Drachenelfen - Die letzten Eiskrieger - Bernhard Hennen - E-Book

Drachenelfen - Die letzten Eiskrieger E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Die heißersehnte Fortsetzung der Drachenelfen-Saga!

Im Feuer von Selinunt hat Nandalee ihren Geliebten und damit den Glauben an ihre Herren verloren. Während sich Elfen und Menschen zum ersten Mal in offener Schlacht am eisigen Himmel von Nangog begegnen, will sie nie wieder ihr Schwert für die Himmelsschlangen erheben. Doch dann mehren sich unheimliche Vorzeichen um die Geburt ihrer Kinder, und Nandalee muss begreifen, dass eine Drachenelfe niemals vor ihrer Vergangenheit fliehen kann.

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Seitenzahl: 1253

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ZUM BUCH

In den Flammen von Selinunt ist der Friedenspakt zwischen Elfen und Menschen, Drachen und Devanthar endgültig zu Asche geworden. Es herrscht offene Feindseligkeit, und jeder will den ersten Schlag im Kampf um das magische Nangog führen. Während der weise Herrscher Aaron Krieger aus allen sieben Menschenreichen um sich schart, macht sich im fernen Albenmark bereits eine kleine Truppe nach Nangog auf. Doch nicht alle spielen mit offenen Karten: Die Drachenelfe Bidayn spinnt eine unglaubliche Intrige, und unter den Augen der Himmelsschlangen marschieren vier Zwerge mit einer ganz eigenen Mission in das ewige Eis.

Nur eine hat geschworen, nie mehr ein Schwert zu erheben: Nandalee. Auf Befehl ihres Herrn, des mächtigen Nachtatem, von allen Elfen getrennt, erwartet sie die Geburt ihrer Kinder. Eine Geburt, die von dunklen Vorzeichen begleitet ist …

ZUM AUTOR

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika und trat als Schwertkämpfer bei modernen Ritterturnieren auf, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer Romane widmete. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

www.bernhard-hennen.de

www.facebook.com/bernhard.hennen

BERNHARD

HENNEN

DRACHEN

ELFEN

DIE LETZTEN EISKRIEGER

ROMAN

Copyright © 2015 by Bernhard Hennen

Copyright © 2015 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Martina Vogl

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung einer Illustration von Max Meinzold

Karte im Innenumschlag: Andreas Hancock

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16142-2

www.twitter.com/HeyneFantasySF

@HeyneFantasySF

www.heyne-fantastisch.de

Für die Lotusblüte im Verborgenen

Der Krieg ist darin schlimm,

dass er mehr böse Menschen macht,

als er deren wegnimmt.

IMMANUEL KANT (1724–1804)

Erstes Buch

DAS

TRAUMEIS

PROLOG

Die Lider waren ihm schwer. Seit drei Nächten hatte er keinen Schlaf gefunden. Müde beobachtete er, wie der junge Morgen den Himmel in Flammen setzte. Glutrote Wolken flossen um die schroffen Bergspitzen. Schwer wie nie spürte er die Bürde der Macht. Die Alben hatten es aufgegeben, um die Welt, die sie erschaffen hatten, zu kämpfen, und unter seinen Brüdern herrschten Misstrauen und Zwietracht. Die Himmelsschlangen sollten der Schutzwall Albenmarks sein, doch es war eine Mauer mit tiefen Rissen.

Der Drache streckte sich, dass seine Gelenke krachten. Er war so alt wie die Welt, über die er mit seinen Nestbrüdern wachte. Manchmal hatte er das Gefühl, Albenmark bedeutete nur ihm noch etwas. Rastlos hatte er die Zukunft erkundet. So viele Wege führten ins Dunkel. Er hatte gesehen, wie Burgen, erbaut von Menschenkindern, die Pässe der Mondberge beherrschten. Eine Fahne, die einen toten, schwarzen Baum vor weißem Hintergrund zeigte, hatte über den Zinnen geweht. Die Kinder der Alben waren aus der Welt verschwunden. Ihre Welt war entzaubert worden. Wie hatte es so weit kommen können?

Sooft er auch die Zukunft erforschte, vermochte er nicht zu entdecken, wo in der Gegenwart die Wurzel des Unheils lag. War es jener Unsterbliche, der weiser plante als alle anderen und dem es sogar gelingen mochte, die Devanthar dazu zu bringen, nach seinem Willen zu handeln? Oder war es Nandalee, die Drachenelfe, die gegen die hergebrachte Ordnung aufbegehrte? Drei Kinder wuchsen in ihr heran, von denen sie nur zwei gebären würde. Und doch beeinflussten sie alle die Zukunft von Menschen und Albenkindern. Dies war eines von vielen Rätseln, die er nicht verstand.

Der flammende Himmel ermahnte ihn, dass er handeln musste und nicht nur beobachten und brüten durfte. Einmal waren die Devanthar ihnen entwischt, als Nandalee und Gonvalon versagt hatten. Nun galt es, den Göttern der Menschenkinder erneut eine Falle zu stellen. Nur der vereinte Flammenodem der Himmelsschlangen würde sie vernichten. Es war die stärkste Waffe, die auf allen drei Welten existierte. Und sie war nicht nur dazu geschaffen, mit ihr zu drohen. Sie mussten sie einsetzen, bevor die Devanthar eine ähnlich starke Waffe ersinnen würden. Der Krieg zwischen den beiden großen Mächten war unabwendbar geworden. Es würde unzählige Tote geben. Städte, gar ganze Landstriche würden verwüstet werden. Doch die Zeit zu verhandeln war vorüber. Zu unterschiedlich waren die Ziele, nach denen Albenmark und Daia strebten. Siegen würde derjenige, der den Mut hatte, zuerst zuzuschlagen. Auch wenn es ohne Zweifel ein bitterer Sieg sein würde.

Der alte Drache weitete die Schwingen. Er genoss die Wärme des ersten Morgenlichts auf seinem Leib. Mit List und Intrige würde es beginnen. Dies waren fast genauso tödliche Waffen wie der Odem der Himmelsherrscher. Doch zuletzt würden Feuer und Schwert entscheiden. Er stieß sich vom Felsen ab und flog dem glutroten Morgen entgegen. Die Zeit zu kämpfen war gekommen.

AM RAND DER KLIPPE

Nevenylls Klippe galt als ein verfluchter Ort. Niemand kam bei Nacht hierher. Und schon gar nicht bei Vollmond, wenn die Macht der Geister am größten war. Es war der einsamste Ort bei Uttika, und deshalb liebte Bidayn ihn. Tagsüber war sie das Kindermädchen, das nach den beiden Töchtern des Kaufherren Shanadeen sah. Niemand ahnte, was sie in Wirklichkeit war. Man kannte sie nur als eine scheue Elfe unbestimmbaren Alters, die niemandem in die Augen sah und sich stets in jungfräuliches Weiß kleidete, obwohl ihre Haut bereits zu welken begann, was bedeutete, dass schon Jahrhunderte an ihr vorübergezogen sein mussten.

Bidayn stand auf dem steilen Kreidefelsen und blickte hinab auf das Meer. Der Mond zauberte ein Netz silbernen Lichts über die dunkle See. Weit im Westen zeichnete sich die Silhouette eines Seglers gegen den Horizont ab, der den Leuchtfeuern des Hafens von Uttika entgegenstrebte. Die nächtliche Brise griff nach Bidayns hauchzartem, weit geschnittenem ärmellosen Kleid. Sie liebkoste ihre alternde Haut. So schnell hatte sie ihre geschmeidige Spannkraft verloren. Bidayn hatte gehofft, einige Jahre mit der Menschenhaut leben zu können. Doch wie alle ihre Hoffnungen war auch diese zerbrochen. Sie müsste bald etwas unternehmen … Wen sollte sie töten? Eines der jungen Mädchen, die Shanadeen ihr anvertraut hatte?

Donnernd brach sich eine Welle am Fuß der Klippe. Die Elfe sah erneut hinab in die sprühende Gischt, deren weiße Finger den knochenbleichen Fels hinaufgriffen. Sollte sie ihrem Leben ein Ende setzen? Sie war eine Drachenelfe, aber seit so vielen Monden hatte sie nichts mehr von dem Drachen gehört, dem sie sich verschrieben hatte. Es gab Gerüchte über einen Krieg. Überall wurden Albenkinder eingezogen, um auf Nangog zu kämpfen, so hieß es. Doch hier in Uttika waren noch keine Werber gewesen.

Sollte es stimmen, dass auf der Verbotenen Welt gekämpft wurde? Warum schickte der Goldene dann nicht nach ihr? Voller Abscheu sah sie auf ihre Hände. Selbst im Licht des Mondes vermochte sie das Netz der feinen Falten zu erkennen. War dies der Grund? Empfand auch er Abscheu vor ihr?

Manchmal glaubte Bidayn, den Geruch des Grabes an sich wahrzunehmen. Zweimal täglich wusch sie sich. Sie benutzte eine teure Seife, die nach Rosenöl duftete, doch der Geruch kehrte immer wieder. Verwesungsgestank … Gab es ihn nur in ihrer überspannten Vorstellung? War es ihr Ekel vor sich selbst, der ihr den Gestank vorgaukelte, oder rochen die anderen es auch?

Bidayn wusste, dass über sie getratscht wurde. Über die seltsame alte Jungfer, die Shanadeen sich ins Haus geholt hatte. Wieder blickte die Elfe in die schäumende Gischt hinab. Die Tiefe lockte sie. Zwei Schritt und alle Zweifel und aller Ekel hätten ein Ende. Sie würde ihrer Seele Freiheit schenken und in einen neuen, einen makellosen Körper wiedergeboren werden. Bidayn machte einen Schritt auf den Abgrund zu. Hinter ihr auf der Wiese am Hang verstummte das Zirpen der Grillen. Kein Windhauch regte sich jetzt. Selbst das Geräusch der Brandung war leiser geworden, als hielte die Natur den Atem an. Und dann hörte sie Stimmen und ein grobschlächtiges, tiefes Gelächter.

Bidayn wandte sich vom Abgrund ab. Drei Faune kamen den schmalen Trampelpfad hinauf. Das Mondlicht schimmerte auf dem öligen Fell ihrer Ziegenbeine. Sie trugen fleckige Lendenschurze, ihre behaarten Oberkörper waren nackt. Kleine, nach hinten gebogene Hörner wuchsen ihnen aus der Stirn. Der Mittlere von ihnen stützte sich beim Gehen auf einen Speer. Bidayn musterte sie voller Missfallen. Die Zwitterwesen, ersonnen vom kranken Verstand des Fleischschmieds, hatte sie immer schon abstoßend gefunden.

»Du stehst zu dicht an der Klippe, meine Schöne!«, rief ihr der Speerträger zu. »Komm uns doch ein wenig entgegen …«

Seine beiden Gefährten verfielen in meckerndes Gelächter, als wäre ihrem Freund gerade der beste Scherz des Abends gelungen.

»Ich möchte allein sein«, sagte sie in dem unterwürfigen Ton, den sie sich als Kindermädchen angewöhnt hatte. Sie senkte den Blick. »Und ich möchte euch höflich bitten, meinen Wunsch zu respektieren und nun wieder zu gehen.«

»Du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, erklärte der Faun links neben dem Speerträger, hob einen Weinschlauch und schüttelte ihn. »Wir sind hier, um Spaß zu haben. Und den wirst du auch haben, das verspreche ich dir. Aber zunächst sollst du wissen, wer gekommen ist.«

Wieder erklang das meckernde Gelächter, als wäre ein weiterer Witz auf ihre Kosten geglückt.

»Nonnos ist der Dichter unter uns«, erklärte der Speerträger, prustend um Atem ringend. »Ich bin Dion, und der große Schweiger zu meiner Rechten ist Krotos.« Mit diesen Worten stieß er Krotos mit dem Ellenbogen in den Rippen, was sein Kamerad mit einem Grinsen quittierte.

»Ist dies nicht eine wunderbare Nacht für die Liebe«, rief Nonnos in so affektiertem Tonfall, als zitierte er irgendeinen berühmten Text. Dabei griff er sich mit der Linken ans Herz, hob seine Augenbrauen und schenkte Bidayn ein durch und durch falsches Lächeln. Nonnos hatte einen spitz zulaufenden Kinnbart, während die Bärte seiner Kameraden wild wuchernd bis zur Brust reichten. »Du bist viel zu hübsch, um so eine laue Sommernacht allein zu verbringen, Elfendame.«

Die drei waren jetzt keine fünf Schritt mehr von ihr entfernt. Ganz offensichtlich waren sie davon überzeugt, dass sie sich einfach nehmen könnten, wonach ihnen gelüstete, und von dem verhuschten, alternden Kindermädchen, das vor ihnen stand, kein ernsthafter Widerstand zu erwarten sei. Bidayn kämpfte den Zorn nieder, der in ihr aufwallte. Der Goldene hatte ihr befohlen, in Uttika zu warten. Sie durfte nicht aus ihrer Rolle fallen, musste um jeden Preis verbergen, was sie wirklich war. »Ihr wisst, dass dieser Ort verflucht ist. Bitte geht! Ich möchte nicht, dass euch ein Unglück widerfährt.«

»Es sind doch eher die Elfenweiber, die kein Glück mit dieser Klippe haben«, entgegnete Krotos, der bislang geschwiegen hatte, mit dunkler, etwas heiser klingender Stimme und einem breiten zahnlückigen Grinsen. »Aber hab keine Angst, wir sind hier, um gut für dich zu sorgen.«

»Ich kann auf mich alleine aufpassen.«

Dion schüttelte den Kopf, sodass ihm die schwarzen, strähnigen Haare um die Schultern flogen. »Glaube ich nicht. Wusstest du, dass sie in der Schenke unten an der Klippe Wetten abschließen, wann du springst? Du wärst die dritte Elfe seit Nevenyll. Und es sind Vollmondnächte wie diese gewesen, in denen sie ihrem Leben ein Ende gesetzt haben. Es heißt, sie treffen Nevenyll in diesen Nächten.« Er sah sich mit einem Stirnrunzeln um, dann zuckte er mit den Schultern. »Also ich sehe hier keinen Geist. Aber vielleicht muss man ja eine Elfe sein, um ihr zu begegnen.«

Dion deutete mit seinem Speer auf sie. Jetzt erst sah Bidayn, dass an der Hand, die die Waffe hielt, zwei Finger fehlten. Der Handrücken und der Unterarm waren mit wulstigen Narben bedeckt, die aussahen, als hätte ein Wolf oder ein großer Hund versucht, ihn zu zerfleischen. »Weißt du, dass die Wetten in dieser Nacht zehn zu eins gegen dich stehen?«

»Und da habt ihr gedacht, ihr schaut vorbei, passt auf mich auf und macht einen guten Schnitt, wenn ich lebend von der Klippe zurückkehre?« Bidayn bedachte sie mit einem zynischen Lächeln. Natürlich wusste sie, dass dies nicht die Absicht der Faune war, aber sie wollte ihnen eine goldene Brücke bauen. Einen letzten Weg.

Der Spitzbart rülpste und rollte mit den Augen. »Daran hatten wir nicht gedacht …«

»Ihr könntet doch neue Wetten abschließen«, wandte Bidayn ein. »Es ist noch Zeit. Schickt irgendeinen Freund, damit es nicht auffällt, und werdet reich.« Sie versuchte, nicht allzu herablassend zu klingen. Diese drei Habenichtse könnten vielleicht ein paar Kupferstücke zusammenbringen und mit der Wette in Silber verwandeln. Reich würden sie ganz gewiss nicht. Dennoch schien Nonnos ernsthaft darüber nachzudenken. Er strich sich über den gestutzten Bart. Eine Geste, die im Widerspruch zu seinem grobschlächtigen Äußeren stand.

»Wir haben für diese Nacht andere Pläne«, sagte Dion barsch. »Lass dich von der Elfe nicht einwickeln, Nonnos! Elfen meinen es nie gut mit uns. Schnapp sie dir! Wir sind nicht zum Reden hier.«

Bidayn atmete aus und ließ die Maske des Kindermädchens fallen. Sie würde wieder sein, wozu man sie in der Weißen Halle gemacht hatte: eine Mörderin. Und sie genoss, endlich wieder von der Macht Gebrauch machen zu können, die ihr geschenkt worden war. »Wie ich sehe, hast du mit deinen Händen schon schlechte Erfahrungen gemacht, Ziegenarsch. Solltest du versuchen, mich anzufassen, landet die Hand, die du nach mir ausstreckst, unten am Fuß der Klippe. Glaube mir, ich mache keine leeren Worte, Dion. Ich würde vorschlagen, ihr drei geht, trinkt noch einen Becher Wein und genießt, dass ihr am Leben seid.«

»Du redest hier nicht mit deinen kleinen Gören, Kindermädchen«, fauchte Dion und deutete mit der Spitze seines Speers auf ihre Kehle. »Und jetzt schlage ich dir was vor, alte Jungfer. Wir werden dir zeigen, was die Bestimmung von Männern und Weibern ist, und wenn du dich bemühst, uns zu erfreuen, dann landest du nicht am Fuß der Klippe.«

»Du bist tot, fingerloser Bock«, entgegnete sie ruhig. Ihre Stimme klang seltsam gedehnt in ihren Ohren. Bidayn spürte, wie die Magie dieses düster-romantischen Ortes sie durchdrang. Spürte die Trauer Nevenylls, die sich wie ein Stempel in das Muster des magischen Netzes geprägt hatte, das alles auf dieser Welt durchdrang und miteinander verband.

Dion lachte auf. »Ein großes Maul hast du. Aber das passt zu dem, was wir mit dir vorhaben. Los, packt sie!«

Nonnos zögerte und zupfte nervös an seinem spitzen Bart. »Und wenn sie …«

»Sei nicht so ein verdammter Schisser«, zischte der schwarzhaarige Krotos und zog seinen Dolch aus dem breiten Ledergürtel, der seinen Lendenschurz hielt. »Sie ist nur ein Kindermädchen, verdammt. Hast du Angst vor Worten? Worte und ein paar Ohrfeigen, das sind all ihre Waffen.«

Bidayn öffnete ihr Verborgenes Auge, und die Magie der Welt wurde für sie sichtbar. Die vielfarbigen Kraftlinien verwandelten sich rings um die drei Faune in das gleißende Rot von Zorn und Wollust. Und da war noch etwas – ein hauchzartes Gespinst um ihre Köpfe. Ein Zauber umgab sie. Fein gewoben, kaum sichtbar.

Die Spitze von Dions Speer berührte Bidayns Kehle dicht unter dem Kinn. Sie durfte sich nicht in der Betrachtung von Details verlieren. Sie musste handeln. Die drei ließen ihr keine Wahl. Bidayn hauchte ein Wort der Macht und veränderte den Lauf der Zeit. Ihre Bewegungen und ihre Wahrnehmung waren nun beschleunigt. Doch die Welt um sie herum blieb nicht stehen, auch wenn es fast so wirkte. Bidayn spürte, wie die Klinge ihre zarte Haut durchdrang und ein Tropfen Blut ihre Kehle hinablief. Das Netz um sie herum begann sich zusammenzuziehen. Es kämpfte gegen den Zauber an, der die natürliche Ordnung der Dinge verhöhnte.

Bidayn schob den Speer zur Seite und nahm in Kauf, dass die Spitze eine dünne blutige Linie auf ihrer Kehle hinterließ. Noch war er nicht zu tief in ihr Fleisch gestoßen.

»Prescht im Ziegengalopp zur Schenke zurück, und ich lasse euch am Leben.«

Bidayn sagte die Worte langsam und gedehnt, doch vermutlich nahmen die drei Faune nur einen unartikulierten Schrei wahr. Sie war nun zu schnell in allem, was sie tat.

Mit einer Drehung fort vom Rand der Klippe hebelte sie Dion den Speer aus der Hand und rammte das stumpfe Ende Krotos mit solcher Kraft gegen die Kehle, dass dem zahnlückigen Faun das Maul aufklappte und der Dolch seiner Hand entglitt. Langsam wie ein Eichenblatt, das an einem windstillen Herbsttag zu Boden sinkt, fiel die Waffe.

Bidayn stieß ein weiteres Wort der Macht hervor und beendete ihren Zauber. Sie spürte die Bewegung hinter ihrem Rücken und stieß den Speer an ihrer Hüfte vorbei nach Dion. Dabei ließ sie Nonnos nicht aus den Augen, der seine Rechte auf den Griff seines Dolches gelegt hatte, es aber nicht wagte, die Waffe zu ziehen.

Die Welt war entschleunigt. Die Zeit verlief auch für Bidayn wieder in gewohnter Bahn: Der schwebende Dolch fiel mit dumpfem Geräusch in das hohe, sonnenverbrannte Gras; Krotos brach in die Knie und umklammerte mit beiden Händen seine Kehle, als wollte er etwas Unsichtbares fortreißen, das ihn würgte. Bidayn wusste, dass der Stoß dem Faun die Luftröhre zerquetscht hatte. Nichts konnte ihn mehr retten. Sein Gesicht wurde rot. Seine Augen traten noch weiter hervor, während die Elfe auf ihren Händen das warme Blut spürte, das am Schaft des Speeres hinabrann.

»Wer … Was bist du?«, stammelte Nonnos und nahm die Hand vom Dolchgriff.

»Kein Opfer.« Bidayn zog mit einem scharfen Ruck den Speer zurück und drehte sich um. Dion kippte zur Seite. Seine großen braunen Augen starrten tot in den Nachthimmel. Die Speerspitze hatte ihn unter dem Rippenbogen getroffen und war schräg nach oben in sein Herz gestoßen.

Die Elfe ließ die Waffe fallen und wischte ihre blutigen Hände über das Gras. Sie hatte es genossen, zu töten und ihre Macht zu nutzen. Sie hätte die drei auch einfach nur erschrecken und verjagen können, aber nach den endlosen Wochen als unterwürfiges Kindermädchen hatte sie ihre Macht endlich wieder spüren wollen.

»Wirf die beiden für mich über den Rand der Klippe«, sagte sie, ohne zu Nonnos aufzublicken. »Die Ebbe wird ihre Leichen aufs Meer hinausziehen, und niemand wird sie je wiedersehen.«

»Ja, Herrin.« Der kleinlaute Poet schaffte es, zugleich pflichtbeflissen und fragend zu klingen. Er packte Krotos, der noch immer nach Luft japste, bei seinen Hörnern und zerrte ihn zum Rand des weißen Felsens.

»Hinab mit ihm!«

»Äh … aber Herrin …«

Krotos hatte die Hände von seiner Kehle gelöst und umklammerte nun verzweifelt die dünnen Ziegenbeine seines Gefährten.

»Ich kann doch nicht …«, jammerte Nonnos. »Er lebt doch noch. Wir sind zusammen aufgewachsen. Sind …«

»Willst du weiterleben?«, fragte Bidayn und genoss es zu sehen, wie Nonnos sich in Gewissensqualen wand. Die drei waren hierhergekommen, um sie zu vergewaltigen und zu ermorden. Alles, was ihnen nun widerfuhr, hatten sie sich verdient. Sie waren nichts als übles Pack, und die Welt würde ohne sie eine bessere sein. »Befolge meinen Befehl!«

Nonnos schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht … Er ist mein Freund.«

Bidayn richtete sich auf. »Er ist das, zu dem ihr mich machen wolltet. Nur noch ein Stück Fleisch. Stoß ihn hinab!«

Nonnos zitterte am ganzen Leib, blanker Schweiß rann ihm über das Gesicht. »Ich weiß nicht, was mit uns war. Wir sind nicht so. Es ist … Das alles ist wie ein böser Traum.« Die Augen des Fauns waren wie dunkle Spiegel. Bidayn stand nun dicht vor ihm. Nonnos stank nach Ziege. Er sah wieder hinab zu seinem Freund. Die Glieder des Sterbenden zuckten. Dann löste sich sein Griff um die dünnen Beine. »Er war nicht so«, stammelte Nonnos. »Ich versteh das nicht. Wir …«

Was für ein Jammerlappen, dachte Bidayn angewidert. Eben noch war er bereit gewesen, mit seinen Freunden über sie herzufallen, und jetzt glaubte er sich so herausreden zu können. »Dann sollte ich dir wohl helfen zu erwachen«, sagte sie freundlich und vollführte, noch während sie sprach, eine halbe Drehung. Ihr rechter Fuß traf ihn mit mörderischer Wucht vor die Brust. Der Faun wurde von seinen Ziegenbeinen gerissen und über den Rand der Klippe geschleudert.

Der Tritt hatte ihm die Luft aus der Lunge gepresst. Sein Maul klaffte weit auf, aber er war nicht mehr in der Lage zu schreien, als er stürzte. Bidayn blickte hinab zum Meer. Nonnos’ Körper verschwand im wogenden Weiß der Gischt, die um die knochenfarbenen Felsen leckte. Sie sollte Uttika verlassen, dachte sie. Vor vier Jahren, als sie in die Höhle des Schwebenden Meisters gebracht worden war, wäre sie ein gutes Kindermädchen gewesen und hätte Erfüllung darin gefunden, nach den Töchtern des Kaufherren Shanadeen zu sehen. Selbst als sie zur Weißen Halle gekommen war, war sie noch nicht verloren gewesen. Doch die ängstliche, verhuschte Bidayn von damals gab es nicht mehr. Und sie hatte nicht einmal bemerkt, wann sie aufgehört hatte zu existieren.

Die Elfe straffte sich und sah zu Krotos. Der schwarzhaarige Faun war tot, erstickt. Seine großen Hände hatten sich in das trockene Gras gekrallt. Tiefbraune, gebrochene Augen starrten zu ihr hinauf. Bidayn verpasste auch ihm einen Tritt, sodass sein Kadaver über den Rand der Klippe rollte. Sie fühlte sich machtvoll und frei. Die Zeit, sich zu verstecken, war vorbei. Sie wollte wieder eine Drachenelfe sein.

Liegt es nicht an mir zu entscheiden, wann Ihr Uttika verlasst, Dame Bidayn?

Die Stimme in ihren Gedanken jagte der Elfe einen wohligen Schauer über den Rücken. Auch wenn ein Vorwurf in den Worten lag, überkam sie ein Glücksgefühl, das nahe an die Ekstase reichte, die sie empfunden hatte, als der Goldene sie unter seine Drachenelfen aufgenommen und sie tätowiert hatte.

Sie wandte sich vom Abgrund ab. Da war er! Zwischen den Felsen weiter unten am Hang! Gemessenen Schrittes kam er den Weg hinauf. Die Schatten der Nacht flohen vor der schlanken, hochgewachsenen Gestalt, als wäre er ein lebendes Licht, das alle Finsternis bannte. Die Goldstickereien am Saum seiner kurzen, weißen Tunika funkelten im Mondlicht. Sein wallender Umhang schien aus dem zarten Blau eines morgendlichen Sommerhimmels geschnitten zu sein. Der Goldene trug sein blondes Haar offen, sodass es bis auf seine Schultern hinabwallte.

Viel zu viel Zeit ist vergangen, meine Dame.

»Ja«, hauchte sie und ging dem Drachen in Elfengestalt entgegen. Fast jede Nacht sah sie ihn in ihren Träumen. Wilden Träumen, in denen sich immer und immer wieder jenes Ritual wiederholte, in dem sie eins gewesen waren.

Einige meiner Nestbrüder zweifeln an Euch, ehrenwerte Bidayn.

Die Elfe blieb erschrocken stehen. Zweifelte auch er?

Das Undenkbare ist geschehen. Es gibt Verrat inmitten unserer Reihen.

»Ich würde mich niemals …«

Bedenkt wohl, was Ihr sagt, meine Dame. Ich dulde keine Lügen! Ich weiß, dass Ihr darüber nachsannt, Uttika zu verlassen und damit gegen meine Befehle zu verstoßen.

Sein Zweifel traf sie tief. Seine Gunst zu verlieren würde ihr Leben jeden Sinns berauben. »Ja«, gestand sie. »Ich habe daran gedacht, doch Gedanken und Taten sind zweierlei, Licht meines Lebens.«

Der Goldene schenkte ihr ein Lächeln, das ihr Herz schneller schlagen ließ. Wohl gesprochen, meine Schöne. Dann verfinsterte sich sein Antlitz. Ihr wisst vom Angriff auf Selinunt, die Weiße, jene Stadt, in der sich die Unsterblichen und die Devanthar versammeln wollten, um über den Untergang Albenmarks zu beraten?

Bidayn nickte.

Zwei Drachenelfen waren dort als Späher. Sie sollten uns ein Zeichen geben, falls die Devanthar zur vorbestimmten Stunde des Angriffs nicht zugegen seien, denn nicht Menschenkinder, sondern Götter wollten wir töten. Sie haben uns getäuscht! Kein einziger unserer Feinde starb im Feuer des Himmels, obwohl Gonvalon das Signal zum Angriff gab.

Sein Zorn war für Bidayn körperlich spürbar. Ihr Magen zog sich zusammen, und ihre Muskeln verspannten sich, während seine Gedanken wie glühende Lohe in ihr brannten. »Aber Gonvalon war doch schon lange von Euch abgefallen«, wandte die Elfe ein. »Warum habt Ihr ausgerechnet ihn als Späher geschickt?«

Er begleitete Nandalee. Sie hat den Verrat überlebt. Er nicht!

Bidayn dachte an die beiden langen Reisen, die sie mit dem Schwertmeister nach Nangog gemacht hatte. An dessen Liebe zu ihrer Freundin Nandalee. An seine stille Kraft. Was hatte ihn zum Verräter gemacht?

Es wird ein Krieg kommen, wie ihn unsere Welt noch nicht gesehen hat, meine Dame. Und wir werden nur siegen können, wenn es keine weiteren Verräter oder Zauderer in unseren Reihen gibt.

»Ich werde jeden Eurer Befehle ausführen, Licht meines Lebens!«, entgegnete Bidayn voller aufrichtiger Leidenschaft. »Ich werde nicht zögern.«

Der Goldene bedachte sie mit einem hintersinnigen Lächeln. Ich bin in dieser Nacht gekommen, um Euch auf die Probe zu stellen, meine Dame. Ich weiß, dass ein Funken von Nandalees rebellischem Geist auch in Euch glimmt. Ich war es, der Euch die drei Faune schickte. Eigentlich waren sie harmlos. Ich habe ihre Lust angestachelt und ihnen den Gedanken eingepflanzt, sich an Euch zu vergehen, meine Dame.

Bidayn war ernüchtert, aber nicht schockiert. Er war der Goldene. Er stand für alles, was gut war in dieser Welt. Er musste einen triftigen Grund gehabt haben, so zu handeln.

Ich sagte es bereits, einige meiner Nestbrüder misstrauen Euch, Dame Bidayn. Sie halten Euch für schwach. Deshalb habe ich Euch die Faune geschickt. Ich wollte sehen, wie Ihr Euch verhaltet. Ich gestehe, ich war erleichtert zu erleben, dass Ihr mit Leidenschaft tötet. Ihr seid ein Raubtier in der Gestalt eines Kätzchens. Ihr habt all meine Zweifel zerstreut.Der Goldene machte eine flüchtige Geste in Richtung des Leichnams von Dion, der noch immer auf der Klippe lag. Wie von Geisterhand bewegt, rollte er zur Abbruchkante und stürzte in die Tiefe.

Niemand wird die drei in Uttika vermissen. Faune sind unstet und launisch. Man wird glauben, sie hätten sich einfach davongemacht. Der Goldene trat an ihre Seite und berührte sie zart im Nacken. Ein Gefühl, als rinne feiner Sand über ihre Haut, überlief Bidayn.

Euch wird nun nicht mehr der Geruch des Grabes anhaften. Für einige Monde zumindest. Ihr braucht bald eine neue Haut, meine Dame. Ihr solltet weniger zögerlich sein, was das angeht. Ihr seid eine Drachenelfe. Nehmt Euch, was immer Ihr begehrt. Albenmark liegt Euch zu Füßen, denn Ihr seid meine Auserwählte, die Erste unter den Drachenelfen, die mir dienen.

Bidayn vermochte kaum noch zu atmen. Seine Auserwählte! Endlich würde sie Uttika verlassen können!

Es gibt jemanden, den Ihr für mich töten sollt. Einen sehr gefährlichen Gegner. Viele Tage habe ich damit verbracht, Hunderte Zweige der Zukunft Albenmarks zu erforschen. Mein Nestbruder, der Dunkle, wird ermordet werden, weil er zu leichtfertig sein Vertrauen verschenkt. Ich muss ihn vor der Gefahr schützen, die er nicht sehen will. Ihr, Dame Bidayn, seid auserwählt, meinen Willen zu vollstrecken. Ihr werdet meinen arglosen Bruder retten. Es wird Eure gefährlichste Mission werden, und Ihr werdet es nicht allein schaffen. Sucht Euch Gefährten, die das scheinbar Unmögliche wagen. Und zögert nicht, wenn die Stunde der Klingen naht!

Bidayn war wie berauscht. Endlich fort von hier! Und was für eine Aufgabe. Sie sollte eine Himmelsschlange retten. Den Erstgeschlüpften! »Ich werde alles tun, was Ihr verlangt, mein Gebieter und Wohltäter. Wen soll ich töten?«

Wenn ich den Namen nenne, gibt es kein Zurück mehr, Dame Bidayn. Ihr seid Euch ganz sicher? Bidayn spürte die tiefe Besorgnis des Drachen. Seine Sorge um sie und ihr Seelenheil. Er war so gut zu ihr. So rücksichtsvoll und einfühlend. Und doch war sie auch ein klein wenig beleidigt. Wie könnte sie jemals zögern, wenn er sie zu einer Mission berief!

»Ich bin bereit, mein Gebieter. Wessen Blut soll in Eurem Namen rinnen?«

Es ist jemand, der Euch wohlvertraut ist. Die geschlitzten Pupillen des Drachen schrumpften zu schmalen Strichen, als er sie auf eine Art ansah, die Bidayn die Gewissheit gab, dass er bis auf den Grund ihrer Seele blickte und dass er all ihre geheimen Wünsche und Sehnsüchte kannte. Tötet für mich die Dame Nandalee!

Bidayn atmete schwer aus. Nandalee! Sie war wie eine Schwester für sie gewesen. Bidayn erinnerte sich noch gut, wie sie in der Weißen Halle ungezählte Stunden im Bett neben Nandalee gesessen hatte, um mit ihr darüber zu flüstern, wie schrecklich das Leben einer Novizin in der Weißen Halle war. Sie dachte an die Gefahren auf Nangog, die sie gemeinsam gemeistert hatten. Und auch daran, wie sie stets nur ein Schatten war, wenn Nandalee zugegen war. Ihre Freundin fing alle Blicke ein. Sie war das Licht.

»Was Ihr wünscht, wird geschehen, mein Gebieter!«

SHANADEENS KAMMER

Im ersten Morgenlicht kehrte Bidayn zurück nach Uttika. Der Rausch der Gefühle der Nacht war verflogen. Auch wenn der Goldene sie zu seiner Auserwählten erkoren hatte, durfte sie nicht an seiner Seite bleiben. Sie sollte in dieser kleinen, abgeschiedenen Hafenstadt bleiben und eine Position erlangen, in der es niemanden verwunderte, wenn sie ein Gefolge um sich sammelte. Sie alle sollten Drachenelfen sein, auch wenn sie sich hier als Söldner, Zureiter oder Kammerzofen ausgeben würden. Bidayn hatte dem Goldenen einige Namen von Drachenelfen genannt, die sie an ihrer Seite haben wollte. Wann sie kommen würden, wusste sie nicht.

Die Elfe passierte das unverschlossene Stadttor. Rechts und links des Tores führten zwei Rampen zu den breiten Wehrgängen der Mauer. Uttika war eine seltsame Stadt. Eine Stadt ohne Stufen. Der ganze Küstenstreifen stand unter der Herrschaft der Bronzeschilde. So nannte sich eine Kentaurenhorde, die ganz anders als ihre kleineren Brüder in der Steppe massige Leiber hatten und an schwere Kutschpferde erinnerten. Ihr Fürst Sekander hatte schon vor langer Zeit ein Gesetz erlassen, dass jeder Ort entlang der Küste für Kentauren erreichbar sein musste. Und so baute man Städte ohne Treppen. Allenfalls in den kleinen Häusern und Wohnhöhlen von Kobolden fanden sich ein paar Stufen. Jeder Ort von Bedeutung aber war durch Rampen zu erreichen. Auch waren fast alle Türen so bemessen, dass die drei Schritt hohen Pferdemänner sie mühelos durchqueren konnten.

Das Morgenlicht überhauchte die weiß getünchten Wände der Häuser mit einem zarten rosa Schleier. Ein von Kobolden geführter Karren mit einem riesigen Fass darauf rumpelte an Bidayn vorüber. Er hielt vor jeder Tür, um den Inhalt der Nachttöpfe aufzunehmen, die von Hausdienern herausgereicht wurden. In der ersten Morgenstunde gehörte die Stadt ganz den Kobolden. Und sie entfernten nicht nur den Unrat der Nacht: Auf kleinen Handwagen brachten sie Feldfrüchte auf den Markt, fegten mit Reisigbesen die gepflasterten Straßen, sprengten Wasser auf die Wege, um die Hitze des Tages ein wenig länger zurückzuhalten, backten Brot und bereiteten ihren Herrschaften die ersten Speisen des Tages.

Bidayn würdigte die Dienerschaft kaum eines Blickes. Sie haderte stumm damit, weiterhin hier im Verborgenen, am Ende der Welt leben zu müssen. Natürlich würde sie den Befehlen des Goldenen gehorchen, aber ihr Leben als Drachenelfe verlief ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte Großes vollbracht – doch darüber, was sie auf Nangog getan hatten, durfte nicht gesprochen werden. Und so war sie keine strahlende Heldin. Ganz im Gegenteil, in der vergangenen Nacht hatte sie einen weiteren Schritt in die Dunkelheit getan.

Sie bog in eine Seitengasse ab. Ein streunender Hund mit einer toten Ratte im Maul huschte eilig vor ihr davon. Die Pforte zum Hinterhof von Shanadeens Residenz stand weit offen. Es war der Eingang für Personal. Hierher wurden auch die Waren vom Hafen gebracht, die sich in den beiden langen Speicherhäusern, die den Hof flankierten, bis unter die Deckenbalken stapelten. Seidenstoffe aus dem fernen Haiwanan, Trockenfleisch und Felle aus dem Bainne Tyr, Honigfässer und Bernstein aus Carandamon, Fischöl aus dem Waldmeer, Korallen, gesammelt von den traumlesenden Apsaras der Lotussee. Schätze aus ganz Albenmark wurden hier verwahrt. Graumur, der in die Jahre gekommene Minotaur, der Shanadeens Leibwache befehligte, saß im Schatten des Löwenbrunnens und schärfte mit langsamen Strichen seine Axt. Überrascht sah er ihr entgegen. Seine Nüstern blähten sich, als er misstrauisch witternd Luft einsog.

Bidayn fragte sich, ob ihr noch etwas vom Wohlgeruch des Goldenen anhaftete. Graumur konnte nicht wissen, was für ein Duft das war. Er würde es für ein exotisches Parfüm halten.

»Lange Nacht gehabt, Kleine«, murmelte er, und Schalk spiegelte sich in seinen Augen.

Die Elfe nickte nur und ging geradewegs auf die Tür zum verbotenen Zimmer des Kontors zu.

»Du weißt, dass er das nicht mag«, warnte sie der Minotaur.

Ihr war egal, was Shanadeen mochte. Sie würde von heute an die Herrin dieses Hauses sein. Entschlossen öffnete sie die Tür. Die eiserne Klinke war noch kühl vom Odem der Nacht. Sie wusste, dass sie Shanadeen dort finden würde. Im Kontor, dem allein ihm vorbehaltenen Raum, mit seinen Rechnungsbüchern und den geheimnisumrankten Schätzen, die ihm sein erster Kapitän Alarion von Reisen in die fernsten Weltengegenden mitbrachte. Shanadeen kam jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang hierher. Jene Nevenyll, die sich von der Klippe in den Tod gestürzt hatte, war vor langer Zeit sein Weib gewesen. Er hatte sie in den Tod getrieben. Bidayn vermutete, dass es nicht einmal böse Absicht gewesen war. Shanadeen liebte seine Zahlen und Kostbarkeiten mehr als lebendige Dinge, ausgenommen seine beiden Töchter Lydaine und Farella vielleicht.

Er blickte ärgerlich auf, als sie eintrat. Bidayn, die nie zuvor hier gewesen war, beachtete ihn nicht, sondern sah sich ruhig um. Das Kontor war so groß wie eine kleine Lagerhalle. Mindestens zehn Schritt lang und etwa vier breit. Ein unheimliches, magisches Licht erfüllte den Raum. Seine Wände waren bedeckt mit Schränken, deren Türen aus Glas gefertigt waren. Barinsteine, wie sie die Zwerge in ihren unterirdischen Städten nutzten, leuchteten durch gläserne Regale. Es gab ausgestopfte Tiere, Drachenzähne, seltsame Eier, merkwürdige Waffen. Das verbotene Zimmer war halb Kuriositätenkabinett und halb Schatzkammer. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lagen drei aufgeschlagene Bücher. Lange Reihen mit Zahlen füllten ihre Seiten.

Bidayn zog die Türe hinter sich zu. Immer noch betrachtete sie die obskuren Schätze des Kaufherrn. In einem Glaszylinder schwamm eine abgeschnittene Hand, größer noch als die Hand eines Trolls oder Minotaurs.

»Du weißt, dass du nicht hierherkommen darfst!«, stellte Shanadeen sachlich fest. Der Kaufherr hatte über den Büchern mit den Zahlen gesessen. Nun erhob er sich. Er war hochgewachsen, doch dürr. Sein schmales Gesicht war geprägt von einem Feuer, das ihn verzehrte. Unter seiner Dienerschaft gab es viel Gerede. Es hieß, er und Alarion hätten die Apsaras, die Traumleserinnen der Lotussee, besucht und die Eisbärte, rebellische, blutgierige Kobolde, die den Zwergen von Ishaven ihre Schätze raubten. Er spürte jedem Mysterium nach! Nie betrat der Händlerfürst für seine Reisen das Goldene Netz. Er reiste per Schiff oder in Karawanen über das Land. So viele Geschichten hatte Bidayn in den vergangenen Wochen über ihn gehört. Er kannte die Hexerfürsten der Lamassu, hieß es, und war angeblich auch in den Hallen des Trollkönigs der Snaiwamark gewesen. Welches Geheimnis er aber mit solcher Ausdauer suchte, wusste niemand. Freilich wurde geflüstert. Die meisten vermuteten, es habe mit dem Tod Nevenylls zu tun und damit, dass seine beiden Töchter seit dem Freitod ihrer Mutter nicht mehr wuchsen und auch, trotz ihres stattlichen Alters, ihr kindliches Gemüt nicht ablegten. Es schien, als wäre für die beiden die Zeit stehen geblieben.

Der Kaufherr legte die Feder, die er in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. »Dein Dienst in diesem Hause endet hiermit, Bidayn. Du wirst deine Sachen packen und noch in dieser Stunde aus der Stadt verschwinden. Solltest du meinen Befehlen nicht Folge leisten, wird dir Graumur auf den Weg helfen.«

Bidayn nahm seinen Rausschmiss mit einem Lächeln entgegen. Sie hob lasziv beide Hände zum Nacken, hob ihre Haare und öffnete den Verschluss ihres ärmellosen, weißen Kleides, sodass es ihr bis auf die Hüften hinabfiel. »Du willst mich nicht gehen lassen, du willst mich heiraten, Shanadeen«, sagte sie mit gurrender Stimme und ging langsam auf ihn zu.

Auf den Wangen des Kaufherrn zeigten sich rote Flecken. Eine steile Zornesfalte erschien zwischen seinen Brauen. »Bedecke dich!«

»Ist hier zwischen all diesen Dingen zu sitzen wirklich besser, als bei einer Frau zu liegen?«

»Du weißt nicht …«

Sie strich sich über ihre kleinen, vollen Brüste und hob sie mit den Händen leicht an. »Koste von diesen Früchten. Sie werden dich deine Trauer vergessen lassen.«

Der Kaufherr schüttelte sacht den Kopf. Er hatte einen verkniffenen, schmalen Mund, über den sich eine Nase erhob, die an einen Raubvogelschnabel erinnerte. Spitz, leicht gekrümmt. Er schniefte leicht, und ein grausamer Glanz trat in seine grauen Augen. »Hat dir je ein Mann beigelegen, der nicht volltrunken war, Bidayn? Du weißt um deinen Geruch, nicht wahr? Kannst du dir vorstellen, wie oft Lydaine und Farella mich darum gebeten haben, dich fortzuschicken, weil sie den Verwesungsgeruch, der dich umgibt, kaum ertragen können. Jeder in diesem Hause spottet über dich. Die Kobolde nennen dich die Grabfrau und gehen dir aus dem Weg. Selbst die Rosenseife, mit der du dich so leidenschaftlich wäschst, vermag diesen Geruch nicht zu besiegen. Graumur, der sehr offen wird, wenn er trinkt, hat sich einmal dazu verstiegen, mir anzuvertrauen, dass er lieber ein Astloch ficken würde als dich. Ich hatte bisher Mitleid mit dir, Bidayn. Doch das hast du gerade zerstört. Offensichtlich ist es dein Hirn, das fault und den üblen Gestank verbreitet. Und nun nimm deine Sachen und mach dich davon, sonst lasse ich dich aus meinem Haus peitschen!«

»So leidenschaftlich kenne ich dich gar nicht, Shanadeen«, spottete Bidayn. »Hast du dich je gefragt, warum mir der Duft des Grabes anhaftet? Die Antwort ist einfach. Ich bin der Tod.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und beobachtete das Gesicht des Kaufherrn in der spiegelnden Glasscheibe vor sich. Erst war er überrascht vom Anblick der Tätowierung. Dann plötzlich begriff er, was das prächtige Drachenbild auf ihrem Rücken zu bedeuten hatte, und sein Antlitz wurde zu einer Maske blanken Entsetzens.

»Du bist keine …«

Bidayn wandte sich ihm wieder zu. »Doch, ich bin eine. Schau her!« Sie sprach ein Wort der Macht und hob ihre Hände vors Gesicht. Sie dachte an Tuwatis, den Bewahrer der Tiefen Gewölbe, jenen Išta-Priester aus der Goldenen Stadt, bei dessen Ermordung sie mitgewirkt hatte. Sie würde ihn niemals vergessen – er war der erste Mann, mit dem sie das Lager geteilt hatte. Immer noch überkam sie Ekel, wenn sie an ihn dachte. Ihre Finger tasteten über ihre Gesichtsknochen, pressten, formten. Als sie die Hände sinken ließ, hatte sich ihr Antlitz völlig verändert. Sie sah nun aus wie Tuwatis.

»Es ist der Wunsch des Goldenen, dass ich dein Weib werde. Doch ich sehe schon, dass du kein Mann bist, der den Frauen nachstellt. Ich werde dich töten und deine Gestalt annehmen. Und was sagtest du gleich über Lydaine und Farella? Sie haben über meinen Gestank gespottet? Nun, das Spotten soll ihnen vergehen.« Sie zeigte auf eine der dicken Glasscheiben der Schränke. »Ich werde eine Kiste aus Glas fertigen lassen, Lydaine darin einsperren und die Kiste dann langsam voll Wasser laufen lassen. Und die feinfühlige Farella wird dabei zusehen, wie ihre Schwester ertrinkt. Danach werde ich sie an einen Ort bringen, der ihre Nase weit mehr beleidigen wird als der Geruch, der mir anhaftet. Du weißt sicher, wie begierig Bromgar, der König der Trolle, darauf ist, sich hübsche Elfensklavinnen zu halten. Er wird mir Farellas Gewicht in Gold aufwiegen.«

Shanadeen war binnen Augenblicken um Jahrzehnte gealtert. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren. Sein Gesicht wirkte eingefallen, und überdeutlich trat das Netz der feinen Falten um seine Augen hervor. »Entschuldigt, Herrin. Ich ahnte nicht, wer Ihr seid. Es tut mir leid …«

Bidayn lachte auf. »Du sagst Entschuldigung und glaubst, damit sei es getan? Wie nanntest du mich eben noch? Die Grabfrau? Und du wolltest mich aus deinem vornehmen Haus peitschen lassen.«

»Bitte, Herrin …« Der stolze Kaufherr kniete vor ihr nieder. »Nehmt mein Leben. Aber verschont meine Kinder. Sie sind unschuldig. Sie …«

»Also willst du mein Ehemann werden und einen jeden in dieser Stadt davon überzeugen, dass dich unbändige Liebe zum Kindermädchen deiner Töchter ergriffen hat?« Bidayn schnalzte mit der Zunge. »Ich glaube, über uns beide wird schon bald sehr viel getratscht werden. Und ich hoffe, du bist gut im Bett. Sonst muss ich dir schon bald Hörner aufsetzen. Was den Tratsch noch einmal befeuern wird …«

Wieder schoss ihm das Blut in die Wangen. Er war prüde und langweilig, dachte Bidayn ärgerlich. Der alte, geile Bock und das Kindermädchen. Diese Geschichte würden die Leute der Stadt nur allzu gerne glauben. Und sie würde über Nacht zu Macht und Einfluss gelangen. Niemand würde sich wundern, wenn sie bald einige eigene Bedienstete anstellte und sich so heimlich ihren Zirkel von Mördern erschuf.

»Ich schlage vor, wir gehen nun ins Haus und verkünden unsere Hochzeitspläne. Was denkst du, wann sollen wir heiraten, Liebster? In drei Tagen? Oder in einer Woche?«

»Bitte … ich … Es wäre nicht klug, es zu überstürzen.« Shanadeen wirkte nun etwas gefasster. »Versteh mich nicht falsch. Ich bitte nur um Zeit, damit unsere Geschichte glaubwürdiger erscheint. Ich weiß nicht, was dich hierher nach Uttika geführt hat, und ich will es auch gar nicht erfahren, aber ich vermute doch, dass du kein Aufsehen erregen willst. Ich habe hier viele Geschäftsfreunde, und sie kennen mich als einen Mann, der schon seit Langem den Frauen nicht mehr zugetan ist. Wenn ich nun plötzlich heirate, dann mag das einigen seltsam vorkommen.«

»Du bevorzugst also meinen anderen Vorschlag?« Bidayn genoss es, ihn erneut erbleichen zu sehen. »Ich glaube, ich könnte recht überzeugend deinen Platz einnehmen.«

»Es genügt nicht, allein auszusehen wie ich!«, entgegnete Shanadeen überraschend kämpferisch. »Ohne zu wissen, was ich weiß, wirst du keinen Tag bestehen. Meine Geschäftsfreunde werden schnell merken, dass sich Shanadeen plötzlich nicht mehr an vergangene Gespräche und an alte Absprachen erinnert. Und sie werden sich fragen, warum das so ist. Und dann werden sie deinen Geruch bemerken …«

Bidayn schürzte die Lippen. »Es ist nicht nett, immer auf dem Duft deiner Zukünftigen herumzureiten. Und was das Übrige angeht: Hast du vergessen, was ich bin? Ich nehme mir nicht nur dein Aussehen. Ich werde auch jede deiner Erinnerungen stehlen. Wir Drachenelfen sind die auserwählten Diener der Himmelsschlangen. Wir sind vollkommen in allem, was wir tun. Und glaube mir, Shanadeen, du kannst dir nicht einmal in deinen wildesten Albträumen ausmalen, wozu wir in der Lage sind. Also reize mich nicht! Ich werde meine Warnung nicht wiederholen.« Sie bedachte ihn mit einem freundlichen Lächeln. »Genug der Unerfreulichkeiten. Gehen wir nun hinaus und lassen wir deine Dienerschaft von unserem neuen Liebesglück wissen. Mach nicht so ein Gesicht. Bedenke, du hast mir gerade dein Herz geschenkt. Du willst doch überzeugend sein, nicht wahr?«

»Natürlich!« Der Kaufherr zwang sich zu einem recht kläglichen Lächeln und ging zur Tür.

»Du schätzt Graumur, nicht wahr? Er steht schon lange in deinen Diensten und trägt die Narben mancher Schlacht auf seinen Armen und in seinem Gesicht. Er ist einer, der bei Gefahr nicht davonläuft. Warne ihn nicht! Es täte mir leid, ihn zu töten.«

Shanadeen richtete sich auf.

Hatte sie mit ihrem Verdacht richtiggelegen? Die Tür schwang auf. Helles Morgenlicht überflutete den Hinterhof. Der Minotaur stand an die gegenüberliegende Mauer gelehnt. Er hielt seine massige Streitaxt lässig gegen die Schulter gelehnt, doch Bidayn vermochte er nicht zu täuschen. Sie sah seine Anspannung. Den fragenden Blick. Nie zuvor hatte jemand seinen Herrn in dessen Schatzkammer stören dürfen. Jeder im Haus wusste, dass für dieses Vergehen die schwersten Strafen angedroht worden waren.

»Morgen, Graumur«, sagte Shanadeen steif. »Schöner Tag, nicht wahr?«

Der Minotaur legte den Kopf schief. Es war offensichtlich, dass sein Herr ihn so noch nie begrüßt hatte.

Shanadeen reichte ihr den Arm, und Bidayn hakte sich überrascht ein. Der Alte machte seine Sache besser, als sie erwartet hatte.

»Bald wird sich im Haus einiges ändern«, erklärte der Kaufherr dem sichtlich verwunderten Krieger. »Es wird ein großes Fest geben, und ich verspreche dir ein Fass Met für dich ganz allein.«

Graumur sah ihnen verwundert nach, während sie durch die kleine Tür traten, hinter der ein langer Flur tief ins Herrenhaus führte. Shanadeen löste seinen Arm. Es war hier zu eng, als dass sie bequem hätten nebeneinander gehen können.

Er hielt sich noch immer sehr gerade. Keine Geste verriet, was er dachte, doch Bidayn war sich ganz sicher, dass er sie hintergehen würde, sobald sich Gelegenheit dazu bot. Über kurz oder lang würde sie ihn loswerden müssen. Aber erst einmal würden sie eine Weile das verliebte Paar spielen.

Sie erreichten die Tür zur Küche. Die Mädchen frühstückten meist hier. So oft hatte Bidayn in den letzten Wochen hier gesessen und den immer gleichen kindlichen Scherzen gelauscht. Über Kruppa, die kleine, rundliche Koboldköchin, die die unumschränkte Herrscherin der Küche war, über Maya, ihre zierliche Tochter, die seit sie Kentauren in den Weg gekommen war, die sich in den engen Gassen der Stadt ein wildes Wettrennen geliefert hatten, ein Holzbein besaß. Über Graumur, der durch das kleine Fenster zum Hof jeden Morgen schweißüberströmt nach einem Humpen Bier fragte, wenn er seine Schattenkampfübungen mit der großen Axt abgeschlossen hatte. Und jeden Morgen zeterte Kruppa, dass er ein nichtsnutziger Säufer sei, nur um ihm zuletzt doch seinen Humpen zu geben.

Bidayn war ein Teil von alldem geworden. Es war fast ein Zuhause. Sie schob den sentimentalen Gedanken zur Seite. Dies alles hier war nur ihre Tarnung. Etwas, das sie und ihre wirklichen Absichten verbarg, so wie sie ein dunkler Umhang bei Nacht verbarg. Sie sollte keine Gefühle für diesen Ort und seine Bewohner empfinden.

Shanadeen trat als Erster in die Küche und wurde mit Gekicher und fröhlichen Morgengrüßen von Lydaine und Farella empfangen. »Ich habe euch eine wichtige Mitteilung zu machen«, unterbrach er seine Töchter in feierlichem Tonfall. »Ich weiß nicht, ob es den wachsamen Augen meines Personals nicht ohnehin schon offenbar wurde.« Bei diesen Worten bedachte er die Köchin Kruppa mit einem scharfen Blick. »Seit einigen Wochen sind Bidayn und ich uns sehr zugetan, und ich gestehe freimütig, dass es weniger ihre Referenzen als vielmehr ihre Schönheit war, die mich dazu veranlasst hatte, ihr eine Anstellung in diesem Hause zu geben.«

Kruppa und ihrer Tochter Maya klappte vor Staunen der Mund auf, wohingegen die beiden Mädchen noch nicht begriffen, worauf diese Rede hinauslaufen würde.

»Wie ihr wisst, bin ich kein Mann vieler Worte, und Heimlichkeiten sind mir ein Gräuel. Bevor es Gerede darüber gibt, ob ich zärtliche Bande zu unserem Kindermädchen unterhalte, sage ich es lieber offen heraus: Wir sind verliebt und werden heiraten.«

»Wunderbar! Ganz wunderbar!«, platzte es aus Maya heraus, die auf ihrem Holzbein quer durch die Küche stakste und sich erst im letzten Augenblick bewusst wurde, dass es einer Kobolddienerin nicht zustand, begeistert die Beine ihres Elfenherren zu umarmen.

Bidayn war zufrieden. Shanadeen hatte tatsächlich schauspielerisches Talent bewiesen. Kruppa musterte sie zwar misstrauisch, wagte aber kein Wort zu sagen.

»Sie wird dann unsere Mutter?« Die blonde Lydaine ließ den Löffel in ihre Schale mit Hirsebrei fallen und schnitt eine Grimasse. »Du kannst sie nicht heiraten, Vater. Sie stinkt schlimmer als ein toter Fisch. Ich möchte nicht, dass sie in deinem Bett liegt und du auch so riechst.«

Shanadeen räusperte sich verlegen und suchte noch nach Worten, als Bidayn ihm zuvorkam. »Weißt du, meine Kleine, es sind Lügen, die uns hässlich machen und manchmal sogar stinken lassen. Von nun an sagen wir uns immer nur noch die Wahrheit.« Sie ging in die Hocke und weitete die Arme. »Komm her, und du wirst feststellen, dass mein Gestank verflogen ist.«

Lydaine schüttelte den Kopf. »Du bist nicht meine Mutter. Ich will dich nicht!«

»Und du, Farella?« Bidayn stand auf. Das Mädchen saß an der ihr zugewandten Seite des großen Küchentischs. Sie war die stillere der beiden, mit schwarzem Haar und Augen wie Abgründe. Sie liebte es, Weiß zu tragen, wohingegen Lydaine sich gar nicht bunt genug anziehen konnte. Bidayn hatte Farella immer lieber gemocht. Sie trat an ihre Seite und strich ihr sanft übers Haar. »Und, stinke ich noch?«

Das Mädchen schnupperte übertrieben laut, als wäre sie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Du riechst gut«, sagte sie verblüfft. »Sehr gut!« Sie legte den Kopf an ihre Brust und schnupperte weiter. »Toll!«

Offenbar haftete ihr noch etwas von dem Wohlgeruch des Goldenen an, dachte Bidayn zufrieden. Nun stand auch Lydaine auf und kam zu ihr herüber. Obwohl sie sonst immer eher stürmisch war, näherte sie sich vorsichtig, übertrieben laut atmend. Verwundert runzelte sie die Stirn. Schließlich umarmte sie Bidayn, vergrub das Gesicht unter ihrer Achsel und gab gurrende Laute, wie eine zufriedene Taube, von sich. »Du riechst wirklich so gut!«

Die Elfe streichelte die Kinder über die nackten Arme. Ihre Haut war so zart! Bald schon gehörten sie ihr. Natürlich würde sie die beiden niemals ertränken oder an den Trollkönig Bromgar verschachern. Dazu waren sie zu kostbar! Sie hatten so wunderbar zarte Haut.

ÜBER DEN WOLKEN

Der Sturm ließ die Scheiben in den Bleifassungen klirren. Nabor hielt den Blick gesenkt, starrte auf die viel zu großen, unförmigen Stiefel, in die er gekrochen war und die die Kälte des Himmels doch nicht fernhalten konnten. Der alte Lotse vermochte sich nicht zu erinnern, jemals in seinem Leben so sehr gefroren zu haben. Aber es war nicht die Kälte allein, die ihm ins Mark gedrungen war. Da draußen war etwas am Himmel. Etwas, das man besser nicht zu Gesicht bekam. Es blieb verborgen hinter den von Eisblumen überzogenen Scheiben, durch die nur ab und an das Licht ferner Blitze drang.

Es war Eitelkeit, die ihn hierhergebracht hatte. Dabei war er nie ein eitler Mensch gewesen. Die Himmelspiraten von Tarkon Eisenzunge hatten sein Schiff gekapert und ihn in die Wolkenstadt gebracht, das geheime Versteck, nach dem die Unsterblichen schon so lange suchten. Die Piraten hatten ihn mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Tarkon persönlich hatte ihn zu einem Abendmahl geladen. Der Piratenfürst war ganz anders gewesen, als er ihn sich vorgestellt hatte: kultiviert, umgänglich, ein Mann, der gerne lachte und die Musik liebte. Jetzt, im Nachhinein, war Nabor klar, dass Tarkon ihn umgarnt hatte wie eine schöne Frau, die man zu einer leidenschaftlichen Nacht verführen wollte. Zu später Stunde, als sie schon reichlich Wein getrunken hatten, war der Pirat mit seiner Bitte herausgerückt. Nabor sollte einen anderen Lotsen ersetzen, Veccio, einen unsympathischen Valusier, der nicht viele Freunde in der Gilde hatte.

Einem Lotsen sein Kommando zu stehlen war so ziemlich der schlimmste Affront, den man als Wolkenschiffer begehen konnte. Nabor hatte gezögert und sich Bedenkzeit ausgebeten, die Tarkon ihm auch großzügig gewährte, allerdings nicht ohne die Besonderheiten dieser Reise in den schillerndsten Farben zu schildern. Es sollte hoch in den Norden gehen. In Gebiete, die nicht kartographiert waren und in die noch niemals zuvor eine Expedition vorgestoßen war. Er behauptete sogar, Nangog selbst, die Große Göttin, wolle diese Reise und habe sie unter ihren Segen gestellt. Barnaba, ihr wichtigster Prediger, sollte die Expedition anführen.

Am nächsten Morgen hatte Nabor mit eigenen Augen gesehen, wie sich diesem Barnaba die Schreckenskreaturen, die nach dem großen Beben überall auf der Welt erschienen waren, unterwarfen, als wären sie zahme Hündchen. Eine Bestie, halb Weib, halb Geier, war ständig um den Prediger herum und beäugte jeden misstrauisch, der sich ihm näherte.

Auch Barnaba war voller Enthusiasmus gewesen. Sie würden eines der größten Geheimnisse der Göttin aufdecken.

Aber es war Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer gewesen, der den Ausschlag gegeben hatte. Der Wolkensammler, mit dem sie reisen sollten, war einer der ganz alten unter jenen riesigen Geschöpfen, die lautlos durch die Himmel der Neuen Welt glitten. Nabor hatte schon oft von ihm gehört. Er galt als weise. Und Wind vor regenschwerem Horizont hatte auch von ihm schon gehört. Verfluchte Eitelkeit! Der Wolkensammler hatte ihn freundlich willkommen geheißen, als er an Bord des Schiffes gekommen war, um mit ihm Kontakt aufzunehmen. Nabor war überwältigt gewesen, als er feststellen musste, dass Wind vor regenschwerem Horizont ihn kannte. Der Lotse hatte sich nie für sonderlich bedeutend gehalten, auch wenn er gelegentlich das Palastschiff des Unsterblichen Aaron durch den Himmel Nangogs geführt hatte. Die Wolkensammler hatten ihm sogar einen Namen gegeben. Herz voller Lieder war die Kurzfassung davon, denn die riesigen Himmelsreisenden liebten es, Namen zu vergeben, die zwar meist überaus treffend waren, aber so lang, dass kein Menschenkind sie sich merken konnte. Als Wind vor regenschwerem Horizont ihn bat, als Lotse an Bord zu kommen, war Nabor eingeknickt und hatte willig den immerwährenden Groll des Valusiers Veccio in Kauf genommen. Der Lotse war, begleitet von Tarkon, ohne ein böses Wort von Bord gegangen. Doch in einem Augenblick, als er sich unbeobachtet fühlte, hatte er Nabor mit Blicken bedacht, in denen blanke Mordlust gestanden hatte. Veccio war es hier nicht um ein Abenteuer oder um das Erstellen neuer Karten gegangen. Er hatte von dem Ruhm geträumt, den diese Reise bringen würde.

Eine neuerliche Sturmbö ließ die Scheiben der kleinen Lotsenkanzel unter dem Schiffsrumpf klirrend erbeben. Gabott, sein kleiner Affe, stieß einen schrillen Schrei aus und kletterte von seiner Schulter hinab zur Armbeuge. Zitternd schob er seinen Kopf unter Nabors Achsel. Auch Gabott wusste, dass man nicht hinsehen durfte. Er gab leise, wimmernde Laute von sich. Er spürte sie … Die dort draußen im Himmel, wo es eigentlich nichts geben dürfte außer Wind und Wolken.

Nabor hätte ahnen müssen, dass diese Reise unter keinem guten Stern stand, als die Geierfrau vor zwei Tagen das Schiff verlassen hatte. Sie hatte ganz ihren Instinkten gehorcht und war nicht von Eitelkeit, Gier oder was sonst auch verblendet. Nicht wie die Männer der Besatzung dieses verfluchten Schiffes. Sie alle hofften im hohen Norden etwas zu finden, das ihr Leben wieder in die rechte Bahn lenken würde.

Nabor rieb fröstelnd seine Hände über die Arme. Eiskristalle begannen nun sogar auf der Innenseite der kleinen, runden Glasscheiben im Gitterwerk aus Blei zu wuchern. Plötzlich war da ein Geräusch … Etwas, das nicht in das Muster der wohlvertrauten Geräusche des riesigen Wolkenschiffes passte, zum Heulen des Windes in der Takelage und zum Knacken des Holzes, das in der eisigen Kälte arbeitete. Es war ein Laut, den es viele tausend Schritt über dem Boden nicht hätte geben dürfen. Etwas kratzte über das Eis der Scheiben hinter Nabor.

Nabor drehte sich hastig um. Vier dunkle, parallel verlaufende Linien zerteilten direkt vor ihm die Eiskruste auf dem Bleiglasfenster. Er keuchte. »Dafür gibt es eine Erklärung«, stammelte er, nur um eine Stimme zu hören. »Ein Stück Eis hat sich vom Rumpf gelöst und ist hier vorbeigeschrabbt.« Er wusste nur zu gut, dass er Unsinn redete. Niemals würde so ein Stück Eis vier dünne, parallel laufende Schrammen wie von einer Krallenhand auf dem Fenster hinterlassen. Aber hier oben durfte es auch nichts mit Krallen geben!

Gabott stieß einen schrillen, fiependen Laut unter seiner Achsel aus.

Die Linien wurden länger! Dahinter lag nichts als die Schwärze der Nacht!

Erschrocken wich Nabor zurück, soweit das in der engen Lotsenkanzel möglich war. Die Linien trafen auf einen der dünnen Balken der Bleifassung. Wölbte sich das Blei nach innen? Drückte da etwas die Fassung heraus?

Nabor riss sich von dem Anblick los und sah wieder auf seine Stiefel. Alte Erinnerungen beschlichen ihn. Geschichten aus seiner Kindheit. Erzählungen von bösen Meeresgeistern, die auf dem Sturmwind ritten und nur dann Gestalt annahmen, wenn der Himmel so in Aufruhr war wie in dieser Nacht. Geboren aus Sturmwind und Blitzen zogen sie dicht über die Gischtkronen der Wellen, um Unheil zu stiften. Mal zeigten sie sich nur als flackerndes Licht an Schiffsmasten, mal kamen sie, um den Steuermann über Bord zu zerren oder einen leichtfertigen Schiffsjungen von seinem Ausguck auf dem Mast zu stoßen. Angst ließ sie mächtiger werden. Das Schlimmste war, sie anzuschauen. Ihr Anblick ließ ein Herz so sehr verzagen, dass es aufhörte zu schlagen.

Wieder kratzte etwas über die Scheibe. Nabor sah diesmal nicht hin! Der Sturm würde vorüberziehen und mit ihm das Geschöpf dort draußen, das keine Armeslänge entfernt hinter einer dünnen Glaswand auf ihn wartete.

Nabor streckte seine Hand tastend zur Seite. Dort war die Leiter, die hoch in den wuchtigen Rumpf des Wolkenschiffs führte. Er müsste sich ein wenig drehen, um in die Sprossen zu greifen und hinaufzusteigen, wie er es schon unzählige Male getan hatte, seit sein Leben dem Himmel über Nangog gehörte. Aber Nabor konnte nicht. Etwas lähmte seinen Willen. Dieses Ding dort draußen wollte ihn hier in der Lotsenkanzel behalten, denn hier konnte es zu ihm gelangen. Es wollte ihn holen … Sie alle hier an Bord wollte es holen. Aber ihn hatte es als sein erstes Opfer erwählt!

Beklommen dachte er an die einzige unheimliche Geschichte, die er über die Reisen am Himmel dieser fremden Welt gehört hatte: über Schiffe, die voller Toter lagen, von denen kein einziger eine sichtbare Wunde aufwies. Sein Blick glitt zu den Schrammen im Eis. Dieses Geschöpf würde Wunden hinterlassen!

ENDE DER LESEPROBE