Die Albenmark - Bernhard Hennen - E-Book

Die Albenmark E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Seit Jahren kämpft der Bund der Elfen und freien Völker des Fjordlands in einem schrecklichen Krieg gegen die Tjuredkirche. Die mächtigen Ordenskrieger erringen Sieg um Sieg, und Gishild, die letzte Herrscherin der Fjordländer, wurde als Kind von ihren Feinden verschleppt. Die Hoffnung, sie jemals wiederzufinden, ist schon lange erloschen. Niemand ahnt, dass die ebenso schöne wie kluge Prinzessin in der Ordensburg der Tjuredkirche gefangen gehalten wird. Dort soll sie zur Kriegerin gegen ihr eigenes Volk ausgebildet werden, doch Gishild widersetzt sich standhaft – bis sie dem jungen Novizen Luc begegnet und sich in ihn verliebt. Damit scheint das Schicksal aller Albenkinder für immer besiegelt ...

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Seitenzahl: 799

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DASBUCH

Gishild sah, wie viel Blut aus Lucs Wunde quoll, und Eiseskälte breitete sich in ihr aus. »Hilf den anderen! Mach dich nützlich!«, herrschte Drustan sie plötzlich an. Die Prinzessin griff nach Lucs Hand. Sie war entsetzlich kalt. Ihr Platz war an seiner Seite. Er war doch ihr Ritter!

Seit Jahren kämpft das Bündnis aus Fjordländern und Elfen in einem schrecklichen Krieg gegen die Ritter der Tjuredkirche. Die mächtigen Ordenskrieger erringen Sieg um Sieg und treiben ihre Feinde immer weiter in die Enge. Gishild, das einzige Kind König Gunnar Eichenarms und seine Thronfolgerin, ist die letzte Hoffnung der freien Völker des Fjordlands. Doch sie wurde als junges Mädchen entführt und wird seither auf Burg Valloncour, dem sagenumwobenen Hauptsitz der Tjuredkirche, gefangen gehalten.

Zunächst wiedersetzt sich Gishild den Lehren der Ordensritter, aber dann begegnet sie eines Tages dem jungen Luc, einem tapferen Krieger im Namen Tjureds. Sie verliebt sich in ihn, und von dieser Stunde an sind die Prinzessin und der Ritternovize unzertrennlich. Ist damit das Schicksal aller Albenkinder und der Fjordländer für immer besiegelt, oder wird sich Gishild, die am Hofe ihres Vaters von Elfen erzogen wurde, auf ihr Erbe besinnen und an der Spitze des magischen Bundes für die Freiheit kämpfen?

DERAUTOR

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

»In seinen Romanen inszeniert Bernhard Hennen ein bildgewaltiges Kopfkino.« NEUEWESTFÄLISCHE

»Man nennt ihn auch den HERRNDERELFEN. Bernhard Hennen ist der zurzeit erfolgreichste Fantasy Autor im deutschsprachigen Raum.« EXPRESS

»Bernhard Hennens Elfen-Romane gehören zum Besten, was die Fantasy je hervorgebracht hat.« WOLFGANGHOHLBEIN

BERNHARD

HENNEN

ELFENRITTER

DIE ALBENMARK

Zweiter Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständig überarbeitete Neuausgabe 08/2021

Redaktion: Angela Kuepper

Überarbeitung: Uta Dahnke

Copyright © 2008 by Bernhard Hennen

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

unter Verwendung einer Illustration von Kerem Beyit

Karten und Illustrationen [>>]: Andreas Hancock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28814-3V001

Für die Schöne in der Ferne

Der Tugendhafte begnügt sich,

von dem zu träumen,

was der Böse im Leben verwirklicht.

Platon

1

BRONZESCHLANGEN

Die Bronzeschlange bäumte sich auf, spie Rauch und Glut, und ein Feuer brannte in Gishilds Lunge. Hustend taumelte sie zurück. Jemand stieß sie grob an. Gebrüllte Befehle ertönten, doch sie waren nur ein dumpfes Dröhnen in ihren tauben Ohren. Vom Pulverrauch geschwärzte Gesichter gaukelten gleich schwarzen Masken mit unheimlichen, weiß strahlenden Augen durch die Finsternis. Wieder wurde Gishild angerempelt. Eine gebückte Gestalt schleppte eine schwere Eisenkugel.

»Wischt aus!« Die helle Mädchenstimme war das Erste, was Gishild deutlich vernahm. Vielleicht, weil sie sich so sehr von dem infernalischen Lärm ringsum unterschied. Anne-Marie drückte ihren Daumen in das Zündloch der großen Bronzekanone. Joaquino drängte an dem Rohr vorbei, dessen Hitze die Luft erzittern ließ. Der breitschultrige Novize hatte sein Hemd ausgezogen. Pulverdurchsetzter Schweiß rann wie schwarzes Blut über seine Brust. Er schwang den schweren Ladestock herum, tauchte den Schwamm am Ende des Eschenstocks in den Eimer, der neben dem Geschütz stand, und stieß ihn dann tief ins Maul der Bronzeschlange.

Die Geschützkammer erbebte. Kanonendonner überrollte die Prinzessin. Lärm bohrte sich wie ein Dolch in ihren Kopf.

Gishild presste beide Hände auf die Ohren. Sie zitterte am ganzen Leib. Rückwärts taumelnd, stieß sie mit dem bärtigen Geschützmeister zusammen. Seine schwieligen Hände packten sie bei den Armen. Mit einem Ruck drehte er sie ein Stück um und verpasste ihr einen Stoß, der sie in die andere Richtung wanken ließ.

Tränen der Wut rannen über Gishilds Wangen. Sie wollte nicht aufgeben, aber sie hielt es nicht länger aus.

Wieder erzitterte die Geschützkammer unter dem Donner eines Kanonenschusses. Wie gepeitscht warf sich die Prinzessin nach vorn. Grelles Licht stach ihr in die Augen, als sie auf das Hauptdeck der Galeasse gelangte. Sie brauchte gar nicht aufzublicken, um zu wissen, dass sie angestarrt und belächelt wurde. Die Arkebusiere und Ritter an der Reling, die Ruderer, die sich in der Sonne auf ihren Bänken räkelten, sie alle hatten nichts weiter zu tun, als zuzusehen, welche Novizen der Pulverqualm vertrieb und wer seine Feuertaufe bestand.

Den Blick starr auf die Planken geheftet, lief sie zum Vormast und ließ sich dort nieder. Schwefeliger Pulvergeschmack klebte auf ihrer Zunge; ihr war übel. Ein Stück weiter kauerte Raffael. Die schwarzen Locken hingen ihm strähnig in die Stirn. Sein Gesicht glänzte wie in Tinte getaucht. »Ich liebe Pferde«, murmelte er halblaut. »Die verdammten Pulverfresser können mir gestohlen bleiben. Und dieses verfluchte Schiff auch.« Er zog die Nase hoch und wollte wohl aufs Deck spucken, überlegte es sich dann aber anders. Kapitän Alvarez liebte sein Schiff, und es war gewiss nicht klug, die Geliebte eines anderen Mannes anzuspucken.

Gishild lächelte unwillkürlich über ihre Gedankensprünge.

»Nimm es dir nicht zu Herzen«, erklang eine wohlvertraute, warme Stimme hinter ihr. Es war Drustan, der einarmige Ritter, der Magister ihrer Lanze. »Meine Sache war das auch nicht. Ich glaube, ich habe es nicht länger in der Geschützkammer ausgehalten als du.«

Er legte die Hand auf Gishilds Schulter und drückte sie sanft. »Ich weiß, manchmal sind wir etwas schroff … und ich weiß auch, wie sehr ein Lächeln im falschen Augenblick verletzen kann. Aber glaube mir, all dies hier geschieht nicht, um euch zu demütigen. Tjured gibt jedem seiner Kinder mindestens eine große Gabe. Wir suchen nach euren Begabungen. Und wenn wir sie entdecken, dann schleifen wir euch, bis wir das Beste aus euch herausholen. Welchen Sinn hätte es, dir das Kommando über eine Geschützkammer zu geben, wenn du dort bestenfalls mittelmäßig wärst? Dafür bist du eine außergewöhnliche Fechterin. Also werden wir dich unseren besten Fechtlehrern überantworten, wenn du etwas älter bist. Aber noch sind wir auf der Suche … Verzweifle nicht. Drei Jahre dauert dieser Teil deiner Ausbildung. Dann wissen wir, wie Gott dich erschaffen hat und welche Gaben er dir mitgab.«

Gishild versuchte sich vor der freundlichen Stimme und dem Trost zu verschließen. Sie wollte davon nichts hören. Sie war sich ganz sicher, keine Gaben von Tjured erhalten zu haben, denn sie war die Prinzessin des Fjordlands und sie diente anderen Göttern! Vielleicht wollte sie auch einfach ihren Schmerz und ihren Zorn nicht aufgeben.

Sie blickte hinauf zum Oberdeck des Vorderkastells. Von Rauch umgeben, standen dort, oberhalb der Geschützkammer, der Kapitän und einige Ritter. Sie beobachtete die Einschläge der Kanonenkugeln in der roten Steilwand eines Felsens, der sich etwa dreihundert Schritt entfernt aus der spiegelglatten See erhob. Diese Ordensritter waren der Feind, auch wenn Gishild jetzt mitten unter ihnen war. Das durfte sie nicht vergessen! Dort standen Lilianne de Droy, die ehemals Komturin von Drusna gewesen war und Gishilds Vater schwere Niederlagen beigebracht hatte, und ihre Schwester, die Fechtmeisterin Michelle. Luth allein mochte wissen, wie viele Drusnier und Fjordländer Michelle abgestochen hatte.

Die Ritterin schien ihren Blick zu spüren. Unvermittelt drehte sie sich um und lächelte sie an.

Gishild ertappte sich dabei, wie sie das Lächeln erwiderte. Sofort erstarrte ihr Antlitz zu einer Grimasse. Das durfte sie nicht tun! Lass dich nicht verführen, schalt sie sich. Sie sind der Feind, du gehörst nicht zu ihnen!

Sie seufzte. Es war so schwer. So verwirrend …

»Glaub mir, du musst dich wirklich nicht schämen, weil du die Geschützkammer verlassen hast«, sagte Drustan, der ihre Miene gründlich missverstanden hatte.

Pulverknappen trugen neue Ladungen für die großen Bronzekanonen aus der Kammer tief im Schiffsrumpf herauf. Das Pulver befand sich in doppelt vernähten, weichen Leinensäcken. Mit ihrer zylindrischen Form entsprachen sie dem Mündungsdurchmesser der Kanonenrohre, in die sie geschoben wurden. Jeder Pulversack enthielt eine sorgfältig abgemessene Ladung für einen Schuss über mittlere Reichweite. Der Stoff war mit Wachs eingerieben und wasserabweisend. Die Pulverknappen stapelten die Ladungen dicht vor dem Zugang zur Geschützkammer, gleich dort, wo in halbrunden Kuhlen auch ein Vorrat der schweren, eisernen Kanonenkugeln lagerte.

Wieder ließ der Donner einer Bronzeschlange das große Schiff erbeben. Luc trat aus dem Rauch der zum Hauptdeck hin offenen Geschützkammer. Blinzelnd fuhr er sich mit dem Arm über die schweißglänzende Stirn. Er sah in ihre Richtung und zwinkerte ihr zu. Gishild nickte. Wieder war ein Lächeln auf ihren Lippen. Sie konnte sich einfach nicht dagegen wehren, nicht bei Luc. Wann immer sie ihn sah, verebbte all ihre Wut. Seit der Nacht unter dem Galgen, in der sie ihn gewärmt und ihr Geheimnis mit ihm geteilt hatte, war sie verändert.

Er wollte ihr Ritter sein, das hatte er ihr seither Dutzende Male geschworen. Nun aber sah er mit an, wie sie versagte. Sie hatte die Probe in der Geschützkammer nicht bestanden! Er wuchtete sich einen der Pulversäcke auf die Schulter, Futter für die mächtigste Kanone des Schiffes, die Heiliger Zorn.

Luc würde einmal ein gut aussehender Mann werden, dachte Gishild. Schlank und drahtig war er, ein wenig wie die Elfen am Königshof ihres Vaters. Gedankenverloren spielte sie mit ihrem Haar. Sie fand es immer noch viel zu kurz. Es würde viele Monde dauern, bis es wieder so lang war wie vor ihrer Begegnung mit dem Barbier von Paulsburg. So lang … 

Die feinen Härchen an ihren Armen richteten sich auf. Eisige Kälte kroch in ihren Bauch. Verwirrt blickte sie zum Himmel, um zu sehen, ob sich eine Wolke vor die Sonne geschoben hatte. Es war windstill. Die großen Segel hingen schlaff von den Rahen. Kein Seidenbanner rührte sich. Der Himmel war wolkenlos.

Gishild schlang die Arme um den Leib. So kalt war ihr, als hätte plötzlich der Winter Einzug gehalten, doch er schien nur für sie gekommen zu sein. Sie sah sich um; niemand anders schien zu frieren. Ihr Blick wanderte zu der Geschützkammer und suchte Luc, doch in den dichten Rauchschleiern gab es nur gesichtslose Schattengestalten, die mit genau einstudierten, knappen Bewegungen den Tanz der Bronzeschlangen tanzten.

Vielleicht ließ der Schweiß, der an ihrem Leib trocknete, sie frösteln?

Ein Donnerschlag, begleitet von hellen Flammenzungen, löschte all ihre Gedanken aus. Ein Luftzug berührte sie. Ein Finger des Todes, ausgestreckt nach ihr … 

Dann hörte sie einen dumpfen Schlag auf Holz. Noch immer loderten Flammen in der offenen Geschützkammer.

Gishild konnte nichts als starren. Mit schreckensweiten Augen, unfähig, die Bilder mit Gedanken zu verknüpfen. Unfähig, sich zu bewegen oder einen Laut über die Lippen zu bringen.

Aus dem Augenwinkel sah sie ein golden glänzendes Bronzestück im Mast stecken, das sie um weniger als einen Zoll verfehlt hatte.

Sie sah, wie die gestürzten Ritter auf dem Deck über den Geschützen wieder auf die Beine kamen. Alle, bis auf einen. Sie sah das geborstene Holz der Planken. Sah den Arkebusier, der wie trunken über der Reling hing und dessen Blut sich in die See ergoss. Und dann taumelten Gestalten aus dem Geschützdeck. Fleisch gewordene Schatten. Schwarz von Pulver und Rauch. Und sie hinterließen Spuren aus dunklem Blut auf dem Deck.

Gishild erkannte Joaquino, der Bernadette auf den Armen trug.

Mit den Namen brach der Bann. Die Prinzessin sprang auf und lief zu ihren Kameradinnen und Kameraden. Zu ihrer Lanze, den Löwen.

Vom Oberdeck hallten Befehle. Die Krieger und Ruderer versuchten zu helfen. Kapitän Alvarez stieg die Treppe zum Oberdeck hinab. Sein silberner Brustpanzer war mit hellroten Flecken gesprenkelt.

Gishild drängte an ihm vorbei. Eine Hand packte sie, doch sie riss sich los. Ein einziger Gedanke füllte sie völlig aus: Luc! Er war nicht unter den Gestalten, die aus dem Rauch hervorquollen.

Sie trat auf etwas Weiches und hatte nicht den Mut, auf den Boden zu blicken. Der Pulverqualm brannte in ihren Augen. »Luc?«

Neben der Heiliger Zorn lagen hingestreckte Gestalten. Ängstlich kniete sie nieder. Ein gesichtsloser Leichnam lag auf der schwelenden Lafette. Das Rohr der großen Kanone war geborsten. Glühende Bronzesplitter steckten in der Decke und den Wänden der Geschützkammer. Blasse Flammenzungen leckten rund um die Splitter über das trockene Holz. Fetzen schwelenden Leinens tanzten in der Luft.

Endlich entdeckte sie Luc. Er lag dicht bei der Steuerbordwand. Etwas Dunkles troff von der Decke herab auf seine Brust. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel.

Gishild packte ihn unter den Achseln und wollte ihn fortziehen. Er war schwer. »Komm zu dir …«

Er reagierte nicht. Besinnungslos hing er in ihrem Griff, das Hemd von Blut durchtränkt. Endlich kamen auch andere Retter in die Geschützkammer. Ein Ruderer mit tätowierten Oberarmen hob Luc auf und trug ihn hinaus. Gishild wich nicht von seiner Seite.

Vor ihnen taumelte Anne-Marie dem Hauptdeck entgegen. Ihr linker Arm hing schlaff herab. Wo die Hand hätte sein sollen, war schwarz verbranntes Fleisch. Gishild rief ihren Namen, doch Anne-Marie ging einfach weiter. Sie wirkte, als sei sie nicht mehr ganz in dieser Welt.

Gleißendes Licht brannte die Bilder aus Gishilds Augen. Etwas fauchte. Die Prinzessin blieb stehen. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Sengender Pulveratem schlug ihr entgegen.

»Raus hier!« Noch immer geblendet, vernahm sie Drustans Stimme. »Alles raus!«

Wieder fauchte Pulver. Hitze griff nach Gishild. Brannte auf jedem Stück Haut, das nicht mit Stoff bedeckt war. Ihre Hände schmerzten. Tränen rannen ihr über die Wangen. Undeutlich sah sie schwarze Flächen und Licht. Eine Welt ohne Farbe. Dichter Rauch schlängelte sich wie lebendig über den Boden. Und vor ihm eilte ein strahlendes Licht dahin. Es sah schön aus, funkenstiebend und eilig huschend. Wie etwas Lebendiges.

Und dann sprang es einen einzelnen Leinensack an, den ein Pulverknappe vor der Geschützkammer hatte fallen lassen.

»Das Pulver!« Im gleichen Augenblick, in dem Drustan schrie, warf er sich auch schon zu Boden.

Der Ruderer, der Luc auf seinen starken Armen trug, ließ den Jungen fallen und versuchte die Reling zu erreichen und in die Sicherheit des Ozeans zu flüchten. Dutzende Männer und Frauen sprangen über Bord.

Eine grelle Stichflamme, hoch wie die Masten, schoss zum Himmel. Feuerzungen leckten weit über das Deck, und wen sie berührten, dem brannten sie binnen eines Herzschlags das Fleisch von den Knochen. Der heiße Atem der Explosion trug Menschen davon wie Herbstwind trockenes Laub.

Gishild warf sich auf Luc. Sie hielt ihn fest umschlungen. Flammen versengten ihr das Haar. Sie spürte Lucs warmes Blut auf ihrem Leib, und ein metallischer Geschmack, als lecke man an poliertem Kupfer, füllte ihren Mund. So fest drückte Gishild Luc an sich, wie sie als Kind manchmal nachts ihre Strohpuppe an sich gedrückt hatte.

Lucs Augen waren weit aufgerissen. Es war fast nur das Weiße zu sehen. »Hilfe!«, rief Gishild, doch ihre Stimme ging im Tumult an Deck unter. »Hilfe!«

Inmitten von Rauch und Flammen stand Anne-Marie. Wie durch ein Wunder war sie dem Verderben entronnen. Doch nur zwei Schritt entfernt lag der Stapel mit den Pulverladungen. Und das helle Leinen des obersten Sacks war gesprenkelt von schwelender Glut.

Anne-Marie beugte sich zu dem schwelenden Sack hinab. Ihre gesunde Hand krallte sich in das Leinen. Linkisch hob sie den Sack auf und ging mit seltsam steifen Schritten auf die Reling zu. Sie bewegte sich wie eine schlecht geführte Marionette, dachte Gishild, während sie Luc festhielt und darauf wartete, Anne-Marie und das ganze Schiff in einer weiteren Flammensäule vergehen zu sehen.

Teilnahmslos beobachtete Gishild, wie Lilianne einen Eimer mit Wasser über den verbliebenen Pulversäcken entleerte.

Anne-Marie erreichte die Reling und ließ sich einfach vornüberkippen.

Die Prinzessin hörte den Aufschlag auf dem Wasser. Sie atmete aus. Das Schiff erzitterte, als habe es einen erleichterten Seufzer von sich gegeben.

»Bemannt die Ruder!«, erklang die ruhige Stimme des Kapitäns.

Gishild fühlte Tränen auf ihren Wangen. Überall waren Verwundete. Das Deck war rot von Blut. »Hilfe«, rief sie erneut.

Drustan beugte sich zu ihr hinab. »Wo bist du verletzt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht mein Blut. Luc … Du musst …«

Der Magister schob sie sanft zur Seite. Seine Hand tastete nach Lucs Hals. Gishild konnte sehen, wie sich Drustans Wangenmuskeln spannten. Sehnen wie fleischige Drähte traten an seinem Hals hervor. »Alvarez!«

»Was ist mit ihm?«, fragte Gishild.

Der Magister antwortete nicht. Er zerriss Lucs Hemd. Etwas Blauschwarzes quoll ihm durch den blutgetränkten Stoff entgegen. »Alvarez!«, rief er noch einmal, und seine Stimme klang schrill. Er drückte mit seiner Hand die Schlinge zurück, die aus dem Hemd hervordrängen wollte.

Gishild sah, wie viel Blut aus der Wunde quoll, und Eiseskälte breitete sich in ihr aus.

»Hilf den anderen! Mach dich nützlich!«, herrschte Drustan sie plötzlich an.

Die Prinzessin griff nach Lucs Hand. Sie war entsetzlich kalt. Ihr Platz war an seiner Seite. Er war doch ihr Ritter!

2

GRÖSSER ALS WIR

»Siehst du das?« Drustan tupfte vorsichtig über die Kruste aus getrocknetem Blut. Sie war rissig und löste sich unter dem sanften Druck des Schwamms von der braun gebrannten Haut des Jungen. »Du hast ihn gesehen. Er sollte tot sein.«

Alvarez streckte die Hand aus und strich leicht über Lucs Bauch. Da war keine Narbe, nichts, was auf die schreckliche Verwundung hinwies. Er drückte behutsam und beobachtete das Antlitz des jungen Novizen. Er war immer noch ohnmächtig. Er stöhnte nicht; auch nicht, als der Kapitän den Druck verstärkte.

»Keine inneren Verletzungen«, konstatierte der Kapitän überrascht.

Drustan fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Der Magister wirkte fiebrig. Er hatte all seine Kräfte im Kampf um das Leben ihrer Brüder und Schwestern erschöpft. Dunkle Bartstoppeln sprenkelten sein schmales Gesicht. Tiefe Ränder hatten sich unter seinen Augen eingegraben. »Du solltest ein wenig ruhen.«

Drustan sah ihn an. »Wir müssen Luc beobachten! So etwas gibt es nicht … Er ist keinen Augenblick lang aufgewacht.«

»Und es ist ausgeschlossen, dass du …«

Der Magister lachte bitter. »Ich?« Er drehte sich, sodass sein leerer Ärmel besser zu sehen war. »Verspotte mich nicht! Glaubst du, ich wäre ein Krüppel, wenn ich solche Kräfte besäße?«

»Das heißt, er hat sich selbst geheilt. Und das im Schlaf …«

»Ja.« Drustans Stimme war nur noch ein Flüstern. Er drängte sich dicht an Alvarez. Der Magister roch unangenehm nach säuerlichem Schweiß. Und er hatte getrunken. Alvarez presste die Lippen zusammen. Er durfte das nicht dulden! Er kannte die Schwächen seines Ordensbruders gut. Er würde mit den anderen über ihn reden müssen. Doch jetzt mochte er ihn nicht darauf ansprechen.

»Du weißt, was Leon befürchtet?«

Alvarez nickte. Der Primarch hatte mit ihm ein langes Gespräch über den Jungen geführt, bevor die Windfänger Valloncour verlassen hatte.

»Was heute geschehen ist, spricht dafür, dass Leon recht hat«, fuhr Drustan fort. »Niemand hat die Macht, eine solche Wunde aus eigener Kraft zu verschließen. Das hat es noch nie gegeben! Und schon gar nicht im Schlaf! Er hat jetzt sein wahres Gesicht gezeigt. Sie haben ihn uns untergeschoben. Er ist ein Wechselbalg! Wir müssen etwas tun …« Der Magister blickte zu dem blutigen Feldscherbesteck, das auf dem Hocker bei Lucs Lager ausgebreitet war. »Ein Schnitt könnte genügen! Jeder würde glauben, dass er seinen Verletzungen erlegen ist.«

»Warum hast du es dann nicht schon getan?« Der Junge war womöglich eine Gefahr, dachte Alvarez. Doch wenn sie sich irrten … Wenn er einfach nur in besonderem Maße von Tjured beschenkt war, dann könnte er der hellste Stern werden, der je unter den Ordensrittern geleuchtet hatte.

Drustan sah ihn nur an.

Der Kapitän bewegte die verspannten Schultern. Er konnte in der niedrigen Offiziersmesse nur geduckt stehen. Der kleine Raum war in ein notdürftiges Lazarett verwandelt worden. Den ganzen Tag über war Drustan in dieser stickigen Kammer gewesen und hatte um Leben gekämpft. Zwei Tote und siebzehn Verletzte – das war der Preis für die mangelhaft gegossene Kanone. Alvarez hatte sich geschworen, den Gießmeister zu finden, der für dieses Massaker verantwortlich war. Wenn Anne-Marie nicht das Schlimmste verhindert hätte … Nein, er mochte gar nicht daran denken. Das Mädchen war mehr tot als lebendig. Es stank in der Kammer immer noch nach dem Teer, mit dem Drustan ihren Stumpf eingerieben hatte. Alvarez besaß die Gabe ebenso wie Drustan. Er hatte an Deck geholfen, so gut er es vermochte. Und Luc? Tjured allein wusste, was mit dem Jungen war.

»Ich habe mit Michelle gesprochen«, flüsterte der Magister. »Der Kleine hat als Einziger in einem Pestdorf überlebt. Niemand kann sagen, wie lange er allein unter den Toten war. Und er hat sie von der Pest geheilt, obwohl sie schon ein schwarzes Mal trug. Sie dürfte eigentlich gar nicht mehr unter uns sein.« Er sah den Jungen an. »So wie er.«

»Aber du hast nicht zum Messer gegriffen.«

»Er ist doch mein Schüler.«

»Und jetzt soll ich sein Richter sein?«, zischte der Kapitän entrüstet.

Wieder schwieg Drustan.

»Ich mag ihn«, gestand Alvarez. Er dachte an den letzten Buhurt. Den unverschämten Betrug, durch den die stets glücklosen Löwen wenigstens einen einzigen Sieg errungen hatten. Sie hatten mit ihren Wetten die halbe Ordensburg ausgeplündert. Das Spiel war eine einzige Frechheit gewesen. Aber sie hatten gegen keine niedergeschriebene Regel verstoßen. Alvarez’ Lächeln wurde breiter. Ja, er mochte Luc. So manches Mal hatte er sich vorgestellt, wie der Junge eines Tages ein berühmter Kapitän des Ordens sein würde. Bestimmt hatte er das Zeug zu einem guten Schiffsführer. Er würde sich bemühen, Luc als Deckoffizier auf die Windfänger zu bekommen, wenn er sich seine goldenen Sporen verdient hatte.

»Liliannes verdammter Vogel lebt noch. Was Luc getan hat, hat das Vieh nicht umgebracht.« Drustan sah elend aus. Er glaubte offensichtlich nicht mehr an den Jungen.

»Wir haben ihn auch nicht getötet«, wandte Alvarez ein.

»Aber wir waren auf dem Vordeck«, entgegnete der Magister. »Zu weit entfernt. Er tut es hier.«

»Es sind immer noch mehr als zwanzig Schritt bis zu dem Käfig.«

Drustan deutete auf den flachen Bauch des Jungen. »Sieh dir doch an, welche Kraft er hat. Dieser verdammte Adler hätte verrecken müssen! So wie das verdammte Gefolge der Elfenkönigin in Drusna.«

»Womöglich ist der Junge ja nicht das, was du unterstellst. Hast du den Glauben an Tjured und seine Wunder verloren? Vielleicht sind wir gerade Zeugen eines solchen Wunders geworden. Vielleicht ist der Junge ein Geschenk Gottes. Stell dir vor, er wurde uns geschickt, um unserem Orden in diesen schwierigen Zeiten, in denen wir im Schatten des Aschenbaums zu vergehen drohen, zu neuer Größe zu verhelfen. Müsste so ein Kind nicht anders sein als die anderen? Müsste er uns in seinen Fähigkeiten nicht übertreffen? Und stell dir vor, wir töten ihn, weil er anders ist. Und weil es uns an Gottvertrauen mangelt.«

Drustan seufzte. »Er macht mir Angst.«

Alvarez legte ihm die Hand auf die Schulter. »Vertraue in Gott, mein Bruder. Lass uns Lucs Gaben nutzen. Zwei Novizen und drei meiner Männer sind dem Tod näher als dem Leben. Wenn Luc erwacht, kann er sie vielleicht retten. Wir werden ankern und ein Lager am Strand errichten.«

»›Wie Vampyre sind sie. In unserer Mitte. Sie tragen eine Menschenhaut, doch sind sie nicht wie wir. Was immer sie berühren, wird befleckt sein. Sie …‹«

»Ja«, unterbrach Alvarez ihn ärgerlich. »Auch ich habe Henri Épicier gelesen. Ich weiß. Aber lass uns doch seine Gabe nutzen. Jetzt kann er uns helfen. Und wenn wir zurückkehren, wird Leon ihn prüfen. Er wird die Wahrheit ans Licht bringen. Und wird ihn richten, ohne zu zögern. Du kennst ihn!«

Drustan griff nach dem Feldscherbesteck.

DIE FRAGENDEN

»Sie sind unter uns. Und sie sind nicht nur im Schatten. Im Lichte, wo man sie nicht sucht, sind sie am stärksten. Sie können dein Nachbar sein. Der Geliebte deiner Tochter. Und die schlimmsten von ihnen sind manchmal unsere geliebten Kinder. Die Albenkinder mögen auf den Schlachtfeldern verloren haben. Sie fürchten die Klingen unserer Ritter, geschärft durch Glauben und Enthaltsamkeit. Sie fürchten den klaren Blick des Aufrechten, den sie nicht zu blenden vermögen. Ihre Waffen sind Heimlichkeit und Täuschung. Und das grausamste ihrer Spiele ist die Erschaffung von Wechselbälgern. Darum hütet euch, Gottesfürchtige! Wird euch ein Kind geboren, ruft noch in nämlicher Stunde nach einem Priester. Haben die Kleinen den Segen Tjureds empfangen, so sind sie unberührbar. Ist dem jedoch nicht so, dann mag es geschehen, dass ein Albenkind kommt, den Säugling zu stehlen und auszutauschen gegen einen Wechselbalg. Die Kinder ersticken sie in einem Sack, oder sie ertränken sie, denn mit Menschenkindern wissen sie nichts anzufangen. Und die zarten Seelen sind dazu verdammt, durch ewige Finsternis zu wandern, denn das Licht des Glaubens bleibt für sie unsichtbar. Und niemals werden sie ihren Frieden finden. Ihre Stimmen sind es, die der Wind herbeiträgt, wenn er sich in den Dachfirsten verfängt. Sie klagen uns an für unsere Leichtfertigkeit.

Man mag von großen Schlachten in fernen Heidenwäldern hören. Der wirkliche Krieg jedoch wird mitten unter uns ausgetragen. Wer nicht fest im Glauben ist, der ist wie eine Burg, deren Tore nicht verschlossen wurden. Nur weil ihr sie nicht gesehen habt, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht hier sind. Sie jagen Kinder und eure Herzen. Hütet euch vor denen, die schöne Worte machen. Jede verlorene Seele feiern sie als Sieg. Sie werden euch beschenken und euch die Freuden des Himmelreichs schon zu Lebzeiten versprechen. Sie können Dinge geben, von denen ihr nicht einmal zu träumen wagtet. Kein Menschenweib kann Freuden schenken wie eine Elfenhure. Ihr werdet ihnen verfallen. Und wenn sie euch ganz fest gewonnen haben, dann werdet ihr erwachen, und es wird tausendmal schrecklicher sein als eine Nacht mit billigem Wein. Sie entreißen euch die Seele bei lebendigem Leib. Wie Sklaven werdet ihr sein, um den einmal genossenen Freuden wieder nahezukommen. Finstere Magie wird jene treffen, die euch retten wollen. Blitzschlag, missgebildetes Vieh, ein Hagel aus heiterem Himmel, der die Ernte vernichtet. Das sind ihre Waffen im heimlichen Krieg. Nur ein Fragender, ein Priester, der besonders fest im Glauben ist, kann dann noch Rettung verheißen. Die Fragenden kennen alle Wege, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sie kennen die Schliche der Anderen und wissen, wie ihre heimlichen Verbündeten aufzuspüren sind. So wie die Ritter in der Ferne kämpfen, schlagen sie ihre Schlachten mitten unter uns, und das reinigende Feuer ist ihre Waffe, wenn Seelen verloren scheinen.

Wer ein treuer Diener Tjureds ist, der wird sie rufen, wenn ein Kind Außergewöhnliches zu tun vermag, wenn ein Kaufmann zu viel Glück in seinen Geschäften hat oder ein gottesfürchtiger Mann mehr Unglück erleidet, als Tjured der Gnadenvolle einem Menschen aufbürden würde. Dies sind Zeichen, an denen wir das Werk der Anderen erkennen. Achtet darauf! Und fürchtet euch nicht, sondern seid tapfer und ruft Gottes erste Diener um Hilfe. Wo Glaube ist, da wird aus Hoffnung stets der Same des Triumphs keimen.

AUS: DER HEIDENHAMMER,

KAPITEL VII, DIE FRAGENDEN, SEITE 81 ff.

ERSTAUSGABE, NIEDERGELEGT ZU SEYPER IM 934. JAHR NACH DEM MARTYRIUM DES HEILIGEN GUILLAUME

VERFASST VON HENRI ÉPICIER

3

VON MUSCHELSPLITTERN, ARKEBUSENKUGELN UND KÜSSEN

Luc legte beide Hände dicht neben die Brandwunde. Joaquino zuckte vor Schmerz, gab sich aber alle Mühe, sich möglichst wenig anmerken zu lassen. Seine Haut hatte sich in der Nacht von der Wunde gelöst. Zurückgeblieben war eine handgroße, nässende Fläche rohen Fleisches. Er hatte unglaubliches Glück gehabt, denn er war nur gegen ein glühendes Kanonenrohr gestürzt. Er war der am leichtesten Verwundete, der unter dem großen Sonnensegel am Strand lag.

Luc konzentrierte sich. Er wollte Joaquino helfen. Wirklich … Aber er konnte spüren, dass seine Kräfte erschöpft waren. Es trat keine Besserung ein. So sehr er sich auch bemühte. Luc konnte nicht begreifen, warum es so war. Er hatte Anne-Marie doch heilen können! Und ihr war es viel schlechter gegangen. Über ihrem Stumpf spannte sich schon jetzt eine dünne Schicht neuer Haut. Und ihr Fieber war gewichen. Es war ein Wunder, alle hatten das gesagt! Fünf Leben hatte er gerettet … Und jetzt schaffte er es nicht, eine Verbrennung zu heilen. Warum nicht?

Joaquino stöhnte.

Luc wurde sich bewusst, dass er zu stark auf den Bauch gedrückt hatte. Die Wunde spannte sich. »Tut es sehr weh?«

»Lässt sich aushalten«, stieß Joaquino gepresst hervor.

Luc spürte, wie viel Kraft es den großen blonden Jungen kostete, ihm etwas vorzuspielen. Sie waren Löwen, zum Mut verpflichtet. Joaquino wäre besser dran, wenn er ihn in Ruhe ließe. »Ich glaube, die Seeluft wird helfen. Es sollte kein Verband auf die Wunde. Ja, das wäre nicht … nicht so gut.« Noch einmal versuchte er sich mit aller Kraft vorzustellen, dass Haut über die Verletzung wuchs. Bei Anne-Marie hatte das geholfen. Aber diesmal geschah einfach nichts! Er spürte das Kribbeln in den Händen nicht, dieses Gefühl, dass etwas durch ihn hindurchfloss. Eine Kraft, die überall um ihn herum war, auch wenn man sie nicht sehen konnte. Er nahm sie auf und bündelte sie wie ein Trichter. Aber jetzt schien diese Kraft einfach fort zu sein.

Alvarez kniete auf der anderen Seite von Joaquinos Lager nieder. Der Kapitän der Galeasse hatte Luc überrascht, ebenso Drustan. Sie beide waren ausgezeichnete Heiler. Das hatte Luc nicht gewusst.

Sie hatten ihn beobachtet. Nicht sehr offensichtlich, doch Luc hatte es dennoch gespürt. Ob sie nach Zeichen Ausschau hielten, die ihn als Wechselbalg entlarvten? Wenn sie in der Nähe waren, fühlte Luc sich beklommen. Er wusste, dass er in der Geschützkammer gewesen war, konnte sich aber an nichts mehr erinnern. Er musste verletzt gewesen sein, doch sein Leib wies keine Wunde auf. Nicht einmal einen blauen Fleck hatte er. Unheimlich war das!

Luc musste an die Drohung des Primarchen denken. Sobald die Windfänger nach Valloncour zurückkehrte, erwartete ihn eine Prüfung. Er hatte keine Ahnung, worum es gehen würde, aber er wusste, dass der Ausgang dieser Prüfung bestimmte, ob er lebte oder starb. Denn einen Wechselbalg, ein Kind, das auf magische Weise von Elfen erschaffen worden war, würde der gestrenge Primarch niemals inmitten seiner Novizen dulden.

Alvarez legte Joaquino die Hand auf die Stirn. »Du hast kein Fieber, Junge. Das ist ein gutes Zeichen. Wie fühlst du dich?«

»Nicht so schlimm«, brachte der junge Löwe unter Mühen hervor.

Alvarez lächelte. »Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest. Wird eine nette Narbe werden. Morgen verlegen wir unser Strandlager. Ich bin mir sicher, dass wir dann mehr für dich tun können.« Der Kapitän blickte auf und sah Luc auf eigenartige Weise an. So, als teilten sie ein Geheimnis, das sich Joaquino niemals erschließen würde.

Alvarez klopfte dem großen Jungen sanft auf die Schulter. »Halt dich tapfer. Das wird schon wieder.« Dann stand er auf. »Luc? Kannst du mit mir kommen? Ich glaube, du wirst hier nicht mehr gebraucht.«

Der Kapitän ging hinab zum Ufer. Sie waren mit der Windfänger in einer engen, felsigen Bucht vor Anker gegangen. Die Mannschaft hatte am Strand zwei große Sonnensegel aufgespannt. Etliche Feuer brannten, und man briet wilde Ziegen, die ein Jagdtrupp erlegt hatte. Außer einer Wache, dem Schiffszimmermann und seinen Gehilfen war niemand an Bord der Windfänger zurückgeblieben. Die Schäden in der Geschützkammer wurden behoben. Und Blutflecken von den Planken geschrubbt. Das Geräusch von Hämmern und Sägen hallte über das Wasser.

Alvarez blieb unvermittelt stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich hasse es, wenn das Leben meiner Mannschaft in den Händen anderer liegt! Das hätte nicht passieren dürfen!« Er sah zu seiner Galeasse, während er sprach. Alvarez war von stattlicher Gestalt. Trotz der Hitze trug er eine weite Pumphose und kniehohe Stiefel, dazu ein weißes Leinenhemd mit kostbarer Spitze. Eine breite rote Bauchbinde mit goldenen Fransen war um seine Hüften geschlungen – das Abzeichen eines Kapitäns. Das Messer und die beiden Pistolengriffe, die aus dem Stoff ragten, ließen ihn verwegen aussehen. Sein silberner Ohrring, der gezwirbelte Schnauzbart und das lange, lockige Haar taten ein Übriges, um diesen Eindruck zu verstärken. Nein, wie ein Heilkundiger sah er wirklich nicht aus, dachte Luc erneut. Eher wie ein Pirat oder Schmuggler.

»Es kann immer sein, dass eine Kanone einen unsichtbaren Makel in sich trägt. Eine Luftblase vielleicht. Manchmal ist die Legierung von mangelhafter Qualität … Deshalb werden sie erprobt. Das ist die Aufgabe von diesem Dreckspack in der Schlangengrube. Ich könnte den Gießmeistern die Schädel einschlagen! Ich könnte …« Er wandte sich unvermittelt zu Luc um. »Hast du schon mal gesehen, wie ein Hai einen Mann frisst? Ich wünschte, ich hätte ihn hier, den Gießmeister, der die Verantwortung für die Heiliger Zorn trägt. Ich wünschte, ich könnte meinem ganz und gar unheiligen Zorn Luft machen!« Alvarez zitterte vor Wut.

Luc fragte sich im Stillen, ob der Kapitän wirklich einen Mann den Haien vorwerfen würde.

»Wärst du ein gestrenger Richter, Luc? Was würdest du tun, wenn das Leben eines Mannes, durch den Brüder und Schwestern von dir zu Tode kamen, in deiner Hand läge? Wärst du ein milder Richter?«

Luc dachte an die beiden Toten, die tief im Schiffsrumpf in Bleisärgen lagen, und an Anne-Marie, die eine Hand verloren hatte. Er war traurig. Aber einen anderen Mann zu töten, würde sie nicht lebendig machen. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich und konnte dem Kapitän dabei nicht in die Augen sehen.

»Du bist zu weich.« Alvarez schüttelte den Kopf. »Ich sehe, du hast ein gutes Herz. Doch um ein Anführer zu sein, musst du dein Mitgefühl und deine Gutmütigkeit manchmal tief in dir begraben. Du musst Dinge tun können, die dein eigenes Herz verletzen. Sonst kannst du nicht führen. Ich habe dich beobachtet. Ich glaube, du weißt das.«

Luc spürte sein Herz schneller schlagen. »Ja.«

»Du hast gut für die Verwundeten gesorgt. Ich habe noch nie einen Jungen mit dreizehn Jahren gesehen, der solches Geschick hat. Du bist … außergewöhnlich.«

Luc spürte, wie sich in ihm alles zusammenzog. Was wollte Alvarez ihm damit sagen? Hatte der Kapitän ihn durchschaut, so wie Leon es getan hatte, als er dessen Auge in den Mund nehmen musste?

»Du solltest etwas Gutes essen, viel trinken und dich ausruhen. Ich glaube, du bist sehr erschöpft. Morgen werden die Verletzten deine Kraft aufs Neue brauchen, Luc. Für heute entbinde ich dich von allen Pflichten.« Er lächelte. »Nur dass wir uns richtig verstehen, Novize, dies war ein Befehl deines Kapitäns!« Er grinste freundlich. »Und jetzt mach, dass du fortkommst.«

Luc gehorchte. Er war erleichtert, endlich allein sein zu dürfen. Doch das Herz war ihm schwer. Er hatte sich in Alvarez getäuscht. Der Kapitän war auf seiner Seite. Er schien keinerlei Zweifel an ihm zu haben. Stumm betete Luc zu Tjured, dass er den Kapitän und all die anderen, die an ihn glaubten und ihm vertrauten, nicht enttäuschen würde. Die Kameraden in seiner Lanze, Michelle, Alvarez, ja sogar Drustan, sie alle waren ihm eine große Familie geworden. Er wollte sie nicht verlieren. Um keinen Preis!

Luc holte sich einen Wasserschlauch und etwas Brot und Käse. Er machte einen weiten Bogen um das Sonnensegel, unter dem die Verletzten lagen. Auch ging er seinen Kameraden aus dem Weg. Er war wirklich zutiefst erschöpft. Alvarez hatte so gesprochen, als kenne er diesen Zustand. Aber wie sollte er das?

Die grauen Felsen waren warm von der Mittagssonne. Es gab viele verlassene Vogelnester. Die Eierschalen der Frühlingsbrut knisterten unter seinen Sohlen, als Luc von Sims zu Sims kletterte. Schillernde Federn verrieten, dass es keine Möwen gewesen waren, die hier genistet hatten.

Als er so hoch gestiegen war, dass ihn das Stimmengemurmel vom Strand nicht mehr erreichte und er nur noch gelegentlich das Trillern der Bootsmannspfeifen hörte, ließ Luc sich zwischen den verlassenen Nestern nieder. Er brachte kaum einen Bissen herunter, aber er war sehr durstig und trank in tiefen Zügen.

Dann streckte er sich aus und ließ die Wärme der Felsen in seine müden Glieder sickern. Das Rauschen der Brandung hatte etwas Beruhigendes, Einschläferndes. Alvarez hatte recht gehabt: Es war gut, allen Pflichten zu entfliehen. Für eine kurze Zeit zumindest.

Luc ließ sich treiben. Halb wach, halb im Schlaf genoss er den Sommernachmittag. Er hing seinen Träumen nach, stellte sich vor, ein Ritter zu sein. Ein Held, dessen Name in aller Munde war. Doch alle Ruhmestaten würde er allein für Gishild vollbringen. Er würde im Kugelhagel der Feinde stehen, sie vor Trollen retten und durch die schrecklichsten Unwetter reiten, um bei ihr zu sein. Fast glaubte er zu spüren, wie Hagelschlag in sein Gesicht peitschte. Er dachte daran, wie Gishild ihn gewärmt hatte, als er auf dem Henkersgerüst gekauert hatte. Das würde er ihr niemals vergessen. Allein dafür würde er sie immer lieben.

Da war ein Geräusch. Ein leises Lachen. Luc lächelte. Er hörte sie oft lachen in seinen Träumen. Mal laut und prustend, so wie sie lachte, wenn er in der Fechtstunde einen allzu tollkühnen Ausfall wagte und sie ihm mit Leichtigkeit einen Treffer verpasste, sodass er sich tollpatschig wie ein betrunkenes Kalb fühlte. Er mochte dieses Lachen, denn es war ehrlich, und er fühlte sich deshalb niemals verletzt. Er liebte auch ihr leises und halb unterdrücktes Lachen. Jenes Lachen, das stets zu unpassender Zeit kam, wie etwa während des Nautikunterrichts, den Kapitän Alvarez ihnen täglich gab. Ein Lachen, das sie am liebsten erstickt hätte und doch nicht zu beherrschen wusste. Und er liebte ihr ausgelassenes, freies, glockenhelles Lachen, wenn sie beide sich eine Stunde stahlen und allein waren. So allein, wie man auf einer Galeasse eben sein konnte, wo das nächste Paar Ohren nie weiter als drei Schritt entfernt war.

»Du schläfst nicht, oder?«

Einige Herzschläge lang mochte Luc sich nicht entscheiden, ob die Stimme zu seinem Traum gehörte oder Wirklichkeit war.

»Schläfer runzeln nicht die Stirn. Ich weiß, dass du jetzt wach bist.«

Blinzelnd öffnete er die Augen. Der Himmel feierte die Abendstunde in tausend Rot- und Goldtönen. Das Geräusch der Brandung war zu einem leisen Flüstern geworden. Luc streckte sich. Dann suchte er nach der Stimme.

Gishild saß hinter ihm auf einem Felsvorsprung. Sie grinste.

»Bist du schon lange hier?«

Ihr Grinsen wurde breiter. »Eine Weile.«

Luc war mit der Antwort nicht zufrieden, aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihm mehr nicht sagen würde. Schon gar nicht, wenn er weiterfragte.

»Was tust du hier?«

»Dir beim Aufwachen zusehen.« Sie schnippte einen kleinen Stein in seine Richtung. »Ich habe ein paar Steine und Muschelsplitter nach dir geworfen, weil ich wollte, dass du aufwachst, aber du hast so tief geschlafen wie ein alter Bär. Und als ich an deinen Träumen teilhatte, wollte ich gar nicht mehr, dass du wach wirst.«

Was sollte das schon wieder heißen? Ein wenig ärgerte es ihn, dass sie versucht hatte, seinen Schlaf zu stören, und er fragte sich, ob sie mit ihrem Steinewerfen für die Arkebusenkugeln und den Hagelschlag in seinen Träumen verantwortlich gewesen war. Und wie hatte sie an seinen Träumen teilhaben können? Die Frage brannte ihm auf der Zunge. Aber er würde sie nicht stellen. Sie wollte gefragt werden. Und dann würde sie ein Geheimnis daraus machen. Sie liebte das. Manchmal waren Mädchen einfach schrecklich kompliziert!

»Du hast meinen Namen gesagt, als du geschlafen hast. Immer wieder …« Sie lächelte.

Luc fragte sich, was er wohl sonst noch gesagt hatte. Ihm schoss das Blut in die Wangen. Das alles war ihm mit einem Mal schrecklich peinlich! Warum tat sie so etwas? Warum belauschte sie ihn beim Schlafen? Erfreulicherweise war sie nicht in der Laune, ihn zu necken. Ganz im Gegenteil. Sie sah ihn an … Es war ein seltsamer Blick, der gar nicht zu der Gishild passte, wie er sie kannte. Einer Gishild, die immer bereit war, sich zur Wehr zu setzen, ganz gleich, ob man sie nun wirklich angegriffen hatte oder sie es sich nur einbildete.

»Es tut gut zu wissen, dass es jemanden gibt, der sogar in seinen Träumen an mich denkt«, sagte sie mit so entwaffnender Offenherzigkeit, dass er nicht wusste, was er darauf antworten sollte. Er war tief berührt von Gefühlen, die ihm fremd waren, die jenseits seiner Erfahrungen lagen.

Gishild erhob sich und kletterte vorsichtig zu ihm hinab. Sie setzte sich dicht neben ihn und nahm seine Hand. »Ich habe beobachtet, wie du in der Mittagszeit hier hinaufgestiegen bist. Und als ich dich dann stundenlang gar nicht mehr gesehen habe, da habe ich mir Sorgen gemacht.«

Luc konnte nicht ganz nachvollziehen, warum sie sich gesorgt hatte. Wenn er abgestürzt oder ihm sonst etwas zugestoßen wäre, hätte er gerufen. Sie hätte das schon mitbekommen! Er wollte ihr das eigentlich sagen, aber eine innere Stimme warnte ihn, sie jetzt nicht zu unterbrechen.

»Ich bin hier sehr fremd. Ihr nennt mich eine Kameradin, und wir kämpfen im Buhurt gemeinsam, aber ich weiß, dass ich keinen Platz in euren Herzen habe.« Sie reckte das Kinn trotzig vor. »Und ihr habt auch keinen Platz in meinem Herzen. Nur du allein …«

Und dennoch hatte sie Joaquino gerettet, als er fast ertrunken wäre, dachte Luc. Aber Mädchen waren eben so, Worte und Taten mussten nicht unbedingt zusammenpassen.

»Ich glaube nicht an euren Gott Tjured. Und ich weiß, ihr hasst meine Götter. Am Königshof meines Vaters bin ich unter Elfen, Trollen, Kobolden und Kentauren aufgewachsen. Geschöpfen, die ihr bis aufs Blut bekämpft. Ich bin hier, weil man mich meinem Vater und meiner Mutter geraubt hat. Das werde ich euch niemals vergessen. Jedes Mal, wenn die Galeasse in einen neuen Hafen einläuft, überlege ich, wie ich fliehen könnte. Mir ist schon klar, dass ich als junges Mädchen völlig schutzlos wäre. Deshalb bleibe ich. Meinen Körper habt ihr. Aber mein Herz, das wird niemals der Neuen Ritterschaft gehören!« Sie sah ihn fest an. »Mein Herz gehört dem Fjordland. Und es gehört dir … Du solltest mein Feind sein. Aber du nennst meinen Namen im Schlaf. Du hast dich verprügeln lassen, damit ich einer verdienten Strafe entgehe. Du bringst meine Welt durcheinander, Luc. Ich hatte solche Angst um dich nach der Explosion, du sahst schrecklich aus.« Sie zitterte leicht. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Das kann nicht alles dein Blut gewesen sein.« Sie sah ihn an, und ihre Augen strahlten. »Ich will das vergessen, alles. Ich will, dass meine Welt wieder einfacher wird! Ich weiß, du willst wahrhaftig mein Ritter sein. Und dafür liebe ich dich. Zumindest das ist ganz leicht.«

Sie sah ihn auf eine Weise an, die ihm klarmachte, dass sie nun von ihm eine Antwort erwartete. Aber was sollte er sagen? Er brachte ein verlegenes Räuspern zustande. »Ich liebe dich auch«, sagte er schließlich, nach einer Pause, die ihm endlos erschien.

Weit über ihnen erklang Möwengeschrei, das an Gelächter erinnerte. Ihm war klar, dass eine solche Liebe wohl keine Zukunft haben konnte. Er war der Sohn eines Waffenmeisters und sie eine wahrhaftige Prinzessin. Und sie würde einst in jenem Land herrschen, das sich seit Jahrhunderten der Tjuredkirche widersetzte. Zu wissen, wie aussichtslos ihre Liebe war, stachelte seinen Trotz an. »Ich liebe dich auch!«, sagte er noch einmal, entschiedener diesmal.

Sie drückte seine Hand. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich weiß.« Mit einem leisen Seufzer lehnte sie sich an seine Schulter. »Es ist gut, bei dir zu sein. Und endlich allein zu sein. Ich möchte, dass du mich küsst.«

Zögerlich beugte er sich vor. Er hatte durchaus schon gesehen, wie Verliebte einander küssten, sogar unter den Novizen. Und so nahm er Gishild fest in den Arm und presste seine Lippen auf ihren Mund. Es war ein seltsames Gefühl. Irgendwie anstrengend. Dann löste er sich und sah sie erwartungsvoll an. Sie wirkte nicht wirklich begeistert. Dann lachte sie plötzlich. »Das ist kein Zweikampf, Luc. Das macht man zärtlicher.« Sie beugte sich vor. Nun küsste sie ihn. Das kam ihm falsch vor. Männer sollten Frauen küssen, nicht andersherum. Doch zugleich war es ein wunderschönes Gefühl, das warme Wellen durch seine Glieder laufen ließ.

Plötzlich endete der Kuss. Gishild sah ihn forschend an. »Das war besser, nicht wahr?«

Er wollte es erst nicht zugeben, sein Kuss hätte sich so anfühlen sollen! Aber alles andere als Zustimmung wäre eine Lüge gewesen.

»Ja«, sagte er und nickte verlegen. »Das war viel schöner. Warum kannst du das so viel besser?«

»Weil ich ein Mädchen bin.«

Er war ein wenig beleidigt. Und dann überfiel ihn Angst. Würde sie ihn weiterhin lieben, wenn er nicht gut küsste? Raffael konnte bestimmt viel besser küssen. Luc hatte ihn und Bernadette einmal beobachtet. Sie ließ sich gern heimlich von Raffael küssen, obwohl sie eigentlich Joaquinos Freundin war. Das würde er nicht wollen, dachte Luc traurig. Gishild sollte keinen anderen als ihn küssen. »Kann ich das lernen, das Küssen? Glaubst du, ich habe Talent?«

Sie fing an zu lachen. Doch war es jenes warme Lachen, das nicht verletzte. »Das ist nicht wie Fechtstunden, Luc. Du wirst schon noch besser werden. Du liebst mich. Und wenn du ein bisschen erfahrener bist, werde ich deine Liebe auch in deinen Küssen spüren.«

»Ja«, sagte er, obwohl er nicht überzeugt war. »Aber warum küsst du so gut und ich nicht? Hattest du …«

Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Sprich das nicht aus! Denk es nicht einmal. Nein, ich hatte keinen anderen. Du bist der Erste, den ich so küsse. Mit uns Mädchen ist das anders. Ich habe schon vor Langem mit jungen Frauen gesprochen. Auch mit meiner Mutter.« Ihre Augen wirkten plötzlich traurig. »Ach, Luc. Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie das Leben einer Prinzessin ist. Es ist nicht wie in den Märchen und Sagen. Ich war nicht einmal zehn, da sang mein kleiner Bruder einen Spottvers über mich. Er hatte sich in jenem Sommer sein Königswappen ausgesucht, einen stehenden Löwen. Und mir hatte er ein Strumpfband zum Wappen erwählt. Gishilde, Gishilde führt ein Strumpfband im Schilde. Er wurde nicht müde, das wieder und wieder zu singen.«

»Du hast einen kleinen Bruder?«

»Er ist tot.« Sie sagte das schnell, abgehackt. Dann presste sie die Lippen zusammen, bis nur ein schmaler, blasser Strich blieb, der wie eine Narbe in ihrem Gesicht wirkte.

Luc drückte ihre Hand. Dann nahm er Gishild vorsichtig in den Arm. Behutsam küsste er sie. Zärtlich. Er fühlte sich steif und linkisch dabei. Er wollte es besser machen als beim ersten Mal! Er wollte, dass auch sie dieses wunderbare, warme Gefühl spürte. Und er wünschte, er hätte sie nicht nach ihrem Bruder gefragt.

Als sie ihre Lippen voneinander lösten, lächelte Gishild scheu. »Das war schön«, sagte sie sehr leise. »Es hat gutgetan.«

Luc fühlte sich so glücklich wie in jenen seltenen Fechtstunden, wenn es ihm gelang, einen Treffer gegen Michelle zu erzielen. Er würde das Küssen meistern! So, wie er auch die raffiniertesten Finten und Ausfallschritte lernte. Er musste nur üben.

»Ich mag dein Lächeln.« Gishild seufzte. »Als Prinzessin lernt man früh, dass man nicht auf Liebe hoffen sollte, wenn es ans Heiraten geht. Hat man das einmal begriffen, wird es weniger schmerzhaft. Im Grunde hat man es schon ganz gut getroffen, wenn man einen Mann abbekommt, der nicht viel älter ist und der nicht aus dem Maul stinkt.«

»Aber du bist doch die Tochter eines Königs! Warum bekommst du keinen guten Mann?«

Sie lachte traurig. »Ach, Luc. Natürlich bekomme ich einen guten Mann. Aber das, was sich ein junges Mädchen darunter vorstellt und das, was für das Königreich gut ist, geht nur selten überein. Prinzessinnen braucht man, um Bündnisse mit befreundeten Adelshäusern zu stärken. Und um Kinder zu zeugen. Meine Mutter und ihre Hofdamen haben dafür gesorgt, dass ich das schon als sehr kleines Mädchen wusste. Manchmal werden Hochzeiten von Prinzessinnen schon kurz nach ihrer Geburt abgesprochen. Ich kenne den Stammbaum meiner Familie nur zu gut. Ich habe endlose Tage damit verbracht, die Geschichte meiner Sippe auswendig zu lernen. Ohne Mühe könnte ich dir ein Dutzend Prinzessinnen aufzählen, die in meinem Alter schon verheiratet waren. Manche haben mit dreizehn Jahren ihr erstes Kind bekommen. Aber das ist selten.«

Luc sah sie fassungslos an. »Kinder?«

»Ja, Luc. Das bleibt nicht aus, wenn man einem Mann ins Bett gelegt wird. Wer weiß, was mit mir geschehen wäre, wenn mich Lilianne nicht entführt hätte.«

»Und du hättest dich einfach so gefügt?« Das konnte er nicht glauben. Nicht Gishild!

Sie sah ihn lange an. »Das ist das Schicksal von Prinzessinnen«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang nach lange versiegten Tränen. »Dazu sind wir geboren. Mein kleiner Bruder hatte schon ganz recht, als er mir ein Strumpfband für meinen Wappenschild auswählte.«

»Ich werde dein Ritter sein und auf dich achten«, erwiderte Luc. »Dich wird man nicht an irgendeinen Kerl verschachern! Ich würde dich entführen. Ich …«

Gishild lächelte, aber ihre Augen schimmerten feucht. »Schwöre mir, dass es so sein wird! Du musst immer da sein, wenn ich dich brauche. Du wirst mich nie im Stich lassen. So wie in den Märchen. Du bist mein Ritter. Für immer!«

»Ja, das schwöre ich!«, sagte Luc feierlich. Und er war voller Stolz, Gishilds Auserwählter zu sein. »Möge mein Herz verfaulen, wenn es jemals anders sein wird!«

Sie nahm ihn in den Arm und küsste ihn. Und diesmal war sie es, die viel zu fest ihre Lippen auf die seinen drückte.

4

LILIANNES GEHEIMNIS

Die Windfänger glitt ruhig durch die nächtliche See. Wie Tinte sah das Meerwasser aus. Es war Neumond; nur Sterne erhellten den Himmel. Gishild fand keinen Schlaf. Sie dachte an Silwyna, die Elfe, die einst ihre Lehrmeisterin gewesen war und die versprochen hatte, sie aus Valloncour zu befreien. Es war nicht gut, auf diesem verdammten Schiff zu sein. Nirgends blieben sie länger als zwei Tage. Wie sollte Silwyna sie da finden können? Und was, wenn die Elfen Valloncour überfielen, um sie zu befreien, aber sie war nicht da?

Nein, das würde nicht geschehen, beruhigte Gishild sich in Gedanken. Sie würden Späher schicken, bevor sie etwas unternahmen. Und im späten Sommer würde die Windfänger nach Valloncour zurückkehren. Zur Zeit der Erweckungsfeier für den neuen Jahrgang würden alle Novizen im Tal der Türme versammelt sein. Gishild dachte daran, wie es wohl sein würde, erneut zum Kettentanz anzutreten. Es war ihr nicht mehr ganz so egal, ob ihre Löwen gut im Buhurt waren oder nicht.

Ein paar Tage vor der Erweckungsfeier würde ihre Lanze den Wappenschild erhalten. Er würde für immer das Schandmal des Ruders tragen – ein Zeichen dafür, innerhalb eines Jahres kein Spiel im Buhurt gewonnen zu haben. Gishild war sich sicher, dass Leon und die anderen Magister bis zu ihrer Rückkehr einen Weg finden würden, ihnen den letzten Sieg, ihren einzigen, abzuerkennen.

Gishild richtete sich auf der Ruderbank auf. Eine Decke auf einem schmalen Holzbrett, das war ihr Schlaflager. Aber sie konnte nicht zur Ruhe kommen. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Immer wieder musste sie an die Küsse auf der Steilklippe denken. Drei Tage waren seitdem vergangen. Jedes Mal, wenn sie sich daran erinnerte, glaubte sie Lucs Lippen spüren zu können. Und sie roch den Duft des Meeres in seinem Haar. Und auch den seines Schweißes. Luc roch immer gut, selbst wenn er schwitzte. Ganz im Gegensatz zu Joaquino oder Raffael. Ihnen haftete eine säuerliche Duftnote an, die sie nicht mochte.

Gishild seufzte und erhob sich. Ihre Gedanken sollten um Firnstayn kreisen, sollten bei ihren Eltern und bei Silwyna sein. Aber irgendwie schafften es die Ritter, sogar ihre Gedanken gefangen zu nehmen! Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang blieb kaum einen Atemzug Zeit. Sie mussten fechten und an den verbliebenen Schiffsgeschützen üben.

Schon am Tag nach dem Unfall hatte Kapitän Alvarez sie alle wieder an die Kanonen befohlen, damit sie keine Angst vor den schweren Geschützen entwickelten. Hin und wieder explodierten Kanonen, so etwas geschah. Damit musste man sich abfinden, hatte Drustan erklärt. Das war Tjureds Wille.

Gishild kletterte hinauf zu dem breiten Laufsteg, der sich über den Ruderbänken erhob.

Die Rahen knarrten leise unter dem Druck der Segel. Stetiger Westwind trieb das große Schiff voran. Steuerbord lehnte eine Wache an der Reling und nickte ihr kurz zu. Misstönendes Schnarchen erklang von den Ruderbänken. Gishild stieg über einen schlafenden Ritter hinweg. Es gab zwar einige Hängematten unter Deck, aber in den lauen Sommernächten schliefen die meisten Seekrieger und Ritter lieber an der frischen Luft als in ihrem stickigen Quartier.

Dicht vor dem Baldachin, der sich über dem größten Teil des Achterkastells spannte, lehnte Alvarez auf dem großen Steuerruder. In seinem Mundwinkel hing eine langstielige Pfeife. Außer ihm schien niemand mehr wach zu sein. Es war wohl sehr spät, denn üblicherweise saßen die Männer und Frauen der Mannschaft noch lange beisammen, redeten, würfelten oder tauschten verstohlen Küsse und intimere Zärtlichkeiten. Es war schwer, an Bord der Galeasse ein Paar zu sein. Hier gab es kaum heimliche Winkel. Was immer geschah, es geschah unter den Augen aller an Bord. Außer in den Stunden kurz vor dem Morgengrauen. So wie jetzt.

Gishild stieg behutsam über die Schlafenden hinweg und bewegte sich in Richtung Heck. Sie schritt lautlos, so wie sie es von Silwyna gelernt hatte. Als sie eine rothaarige Ritterin in den Armen des Geschützmeisters liegen sah, musste sie lächeln. Die Frau hatte sich eng an den tätowierten Leib geschmiegt. Ob sie selbst wohl eines Tages so an Lucs Seite schlafen würde?, fragte sich Gishild. Wie es wohl war, sogar im Schlaf die Nähe eines anderen zu spüren? Bestimmt war das ein gutes Gefühl.

Alvarez winkte ihr zu. Sie gesellte sich zu dem Kapitän. Eine Weile standen sie in einvernehmlichem Schweigen beieinander. Dann hörte Gishild die Stimmen. Sie klangen gedämpft hinter dem Vorhang, den die Deckoffiziere nachts vor den Baldachin spannten. Drustan und Lilianne sprachen leise miteinander.

»Er wird eingehen, wenn du ihn nicht fliegen lässt. Er ist nicht krank, nicht wirklich. Es ist diese verdammte Kiste.« Das war unverkennbar die Stimme ihres Magisters.

»Sein rechter Flügel ist verkümmert. Er wird nie wieder fliegen können. Es sei denn, du heilst ihn.«

»Das geht nicht so einfach, wie du denkst!«, entgegnete Drustan ärgerlich. »Ich könnte seinen Flügel noch einmal brechen und ihm eine Schiene anlegen. Vielleicht hilft das.«

»Er wird dir die Finger zerfleischen, wenn du das versuchst.«

»Ich hatte nicht vor, ihn dabei festzuhalten. Das wäre deine Aufgabe.«

»Ich glaube, es ist unhöflich zu lauschen«, sagte der Kapitän leise.

»Aber du bist doch auch hier«, entgegnete Gishild. Seit sie zum ersten Mal die seltsame Kiste gesehen hatte, die Lilianne überallhin mit sich führte, hatte sie einen Verdacht. Bisher war es nur eine verzweifelte Hoffnung gewesen. Aber jetzt …

»Der Unterschied ist, dass die beiden wissen, dass ich hier bin, denn mein Platz ist am Ruder.« Er sagte das so laut, dass Drustan und Lilianne ihn hören mussten. »Dein Platz, Gishild, ist auf der Bank, auf der deine Decke liegt. Geh jetzt schlafen.«

Sie funkelte ihn wütend an, aber sie wusste genau, dass weiterer Widerstand zwecklos war. »Wir alle sind doch Löwen«, wandte sie zaghaft ein. »Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Wir …«

»Versuch es nicht weiter«, sagte Alvarez kühl, und Gishild zog es vor, ihn nicht zu erzürnen. Schmollend zog sie sich zurück. Sie würde herausfinden, was in der Kiste war, schwor sie sich. Nicht in dieser Nacht, aber bald.

5

EIN SAFRANTRAUM

Alvarez betrachtete die mächtigen Rundtürme an der Hafeneinfahrt von Marcilla. Sie waren mit Kanonen vom schwersten Kaliber bestückt, die ein mörderisches Kreuzfeuer auf die Hafeneinfahrt legen konnten. Bald würde man all das nicht mehr benötigen. Jeden Tag betete der Kapitän darum, dass er das Ende des letzten Krieges noch miterleben würde. Den Beginn des neuen Zeitalters, in dem alle Königreiche unter dem Schutz der Tjuredkirche vereint waren und man die Elfen für immer aus der Welt der Menschen vertrieben hatte. Er würde der Kapitän eines Handelsschiffes sein. Und in Valloncour würden nicht Ritter, sondern Seefahrer und Wissenschaftler ausgebildet werden. Eine Welt in Frieden – das hatte er nie erlebt. Doch es war ihr Ziel, eine solche Welt Wirklichkeit werden zu lassen. Er war ein Romantiker, das war ihm klar. Und er sollte an andere Dinge denken. Aber immer, wenn er nach Marcilla zurückkehrte, ergriff ihn ein Schmerz, den ein Seemann nie fühlen sollte. Sein Blick schweifte suchend über die Kais, und er wünschte sich, Mirella wiederzusehen.

Mehr als ein halbes Jahr war vergangen, seit er sie hierhergebracht hatte. Er sollte sie längst vergessen haben. Eigentlich war sie zu dünn für seinen Geschmack gewesen. Und ihre eigenartige Marotte, immer ein Stirntuch zu tragen, hatte ihn auch verwundert. Aber nie zuvor war ihm eine Liebhaberin wie sie begegnet.

Er sah eine Frau in Safran am Kai beim Pulverturm. Sein Atem stockte. War sie es? »Das Glas, Juan!«

Der Hauptmann der Seekrieger reichte ihm sein schweres Messingfernrohr. Alvarez hob es ans Auge und stellte es scharf. Aus dem verschwommenen Oval über den Safrangewändern wurde ein Gesicht. Der Kapitän seufzte. Es war eine andere.

»Du planst schon jetzt deine Nacht?«, spottete Lilianne.

Alvarez schob das Fernrohr zusammen. Er hätte sich nicht so gehen lassen dürfen! Auf dem Achterdeck waren die Schiffsoffiziere und seine Ritterbrüder und -schwestern versammelt. Man musste keine Adleraugen haben, um zu bemerken, wonach er Ausschau gehalten hatte. Er sollte die Sache offensiv angehen, wenn er sein Gesicht nicht verlieren wollte. Also drehte er sich um und setzte sein Piratenlächeln auf. »Möchte irgendjemand etwas ü