Symbole der Sünde - Mala Niem - E-Book

Symbole der Sünde E-Book

Mala Niem

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Beschreibung

WER AN DEN ZUFALL GLAUBT, SOLLTE SICH EINES BESSEREN BELEHREN LASSEN! Die Agentin Charleene Yenac nimmt die Herausforderung an, gegen einen Serientäter zu ermitteln, der seit nunmehr fast fünf Jahrzehnten in drei Ländern Europas junge Mädchen ermordet. Zwar wurde nach dem ersten Mord in Ungarn ein Verdächtiger verurteilt und weggesperrt, dennoch hörten die Morde bis zum heutigen Tag nicht auf. Zweifelsohne handelt es sich um denselben Täter, die Morde in Ungarn, England und Frankreich erfolgten immer nach dem gleichen Muster. Die Polizei findet vor Ort u.a. stets abgeschnittene und zu einem Zopf geflochtene Haare, ein Halstuch und eine Bibelseite mit dem Inhalt der Zehn Gebote Gottes. Zur gleichen Zeit flüchtet Clarisse vor ihrem Ex-Freund zusammen mit ihrer besten Freundin Madeline zu deren Cousin Marc in die Bretagne. Auch Charleenes Ermittlungen führen sie in die Bretagne, wo sie rein gar nicht zufällig auf Marc trifft. Zusammen arbeiten sie sich durch den Katechismus der verschiedenen Religionen und stoßen über die Zehn Gebote auf die Todsünden und die Abgründe der Hölle. Charleene kann ein Täterprofil erstellen, das Ergebnis erschüttert alle Beteiligten. Freuen Sie sich auf einen spannenden Thriller und sündigen Sie fortan nicht mehr!

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Seitenzahl: 410

Veröffentlichungsjahr: 2018

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„Ich habe die Götter, die meine Eltern mich gelehrt haben, verehrt alle Zeit meines Lebens, und jene, die mir das Leben geschenkt haben, habe ich immer in Ehren gehalten. Von den anderen Menschen aber habe ich keinen getötet und keinen eines mir anvertrauten Gutes beraubt noch sonst ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht begangen…“

Auszug aus dem Ägyptischen Totengericht

Inhaltsverzeichnis

Symbole der Sünde: 1. Kapitel

Vonhegy, Plattensee, Ungarn – Frühjahr 1959

Paris, Frankreich - Juli 2017

Vonhegy, Plattensee, Ungarn - 1969

Quantico, USA - Ende Mai 2017

Vonhegy, Plattensee, Ungarn - 1951

Zalasegur, Ungarn - 1968

Paris, Frankreich - Juli 2017

Vonhegy, Plattensee, Ungarn - 1970

Quantico, USA - Anfang Juni 2017

Vonhegy, Plattensee, Ungarn - 1971

Zalasegur, Ungarn - 1972

Érdhaz, Nähe Budapest, Ungarn - 1973

Paris, Frankreich - Juli 2017

Hawaii, 50. Bundesstaat der Vereinigten Staaten - zur

Érdhaz, Nähe Budapest, Ungarn - 1977

Concarneau, Bretagne, Frankreich - Anfang Juli 2017

Budapest und Érdhaz, Nähe Budapest, Ungarn - Anfang

Paris, Frankreich - Ende Juli 2017

Dover, England - 1979

Prien am Chiemsee, Deutschland - Ende Juli 2017

Concarneau, Bretagne, Frankreich - zur gleichen Zeit

Paris, Frankreich - zur gleichen Zeit

Vonhegy, Plattensee, Ungarn - 2005

Vonhegy, Plattensee, Ungarn - Mitte Juli 2017

Dover, England - 1985

Concarneau, Bretagne, Frankreich - Ende Juli 2017

Dover, England - Ende Juli 2017

London, England - Ende Juli 2017

Symbole der Sünde: 2. Kapitel

Concarneau, Bretagne, Frankreich

Bellevillage, Bretagne, Frankreich

Concarneau, Bretagne, Frankreich

London, England

Paris, Frankreich

Bellevillage, Bretagne, Frankreich

Paris, Frankreich

Concarneau, Bretagne, Frankreich

Paris, Frankreich

Concarneau, Bretagne, Frankreich

London, England

Concarneau, Bretagne. Frankreich

Bénodet, Bretagne, Frankreich

London, England

Concarneau, Bretagne, Frankreich

Bénodet, Bretagne, Frankreich

London, England

Concarneau, Bretagne, Frankreich

Bénodet, Bretagne, Frankreich

Concarneau, Bretagne, Frankreich

Paris, Frankreich

Kopenhagen, Dänemark

London, England

Concarneau, Bretagne, Frankreich

Les Sables Blanc, Bretagne, Frankreich

Bénodet, Bretagne, Frankreich

Epilog

Symbole der Sünde

1. Kapitel

Seither

Vonhegy, Plattensee, Ungarn – Frühjahr 1959

Noch immer hingen schwere Wolken am Himmel, den ganzen Vormittag hatte es wie aus Eimern geschüttet. Jetzt riss die Wolkendecke langsam auf. Die Sonne schickte ihre warmen Strahlen zur Erde. Große Pfützen hatten sich auf der Straße und den Gehwegen gebildet, der Boden war aufgeheizt, dampfend stieg das verdunstende Wasser in die Höhe.

Unwirklich erschien der Himmel, als würden Sonne und Regen einen Machtkampf austragen, noch wehrten sich dicke Wolken beharrlich, der Sonne Platz zu machen. Ein Regenbogen zwängte sich dazwischen, als wollte er den Streit schlichten.

Marija hatte ihre Trauerkleidung angelegt, auch die übrigen Familienmitglieder waren bereit, dem armen Mädchen Lena und dessen Baby die letzte Ehre zu erweisen. Großmutter hatte darauf bestanden, einen Regenschirm mitzunehmen.

Laszlo, Marijas Onkel, war bereits vorausgegangen, um der neugierigen Menge der Trauergäste keine Gelegenheit zu geben, aus der Beisetzung ein Spektakel zu machen, und auch, um die Eltern und Angehörigen des bedauernswerten Mädchens zu trösten und um ihnen beizustehen.

Lena, die jetzt zu Grabe getragen wurde, war erst fünfzehn Jahre alt und bei der Geburt ihres in Sünde gezeugten Babys gestorben. Das Baby, ein Junge, kam zur Welt und starb einige Minuten später. Laszlo taufte das unschuldige Wesen auf den Namen Joszef.

Der Bürgermeister des kleinen beschaulichen und ansonsten so friedlichen Ortes, hatte sich zusammen mit einigen wichtigen Persönlichkeiten, das heißt, vor allem mit den Geschäftsleuten und örtlichen Staatsdienern, dafür ausgesprochen, dieses sündhafte Geschöpf mit ihrer Brut nicht auf dem örtlichen Friedhof bestatten zu lassen.

Es gelang ihnen die Stimmung unter der Bevölkerung aufzuheizen und das Volk auf ihre Seite zu ziehen. Die verzweifelten Eltern wandten sich daraufhin hilfesuchend an den Gemeindepfarrer.

In seiner Sonntagspredigt wetterte Laszlo daraufhin von der Kanzel der Katholischen Basilika Minor. Jeder, der erwartet hatte, auch Laszlo als Mann Gottes würde diese Sünde aufs Schärfste verurteilen und sich dem Ansinnen der Dorfgemeinschaft anschließen, hatte sich mächtig getäuscht.

Seine Predigt begann mit den Worten: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“

Laszlo sprach lauter als gewöhnlich, seine Stimme dröhnte im Kirchenschiff wie ein Donnerhall, sein Gesichtsausdruck verriet Unverständnis und auch Zorn.

Er warnte davor, Lena zu verurteilen. Ebenso wäre das tote Baby ein völlig unschuldiges Wesen und wahrscheinlich der einzige Mensch in diesem Ort ohne Sünde.

Mehr als einmal erhob er während der Rede drohend seinen rechten Zeigefinger.

„Ich werde Mutter und Kind bestatten, ich werde ihnen nicht den Segen verweigern! Wenn Ihr auf dem Friedhof des Ortes nur Tote bestatten wollt, die sich in ihrem Leben nie gegen Gott versündigt haben, so wäre dieser Friedhof leer!“, rief er den Gottesdienstbesuchern zu.

Die Menge schwieg und wagte es nicht, sich zu rühren.

„Nun gut, es gibt einen geeigneteren Platz für Lena und ihr unschuldiges Kind“, zeterte er weiter.

„Ich werde Lena an der Kapelle St. Martin, oben auf dem Hügel Vonhegys bestatten. Auf dem alten Friedhof neben den Ehrbaren dieser Gemeinde, neben den Opfern der Sturmflut, neben Kaplan Hitesi und neben all den anderen Persönlichkeiten, die unser Ort in den vergangenen Jahrhunderten hervorgebracht hat! Somit sei Euch Euer Wille gewährt, sie nicht auf dem örtlichen Friedhof zu bestatten, neben all Euren ehrbaren Ahnen!“

Laszlo ließ eine Weile die Worte auf seine Zuhörer wirken, die noch immer starr vor Entsetzen wie angenagelt dasaßen. Wäre eine Stecknadel heruntergefallen, hätten es alle gehört. In der Kirche war es mucksmäuschenstill, niemand wagte es, lauter als nötig, zu atmen.

„Und jedes Mal, wenn Ihr an den Gräbern der Ehrbaren vorbeilauft, sollt Ihr daran erinnert werden, dass jeder Einzelne von Euch ein Sünder ist! Und jeder von Euch wider Gottes Gebote gehandelt hat. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deines Nächsten!

Spekulationen sind Halbwahrheiten und Lügen. Genau das hat Euch angetrieben. Klatsch und Tratsch! Das ist Eure Wahrheit, aber nicht meine und nicht die des Herrn! Amen.“

Das Volk war empört!

St. Martin war ein heiliger Ort. Ein Ort des Pilgerns und der Exerzitien. Ein geweihter Hügel, auf dem Kaplan Hitesi zum Dank der Errettung von vierzig als vermisst geglaubter Fischer eine Kapelle der Andacht errichtet hatte.

Und nun wollte Laszlo diesen Ort entweihen, dort eine Sünderin bestatten! Das war zu viel des Guten!

„Lasst uns nun das Vater Unser beten“, forderte Laszlo die Gläubigen auf.

Zögernd erhob sich die Menge, die Gläubigen beteten, verließen aber unmittelbar nach dem Schlussgebet den Gottesdienst, ohne sich wie gewohnt, an der Eingangspforte von Pfarrer Laszlo zu verabschieden. Ihnen allen war klar, Laszlo würde seine unglaubliche Entscheidung nicht mehr revidieren.

Nur ganz wenige Gläubige drückten ihm nickend die Hand. Lenas Eltern gehörten dazu.

Sie hatten Lena vor über einem Jahr in die Lehre des Metzgers Anton Wrzar gegeben, der keine Gelegenheit ausließ, dem Mädchen hinterherzustellen. Da seine Frau dies sehr wohl bemerkte, hatte Lena einen schweren Stand.

Fast jeden Abend kam Lena weinend nach Hause, wo sie stets auf das Unverständnis der Eltern traf: „Reiß' Dich gefälligst zusammen. Die Wrzars sind angesehene Geschäftsleute. Niemand hat es in der Lehrzeit leicht“, mokierte sich oftmals die Mutter.

Lenas paar Forint waren zum Lebensunterhalt der Familie unbedingt erforderlich, ein Abbruch der Lehre kam gar nicht und unter gar keinen Umständen in Frage.

Jeder Versuch, sich den Eltern anzuvertrauen, scheiterte und wurde sogleich im Keim erstickt. So blieb dem armen Mädchen nichts anderes übrig, als die Belästigungen des Metzgers und die rüden Behandlungen seiner Ehefrau über sich ergehen zu lassen. Es kam, wie es kommen musste, der Metzger vergewaltigte Lena mehrfach, später regelmäßig. Lena wurde schwanger.

Heute machten sich die Eltern deswegen große Vorwürfe, ihr nicht zugehört zu haben, sie schämten sich, denn sie hatten Lena das Unmögliche nicht geglaubt.

Die Bevölkerung hingegen sah die Schuld bei Lena. Sie hatte bestimmt dem Mannsbild Anlass gegeben, ihn gar provoziert. Anständige Mädchen treiben sich nicht herum und kommen nicht mit einem dicken Bauch nach Hause.

In ihrer unsagbaren Not vertraute Lena Laszlo ihre Schwangerschaft in einer Beichte an. Damals war Laszlo empört. Nicht, weil er Lena der Sünde bezichtigte, ganz und gar nicht, sondern weil ihre Eltern sie nicht bewahrt hatten. Laszlo bot an, mit ihren Eltern zu reden, aber Lena lehnte ab. So blieb es ein Beichtgeheimnis.

Lena gelang es lange Zeit, die Schwangerschaft geheim zu halten, doch irgendwann konnte sie es nicht mehr verbergen.

Der Metzger bedrohte sie, er würde sie in Stücke hacken, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen sagen würde. Die Ehefrau des Metzgers sprach in etwa die gleichen Drohungen aus und beschimpfte sie noch mehr. Dann schickten sie Lena nach Hause.

Die vor Wut rasenden Eltern bedrohten und beschimpften Lena ebenfalls, sie hätte sich unzüchtig verhalten und wollten ihr noch immer nicht die Geschichte abnehmen, ihr Arbeitgeber habe sich an ihr vergangen.

So kursierte das Gerücht, Lena hätte keine Gelegenheit ausgelassen, sich den zahlreich kommenden Touristen an den Hals zu werfen.

Das sündige Kind wurde in ein Kloster gesteckt, wo es dann bei der Geburt ihres Sohnes verstarb.

Der Trauerzug setzte sich in Bewegung. Zwei weiße Särge wurden von einem Pferdegespann den etwa zwei Kilometer langen Weg getragen.

Dahinter hatten sich Laszlo, in einem weißen Talar gehüllt, sowie die Eltern und Angehörigen, in Tränen aufgelöst, versammelt.

Marija hielt ihre Mutter an der Hand, die sich ab und zu mit einem weißen Spitzentaschentuch die Tränen aus dem Gesicht wischte. Marijas Zwillingsbruder Attila lief neben Vater und Großvater her. Großmutter Janna hatte den Arm um Lenas Mutter gelegt.

Das Glockenläuten der Kapelle St. Martin war bis weit in den Ort hinein zu hören. Je näher die Trauernden der Kapelle St. Martin kamen, je weniger zerrissen sie sich die Mäuler. Schließlich schwiegen sie ganz.

Eine beträchtliche Menschenmenge hatte sich angesammelt, teils aus echter Trauer, teils aus reiner Neugierde.

Anfänglich blieb es völlig unklar, ob die Bewohner des Ortes, wie allgemein üblich, solidarisch an der Trauerfeier teilnehmen, oder ob sie diese boykottieren würden.

Sie kamen fast alle.

Selbst der Bürgermeister mit seinem Beamtenstamm und die ach so ehrbaren Geschäftsleute waren erschienen, sogar die Ehefrau des Metzgers. Anton Wrzar jedoch blieb aus fadenscheinigen Gründen der Beerdigung fern.

Marija mochte das Nachbarmädchen Lena sehr, sie hatte immer freundliche Worte für sie und war eine gute Spielkameradin, obwohl sie sieben Jahre älter als Marija war.

An diesem Tag der Beisetzung ging etwas in Marija vor, was sie selbst nicht beschreiben konnte.

Paris, Frankreich - Juli 2017

Clarisse nippte an dem Cognac, den Madeleine ihr hingestellt hatte. Sie saßen sich an der Theke in Madeleines Bar gegenüber und zündeten sich beide eine Zigarette an.

„Bevor Du irgendwelche Tussen zerhackst, solltest Du mir zunächst verraten, was denn genau passiert ist.“ Madeleine versuchte ihre völlig verstörte Freundin zu beruhigen.

Tränenüberströmt war Clarisse bei dem draußen tobenden Unwetter in Madeleines Lokal im Viertel Montparnasse erschienen. Clarisses Schminke war verlaufen und ihr braunes lockiges Haar hing kraftlos an ihr herab.

Die drei weiteren männlichen Gäste, die bereits mit einem erheblichen Alkoholkonsum im Vorsprung waren, machten blöde Bemerkungen, bis Madeleine sie in die Schranken wies und mit Rausschmiss drohte.

„Hast Du jetzt endlich Deinen Macho inflagranti erwischt? Hast jetzt auch Du endlich mitgekriegt, dass er Dich mit halb Paris betrügt?“

„Was? Oh Gott,… Ich war so blöd. So naiv, so geblendet! Ich war all die Jahre nicht mehr ich selbst! Dieser dreckige Widerling!“ Endlich schlug ihr Selbstmitleid in Wut um.

Mit ihrer zittrigen Hand, in der sie auch die Zigarette hielt, führte sie den Cognacschwenker zum Mund und trank den Inhalt in einem Zug aus. Die sich innerlich ausbreitende Wärme des Alkohols tat ihr gut. Madeleine schenkte gleich nach, ohne ihren eigenen Cognac angerührt zu haben.

„Der Mistkerl hat gesagt, er müsse für eine Woche nach Brüssel zu einer Wirtschaftskonferenz. Er hat seine Koffer gepackt und ist gegen 16.20 Uhr mit dem Taxi abgerauscht.“

Madeleine unterbrach Clarisse nicht, nickte nur ab und zu oder schüttelte den Kopf.

„Ich habe mich nach Xaviers Abreise so schrecklich allein gefühlt und wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Deshalb bin ich mit der Metro zum Saint-Michel gefahren. Ich bin über den Saint-Germain des Prés gebummelt und irgendwie hatte ich Lust, im Cluny etwas zu essen und einen Muscadet zu trinken. Ich saß ganz hinten in einer Nische.“ Clarisse schluckte.

„Dann kam Xavier! Ich habe meinen Augen nicht getraut! Er war nicht allein, an seinem Arm hing eine in einen Farbtopf gefallene langbeinige blonde Zicke. Ihr Rock war so knapp und die Bluse so weit offen! Ihr Allerheiligstes war mehr als nur zu erahnen.

Alle Kerle haben sich gleich zu ihr umgedreht und sie hat jeden blöd angegrinst. Mein Typ war auch noch stolz, weil jeder diese Schlampe angaffte. Sie setzten sich in eine Abtrennung in meiner Nähe. Ich befürchtete schon, er hätte mich entdeckt. Sie sahen mich nicht, aber ich konnte sie hören.

Zuerst wollte ich aufstehen und ihm eine knallen und ihr auch, dann aber fingen sie an zu knutschen. Sie sagte etwas von ihrem Höschen, das sie in die Handtasche gesteckt habe.

Ich saß da wie versteinert, wie vor den Kopf geschlagen.“ Clarisse atmete schwer.

Madeleine verzog angeekelt das Gesicht.

„Sie alberten eine Weile herum. Dann sagte sie, sie freue sich so sehr auf diesen Urlaub auf Hawaii. Es fiel mein Name in irgendeinem Zusammenhang, und beide brachen in Gelächter aus. Sie blödelten weiter und ich hörte etwas von Liebe unter Palmen, geilem Sex und Champagnertrinken aus ihrem Bauchnabel.

Irgendwann zahlten sie und nahmen sich ein Taxi. Ich ebenfalls und folgte ihnen bis zum Flughafen.“ Clarisse brauchte einen weiteren Schluck Cognac.

Madeleines verächtlicher Gesichtsausdruck war geblieben. „Die Alte lässt sich aufs Bett reduzieren. So eine hat er verdient, hirnlos aber sexy, wahrscheinlich finanziert er sie auch noch.“

„Ja, was denkst denn Du! Das ist doch seine Masche. Er blendet nicht nur mit seinem Aussehen, sondern auch mit seinem angeblichen Vermögen auf dem Bankkonto.“

„Und? Hat er?“

Clarisse musste lachen: „Ja, ich glaube schon. Ich habe aber keinen Einblick in seine Finanzen. Offensichtlich hat er von einer Großtante ein kleines Sümmchen geerbt, seitdem hat es ihm den Stopfen gezogen.“

Die drei weiteren Gäste an der Theke reckten ihre Hälse und grinsten dumm herüber. Einer hob die Hand, um ein weiteres Getränk zu ordern. Madeleine reagierte und beeilte sich, dem Gast ein neues Glas Wein einzuschenken.

„Ja und dann? Erzähl weiter!“

„Also, ich bin ihnen bis zum Flughafen Charles de Gaulle gefolgt und sah, wie sie tatsächlich in einen Flieger nach Hawaii eincheckten. Von wegen, Konferenz in Brüssel! Dann bin ich nach Hause gefahren und habe mich totgeheult.

Später dann bist Du mir eingefallen - ich wollte nur noch zu Dir.

Kurze Zeit danach habe ich mich tatsächlich aufraffen können, stieg am Trocadéro aus der Metro, um zum Eiffelturm zu gehen. Warum ich das tat, kann ich Dir beim besten Willen nicht sagen. Jetzt bin ich hier“, Clarisse holte erneut tief Luft. Sie schloss die Augen.

Clarisse war sichtlich erschöpft, aber gleichzeitig immens erleichtert, eine Freundin wie Madeleine zu haben.

Von ihrer großzügigen Penthouse-Wohnung des vierten Stockes im noblen Pariser Vorort hatten die Bewohner einen recht atemberaubenden Blick auf ihre Umgebung. Vom Flughafen aus hatte sich Clarisse wieder ein Taxi genommen.

Nun saß Clarisse am komfortablen Schreibtisch, starrte das Telefon an und heulte.

Sollte sie Xavier anrufen? Ihm eine Szene machen? Auch wenn er jetzt das Handy ausgeschaltet hatte, so könnte sie ihm doch auf die Mailbox sprechen. Sie ließ es sein.

Madeleine? Seit Clarisse aus dem Provinznest im Norden Frankreichs in die Millionenmetropole gezogen war, war Madeleine das einzige Wesen in ihrem Umfeld, mit dem sie sich auch als Freundin unterhalten konnte. Sie rief sie jetzt nicht an. Aber sie würde sicherlich später zu ihr gehen. Zu wem auch sonst?

Auch ein Kaffee, den sie sich in der modernen Wohnküche bereitet hatte, half Clarisse jetzt nicht. Sie fühlte sich gedemütigt, hintergangen und zerfloss in Selbstmitleid, suchte zunächst die Schuld bei sich selbst und überlegte, wie sie Xavier zurückerobern könnte. Wollte sie das aber wirklich? Sie wusste es nicht. Clarisse hatte Angst vor dem Alleinsein, allein in dieser großen Stadt, Angst vor einer Veränderung, Angst vor dem Ungewissen.

Draußen regnete es in Strömen. Wie so häufig in Paris, schüttete es wie aus Eimern. Ein verregneter Sommer, pünktlich mit dem Beginn der Sommerferien stellte sich der Regen ein. Zu dieser Jahreszeit wirkte Paris eh wie ausgestorben. Die Einwohner Paris hatten fluchtartig die Metropole verlassen, um sich andernorts in den Ferien zu vergnügen.

Obwohl Clarisse den Regen hasste, rannte sie ziellos hinaus auf die Straße, um von den Wänden ihrer Penthouse Wohnung nicht erdrückt zu werden.

Sie irrte umher, sie wollte zu Madi, fand sich aber in der Metro wieder und stieg am Trocadéro aus. Sie eilte über den Place du Trocadéro, über die Brücke und über die Straße. Normalerweise pulsierte hier tagsüber das Leben.

Es war bereits dreiundzwanzig Uhr und die Besucher des Eiffelturms waren bei diesem Sauwetter schon fast alle fort. Alle Straßenhändler hatten sich in ihren Löchern verkrochen. Die Verkaufsstände waren geschlossen. Unter dem Eiffelturm setzte sie sich auf eine Bank und zerfloss weiterhin in ihrem Selbstmitleid. Sie spürte den Regen nicht.

Clarisse sah zu der Spitze des Eiffelturms, der von unten so gigantisch aussah. Dank der Großzügigkeit der Stadtväter war der Turm hell beleuchtet. Jede Stunde funkelten unzählige Lichter zur Erquickung nicht nur der zahlreichen Besucher. Auch die Bewohner von Paris erfreuten sich daran.

Schon einige Male hatte sie die herrliche Aussicht bei klarem Wetter von der dritten Plattform des Eiffelturms genossen. Einige Male wurde sie von Xavier in das Restaurant des Turms ausgeführt. Immer saßen sie am Fenster, diesen Platz mussten sie extra teuer bezahlen.

Ganz nobel, eben standesgemäß.

„Welch Unterschied“, schoss es ihr durch den Kopf, „ob ich oben oder unten stehe! Von hier unten wirkt er unbezwingbar, von oben strahlt er endlose Ruhe aus.

Als Moses die Zehn Gebote empfing, stand er oben auf dem Berge Horeb im Sinai-Gebirge. Sein Volk feierte vermeintliche Götter unterhalb des Berges. Oben und unten!“

Wieso kam sie auf derartige melancholische Gedanken? Warum war sie jetzt nicht wütend? Weshalb fühlte sie sich so hilflos, so klein unter dem Giganten Eiffelturm?

Erst jetzt bemerkte Clarisse, wie sie jemand eindringlich beobachtete.

Auf einer Sitzbank neben ihr hatte ein Clochard Platz genommen, Clarisse hatte es nicht einmal bemerkt. Er hatte sich eine Plastikplane um Kopf und Körper gespannt. Der Fremde lächelte ihr zu und winkte sie zu sich heran.

Bestimmt wollte er Geld oder eine Zigarette von ihr! Trotzdem stand sie auf und ging zu dem recht freundlich wirkenden alten Mann.

Clarisse konnte sein Alter schlecht einschätzen, vermutlich war er an die siebzig Jahre alt.

Seine Augen verwirrten sie, noch nie hatte Clarisse solch stechende Augen gesehen. Die Augen passten gar nicht zu dem Gesamtbild eines alten Mannes.

„Kommen Sie, Sie zittern ja so schrecklich. Ein warmer Kaffee mit Schuss wird Ihnen guttun!“ Der Akzent war schrecklich.

Keine Bettelei? Keine Frage nach Geld oder einer Zigarette? Stattdessen bot er ihr etwas an? Clarisse war verwirrt.

Aus einer seiner zahlreichen Plastiktaschen zog er eine Warmhaltekanne hervor und schenkte das warme Etwas in zwei Plastikbecher ein. Dankend nahm Clarisse an und setzte sich zu dem Fremden auf die Bank. Hatte er ihr Weinen bemerkt?

„Mademoiselle, das ist doch kein Wetter, um spazieren zu gehen!“

Clarisse lächelte verlegen.

Ein Clochard, der mit einer Fremden seinen sicherlich schwer erbettelten Kaffee mit Cognac teilte? Das Wenige teilte, das er hatte?

Sie wünschte sich, Xavier könnte sie jetzt sehen!

Der Alte prostete ihr zu und trank den Becher leer. Clarisse ebenfalls. Sofort spürte sie, wie sie eine wohlige innere Wärme umgab. Der Regen fiel unerbittlich. Aber es störte die beiden nicht.

„Bei dem Wetter sind nicht viele Flics unterwegs, um mich zu verjagen“, sagte er beiläufig. „Dort wo die Touristen sind, sind Leute wie ich nicht erwünscht. Aber heute ist mein Glückstag. Ein Engländer hat mir das hier geschenkt.“ Er zeigte auf die Thermoskanne.

Sein Akzent deutete auf einen Osteuropäer hin, deshalb fragte Clarisse ihn etwas zögerlich nach seiner Herkunft.

„Hmm. Ich bin jetzt hier. Wo ich herkomme, komme ich her. Wohin es mich verschlägt, dort bin ich.“ Seine Worte klangen traurig und es kam Clarisse so vor, als starrte er voller Heimweh in die Ferne.

„Oh, bitte entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein. Es geht mich ja nichts an! Aber Sie haben einen so interessanten Akzent, deshalb habe ich gefragt.“

Clarisse reichte ihm den Becher zurück und wollte sich erheben, sagte jedoch: „Gibt es für Sie denn keinen trockenen Platz in dieser großen Stadt? Es gibt doch soziale…“

„Oh doch, den gibt es. Ich habe meinen Stammplatz. Und wenn es im Winter zu kalt wird, gehe ich auch schon mal in eines dieser Auffanglager. Heute aber nicht. Heute ist ein besonderer Tag.“

„Haben Sie Geburtstag?“, Clarisse wurde neugierig.

„Nein. Es ist ein Todestag.“

„Oh“, Clarisse wurde verlegen, „wenn ich noch etwas für Sie tun kann…“

Jetzt hoffte Clarisse, er würde sie nach Geld oder einer Zigarette fragen. Aber der alte Mann schüttelte nur den Kopf und nahm ihr endlich den Becher ab. Ein Zeichen dafür, dass er jetzt wohl wieder gerne allein wäre.

„Ich heiße Clarisse, Monsieur.“

„Monsieur? Das hat auch noch nie jemand zu mir gesagt!“, amüsierte er sich. „Sie nennen mich Czygan, Czygan - der Zigeuner.“

Er sah hinter ihr her und murmelte „Angyal.”

Clarisse irrte durch die Stadt, bis sie vor Madeleines Café stand. Über den alten Mann unter dem Eiffelturm im Regen, hatte sie noch lange nachdenken müssen.

Irgendwie hatte sie sich in seiner Nähe wohl gefühlt, gar väterlich behütet.

„Ich habe kein Mitleid mit Dir, Clarisse. Wie oft habe ich gepredigt, lasse den Typen sausen, er belügt und betrügt Dich. Du wolltest es nie hören. Wie oft wollte ich Dich von Deinem Höhenflug herunterholen! Für Dich gab es aber nur diesen Macho und Deine selbstgestrickte schöne Scheinwelt, mit Geld, Pomp und sinnloser Kommunikation mit irgendwelchen aufgetakelten Weibern und aufgeblasenen Typen.

Die Weiber hatten nicht einmal einen eigenen Namen, alle waren adlig, nämlich die Freundin von… oder Gattin von…

Jede Unterhaltung über das Wetter hätte mehr Inhalt gehabt.“

Madeleines Art war direkt, nie falsch. Sie sagte immer, was sie dachte und war ein toller Kumpel. Mit Madeleine konnte man Pferde stehlen, aber wehe, man hatte sie zur Feindin.

„Ja, ich weiß das alles. Aber Madeleine, was sollte ich denn tun? Ich habe keine Eltern mehr, keine Geschwister. Meine alten Freunde sind fort. Sie haben in mein Leben nicht reingepasst, so wie Xavier es immer behauptet hat. Ich habe es ihm geglaubt. Ich habe ihm wirklich alles geglaubt. Wo soll ich denn jetzt hin? Es ist doch seine Wohnung! Madi, ich bin ganz allein!“

„Oh, Du armes Geschöpf! Eine Runde Mitleid! Allein, pah! Lieber allein als so einen beschissenen Kerl an der Seite! Außerdem hast Du doch mich, und das ist schon eine ganze Menge. Arme Clarisse, Du hast doch jede Menge Möglichkeiten.“

„Lasse das bitte, ich kann jetzt keinen Zynismus ertragen!“

„Nun sei nicht so empfindlich, ich will doch nur Deine grauen Zellen aktivieren. Sehen wir es einfach objektiv und sachlich.

Du kannst so weitermachen und so tun, als sei nichts gewesen, er hat Dich offensichtlich nicht gesehen. Du hast es – und, Du kannst mir hier nichts anderes erzählen – immer gewusst! Er hat sich ausgiebig nebenher anderweitig vergnügt – Du hast das bislang schweigend auch geschluckt. Vielleicht ändert sich Dein Gefühl für ihn jetzt, aber wenn Du dumm genug bist, bleibst Du bei ihm. Damit hältst Du Dein bisheriges Leben aufrecht. Du tolerierst und akzeptierst.“

„Madeleine, das ist aber wohl jetzt nicht Dein Ernst, oder? Ich habe ihm nie etwas nachweisen können und habe immer gedacht, die anderen seien nur neidisch auf ihn, auf mich, auf alles eben.

Ich war auch noch stolz darauf, wenn Xavier und mir unser Glück missgönnt wurde. Ich habe mir eingeredet, die Leute schüren Gerüchte aus Neid. Ach, was weiß ich, was ich alles gedacht habe. Mensch, bin ich bescheuert! Dumm! Leichtgläubig! Naiv!

Xavier hat zudem auch immer alle Vorwürfe oder Gerüchte bestritten und mich als grundlos eifersüchtig hingestellt!“ Clarisse war empört.

„Oh doch, meine Liebe, ich meine das sehr ernst, denn ich weiß nicht, ob Du nicht nur verletzt bist und ihn jetzt nur aus Wut zur Hölle schicken willst. Wenn er Dich morgen wieder anlächelt, schmilzt Du wieder wie Eis dahin, dann ist alles wieder gut und vergessen und verziehen.

Ich wette, Du hast auch schon daran gedacht, ihn anzurufen. Sicher glaubst Du auch, an allem selbst schuld zu sein, weil Du wieder alles falsch gemacht hast.“ Madeleine zog den rechten Mundwinkel hoch und blickte Clarisse an.

Wenn Clarisse es nicht besser wüsste, würde sie denken, Madeleine sei schadenfroh.

Clarisse wollte etwas sagen, ließ es dann aber und atmete stattdessen tief aus. Sie überließ Madeleine das Feld.

„Weißt Du, der Mensch kann sich an Verletzungen auch gewöhnen, der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Dieses Tier ist auch anpassungsfähig. Du musst wissen, was Dir wichtiger ist. Dein Wohlbefinden oder Dein Lebensstandard, Dein Status oder Deine Achtung vor Dir selbst.

Du kannst lernen, mit den Verletzungen umzugehen und Dich selbst damit verraten und alle Demütigungen leise schweigend hinnehmen.

Meine Güte, es gibt genug Frauen, die das können, um nach Außen den Schein der heilen Welt aufrecht zu erhalten! Stolz und augenscheinlich unantastbar. Sie stellen ihre eigenen Qualen in den Hintergrund. Das persönliche Umfeld erfährt sehr oft nie etwas, in anderen Fällen erst sehr viel später von dem Beziehungsdesaster. Dann wundern sich alle, weshalb dieses scheinbar so glückliche Paar auseinander ging.

Ich sagte ja, wenn erst einmal die Wut verraucht ist und Xavier Dich mit seinem Lächeln und einem großzügigen Geschenk wieder um den Finger wickelt…“

„Madi, hör auf damit! Nein und nochmals nein!“, Clarisse unterbrach ihre Freundin heftig.

Die drei Gäste sahen zu ihnen hinüber in der Hoffnung, etwas von der Unterhaltung aufzuschnappen.

„Braves Mädchen“, Madeleine wurde sanfter, „dann gibt’s Hoffnung und für Dich noch eine ganze Menge anderer Möglichkeiten.“

„Ja, ich bringe ihn um!“

„Zum Beispiel! Und die halbe Frauenwelt auch?“

„Blödsinn!“

„Wenn Du ihn umbringst, was Du ja sowieso nicht tust, handelst Du Dir eine Menge Ärger ein.

Nein meine Liebe, Du musst ihn da treffen, wo es ihm richtig, ich meine so ganz richtig weh tut!

Etwas, woran er lange zehrt. So Du denn Rache willst! Damit verlierst Du ihn dann aber endgültig.“ Madeleines Grinsen wurde heimtückisch, ihre Augen hatten plötzlich einen sonderbaren Glanz bekommen.

„Ja, Rache! Mich dürstet danach. Er hat mein Leben zerstört.“

„Das hat er schon an dem Tag getan, als Du auf ihn hereingefallen bist! Selbst wenn dieser Kerl Dir ewige Treue schwört, landet er früher oder später wieder in einem anderen Bett. Das musst Du wissen, damit musst Du leben, wenn Du seine Partnerin bist.“

„Ich sagte doch, es ist aus!“

„Bist Du sicher? In anderen Kulturen haben Männer auch mehrere Ehefrauen, eine davon ist die Hauptfrau, die anderen leben entweder im Harem oder in Gemeinschaft zusammen, vielleicht darfst Du dann die Hauptfrau sein!“

„Ach Madi, bitte! Ich weiß, viele Frauen kriechen ihren Kerlen hinterher, ich nicht! Einmal Schläger, immer Schläger, einmal Betrüger, immer Betrüger. Ich will nicht eine von Vielen sein, auch nicht die Erste. Ich will die Einzige sein! Kannst Du das verstehen?“

„Nun denn, dann sollten wir besonnen handeln. Überlege, wie und womit Du ihn am meisten triffst.“

„Da brauche ich gar nicht erst lange zu überlegen. Sein Geld, seine Eitelkeit, sein Image, seine Statussymbole. Das sind seine vier Heiligtümer.“

„Dann wird es allerhöchste Zeit, seine vier Säulen zum Einsturz zu bringen!“

Madeleine ging zu ihren übrigen Gästen, um zu kassieren. Sie wollte sie loswerden. Der Regen hatte aufgehört. Mürrisch trotteten die Gäste einer nach dem anderen zur Tür, dabei warfen sie Clarisse einen schmachtenden Blick zu.

„So, jetzt sperre ich ab, dann machen wir einen Schlachtplan.“

Clarisse hatte Madeleine auf einer dieser vornehmen Vernissagen kennengelernt. Damals hatte Clarisse Xavier begleitet, der mit diesem aufstrebenden Künstler näher befreundet war.

Xavier war immer dann mit jemandem befreundet, wenn er darin einen Vorteil für sich sah.

Die Werke des Künstlers wirkten auf Clarisse eher wie einem kranken Hirn entsprungen. Bunte Farbklekse kombiniert mit Fratzen. Ein Kindergartenkind hätte das ihrer Meinung nach nicht schlechter gemacht. Aber von dieser Art von Kunst verstand sie eben nichts, wie Xavier ihr mehr als einmal klarmachte.

„Gebe lieber keinen Kommentar in der Öffentlichkeit ab, damit nicht gleich jeder merkt, wie naiv und unwissend Du bist“, riet er ihr. „Manchmal bist Du schon recht peinlich, mein Häschen.“

Die Vernissage war eine große Last für Clarisse, keinesfalls war mit einem unterhaltsamen Abend zu rechnen.

Wie immer kannte Xavier Gott und die Welt und stellte Clarisse nach einiger Zeit in einer Frauenrunde einfach ab.

Clarisse kannte diese Frauen überhaupt nicht, wirklich sympathisch war ihr auch keine von ihnen.

Die Zicken grüßten kurz und abfällig, nachdem sie sie von oben bis unten gemustert hatten und beachteten Clarisse zunächst nicht weiter. Jeder dieser ausgemergelten Körper steckte in einem teuren Designerfummel, ihre Füße steckten in hochhackigen Designerschuhen, an den goldbehangenen Armen baumelten sündhaft teure Designertaschen.

Die angemalten Gesichter glichen den Bildern des Künstlers. Die jeweilige Haarpracht der Damen war von In-Figaros zu eigenartigen Formen kreiert. Sie wetteiferten damit, mit dem teuersten Schmuck behangen zu sein.

Die bunt geschminkten Silikongesichter konnten nur ein Lächeln hervorbringen, wenn sie über andere Frauen und deren Geschmacksverirrungen herziehen konnten, oder aber sich mit eigenen materiell erworbenen Dingen hervortaten.

Clarisse konnte mit dem Designerwahn durchaus mithalten. Xavier war stets darauf bedacht, sie auch in seiner Gegenwart mit den teuren Fummeln zu schmücken, schließlich wollte er sich ja nicht blamieren.

Die geistlosen Gespräche über Schuhe, Fingernägel und Friseur langweilten Clarisse jedoch maßlos.

Clarisse selbst verbrachte mehr Zeit beim Friseur und bei der Mani- und Pediküre als zu Hause. Manchmal waren ihr diese Beautytermine sehr lästig. Sie hatte mehr Termine in ihrem Kalender stehen als ein fleißiger Geschäftsmann, aber es waren eben nur Termine in verschiedenen und angesagten Schönheitssalons.

Clarisse sehnte sich nach zerzausten Haaren, einem Jogginganzug und abgebrochenen Fingernägeln.

Irgendwann tauchte Madeleine auf. Sie war mit dem Catering-Service beauftragt worden und stand hinter dem reichhaltigen Buffet.

Die Designerkörper achteten stets darauf, die kleinsten Häppchen auf ihre Teller zu legen und versicherten einige Male zu oft, nicht wegen der Figur so sparsam zu essen, sondern sie hätten schlichtweg keinen Hunger.

Die Männerwelt langte ordentlich zu, auch Clarisse füllte ihren Teller. Xavier erschien und stauchte sie deshalb zusammen.

„Passe Dich gefälligst an, sie reden schon alle über Dich!“

Damit ließ er Clarisse einfach stehen, nicht ohne ihr den Teller aus der Hand zu nehmen und diesen irgendwo abzustellen, dann wandte er sich wieder mit seinem charmanten Lächeln einer jungen Dame zu.

„Essen Sie, was Ihr Herz begehrt“, sagte die korpulente Buffetdame mit einem freundlichen Lächeln zu Clarisse. „Sie können es bestimmt vertragen. Dann sackt auch der Champagner besser! Lassen Sie die anderen doch reden.“ Madeleine reichte ihr einen neuen, gefüllten Teller.

Clarisse lächelte Madeleine zurück, kam sich aber ziemlich verlassen und verunsichert vor. Sie hatte wieder einen Fehler gemacht und Xavier würde tagelang noch darauf herumhacken, bei jeder Gelegenheit.

„Na ja, ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ich habe mir gar nichts dabei gedacht.“ Jetzt hatte sie auch noch ein schlechtes Gewissen, einen neuen Teller in der Hand zu haben.

„Herrje, ich weiß nicht, was die Männer an Euch magersüchtigen Püppchen finden. Das kann doch nicht gesund sein. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen! Nee, das wäre nichts für mich. Ich will im Leben auch Spaß haben.“

Clarisse starrte Madeleine an. Spaß haben? Die Frau ihr gegenüber schien die Lebensfreude pur zu sein.

„Fängt Spaß beim Essen an?“

„Natürlich! Eine richtige Ernährung steigert sehr wohl das sogenannte allgemeine Wohlbefinden. Wohlbefinden steigert Lebensfreude. Und ich bin sehr lebenslustig!“

Jetzt mussten beide lachen. Clarisse spürte die Blicke der Silikonfrauen und Xaviers. Wie plump. Sie albert mit einer Bediensteten, die zudem so gar nicht ins Klischee passte.

Eine Frau, die so gar nicht auf ihre Hüften achtete. Na so etwas!

„Gefällt Ihnen das denn hier tatsächlich? Brauchen Sie in der Tat Unterhaltungen dieser Art? Erfüllt das tatsächlich Ihr Leben, von einer Party zur anderen zu hetzen, von einem teuren Kleid ins andere zu steigen?“ Madeleine hielt das Gespräch aufrecht.

„Nein, nicht wirklich.“

„Ich habe es Ihnen angesehen, irgendwie scheinen Sie hier nicht dazuzugehören.“

Clarisse erschrak. Wieso sagte die Buffetdame das jetzt? War sie schlechter geschminkt oder gekleidet als die anderen Vernissage-Besucherinnen?

Madeleine, die diesen Blick sofort verstand, besänftigte sie: „Ich habe den Eindruck, hinter Ihrer Fassade steckt etwas mehr als nur ein schöner Körper. Ich denke, Sie haben ein bisschen mehr Grips in Ihrem hübschen Köpfchen, als erwünscht. Und außerdem finde ich, Sie fühlen sich hier gar nicht so richtig wohl. Ich heiße übrigens Madeleine de Nors. Im Gegensatz zu den anderen hier, habe ich einen eigenen Namen. Ich bin nicht diejenige von dem Herrn sowieso.“

Clarisse verstand zunächst nicht, dann musste sie abermals herzlich lachen. Der Bann war gebrochen.

„Clarisse Leclerc. Ja, ich habe Archäologie studiert, aber Xavier, also mein Lebensgefährte, meint, ich solle mich nicht mit diesen verstaubten Dingen beschäftigen. Bisher habe ich in einem Museum gearbeitet, aber ich werde den Job wohl aufgeben.“ Ihre Stimme klang traurig.

„Den Job aufgeben, weil er es will? Tun Sie das nicht, damit würden Sie in kurzer Zeit den letzten Teil Ihrer Eigenständigkeit verlieren!“

Clarisse zuckte nur die Schultern.

„Wenn Sie Lust haben, kommen Sie doch einmal in meine kleine Bar in Montparnasse „Chez Madi“. Ist nicht zu verfehlen. Dann können wir uns ungezwungener unterhalten.“

Madeleine hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als Xavier Clarisse mit einem zu festen Griff am Ellenbogen packte und sie grob wegzerrte, um sie wieder bei den anderen ausgemergelten Körpern zu parken.

Noch auf dem Nachhauseweg hackte Xavier ständig auf Clarisse herum. „Was unterhältst Du Dich denn mit der fetten Qualle. Das ist ja wohl nicht ganz unser Stil, mein Häschen. Du hast mich furchtbar blamiert. Wie ein dummer Bauerntrampel! Du bist und bleibst niveaulos!“

„Ich wollte nur freundlich sein.“

„Freundlich sein? Du musst zu so einer nicht freundlich sein! Die anderen haben Dich schon ziemlich beäugt und die Nasen gerümpft.“

Clarisse hatte sein Image angekratzt. Hoffentlich konnte sie das wiedergutmachen. Wieso machte sie eigentlich immer etwas falsch? Wieso fand aber nur Xavier permanent Fehler? Wieso empfand sie die Dinge, die sie tat, als richtig?

Eigentlich hatte Clarisse nie wirklich vorgehabt, Madeleine in dem Café zu besuchen. Xavier hätte das sowieso niemals geduldet. Freunde suchte man sich unter Seinesgleichen, nur waren dort für Clarisse keine.

An einem langweiligen Mittwoch im Herbst war Clarisse mit der Metro zum Shoppen gefahren und fand sich in einer Parfümerie am Bahnhof von Montparnasse wieder. Zeit für einen Kaffee!

Dann fiel ihr Madeleine ein und mehr unbewusst hielt sie Ausschau nach dem Café. Dies war der Beginn einer festen und innigen Freundschaft, von der aber Xavier niemals etwas erfahren durfte.

Verleugnet man seine Freunde?

Vonhegy, Plattensee, Ungarn - 1969

Im Ort herrschte lähmendes Entsetzen.

Im Waldstück oberhalb des Balatons wurde die nackte Leiche der seit drei Tagen vermissten, jungen Frau gefunden.

Um ihren Hals war ein Schal gewickelt und zugezogen worden. Die Haare waren abgeschnitten, der dicke Zopf, der zu Lebzeiten das Haupt des Mädchens zierte, lag auf ihrer Brust. Das Opfer war an Händen und Füßen gefesselt.

Die Bekleidung war noch vorhanden.

Eine Obduktion ergab überhaupt keine Anzeichen von Kampfspuren. Dem armen Geschöpf war zuvor ein Betäubungsmittel verabreicht worden.

Keine Anzeichen sexueller Gewalt.

Keine weiteren Tatortspuren.

Der Gerichtsmediziner fand später bei der Obduktion der Leiche im Mund des Opfers eine aus der Bibel herausgerissene Seite.

Die Zehn Gebote Gottes!

Die örtliche Polizei klärte den Mord schnell auf, die Bevölkerung war beruhigt.

Der Verlobte von Annamaria, dem Opfer, wurde verhaftet und in einem Schnellverfahren zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Natürlich beteuerte Nandor Hetesi immer wieder unter Tränen seine Unschuld. Vergebens!

Zeugen hatten am Tag des Verschwindens des Mädchens beobachtet, wie sich die beiden auf einem Dorffest stritten und Nandor seine Verlobte einfach stehen ließ. Manche Zeugen behaupteten sogar, Annamaria habe ihn weggeschubst.

Wahrscheinlich, so die kommunizierte Theorie, habe er ihr aufgelauert, sie in das Waldstück gezerrt und sie dort getötet.

Quantico, USA - Ende Mai 2017

Im Grunde war Charleene froh, es war endlich vorbei. Vorbei, ohne richtig begonnen zu haben. Seit vier Jahren ging Theo bei ihr ein und aus, vier Jahre lang nahm er für sich in Anspruch zu kommen und zu gehen, wann immer es ihm passte, zu jeder Tages- und vor allem zu jeder Nachtzeit.

Manchmal schlief er nur seinen Rausch aus, manchmal war er einige Tage ein behutsamer Liebhaber, um dann wieder auf unbestimmte Zeit zu verschwinden.

Vier lange Jahre, ohne die Beziehung in den Griff zu bekommen, vier Jahre ohne Liebe, nur als Mittel zum Zweck, aus Zeitgründen, aus Bequemlichkeit, ohne Planung einer gemeinsamen Zukunft.

Theo war allgegenwärtig, als Charleenes Arbeitskollege, nur ein paar Türen weiter. Trotzdem sahen sie sich im Büro kaum. Es gelang ihnen erstaunlich gut, bei den wenigen Begegnungen während der Arbeitszeit die erforderliche Distanz zu bewahren und Privates mit Geschäftlichem nicht zu vermischen, obwohl alle Kollegen und auch die Vorgesetzten von diesem Verhältnis Kenntnis hatten.

Es gab ein paar Dinge, die sie gemeinsam unternahmen. Sie gingen aus, gingen Joggen oder zum Segeln. Ein- oder zweimal hatten sie sogar ein verlängertes Wochenende in einer anderen Stadt miteinander verbracht. Nicht mehr.

Niemals gab es – allerdings von keiner Seite – ein „ I love you“, auch ein „I like you“ gehörte nicht zu dem alltagtäglichen Wortschatz. Kaum Geschenke, höchstens für ein paar seiner Affären. Hier und da ging er auch neuerdings zu Prostituierten. Für diese entwickelte Theo in letzter Zeit eine besondere Vorliebe. Sex ohne Verpflichtung: zahlen und gehen.

Theo erzählte sogar manchmal von seinen Affären. Er brauche solche Exzesse zur Entspannung, zum Stressabbau, und außerdem führe er ja sowieso mit Charleene eine lockere Beziehung.

Charleene hatte inzwischen erkannt, weder sie noch Theo waren bereit, sich aneinander zu binden. So tat Charleene den ersten Schritt.

Im Laufe der Zeit litt ihr Selbstwertgefühl erheblich. Für sie war die Zeit mit Theo alles andere als eine Erholung zwischen all den beruflichen Anspannungen. Immer wieder erwischte sie sich dabei, wie sie über ihre private und berufliche Zukunft nachdachte.

Dabei fand Theo keinen Platz.

Deshalb packte sie eines Tages alle seine Sachen in einen Karton und stellte ihn auf seinen Schreibtisch im Büro. Theo, der sich gerade einen Kaffee geholt hatte, hätte fast seine Tasse fallen gelassen.

„Theo, ich werde die Sache zwischen uns hiermit beenden. Und bitte, akzeptiere meine Entscheidung.“

„Was ist denn in Dich gefahren?“ Theo starrte sie verwirrt an.

„Nun gut, kein Problem. Andere Mütter haben auch schöne Töchter, die nur auf mich warten. So long Baby.“

Das war das kurze, aber endgültige Ende einer vierjährigen Beziehung. Keine weiteren Äußerungen von keiner Seite. Damit war das Thema Theo auch für Charleene erledigt.

Es fühlte sich gut an, so gut wie seit vier Jahren nicht mehr.

Theo war fair und zog nicht über sie her, umgekehrt tat sie ihm gleich. Fairplay. Wenigstens etwas!

Charleene war achtunddreißig Jahre alt und fühlte sich endlich wieder auch so. In den vergangenen Monaten hatte sie nämlich gedacht, sie stünde kurz vor dem Rentenalter.

Die Zeit mit dem unzuverlässigen Lover hatte gezerrt, an ihrem Gemüt, an ihrem Aussehen.

Damit war jetzt ein für alle Mal Schluss! Sie würde ab sofort wieder mehr auf sich Acht geben.

Als sie die Bürotür geschlossen hatte, atmete sie mehrmals tief durch, holte sich einen Kaffee und stürzte sich wieder in die Arbeit.

Kein einziger Gedanke mehr an Theo.

„John, kann ich zu Dir herüberkommen? Ich muss mit Dir dringend reden.“

„Ja immer“, kam die Stimme vom anderen Ende des Telefons, „in zehn Minuten, okay?“

„Bis gleich.“

Charleene massierte ihre Schläfen. Der lange Arbeitstag neigte sich dem Ende zu. Sie hatte einen Entschluss gefasst. John, ihr Vorgesetzter, würde es akzeptieren. Dessen war sie sich sicher.

Die Hitze des Tages hatte allen zu schaffen gemacht, dennoch war Charleenes Stimmung besser als in den letzten Monaten.

Sie erfrischte sich noch kurz auf der Damentoilette, bevor sie an Johns Bürotür klopfte.

„Komm schon rein!“

„Danke, dass Du Dir noch für mich Zeit nimmst.“

John saß an einem klotzigen Schreibtisch. Mit der Hand deutete er ihr, sich zu setzen.

Charleene machte es sich in einem der weichen Ledersessel, die gegenüber dem mit Akten übersäten Schreibtisch standen, bequem und schlug ihre langen, braungebrannten Beine übereinander.

Sie wirkte heute auf John ausgesprochen jung, beinahe jugendhaft. Ihre Figur war eher die einer zwanzigjährigen Frau, die enge halblange stonewashed Jeans, und das enge T-Shirt machten es zudem ihrem Gegenüber nicht leicht, sich auf eine ernsthafte Unterhaltung zu konzentrieren, zumal auch die anderen Proportionen ihres Körpers mit dem Gesamtpaket harmonisierten. Ihr schwarzes dichtes schulterlanges Haar fiel auf den weißen Sommerblazer, den sie sich noch kurz vor dem Anklopfen übergezogen hatte.

Am Ende ihrer langen Beine bemerkte John hübsche Absatzsandalen und rot lackierte Zehennägel. Der gleiche Farbton fand sich auf ihren Fingernägeln und auf ihren Lippen wieder.

Charleene trug nie üppig aufgetragenes Make-up. Lediglich ihre Wimpern der ohnehin stechenden dunkelbraunen Augen und einen Kajalstrich gönnte sie sich, manchmal auch einen Lippenstift.

„Ich höre! Was liegt an?“ John, Charleenes direkter Vorgesetzter beim FBI, schaute freundlich in ihr Gesicht. Er stand kurz vor der Pensionierung, was ihn jedoch keinesfalls daran hinderte, die Reize der Damenwelt bereitwillig anzunehmen und für diese empfänglich zu sein.

Vor zehn Jahren verstarb Johns Frau, seither hatte er nie wieder geheiratet.

Trotz seines Alters war noch kein graues Haar zu entdecken, sein Gesicht war falten- und bartlos. Seine Lesebrille wippte auf der Nase, und wenn er über diese hinaus äugte, konnte sein Gegenüber seine lustigen grasgrünen Augen wie einen Pfeil in der Brust spüren.

John Majors war nicht sonderlich groß, seine Figur jedoch ausgesprochen athletisch, worum ihn viele seiner jüngeren Kollegen beneideten. Auch konditionell konnte er durchaus noch im FBI-Fitnessstudio mithalten. Alle Achtung, John!

„Ich würde gerne Urlaub nehmen. Ich meine für etwas längere Zeit.“

John Majors zog die Augenbrauen hoch. „Urlaub? Du? Das ist ja ganz etwas Neues. Seit wann hast Du dieses Fremdwort in Deinem Vokabular? Ich kann mich nicht erinnern, dieses Wort jemals von Dir gehört zu haben! Den Urlaub der letzten fünfzehn Jahre? Dann sehen wir uns in… neunzig Wochen wieder?“

Charleene musste lachen. „Nein, so lange nun auch wieder nicht. Ich komme noch vor Deiner Pensionierung zurück. Versprochen!“

„Natürlich genehmigt. Wann, wie lange, wohin? Aber ich kenne Dich besser! Wirklich Urlaub?“

„Ich brauche wirklich eine Auszeit. Ich dachte an sechs Wochen. Über fünfzehn Jahre arbeite ich jetzt für Dich, fünfzehn Jahre mit Toten aller erdenklichen Varianten. Fünfzehn Jahre lang jage ich einen Mörder nach dem anderen. Erwischen wir einen, kommen zwei andere nach. Es hört nie auf.“

Charleene atmete tief durch. „Du hast Recht, ich habe nie Urlaub gemacht. Die forensische Pathologie muss einfach ein paar Wochen ohne mich auskommen.“

„Ja, aber es wird eine Lücke entstehen, weil alle auf Deine Kommandos warten.“

Charleene war in der Tat eine unentbehrliche Kraft in der Pathologie. Ihr Gespür für das Wesentliche überraschte Kollegen ebenso wie Vorgesetzte.

Da sie sich zudem noch mit dem Profiling der Täter und Tatabläufe beschäftigte, war sie oftmals diejenige, die den ermittelnden Beamten den entscheidenden Hinweis gab.

Charleene hatte ihren Beruf als Berufung angesehen. Besonders interessiert war sie an unaufgeklärten Serienmorden. Mehr als einmal wurde ihre Hilfe im Ausland angefordert. Als forensische Pathologin ebenso, wie auch als Profilerin.

Als seinerzeit der Tsunami in Süd-Ost Asien mehrere hunderttausend Menschen in den Tod riss, war sie eine derjenigen gewesen, die sich freiwillig in dem Ärzteteam zur Identifizierung der Leichen meldete. Selbst sie, die im zarten Alter von vierundzwanzig Jahren schon einiges gesehen hatte, konnte dieses Grauen nicht mehr abschütteln.

„Na, das Team ist okay, jeder Einzelne im Team kann Verantwortung tragen.“

„Ja, ich weiß es, Charly! Ich habe mich schon oft gefragt, wie lange Du noch in diesem Tempo weitermachen willst.

Also nochmals, der Urlaub ist genehmigt. Wann soll ich ihn eintragen?“

„Am liebsten so schnell wie möglich, bevor ich es mir wieder anders überlege.“

„Eine Bedingung stelle ich, Du musst mir versprechen, Dich wirklich zu erholen! Fahre auf eine einsame Insel oder in die Wüste, Hauptsache menschenleer, keine Leichen, kein Telefon! Wie ist Dein Plan?“

„Ich werde nach Europa fliegen und dann mit einem Caravan von Land zu Land ziehen. Davon träume ich schon lange. Das habe ich als Kind schon so spannend gefunden. Da wo es mir gefällt, dort bleibe ich länger. Ich werde mir über das kommende Wochenende darüber Gedanken machen.“

Ihr Ton verriet sie, eigentlich wusste Charleene schon ganz genau, wohin die Reise gehen würde. John grinste ununterbrochen.

Ohne anzuklopfen, wurde plötzlich die Tür aufgerissen und Lewis de Naro schoss ins Zimmer.

Eine seiner Angewohnheiten, die ihn noch snobistischer wirken ließ als er ohnehin schon war. Arrogant und immer den Oberchef heraushängend, erfreute er sich allgemeiner Unbeliebtheit. Er brauchte das wohl für sein Ego, er war stets darauf bedacht zu zeigen, wer der Allmächtige war.

Charleene hatte sich erhoben und reichte John freundlich und dankbar die Hand, zwinkerte ihm zu und wollte den Raum verlassen. Lewis hinderte sie jedoch mit einer Handbewegung daran. Charleene blieb nichts anderes übrig, als wieder Platz zu nehmen.

John hatte ihr gegenüber einmal behauptet, Lewis würde sogar Petrus am Himmelstor überrennen, um zum Herrgott zu gelangen und um diesem dann den Platz als Chef streitig zu machen. Er würde auch nicht ausschließen, dass Lewis das Tor zur Hölle aufstoßen würde, um den Teufel aus seinem Reich zu verjagen.

Mit einem knappen „Hallo“ plumpste Lewis in den noch freien Sessel und starrte beide erwartungsvoll an. In seinem Büro geschah nichts, von dem er nicht Wind bekam.

Lewis FC de Naro, was immer dieses FC bedeuten mochte, Charleene vermutete Fan Club, erwartete also eine Erklärung für dieses Zusammentreffen zwischen Charleene und John.

FC war gute eins fünfundneunzig groß und kräftig, hellhaarig und weißhäutig, sein Aussehen kam beinahe an das eines Albinos heran. Seine Ohren standen etwas ab und seine Nase war viel zu klein und stellte sich seltsam nach oben. Der gestylte Schnurrbart gefiel allerdings nur ihm, seine Lippen waren ein dünner Strich. De Naros Kleidung hingegen kam stets von den erlesensten Designern, besonders französische Designer hatten es ihm angetan.

Dennoch hatte er auch eine andere Seite. Er war alle Zeit ein korrekter und fairer Chef, mit dem sogar hochinteressante Kommunikation möglich war. Seine brillante Kombinationsgabe wurde allseits hochgelobt. Korruption oder Vertuschungen gab es unter seiner Leitung nicht.

Charleene trug ihr Ansinnen nochmals vor, John nickte zwischendurch.

FC legte seine linke Hand über Mund und Nase und sah Charleene eindringlich an.

„Schön und gut, Agentin Charly Yenac, Europa ja, Urlaub nein.“

John und Charleene sahen sich verwundert an.

„Sir, ich habe wirklich noch nie Urlaub beantragt, dies ist das erste Mal…“

FC ließ sie nicht ausreden.

„Wir sind aus Europa von höchster Stelle um Hilfe gebeten worden. Und wenn ich sage von höchster Stelle, dann meine ich von höchster Stelle. Mich hat vor ein paar Minuten der Präsident der Republik Frankreich höchstpersönlich angerufen.

Es trifft sich ausgesprochen gut, wenn Sie nach Europa reisen wollen. Aber ich fürchte, Sie müssen Ihren Urlaub verschieben oder – wenn Sie dann schon in Europa sind – anhängen.“

Charleene verstand nichts.

Das, was FC dann präsentierte, ließ Charlys Ärger verfliegen und machte sie für diese Aufgabe neugierig. Sie würde sofort die Reisevorbereitungen treffen.

Lewis hatte zugesagt, ihr alle Akten dieser ungeklärten Mordfälle noch heute auf ihren Schreibtisch zu legen. Auch John konnte nicht anders, als zuzustimmen.

Charly war sicher die richtige Personalwahl in diesen heiklen Fällen.

Charleene verabschiedete sich förmlich von ihren beiden Vorgesetzen, wobei sich FC sogar aus seinem Sessel erhob. Noch beim Hinausgehen spürte sie FCs Augen in ihrem Rücken.

Lewis bedauerte einmal mehr, sie nicht mit seinen Blicken ausziehen zu können. Bedauerlich auch, weil es ihm nicht gelang, einen Blick auf ihren wohlgeformten Po zu werfen, da dieser durch den Blazer verdeckt wurde.

Specialagentin Yenac ging über den langen Flur in Richtung der Pathologie, um ihre forensische Arbeit aufzunehmen.

Noch ahnte niemand, wie folgenschwer die Entscheidung sich erweisen sollte, Charleene nach Europa zu schicken, denn dies war ein erster Schritt in ihr neues Leben.

Vonhegy, Plattensee, Ungarn - 1951

Die Kirschbäume in den Gärten trugen bereits reife Früchte. Saftige Kirschen hingen dicht an dicht, glänzend rot. Es hatte den Anschein, als würden diese Bäume unter ihrer süßen Last zusammenbrechen. Die Ernte würde in den nächsten Tagen beginnen, und die gesamte Familie würde helfen.

Großmutter Janna würde mit dem Ernteüberschuss nach Keszthely zum Markt laufen und dadurch mit den paar wenigen erwirtschafteten Forint zum Lebensunterhalt beitragen.

Bestimmt aber würde sie wieder die Hälfte der Ernte ins Armenhaus bringen, damit auch die von Gott verlassenen Kreaturen einmal etwas anderes als Fischsuppe bekämen.

Sie trug ohnehin stets einen beträchtlichen Teil der selbst gezogenen und geernteten Gartenfrüchte ins Armenhaus, egal ob Paprika, Melonen, Salat, Tomaten oder Kartoffeln, Äpfel, Trauben oder Birnen, alles wurde dankbar angenommen.

Sie sah es als ihre unumstößliche Pflicht an, als Mutter des katholischen Gemeindepfarrers, ihren in der Bibel fundierten obligatorischen Zehnten Teil zu opfern. Der Zehnte war ihr aber nicht genug, und so gehörte die alte Dame mit ihren dicken Wollstrümpfen, die sie zu jeder Jahreszeit trug, einen Bollerwagen voll beladen mit eigener Ernte hinter sich herziehend, zum stets präsenten Bild der Dorfgemeinschaft. Die alte Dame trug