frauen ihre Familie nie wieder.

Wenigstens hatte Kayrmar Tahila den Heiratsmarkt erspart.

Der Heiratsmarkt war offiziell verboten, aber da es lediglich um die Rechte der Frauen ging, scherte sich die Regierung nicht darum.

Es gab zwar Protestschreie von ausländischen Frauenrechtsbewegungen, aber was könnten die schon ausrichten?

Das Land hatte andere Probleme und weitaus größere Prioritäten zu setzen, als sich mit so belanglosen Sachen wie Frauenrechte zu beschäftigen.

Zunächst heimlich, dann aber mit Hilfe ihrer Brüder, wurde Tahila zu Hause lesen, schreiben und rechnen beigebracht. „Reine Zeitverschwendung“, sagte die Großmutter mehr als einmal.

„Ich will gar nicht heiraten, ich will lernen und einmal an eine Universität gehen und dann möchte ich, wie die Ärzte in Kabul, einen schönen weißen Kittel tragen und den Menschen helfen.“, sagte Tahila dann, nicht ohne von der Familie ausgelacht zu werden.

Es störte sie maßlos, wenn die Familie sie nicht ernst nahm, aber sie würde es ihnen schon noch beweisen. Und so begann Tahila, alles zu lesen, was sie in die Finger bekam, mal ein Buch, mal einen Teil einer Zeitung, manchmal verstand sie den Sinn der Worte nicht, aber die Buchstaben lagen klar vor ihr. Mit neun Jahren konnte sie besser lesen und schreiben als ihre Brüder, auch das Rechnen war für sie kein Problem.

Tahila war neugierig und beobachtete ihre Umwelt genau. Sie wollte alle Rätsel dieser Welt lösen.

Als sie eines Tages fragte, wie denn das Kind in Mukkas Bauch gekommen sei, erntete sie nur böse Blicke der Eltern. Ob die Eltern es auch nicht so genau wussten? Sie würde auch dieses Geheimnis lüften, irgendwann.

Wawuk diente der Familie nicht nur als Arbeits- oder Lastenesel, er war auch ein willkommenes Spielzeug der Kinder. Wawuk musste einiges ertragen, mit sprichwörtlicher Eselsgeduld ließ er alles mit sich geschehen.

Ben und Josa waren zur Wasserquelle gegangen, eigentlich hätten sie schon lange wieder da sein müssen, hoffentlich waren sie unterwegs keinen Rebellen begegnet.

Die Familie wurde bereits unruhig, als Moha sie von der Ferne aus sah. Beruhigt wollten alle zur Tagesordnung übergehen, als Moha plötzlich rief: „Schaut mal, die haben eine Ziege dabei!“

Mit einem Satz waren alle aufgesprungen und liefen den Zweien entgegen. Tatsächlich, Josa führte eine Ziege, oder besser gesagt, ein ausgemergeltes Stück Etwas an einer Schnur mit sich.

„Wo habt Ihr denn die Ziege her?“, wollte der Großvater wissen, „Doch nicht – gestohlen, Allah!“

„Nein, keine Sorge“, erwiderte Ben. „Die Ziege war in einem Felsvorsprung eingeklemmt, offensichtlich ist sie jemandem vor Tagen schon davongelaufen. Josa hat sie gefunden und befreit. Sie ist uns dann nicht mehr von der Seite gewichen. Wir haben sie mit zur Quelle genommen und sie mit Wasser und frischem Gras versorgt.“

„Hat Euch jemand mit der Ziege gesehen?“, Großmutter war beunruhigt. Die Familie hatte die Ziege eingekreist, so dass die anderen Bewohner der Felsenstadt sie nicht gleich sehen konnten.

Es würde viel Neid geben, aber schlussendlich würden alle davon profitieren, denn man gab seinem Nachbarn gern etwas vom Überfluss ab. Sie schafften die Ziege in ihre Höhle und banden sie zunächst fest.

„Viel Milch gibt die noch nicht“, urteilte Mukka, „aber das wird schon.“

Fortan hatte die Familie neben Wawuk ein weiteres Haustier. Niemand vermisste es offensichtlich und die Nachbarn freuten sich mit ihnen, denn sie glaubten, die Ziege sei ein Geschenk von Tahilas baldigem Ehemann.

Ein weiteres Haus- oder Nutztier zu besitzen bedeutete eine zusätzliche, sichere Existenzgrundlage. Jedes Tier stellte den Bedarf an Nahrung sicher und war ein Garant für das Überleben in den steinigen Felsen. Die Familie dankte Allah für das Geschenk, wann immer sie beteten. Sogar in dem Freitagsgebet schlossen sie ihren Dank mit ein.

Tahila begann, sofern sie ein Stück Papier und einen Bleistift ergattern konnte, ihr Tagebuch zu schreiben. Die einzelnen Blätter legte sie sorgfältig in eine alte Zigarrenschachtel, die sie einmal am Straßenrand gefunden hatte. Dort bewahrte sie noch andere Schätze auf, zum Beispiel kleine Steine, die in der Sonne funkelten. Es waren ihre Diamanten, sagte sie immer.

6.

„Du fängst mich nicht“, rief Ali, als Tahila hinter ihm her rannte. Sie spielten Fangen. Zwei weitere Kinder aus der Nachbarschaft, zwei Mädchen, rannten hinter Ali her. Thalia fing ihn und das Spiel drehte sich, jetzt rannten die Mädchen laut lachend und kreischend vor Ali her.

„Oh je, ich muss ja zur Wasserquelle, ich bin heute dran! Mukka wollte eigentlich mit, aber das Baby war den ganzen Tag schon so unruhig. Ich frage Moha, ob er mich begleitet.“

Tahila kam mit Moha und einigen Wasserbehältern zurück aus der Felsenwohnung.

Langsam, als wäre es ein schöner Spaziergang, machten sie sich auf den Weg. Unterwegs trafen sie auf Laleih und Ibea, Spielkameradinnen aus ihrem Dorf, die sich ihnen anschlossen.

Der Weg zur Wasserquelle war steinig und die Sonne brannte erbarmungslos auf die kleine Gruppe herab. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Der Hinweg war stets ein Spaziergang, der Rückweg beschwerlich wegen der schweren Last.

Plötzlich stieß Ibea einen Schrei aus. Sie war barfuß auf irgendetwas getreten. Zuerst dachten die Kinder, eine Schlange hätte Ibea gebissen, denn Schlagen gab es hier unzählige, die meisten waren giftig.

Sie wollte nicht aufhören zu schreien. Voller Schreck entdeckte Moha das Blut an ihrem Fuß, deshalb wolle er schnell zurücklaufen und Hilfe holen. Die Kinder waren schon mehr als eine halbe Stunde gelaufen, also würde es dauern, bis jemand zur Hilfe käme.

Ibea jammerte und weinte. Tahila setzte sich neben Ibea und nahm sie in den Arm.

Die Zeit verging überhaupt nicht, es kam ihnen so vor, als seien schon Stunden vergangen, als aus weiter Ferne ein Jeep heran rauschte. Auch das noch! Hoffentlich waren es keine Rebellen!

Die Kinder waren nicht in einem Vollschleier gehüllt. Sie trugen nur ein loses Kopftuch. Nirgendwo konnten sie sich verstecken, in dem Fall wären sie den Aufständischen oder Banditen hilflos ausgeliefert.

Der Jeep kam näher und die Kinder erkannten zwei amerikanische Soldaten. Sie atmeten auf.

Der Wagen hielt. Die Männer stiegen aus und fragten etwas in einer fremden Sprache, die die Kinder nicht verstehen konnten.

Einer der Männer holte aus dem Jeep Verbandszeug aus einem grünen Kasten, auf dem sich ein weißes Kreuz befand. Tahila staunte, was in dem Kasten so alles war.

Sorgfältig und gekonnt versorgten sie Ibea und machten ihr einen dicken Verband um den Fuß. Obwohl Ibea schreckliche Angst vor den Männern hatte, ließ sie es geschehen.

Die Männer nahmen Ibea auf den Arm und setzten sie in das Fahrzeug. Sie wollten auch, dass Laleih und Tahila in den Jeep einstiegen und sagten: “Don`t fear. Come in, we will take you home.“

Zwar verstanden die Kinder nicht ein Wort, aber sie ahnten, was die Männer von ihnen wollten. Sie entschieden sich dafür, einzusteigen und sammelten die leeren aber so wertvollen Wasserbehälter ein.

Noch bevor Moha Hilfe rufen konnte, waren die Kinder mit den Soldaten schon in dem Dorf angekommen und sie wurden gleich hektisch von den Dorfbewohnern umringt.

Die Kinder kamen sich richtig wichtig vor, keines von ihnen war je zuvor in einem Auto gefahren. Und vor Aufregung hatte sogar Ibea die Schmerzen vergessen. Die Soldaten ernteten Dank und die Dorfbewohner luden sie ein zum Tee.

Für Tahila und Moha bedeutete es allerdings, den ganzen Weg nochmals zurück zu laufen, denn Wasser musste her, egal was auch immer dazwischen kam.

Von diesem Tag an beschloss Tahila, die Sprache der ausländischen Soldaten zu erlernen. Sie hatte aber noch keine Ahnung wie.

7.

Es war ein Gerücht, aber es hielt sich so hartnäckig, dass alle Dorfbewohner ganz fest daran glaubten. Ein Hilfskonvoi würde Hilfsgüter bringen. Niemand konnte aber genau sagen, was angeliefert werden würde. Lebensmittel oder Kleidung oder Decken, vielleicht Medikamente. Egal was es auch immer sein mochte, das ganze Dorf würde sich geschlossen aufmachen und das nehmen, was die Hilfsorganisation ihnen gab. Man hatte ja nichts und brauchte doch alles.

Es waren in der Vergangenheit schon oft derartige Gerüchte im Umlauf, manchmal stimmten diese Gerüchte und Hilfsgüter kamen, meistens aber nicht.

Bisher hatte Tahila noch nie einen Konvoi gesehen, aber aus Erzählungen wusste sie, dass es so etwas gab.

Die Familie beschloss, rechtzeitig aufzubrechen, um möglichst noch vor dem Konvoi an Ort und Stelle zu sein. Man rechnete mit gut drei bis vier Stunden Fußmarsch.

Es war zu gefährlich, den Esel mitzunehmen, denn manchmal kam es zu Ausschreitungen. Wenn nämlich Rebellen von der Lieferung erfahren würden, würden sie entweder den Konvoi ausrauben, bevor er sein Ziel erreichte, oder aber später die Bedürftigen nach der Verteilung der Waren. Wenn also die Rebellen kommen würden, wäre dann auch noch der Esel weg. Dieses Risiko durfte keinesfalls eingegangen werden!

Eine Stunde nach Mitternacht brachen alle außer Mukka und dem Baby auf. Sie hatten Körbe und andere Behältnisse dabei und waren guter Dinge. Alle hofften, die Hilfslieferung würde auch kommen.

Das ganze Dorf schien die gleiche Idee zu haben und war rechtzeitig aufgebrochen.

Doch auch für Mukka und dem Baby, wie auch für die ganz wenigen Zurückgelassenen, war die Gefahr groß.

Manchmal machten es sich einige Tagediebe zu Nutze und überfielen und plünderten dann das fast menschenleere Dorf. Nicht selten vergewaltigten sie die Frauen oder töteten sie sogar. Sie raubten dann alles, was sie finden und mitnehmen konnten. Aus diesem Grund versteckten die daheim gebliebenen Dorfbewohner sich mitsamt ihrer Haustiere höher in den Bergen und warteten dort auf die Rückkehr der anderen.

Die Berge dienten als Schutz und bildeten eine unüberwindbare Mauer für jeden Feind. Durch die wilden Felszerklüftungen war es möglich, hier längere Zeit unentdeckt zu bleiben.

Die Nacht war kalt, aber erträglich. In der Dunkelheit musste besonders auf die spitzen Felsen geachtet werden, um sich nicht zu verletzen. Die Menschen gingen meist barfuß. Nur vereinzelte Bewohner hatten Fackeln dabei. Die Dorfbewohner kannten den Weg auch in der Dunkelheit.

Nach etwa zwei Stunden rastete die Familie, weil die Kinder hungrig waren. Salloma hatte Brot und Wasser und Obst für jeden dabei, das dankbar verzehrt wurde. Eigentlich hätte es das Frühstück sein sollen, aber morgen Früh war sowieso keine Zeit dafür.

Die Karawane war sehr fröhlich, hier und da ertönte fröhlicher Gesang. Aber auch Gewehrschüsse, die anscheinend bedrohlich nah waren!

Ungefähr eine halbe Stunde vor dem Ziel verstärkte sich spürbar die Militärpräsenz. Das Militär war zum Schutze der Bedürftigen ausgerückt. Offenbar war es demnach kein Gerücht, offenbar wurden tatsächlich Hilfsgüter erwartet!

Die Sonne ging langsam auf und die Menschen bewegten sich immer schneller.

Es hatte sich bereits eine stattliche Menschenmenge versammelt, als Tahilas Familie eintraf. Es wurde gelacht und niemand war dem anderen „böse“, weil dieser auch schon da war. Niemand war neidisch, denn die Hilfsorganisationen würden jedem etwas geben. Zwar wollte jeder so viel wie möglich für sich, aber niemand wollte, dass auch nur einer leer ausging.

Die Sonne zeigte in diesen frühen Morgenstunden schon, wie stark sie war, es gab keinen Schutz. Nirgendwo gab es eine Möglichkeit, sich unterzustellen oder gar seine Notdurft zu verrichten. Die Menge wartete und unterhielt sich. Dann endlich, sie hörten die drei Lastwagen schon, noch bevor sie sah, und alle rannten und redeten durcheinander.

Die Lastwagen wurden streng bewacht. Wahrscheinlich waren es deutsche Truppen, die die Güter begleiteten.

Die drei Lastwagen bauten sich hintereinander auf und drei afghanische Männer mit langen Bärten stiegen aus und erklärten der lärmenden Menge die Regeln. Kinder und Frauen zuerst, dann Männer. Es gäbe Medikamente und Kleidung. Für die Kinder auch Spielzeug.

Der Ansturm begann. Die Verteilung war zwar hektisch, aber niemand drängelte besonders oder störte den Ablauf.

Tahila bekam eine weiße Bluse, einen blauen Rock und Sandalen. Noch nie hatte sie Schuhe getragen. Wie fühlte sich das wohl an? Schuhe dürften Frauen nur tragen, wenn sie keine Geräusche machten. Denn der Ehemann darf seine Frau nicht hören, wenn diese geht. Deshalb trugen die meisten Frauen auf dem Land keine Schuhe. Schuhe waren eher hinderlich als ein Segen.

In der Stadt hatte Tahila schon gesehen, wie Frauen in Sandalen liefen und sie insgeheim beneidet.

Einmal hatte sie eine Frau beobachtet, die mit ganz hohen und spitzen Absätzen durch den Staub der Stadt ging, damals hatte sie befürchtet, diese Frau würde sich jeden Moment die Füße brechen.

Tahila wurde zum letzten Fahrzeug geschickt, welches vollgeladen mit Spielsachen und Schulartikeln war. Sie erhielt eine Puppe, ein Plüschtier und einen Bleistift. Sogar noch ein Heft. Dann sah sie die Bücher! Der Mann auf dem Lastwagen bemerkte wohl ihren Blick. Er schmunzelte und gab ihr auch noch einen dicken Einband.

Überglücklich machte sie Platz für die anderen Kinder und stellte sich schön brav wartend an den Rand des Geschehens, um auf ihre restliche Familie zu warten.

Nach und nach kamen alle herbei, einer glücklicher als der andere.

In der Tat war für jeden etwas dabei. Großvater hatte sogar zwei neue Decken und Großmutter freute sich über Garne und Stoffe. Moha hatte einen Schianzug ergattert. Auch Babykleidung war erhascht worden, Mukka würde sich freuen.

Als die letzten Mitglieder der Familie versammelt waren, machten sie sich gemeinsam auf den Heimweg, noch fröhlicher, als sie in der Erwartung hier her gekommen waren.

Die Männer des Konvois hatten davon gesprochen, dass in den nächsten Wochen ein paar Ärzte in der Gegend seien und auch die abgelegenen Dörfer besuchen würden. Das war großartig, darauf freute sich Tahila jetzt schon!

Dennoch dauerte es beinahe ein halbes Jahr, bis das nächste Großereignis tatsächlich stattfinden würde.

Muchat, das Baby, schrie und die Ziege gab Milch.

Die Sandalen passten wie angegossen, aber das Laufen darin war schrecklich ungewohnt, eigentlich waren Schuhe sehr unbequem, jedoch stieg man in der Gunst, wenn man welche besaß.

Zwar zog Tahila es vor, barfuß zu laufen, wenn sie aber zum Markt ginge oder gar jemals zur Schule, dann würde sie die Sandalen tragen.

Ihre Puppe nannte sie Peha und das Stofftier, es sollte wohl ein Löwe sein, erhielt den Namen Taifun. Wann immer sie Lust hatte, spielte sie damit, manchmal einsam in der prallen Sonne, manchmal aber auch mit anderen Nachbarmädchen, die ebenfalls eine Puppe erhalten hatten.

Nami, ein etwas älteres Mädchen, hatte den Puppen sogar ein Bett gebaut und zusammen spielten sie Krankenhaus, obwohl noch niemand von den Kindern je in einem richtigen Krankenhaus war.

Das Buch, das Tahila geschenkt bekommen hatte, war für sie ein Goldschatz. Eigentlich war es ja ein Lexikon. Darin gab es Begriffe, von denen sie noch nie etwas gehört hatte, Bilder von Männern und Frauen, die es in ihrem Leben zu etwas gebracht hatten, Tierbilder, Maschinen und Beschreibungen von fremden Ländern.

Tahila konnte ihren Wissensdurst gar nicht stillen und merkte, wie neugierig sie auf dieses alles war und wie klein und eng doch ihre eigene Welt sich darstellte. Sie wollte mehr. Sie wollte alles. Alles wissen und alles lernen. Das war ihr Ziel.

Bücher waren auch in der Schule eine Seltenheit. Meistens gab es keine, denn die Regierung hatte kein Geld für Bücher.

Die Anpassung an die beiden Hauptsprachen des Landes, nämlich Dari und Patschu, nahm nicht nur ewig lange Zeit in Anspruch, sondern es kostete auch viel viel Geld. Geld, das auch die neue Regierung unter Präsident Hamid Karzari in dem vom jahrelangen Krieg gebeutelten Land nicht aufbringen konnte.

Tahila hatte einmal gehört, dass irgendein fremdes Land die Herstellung und Übersetzung von Lehrbüchern in die Hand genommen habe, aber bis so ein Buch in ihr Dorf gelangen würde, wäre sie bestimmt schon verheiratet.

Fortan quängelte sie ständig, ihr Vater möge doch erlauben, dass sie richtig zur Schule gehen dürfe. Tagelang, ja wochenlang bearbeitete sie ihn. Irgendwann erweichte dann Kayrmars Herz, der seiner geliebten Tochter fast keinen Wunsch abschlagen konnte.

Er versprach, am Freitag vor dem Gebet in der Moschee mit ihr zusammen zur Schule zu gehen und mit dem Lehrer zu sprechen.

Es versteht sich von selbst, dass Tahila deswegen kaum noch schlafen konnte und als der Tag X endlich anbrach, war sie vor allen anderen aufgestanden, hatte sich bereits gewaschen und den Tschai aufgesetzt. Endlich, endlich war es soweit, endlich war sie dem Stück Himmel ein kleines bisschen näher gekommen!

Der Weg zur Schule war zwar nicht besonders weit, aber Tahila drängte zum Aufbruch. Tahila trug ihre Sandalen und einen Ganzkörperschleier.

Ashraf begrüßte beide sehr freundlich. Er freute sich über Tahilas Wissensdrang. Für den Geschmack ihres Vaters war er viel zu „westlich“ eingestellt, da er bekundete, sich darüber zu freuen, wenn auch Mädchen die Schule besuchen würden.

Zudem trug er keinen Bart. Alle Männer trugen Bärte, so hatte es damals die Taliban erzwungen. So beließen es die Männer! „Dort, wo die Männer lange Bärte tragen, da ist auch die Taliban!“, hatte einmal ein ausländischer Soldat in ihrer Sprache gesagt.

Der Lehrer schlug vor, am Tag darauf in die Ortsmitte zu kommen und die Bevölkerung zusammen zu holen. Er appellierte, noch mehrere Mädchen zum Schulbesuch zu bewegen.

Man wolle nach einer Frau aus dem Ort sehen, die den Mädchen Kochen und Handarbeiten beibringen würde, sie über die Pflichten der streng moralischen Wertvorstellungen der Gesellschaft und die einer streng gläubigen Frau aufklären würde. Lesen und schreiben und rechnen würde dann sicherlich auch noch gelehrt werden können.

Überglücklich verabschiedete sich Tahila von dem Lehrer und war so schnell wie nie zuvor zurück ins Dorf gerannt, um allen Mädchen zu empfehlen, doch auch bald genau wie sie, zur Schule zu gehen.

Viele, viel mehr als Tahila erwartet hatte, lehnten das ab. Dies würde natürlich bedeuten, und das hatte Tahila nicht bedacht, eine Frau aus dem Ort würde einen Beruf ergreifen. In Tahilas Umfeld geradezu unmöglich.

Jedoch gab es auch andere Stimmen. Auch Stimmen von Erwachsenen, die die Idee hervorragend fanden. Und so versammelte sich das ganze Dorf, um den Lehrer anzuhören. Natürlich waren die Männer im Vordergrund und die Frauen nur in Hörweite.

Es gab Proteste und es gab Fürsprachen. Ashraf verstand es zu reden und erklärte den skeptischen Oberhäuptern der Familien, wie wichtig es sei, dass auch Mädchen zumindest die Grundkenntnisse des gesellschaftlichen Lebens kennen lernen würden. Er versprach hoch und heilig, allen Schaden von den Mädchen fernzuhalten und nur im Sinne von Allah zu unterrichten oder unterrichten zu lassen.

Schließlich einigte man sich darauf, alle Mädchen verschleiert am Unterricht teilnehmen zu lassen, es sei denn, eine Lehrerin übernähme einen Part.

Die Gemüter beruhigten sich und die Männer sprachen ein Gebet. Immerhin fanden sich zwölf Mädchen zwischen acht und vierzehn, die fortan regelmäßig zur Schule gingen. Und es fand sich auch eine Frau, die den Unterricht abhalten würde.

Wer anders als Kieafa kam dafür in Betracht!? Da nützte auch der Protest des Ehemannes nichts, der sowieso sehr leise ausfiel. Leiser als erwartet. Auch seine Tochter würde zur Schule gehen. Tahila verbuchte das als ihren Erfolg. Es stimmte ja auch, ohne sie hätte der Ort keine Mädchenklasse.

Auch wenn zunächst der Unterricht anders verlief, als Tahila sich das erhofft hatte, nämlich alles ging viel langsamer als sie erwartet hatte, war sie dennoch glücklich, ein Schulkind zu sein.

Lesen und Schreiben geriet meistens in den Hintergrund und Tahila bemerkte bald, dass auch Kieafa entweder nur mühsam oder gar nicht lesen und schreiben konnte, geschweige denn, rechnen.

Die anderen Mitschülerinnen taten sich schwer, denn von ihnen konnte so recht auch niemand lesen, schreiben oder gar rechnen. Aber die Kinder unterstützten sich gegenseitig und Tahila half ihren Mitschülerinnen, wo und wie immer sie konnte und wurde auch nicht müde, es so lange mit ihnen zu üben, bis auch die Letzte es begriffen hatte.

Obwohl sie tagtäglich zur Schule ging, wurde sie von der Pflicht nicht befreit, Wasser aus der Quelle zu holen.

„Auch Schulkinder müssen das!“, nörgelte ihre Großmutter oft. Großmutter verstand immer noch nicht den Sinn und Zweck eines Schulbesuches, schließlich sollte Tahila doch bald heiraten.

Die Wochen vergingen. Aus dem Krankenhausspiel mit den Puppen wurde das Spiel: Schule.

8.

Gerade als Tahila glaubte, sie habe eine rosige Zukunft vor sich, ereilte eine Nachricht das Dorf, was viele Familien in Leid und Trauer versetzte.

Eines der Nachbardörfer im Nordosten sei durch die Rebellen angegriffen und niedergebrannt worden. Frauen und Kinder seien, wenn nicht elendig abgeschlachtet, vergewaltigt und verschleppt und alle Männer des Dorfes seien hingerichtet worden. Unter den Toten war auch Tahilas Verlobter Murat Om-ben.

So traurig die Sache auch war, Tahila konnte um Murat Om-ben nicht richtig trauern. Sie war ihren ungeliebten Bräutigam losgeworden.

Allerdings war sie jetzt im Zwist mit Allah. Sie konnte doch nicht danken, dass er sie von diesem Mann befreit habe, wenn er auf so bestialische Art und Weise gestorben war.

War sie jetzt schon eine richtige Witwe?

Andererseits musste sie unbedingt mit Allah sprechen, auf keinen Fall dürfe er zulassen, sie auf dem Heiratsmarkt jetzt doch noch wie Vieh oder ein Kamel zu treiben, um sie verhökern zu lassen.

Also betete Tahila, der Heiratsmarkt möge ihr erspart bleiben und bat Allah, Murat Om-ben als Märtyrer in sein Reich aufzunehmen. Dann dankte sie noch dafür, dass ihrer Familie bisher dieses Schicksal erspart blieb. Damit hatte sie jetzt bestimmt nichts falsch gemacht oder gar Allahs Zorn auf sich gerichtet.

Die Dorfbewohner beschlossen durch die unwirkliche Wüsten- und Steinlandschaft aufzubrechen, um bei der Bestattung der Toten zu helfen. Viele der Getöteten hatten in Tahilas Dorf Verwandte. Und so trauerten sie gemeinsam.

Da Tahila die Verlobte eines der Getöteten war, stand es außer Frage, dass sie die Familie begleitete. Die gesamte Familie einschließlich des Babys, machte sich auf zum Ort des Grauens. Dorfbewohner, für die die Reise zu beschwerlich war, versteckten sich mitsamt ihrer Haustiere höher in den Bergen.

Der Trauerzug wurde begleitet von dem lauten Gejammer der Klageweiber, die ununterbrochen den Weingesang anstimmten und Lobeshymnen auf die verstorbenen Dorfmitglieder und Lobpreisungen zu Allah in den Himmel schickten. Kein Gewehrdonner hätte lauter in den Bergen hallen können!

„Vater, bin ich jetzt Witwe?“, fragte Tahila zwischendurch, um ihren Zwiespalt zwischen Hoffen und Bangen beseitigen zu können.

Sie hatte gehört, Witwen würden grundsätzlich von den Brüdern des Bräutigams geheiratet. Dann käme sie vom Regen in die Traufe.

Da war dann noch das weitere Problem. Witwen waren dann, wenn sie nämlich nicht wieder verheiratet werden konnten, dazu verdammt, betteln zu gehen.

„Tahila, dummes Ding, nein. Du bist keine Witwe und die Familie von Murat Om-ben kann keinen Anspruch auf Dich erheben, wenn es das ist, was Dir Sorge bereitet“, erwiderte der Vater sanftmütig.

Scheinbar war auch er gar nicht so traurig, wenn Tahila nun diesen Mann nicht mehr heiraten konnte. Zumindest dufte die Familie das Brautgeld und die Geschenke behalten, da Tahilas Familie sich ja nicht unehrenhaft verhalten hatte und für die Unmöglichkeit der Hochzeit keine Schuld trug.

„Wir werden schon einen neuen Mann für Dich finden.“

„Darf ich dann auch sagen, ob ich den will?“, versuchte sich Tahila vorsichtig heranzutasten.

Kayrmar lachte. „Wir werden sehen. Ich glaube, der Mann, der Dir gut genug ist, muss erst noch gebacken werden.“

Trotz der beklemmenden Atmosphäre lächelten beide.

Von diesem Moment an beschloss Tahila, selbst die Augen offen zu halten, damit sie ihrem Vater, wenn es denn schon nicht zu vermeiden war, den einen oder anderen Tipp geben konnte.

Den Mann, der ihr die Seife geschenkt hatte zum Beispiel, den wollte sie sich nochmals genauer ansehen. Erleichtert über diese Einsicht und Erkenntnis setzte sie ihren Weg fort.

Das Geschrei der Klageweiber wurde lauter und hektischer, je näher sie dem Ort kamen.

Längst waren die Rebellen fort mit allem, was sie mitnehmen konnten. Dafür wimmelte es von Militär und Presse.

Der Ort war schon einige Kilometer vorher abgeschirmt und gesichert.

Die Karawane brauchte all ihre Überredungskünste, um zu erklären, weshalb sie sich alle aufgemacht hatten, um die Toten zu betrauern. Nach unendlichen Diskussionen mit Händen und Füßen erlaubte einer der verantwortlichen Uniformträger endlich den hier angereisten Dorfbewohnern, eine Trauerfeier abhalten zu dürfen, aber bei Anbruch der Dunkelheit müssten sie wieder den Ort zu verlassen.