Schattenelfen - Das Labyrinth der Nacht - Bernhard Hennen - E-Book

Schattenelfen - Das Labyrinth der Nacht E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Fürstin Alathaia ist auf der Flucht. Ihr Traum von einem Fürstentum, in dem unbegrenzte Freiheit herrscht, ist zerbrochen, ihr Leben ein Labyrinth der Finsternis. Alle Wege scheinen versperrt. Zu übermächtig ist ihre Gegenspielerin, die Elfenkönigin Emerelle. Doch größte Verzweiflung gebiert größte Entschlossenheit. Und so macht sich Alathaia mit ihren letzten Getreuen auf den Weg, um das Undenkbare zu wagen. Sie reist in die Eiswüsten der Snaiwamark und bittet die geschworenen Feinde der Elfen um Hilfe: die Trolle.

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Seitenzahl: 546

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Das Buch

Fürstin Alathaia ist verzweifelt. Zwei ihrer Kinder wurden gefangen, eines ist verschollen, das letzte ermordet. Obendrein hat sie ihr Reich Langollion verloren. Alles scheint hoffnungslos, mit ihren letzten Getreuen ist sie auf der Flucht. Doch wie eine in die Enge getriebene Löwin wird Alathaia am gefährlichsten, wenn jeder Kampf aussichtslos erscheint. Die Zauberin Leynelle und der Meisterbogenschütze Laurelin haben zu ihr zurückgefunden und begleiten sie mit den Zwergen in die Snaiwamark, das Königreich der Trolle.

Dort müssen sich die Fürstin und ihr Gefolge grausamen Prüfungen im Labyrinth der Nacht unterziehen, um das Vertrauen der Erbfeinde der Elfen zu gewinnen.

Die Kaiserinnen vom Gelben Fluss, Makiko und Adelayne, belagern währenddessen listenreich und systematisch die Inselstadt Caistella, das Fürstentum des Drachen Morgenstern. Und ein Drache, der Imperien entstehen und vergehen sah, kennt immer noch eine List mehr.

Der Autor

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Mit seiner »Elfen«-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

BERNHARD

HENNEN

SCHATTENELFEN

DAS LABYRINTH DER NACHT

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Bernhard Hennen

Copyright © 2023 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Uta Dahnke

Coverkonzept: Bernhard Hennen

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,

unter Verwendung einer Illustration von Kerem Beyit

Karten [>>]: Andreas Hancock

Illustration Elfenknoten: Olaf Sigel

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-26996-8

www.heyne.de

Für die Ferne im Löwenhaus

»Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.«

(Mark Twain)

KEIN UNTERTAN

»Ich habe Untertanen schon für weniger gefressen.« Das Elfenmädchen stand im strömenden Regen auf der Stadtmauer der Marktinsel und wandte den Blick vom Heerlager am südlichen Ufer des Gelben Flusses ab. Die bernsteinfarbenen Augen mit den geschlitzten Pupillen musterten Broja Büffelfuß auf eine Art, die ihn zutiefst bereuen ließ, was er soeben gesagt hatte.

Der Kobold räusperte sich nervös. »Darf ich darauf hinweisen, dass ich nicht dein Untertan bin, sondern ein Untertan der Fürstin Alathaia?«

»Du stehst auf meiner Mauer, in meiner Stadt. Glaubst du, als Fremder seiest du hier sicherer als einer meiner Untertanen?« Morgenstern sprach, ohne die Worte sonderlich zu betonen.

Gerade diese Beiläufigkeit ängstigte Broja zutiefst. Besser das Thema wechseln! »Manchmal sage ich einfach nur, was mir so durch den Kopf geht. Bitte verzeih. Vergiss es einfach.«

Die junge Elfe stand reglos da. Regentropfen perlten von ihrem strähnigen schwarzen Haar. Ihr weißes Kleid war völlig durchnässt. Ihr Körper zeichnete sich derart deutlich unter dem dünnen Stoff ab, dass Broja den Blick fest auf die geschlitzten Pupillen geheftet hielt. Dieses Mädchen wirkte so harmlos, doch hinter der zarten Gestalt verbarg sich ein Sonnendrache, der Äonen gesehen hatte: Morgenstern hatte einst im Drachenkrieg gekämpft und herrschte seit Jahrhunderten über die sieben Inseln im Delta des Gelben Flusses, auf denen er die Stadt Caistella gegründet hatte. Er konnte großzügig sein, aber auch blutrünstig. Wenn er Drachengestalt annahm, war er fast fünfzig Schritt lang, und sein Maul war so gewaltig, dass es eines Trupps von Faunen bedurfte, um die Reste zwischen seinen Zähnen zu entfernen, nachdem er gefressen hatte.

Wie unglaublich dämlich war es, so einer Kreatur zu empfehlen, sich zu ergeben? Was hatte er sich nur dabei gedacht, schalt sich Broja in Gedanken. Da gewann er einen gewaltigen Drachen zum Freund und brauchte dann nur ein paar Tage, um die Echse dazu zu bringen, ihn verspeisen zu wollen!

Nun, da er diesen unseligen Weg einmal beschritten hatte, sollte er sich wenigstens erhobenen Hauptes seinem Schicksal stellen.

»Erinnerst du dich an den Morgen am Tor zur Hufeiseninsel, als Kaiserin Adelayne mich verstoßen hat? Du warst es, Morgenstern, der mich eingeladen hat, dein Freund zu sein. Ich bin also weder ein Untertan noch ein Fremder, denke ich. Und als Freund habe ich die Pflicht, dir offen ins Gesicht zu sagen, wovor alle anderen zurückschrecken: die Wahrheit. Du wirst diese Belagerung ganz gewiss noch etliche Monde in die Länge ziehen können, aber ich halte es für ausgeschlossen, dass du aus diesem Kampf als Sieger hervorgehen wirst.«

Das Elfenmädchen presste die Lippen zusammen und wirkte trotzig, wie es vielleicht zu einer Fünfzehnjährigen gepasst hätte, aber nicht zu einem Drachen, der mehr als zweitausend Jahre alt war. »Weißt du, wie lange es gedauert hat, diese Stadt aufzubauen, Broja? Sie nach meinen Vorstellungen zu formen und zu dem Juwel unter den Städten zu machen, das sie heute ist? Ich liebe Caistella. Würdest du etwas aufgeben, was du liebst?«

Broja dachte an Jula, die frisch ernannte Hofmeisterin des jüngst verstorbenen Kaisers Jagon, und daran, dass er die Koboldin wohl nie wiedersehen würde. »Gerade wenn ich liebe, muss ich loslassen können, sobald ich sehe, dass meine Liebe Schaden anrichtet. Sieh dir deine Stadt an. All die Verwüstungen durch die Belagerung! Und sind es nicht die Einwohner, die einer Stadt erst Leben einhauchen? Wie viele von ihnen sind tot? Verbrannt durch Feuervögel, von Pfeilen durchbohrt oder von Katapultsteinen erschlagen? Wie viele werden durch Hunger und Krankheiten sterben, wenn die Belagerung weitergeht?«

Die Elfe machte einen Schritt in Brojas Richtung. Eine der Steinplatten des Wehrgangs riss unter ihrem Fuß, und die Mauer erbebte, als habe ein Katapultstein sie getroffen. Die Magie des Drachen vermochte seinen Körper in eine andere Form zu zwingen, sein Gewicht blieb jedoch stets gleich. »Bring mich nicht aus der Fassung«, sagte die Elfe beherrscht. »Was weißt du schon vom Lauf der Zeit? Du, dessen Lebensspanne vielleicht einmal fünfzig Jahre zählen wird, wenn ich dich nicht vorher verschlinge. Die Bewohner dieser Stadt sind wie das Laub an einem Baum. Jeden Herbst fällt es ab und wächst doch im Frühling neu nach. Es gibt Kaufmanns-, Handwerker- und Fischerfamilien, die ich seit Generationen kenne. Es ist der Stamm des Baumes, der bleibt. Es ist die Stadt, die zählt. Ihre Einwohner sind nur Beiwerk, so wie das Blattwerk eines Baumes.«

Broja verkniff sich eine Antwort. Das war eine grundlegend andere Art, die Welt zu betrachten. Aber er war ja nur Laub, wenn man es so sah wie der Drache.

Broja stand im Eingang eines der kleinen Wachtürmchen, die über den Rand der Stadtmauer hinausragten. Geschützt vor dem Regen und auch vor etwaigen Pfeilen. Die schlammgelben Fluten, die dem großen Fluss seinen Namen gegeben hatten, wälzten sich unterhalb der Mauer träge dem Meer entgegen. Entwurzelte Bäume trieben mit der Strömung. Ab und an sah Broja ein Hausdach oder eine Wand aus geflochtenem Schilf. Flussaufwärts musste der Regen der letzten Tage Überschwemmungen verursacht haben.

Im Heerlager am Südufer wurden Zelte abgebaut, die zu nah am Fluss standen. Der Regen lag wie ein silberner Schleier über dem breiten Strom, ließ alles in der Ferne ins Vage verschwimmen. Die Feuervögel, die sonst in weiten Kreisen um die sieben Inseln flogen, hatten sich in ihr Nest in dem verfallenen Tempel zurückgezogen. Dennoch bestand keine Hoffnung, dass Entsatztruppen bis nach Caistella durchbrechen würden oder auch nur ein paar schnelle Blockadebrecher mit Frachträumen voller Vorräten. Im Mündungsdelta des Gelben Flusses kreuzte die Flotte des Kaiserreichs. Es gab kein Durchkommen.

Noch litt niemand in der Stadt Hunger. Selbst jetzt, im strömenden Regen, waren Fischerboote nahe der Mauern unterwegs. Doch was der Fluss ihnen schenkte, würde nicht genügen, um auf Dauer alle hungrigen Mäuler zu stopfen. Caistella war zum Untergang verdammt. Und einzig der Drache in Gestalt des Elfenmädchens wollte diese einfache Wahrheit nicht sehen.

Aber vielleicht übersah er, Broja, ja etwas, was für den Drachen, der so anders dachte, ganz klar zutage lag. »Warum glaubst du, dass du gewinnen wirst?«

Sofort hellten sich die Züge des Elfenmädchens auf. »Endlich stellst du die richtige Frage. Ich werde gewinnen, weil das Kaiserreich von zwei Kaiserinnen regiert wird, die zudem miteinander verheiratet sind. Dem haftet der Verwesungsgeruch des Untergangs an.«

Broja klappte der Kiefer herab. Das durfte doch nicht wahr sein! Was ging in diesem Echsenhirn vor sich? »Du glaubst, Frauen könnten nicht herrschen?«

»Keineswegs«, erwiderte das Elfenmädchen. »Schließlich beweist Emerelle seit Jahrhunderten das Gegenteil.«

Jetzt war Broja völlig verwirrt. Zum einen, weil Morgenstern anerkennend von der Elfe sprach, die ihm einst sein Drachenfeuer genommen und ihn eines Großteils seiner Magie beraubt hatte, zum anderen, weil diese Aussage so gar nicht zu seinem arroganten Urteil über die beiden Kaiserinnen passte. »Und warum sollten Makiko und Adelayne nicht ebenfalls große Herrscherinnen werden?«

»Es liegt nicht an ihnen«, entgegnete Morgenstern gut gelaunt. »Es liegt am Kaiserreich am Gelben Fluss und dem männlichen Adel. Schon die Dreierhochzeit wird vielen Fürsten Magenschmerzen bereitet haben, und jetzt von zwei Frauen regiert zu werden, die obendrein noch miteinander verheiratet sind …« Die Elfe schnaubte überaus zufrieden. »Das ist zum Untergang verdammt. Sie haben eine durch und durch patriarchalische Gesellschaft. Die Männer dort fühlen sich herabgesetzt, wenn ihnen eine Frau in aller Öffentlichkeit sagt, was sie zu tun haben. Abgesehen davon, war Makiko immer eine verwöhnte Prinzessin. Es gibt nichts, was sie als Herrscherin auszeichnet …«

»Außer vielleicht die Tatsache, dass sie – im Gegensatz zu ihrem Vater und ihrem Bruder – noch lebt?«, warf Broja ein.

Das Elfenmädchen schüttelte so energisch den Kopf, dass ihr die nassen Haare ins Gesicht schlugen. »Makiko und Adelayne herrschen seit nicht einmal zwei Wochen. Da gab es noch nicht viel Gelegenheit zu sterben. Aber ich sage dir, die beiden haben in ihren eigenen Reihen schlimmere Feinde, als ich einer bin. Auch aus dem Grunde werde ich mich nicht unterwerfen. Ich muss nur noch ein oder zwei Wochen durchhalten, und das Problem erledigt sich von selbst.«

Morgenstern wies mit großer Geste zu dem feindlichen Heerlager am Fluss. »Bald fällt dort alles auseinander. Ich glaube, ein Kampf um den Thron ist unausweichlich. Und fast jeder Fürst wird sich als nächsten Kaiser sehen. Wir müssen nur hier auf unseren Inseln ausharren und ein wenig Geduld haben, dann werden wir zusehen können, wie sich unsere Feinde gegenseitig zerfleischen.«

TREUESCHWUR

»Ich habe versprochen, zu ihr zurückzukehren. Die Fürstin braucht mich.« Laurelin sah ihr fest in die Augen.

Er würde es tun, daran hatte Leynelle nicht den geringsten Zweifel. Er war immer so verdammt aufrichtig. Sie nahm seine Hände in die ihren und betrachtete die Stümpfe seiner verlorenen Finger. Er zögerte nie. Er opferte sich auf. Er war hierhergekommen, um sie zu retten. Erschaudernd dachte sie an die Rutsche, an deren Ende eine aufrecht stehende Klinge auf sie gewartet hatte. Es war knapp gewesen. Viel zu knapp. Ohne Laurelin wäre sie nicht mehr am Leben, da war sich Leynelle ganz sicher. Hätte sein Pfeil nicht den Maskenhelm aus Blei geöffnet …

Aber sie war es müde, von Kampf zu Kampf zu ziehen. Sie fühlte sich Fürstin Alathaia nicht verpflichtet. Einst hatte die Herrscherin von Langollion sie grausam bestraft. Nur zu gut erinnerte Leynelle sich daran, wie unendlich lange sie in der Höhle am Meer vor sich hin vegetiert hatte. Zuletzt war sie mehr Tier als Elfe gewesen. Zugegeben, damals hatte sie eine Strafe verdient. Ihre Neugier und der hemmungslose Wille, ihre Zaubermacht zu vergrößern, hatten sie selbst den Tod von Kindern in Kauf nehmen lassen …

Doch jetzt wollte sie all das vergessen – die Bienenhexe, die sie einst war, und die verwilderte Kreatur in der Höhle. Sie träumte davon, an einem Ort, an dem niemand sie kannte, ein neues Leben zu beginnen. Gemeinsam mit Laurelin, der sie herzerweichend verliebt ansah.

»Ich werde gehen«, bekräftigte Laurelin. »Ich habe Fürstin Alathaia mein Wort gegeben. Und sie braucht auch dich. Die Lage ist verzweifelt. Ihr sind nicht mehr viele Verbündete geblieben. Aber sie will den Kampf für ein freies Langollion, ein Fürstentum der Träumer, Dichter und Rosenzüchter, deren vornehmste Aufgabe im Leben es ist, ihr Glück zu finden, nicht aufgeben. Ich kann sie nicht im Stich lassen.«

Hinter Laurelin stand Hauptmann Nanduval, die Arme vor der Brust verschränkt, mit stoischem Blick. Er strahlte Verachtung aus. Er schien zu erwarten, dass sie dem Ruf Alathaias nicht folgen würde.

»Worum sollen wir noch kämpfen? Emerelle hat Langollion besetzt. Alathaia ist nicht länger die Herrscherin der Insel. Welchen Sinn hätte es noch zurückzukehren?« Zwei Mal hatte sie ihr Leben geschenkt bekommen. Beide Male war Laurelin es gewesen, dem sie alles verdankte. In der Drachenhöhle und im Tauchboot der Zwerge hatte er sie gepflegt und hier in Caistella vor der Hinrichtung bewahrt. Sie wollte dieses Leben jetzt nicht einfach wegwerfen, indem sie den aussichtslosen Kampf für eine längst verlorene Sache unterstützte.

»Ich habe ihr versprochen zurückzukehren«, beharrte Laurelin.

Leynelle war versucht, ihm zu erklären, wie dumm es war, für ein Versprechen sein Leben wegzuwerfen. Aber sie wusste, wie sehr ihn das verletzen würde. Laurelin fürchtete nur wenig. Damit konfrontiert zu werden, dass er manchmal herzerweichend naiv war, würde ihn tief treffen, denn er wusste, dass es stimmte. Folglich beschloss sie, seine Aufmerksamkeit auf den praktischen Aspekt zu lenken. »Und wie sollten wir nach Langollion reisen? Emerelles Streiter haben doch gewiss alle Albensterne besetzt. Wir würden ihnen geradewegs in die Arme laufen.«

»Ich bin zuversichtlich, dass Ihr einen Weg finden werdet, Dame Leynelle, wenn Ihr es nur versucht«, schaltete Nanduval sich höflich ein.

Sie musste unwillkürlich daran denken, dass Broja gern spottete, der Hauptmann habe einen Stock im Arsch. Das stimmte!

»Darf ich Euer Lächeln als Zustimmung deuten?« Es lag keinerlei Hoffnung in der Stimme des Hauptmanns. Für ihn war sie fraglos die Verkörperung all dessen, was er verabscheute.

Es reizte Leynelle, Nanduval zu überraschen. Und sie wusste, wie glücklich Laurelin wäre, wenn sie an seiner Seite blieb. Sie könnte ihm seine Treue vergelten. Nur Broja fehlte in ihrer kleinen Schar. Er trieb sich in den letzten Tagen bei dem Drachen herum. Der Kobold war der einzig Vernünftige hier. Er würde gewiss nicht nach Langollion zurückkehren.

»Wir müssten nachts gehen«, überlegte sie laut, »und wir müssten sicherstellen, dass uns Zafira und Melvyn nicht folgen. Wenn ich es richtig verstanden habe, versteckt sich Alathaia. Das Letzte, was die Fürstin braucht, ist, dass wir ihre Verfolger direkt zu ihr führen. Euch ist dieses Risiko hoffentlich bewusst, Hauptmann?«

Nanduval nickte knapp. »Ja. Die beiden beobachten uns.« Er sah zu den hohen Mauern, zu den Türmen mit den Katapulten. Diese Insel, der einzige Zugang zum Horst, der Palastinsel des Drachen, war – wie ihr Name besagte – zu einer gewaltigen Festung ausgebaut. Sie standen im Schutz der Pferdeställe. Von hier hatte man den weiten Innenhof der Befestigungsanlage gut im Blick. Hinter den dicken Mauern und in den Fels der Insel getrieben, existierte ein Labyrinth aus Gängen und Kasematten. Morgenstern hätte hier wohl bis zu dreitausend Krieger unterbringen können, schätzte Leynelle. Nur dass er gar nicht so viele Streiter hatte.

Den Hof säumten mehr als ein Dutzend Türme. Jeder mit etlichen Schießscharten, auch zum Innenhof. Dort irgendwo befand sich mindestens einer der beiden Spitzel Emerelles, da war sich Leynelle sicher. Zafira und Melvyn hatten den Schattenkrieg der Elfenkönigin an den Gelben Fluss getragen. In der letzten Schlacht hatten sie zwar alle auf derselben Seite gekämpft, und Leynelle war nur zu bewusst, welchen Anteil der Wolfself an ihrer Rettung gehabt hatte, doch nun war alles wieder beim Alten. Zafira und Melvyn waren hier, um ihre Pläne zu durchkreuzen. Aber vielleicht, dachte Leynelle, wären es ausgerechnet diese beiden, die ihr am Ende helfen würden, das Leben zu führen, von dem sie träumte.

Sie straffte sich. »Wir werden also Eure Erfahrung als Krieger und Anführer brauchen, Hauptmann Nanduval. Ich weiß, Ihr habt die Leibwache Alathaias befehligt und die Fürstin vor so manchem Unheil bewahrt. Ich vertraue ganz Eurem Urteilsvermögen, wenn ich Euch nach Langollion begleite. Nennt mir Ort und Stunde, und ich stehe bereit, zur Fürstin zurückzukehren.«

Leynelle konnte in Nanduvals Augen lesen, dass er ihren Worten nicht traute. Womöglich durchschaute er sie auch. Doch das spielte keine Rolle, denn nun stand er vor einem schier unlösbaren Problem. Sie bedachte ihn mit einem süffisanten Lächeln. »Euch ist bewusst, wie gut Zafira darin ist, uns auf den Albenpfaden zu folgen? Es heißt, keine Lutin beherrscht diese Kunst so wie sie, und die Lutin sind uns Elfen deutlich darin überlegen, das Goldene Netz zu nutzen. Was werdet Ihr tun, um Emerelles Spitzel aufzuhalten, Hauptmann? Zafira und ihren Leibwächter töten?«

Die Züge des Kriegers verfinsterten sich. »Ich bin kein Mörder, Dame Leynelle. Sollen die beiden uns nur folgen! Es wird ihnen nicht helfen. Wir werden entkommen. Heute Nacht, meine Dame. Wir fliehen hier durch den Albenstern und reisen zum Albenstern auf dem Marktplatz von Rosan.«

Seine Worte waren wie ein unerwarteter Guss Eiswasser. Nach Rosan? Auf den Markt? Mitten ins Herz der besetzten Stadt? Nanduval war verrückt geworden!

GEMAHLINNEN

Eine breite Bresche war in die Flanke des Hügels geschlagen worden, auf dem noch vor Kurzem inmitten eines Bambuswaldes das Zelt Ligons, des Gläsernen Kaisers, gestanden hatte. Wände aus frisch geschnittenem Bambus hinderten das rötliche Erdreich daran nachzusacken. Der Boden, auf dem sie gingen, war ebenfalls mit Bambusrohr bedeckt. Dienerinnen folgten Adelayne und Makiko und hielten selbstlos Seidenschirme über sie, um die Kaiserinnen vor dem unerbittlichen Regen zu schützen, während sie selbst schon bis auf die Haut durchnässt waren.

Onkel Hiro hatte sie beide ins Totenhaus gebeten, um ihnen seine Arbeit an Kaiser Jagon zu präsentieren. Vielleicht hatte er aber auch ein anderes Ansinnen. Hunderte von Arbeitern umgaben sie. Wohin Adelayne auch blickte, sah sie Damien im Lendenschurz, bedeckt mit rotem Schlamm. Sie wühlten sich in den Hügel, um den Totenpalast für die beiden jüngst verstorbenen Kaiser anzulegen. Mächtige Steinblöcke wurden von Frachtschiffen am Fluss auf Schlitten über die Bambuswege herangeschafft. Aus den Steinmetzwerkstätten war ein unermüdliches Stakkato von Hämmern auf Meißeln zu hören.

Gemeinsam mit ihrer Gemahlin Makiko hatte Adelayne entschieden, nur mit kleinem Gefolge zum Totenhaus zu kommen, um nicht verängstigt zu wirken, indem sie sich mit Heerscharen von Leibwächtern umgaben. Doch nach den fehlgeschlagenen Angriffen auf die Insel des Meeres und die Marktinsel, gefolgt von der Befreiung Leynelles, bei der Kaiser Jagon getötet worden war, brodelte es im Heer. Drei Niederlagen in Folge hatten Makikos Sieg auf der Insel der Märtyrer verblassen lassen, und als Herrscherin war sie keinesfalls unentbehrlich. Ganz im Gegenteil. Adelayne hatte die Worte des Einbalsamierers durchaus noch im Gedächtnis, die er am offenen Sarkophag des Gläsernen Kaisers gesprochen hatte: Schon viele aus der Familie haben vor mir auf dem Steintisch gelegen. Männer, Frauen, Kinder … Einige Neugeborene. Zwei Kinder hatten nicht einmal den Leib ihrer Mutter verlassen. Unter all den Toten war kein einziger, der an Altersschwäche oder Krankheit gestorben wäre.

Adelayne überlegte, wie es ein Meuchler wohl anstellen würde, sie und Makiko zu töten. Oder vielleicht auch nur eine von ihnen?

Sie würde versuchen, es wie einen natürlichen Tod aussehen zu lassen, überlegte Adelayne, aber waren die Damien noch bereit, so subtil vorzugehen? Der Blick der Elfe glitt über die unzähligen Arbeiter, über das Dach des Totenhauses. Ein Armbrustschütze dort oben vielleicht?

Sie sollte aufhören, sich umzusehen. Ihre Leibwache war loyal. Die Kriegerinnen in den weißen Waffenröcken würden gut auf sie achten, und Adelaynes Aufgabe als Kaiserin war es, unerschütterliches Selbstbewusstsein auszustrahlen. So zwang sich die Elfe zu einem Lächeln und erduldete den langsamen, lärmenden Takt der Kesselpauken, die geschlagen wurden, als sie sich dem Totenhaus näherten.

Drei hohe Stufen führten zu dem schmucklosen, dreißig Schritt langen Bau, der auch als Lagerhalle hätte durchgehen können, wäre da nicht das zweiflügelige Bronzetor gewesen, dessen Hochrelief einen Angriff von Kriegselefanten zeigte.

Makiko an ihrer Seite hielt sich gut. Sie hatte die Stunde vor dem Aufbruch unter ihren Blumen verbracht. Die Damien war seltsam. Manchmal sprach sie zu den Pflanzen und neigte dann den Kopf, als würde sie auf Antworten lauschen.

Ihre kaiserliche Gemahlin trug ein Kleid mit weit ausgestellten Ärmeln. Es war in Rot gehalten, mit breiten weißen Säumen. Schlicht und doch elegant. Adelaynes Kleid sah fast identisch aus, bei umgekehrter Farbgebung, sodass bei ihr die Säume rot waren und sie eine breite rote Schärpe trug. Nach dem Tod des Gläsernen Kaisers wäre das Heer beinahe auseinandergebrochen. Die Krieger hatten Weiß gewählt, wenn sie sich seinem Sohn Jagon verbunden fühlten, und Rot, wenn sie aufseiten seiner Tochter Makiko standen. Adelayne hatte die Lage zu nutzen gewusst und kurzerhand beide Geschwister zugleich geehelicht. Nun versuchten sie und ihre Gemahlin, die Zwietracht im Heer durch die Botschaft ihrer Kleider aufzuheben: Rot und Weiß waren wieder eins!

Als sie auf fünfzig Schritt an das Totenhaus heran waren, setzte ein wimmerndes Spiel seltsamer Saiteninstrumente ein. Auf den drei hohen Stufen zum Portal hatten sich etliche Würdenträger des Hofes versammelt. Der strömende Regen des Nachmittags hatte einen guten Teil ihrer Würde fortgespült. Schminke war verlaufen, Seidengewänder, so wertvoll wie hundert Wasserbüffel, hingen schlaff an ihren Besitzern herab, Frisuren hatten sich aufgelöst. Wenn die Kaiserinnen unter Schirmen vor den Hof traten, war es niemand anderem erlaubt, auf diese Weise vor dem Regen geschützt zu werden.

Dies war nur eines der unzähligen Gesetze, die Adelayne für taktisch unklug hielt. Alles erschien ihr wie ein einziges Gegeneinander. Schon auf die falsche Art eine Teeschale an die Lippen zu führen mochte am Kaiserhof als ehrabschneidende Beleidigung aufgefasst werden, die mit dem Tod bestraft werden konnte.

Wenn die Schlacht um Caistella erst einmal gewonnen war, dann würde sie gründlich mit diesen unsäglichen Ritualen aufräumen, das schwor sich die Elfe. Sie wollte als Herrscherin die Fäden in der Hand halten, nicht im Netz der Intrigen verenden!

Die bronzenen Torflügel schwangen auf. Adelayne musste ihr Kleid raffen, um die hohen Stufen zu bewältigen. Hoffentlich sah ihre Schminke nicht so erbärmlich aus wie die der Höflinge. Ihr Gesicht war vom Haaransatz bis unters Kinn weiß, schwarze Linien und ein blassgrauer Lidschatten betonten ihre großen blauen Augen. Ihre Lippen hatten ihre Dienerinnen rot bepinselt.

Aus dem Tor des Totenhauses wogte Rauch, der ihr in der Kehle kratzte und in den Augen brannte. Adelayne trat an Makikos Seite in eine lang gestreckte fensterlose Halle, die in unstetes rötliches Licht getaucht lag. Zwei Reihen mit Feuerschalen wiesen den Weg zu einem schlichten hölzernen Tor am gegenüberliegenden Ende.

Hinter ihnen strömten die Würdenträger in die Halle. Sie gruppierten sich entlang der Wände. Adelayne erlaubte sich einen flüchtigen Blick über die Schulter. Es waren ausschließlich Männer, die dort Aufstellung nahmen. Einigen sah sie die Erleichterung an, dem Regen entkommen zu sein.

Hinter ihnen schlossen sich die Bronzeflügel des Eingangs. Erst dann wurde das schlichtere Tor vor ihnen geöffnet. Eine weitere Halle, beleuchtet von Feuerschalen, lag vor ihnen. Hier hing der schwere Duft von Weihrauch in der Luft. Er machte Adelayne leicht benommen. Die Kriegerinnen und Hauptleute ihrer Leibwache eilten im Sturmschritt an ihnen vorüber und bildeten ein Spalier.

Die letzte Tür vor ihnen war nur noch eine schlichte hölzerne Pforte. Drei Mal klopfte Makiko, dann wurde ihnen aufgetan. Ein kleiner, kahlköpfiger Priester in bodenlangem rotem Gewand öffnete. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt. Die Wangen waren eingefallen, seine Augen nur noch marmorweiße Kugeln. Wer nicht zur Familie gehörte, dem war es bei Todesstrafe verboten, Angehörige des Kaiserhauses nackt zu sehen. Deshalb waren die Einbalsamierer geblendet worden.

Die letzte Kammer des Totenhauses wurde von einem großen Steinquader beherrscht, auf dem nun zwei gläserne Sarkophage standen. Der eine schien leer zu sein, abgesehen von einer schwebenden, hauchdünnen Goldmaske. Das mit Goldstaub bedeckte Antlitz des Gläsernen Kaisers. Neben ihm ruhte sein Sohn, ganz in weißer Seide. Jagons Gesicht war geschminkt und zeigte eine Würde, die Adelayne zu Lebzeiten an ihrem Gemahl nie hatte entdecken können. Auch war ihm nicht mehr anzusehen, was Leynelles unzählige Bienen ihm angetan hatten.

»Geht nun, meine Kinder. Geht. Geht!« Hiro wedelte affektiert mit seinen schmalen Händen, und die drei blinden Einbalsamierer, die ihm stets zur Seite standen, verließen eilig die Kammer.

Auch Makikos Onkel war kahlköpfig. Sein Antlitz war so bleich, als habe es Jahrzehnte kein Sonnenlicht gesehen. Er war ein großer, erschreckend hagerer Mann. Tiefe Falten hatten sich in seine Augenwinkel gegraben.

»Ihr lasst meinen Bruder gut aussehen«, bemerkte Makiko.

»Selbstverständlich tue ich das, meine Kaiserin. Es ist meine Pflicht. Ich …« Er stockte, wartete, bis sich die Tür hinter seinen Gehilfen schloss. »Ihr sollt wissen, dass ich nichts damit zu tun und natürlich nicht reagiert habe.« Er flüsterte jetzt nur noch und vermied es, ihnen in die Augen zu sehen. »Ihr beide seid in großer Gefahr. Ohne einen Mann … und dann noch als Frauen miteinander vermählt.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich stehe nicht gegen Euch, aber man hat mir die Kaiserwürde angeboten, glaube ich …«

»Glaube ich?«, fragte Makiko scharf. »Redet deutlicher, Onkel. Wurdet Ihr angesprochen oder nicht?«

»Gestern Abend lag eine Kopie des kaiserlichen Jadesiegels auf meinem Bett.« Er rang die Hände. »Das ist deutlich, denke ich. Aber ich will nicht herrschen. Nicht als Schattenfigur auf dem Thron sitzen, während andere an Stöcken meine Arme und Beine, ja selbst meine Kinnlade führen.«

»Und Ihr wisst nicht, wer die Kopie des Siegels gebracht haben könnte?« Adelayne musterte den Alten, der zur Antwort lediglich den Kopf schüttelte.

»Wenn Ihr wenigstens empfangen hättet, kaiserliche Hoheiten«, flüsterte Hiro verlegen. »Der Thron schreit nach einem Erben.«

»Natürlich haben wir empfangen, Onkel«, behauptete Makiko frech. »Wir haben beide meinem Bruder beigelegen. Einzeln und auch gemeinsam. Ihr wisst ja, wie Jagon war.«

Jetzt zeigte sich ein Hauch von Rot auf den Wangen des Einbalsamierers. »Ja, natürlich … Ich weiß, wie er war. Und … Ihr seid Euch sicher, meine kaiserlichen Hoheiten?« Der hagere Mann wand sich vor Verlegenheit.

»Natürlich weiß eine Frau, wann sie empfangen hat, Onkel.«

»Wenn man es nur schon sehen könnte …« Hiro räusperte sich. »Ist Euch klar, welch ein Sturm sich da gegen Euch zusammenbraut, kaiserliche Hoheiten?« Er senkte den Blick.

»Wer will uns denn den Thron rauben, Onkel?«, fragte Makiko mit aufreizender Ruhe noch einmal nach.

»Alle!« Es war das erste Mal, dass Hiro laut wurde. Er sah erschrocken darüber aus, dass er sich so von seinen Emotionen hatte mitreißen lassen. »Ich bitte um Entschuldigung, kaiserliche Hoheiten. Ist es mir gestattet, offen zu sprechen?«

»Nicht nur gestattet, es ist mein Wunsch, lieber Onkel Hiro.« Der Tonfall Makikos hatte sich drastisch geändert. Sie klang warmherzig, ja freundlich. Doch Adelayne konnte in ihren Augen noch immer die eiskalte Entschlossenheit sehen.

»Mit Eurer Hochzeit, mit Eurer Herrschaft, im Grunde mit allem, was Ihr tut, verstoßt Ihr gegen die uralten Traditionen des Reiches, kaiserliche Hoheiten.« Hiro presste beide Hände auf den Steinblock, wie um sie zur Ruhe zu zwingen. »Sucht Euch jede einen guten Gemahl. Einen willensschwachen Kerl, den Ihr führt, während er auf dem Thron sitzt. Damit wäre den Wünschen des Hofes und des Adels Genüge getan. Und Ihr würdet immer noch herrschen, nur weniger offensichtlich.«

Schmückendes Beiwerk neben dem Thron, das war Makiko ihr Leben lang gewesen, dachte Adelayne. Nachdem sie eine Schlacht gelenkt, eine der Inseln Caistellas erobert und von den süßen Früchten der Herrschaft gekostet hatte, allem wieder zu entsagen, um künftig andere im Glanz ihrer Siege erstrahlen zu lassen, dafür war Makiko nicht geschaffen.

»Wie würdet Ihr entscheiden, meine Gemahlin?« Makiko sah zu ihr herüber. Diese zierliche, kleine Damien mit den ungewöhnlich spitzen Ohren und den hellblauen Augen besaß mehr Härte, als Adelayne ihr ursprünglich zugetraut hätte.

»Ich bin es nicht gewohnt aufzugeben«, antwortete Adelayne entschieden. Vor wenigen Monden war sie noch als Heilerin und gelegentliche Meuchlerin aus Überzeugung über die Landstraßen Albenmarks gezogen. Und nun war sie Kaiserin! Nein, auch sie würde sich nicht einfach fügen.

»Das hatte ich nicht anders erwartet.« Makiko bedachte sie mit einem Lächeln, das trotz des weiß geschminkten Gesichts und der grell bemalten Lippen echt wirkte.

Hiros Schultern sackten herab. Der hagere alte Mann sah nun noch dürrer aus. »Meine Arbeit hier ist getan. Mit der Erlaubnis Eurer kaiserlichen Hoheiten würde ich mich gern auf meine Güter zurückziehen.«

»Ihr wollt uns verlassen, lieber Onkel?« Makiko sah ihn unschuldig an. »Euch ist schon bewusst, dass wahrscheinlich noch viele Würdenträger des Reiches zu Tode kommen werden, bevor wir Caistella erobern?«

Der Einbalsamierer straffte sich. »Ihr habt mich gebeten, offen zu sprechen, kaiserliche Hoheiten, deshalb erlaube ich mir, es noch ein weiteres Mal zu tun: Es braut sich ein Sturm zusammen über dem Kaiserhof. Wenn er losbricht, möchte ich weit fort sein, denn ich weiß, Ihr beide, kaiserliche Hoheiten, Ihr werdet als Nächste auf diesem Stein hier liegen. Und ich bin meiner Pflichten müde.«

»Ihr seid Euch ganz sicher, Onkel?«

»So sicher, wie in der Regenzeit Krankheiten im Heerlager ausbrechen werden, was für einen alten Mann wie mich ein weiterer Grund ist, sich rechtzeitig zurückziehen zu wollen. Bitte, lasst mich reisen, und besteht Eurerseits nicht darauf zu herrschen. Es wird Euch töten.«

»Ihr traut uns nicht zu, dass wir gute Herrscherinnen sein könnten?«, fragte Makiko ungehalten.

Hiro tat einen abgrundtiefen Seufzer. »Darum geht es leider nicht. Es ist die unerbittliche Etikette des Hofes. Ihr seid wie diese Leynelle, als sie oben an der Todesrutsche saß und einen Stoß bekam. Nur gibt es niemanden, der Euch retten wird. Ihr werdet jeden Augenblick abrutschen, und dann erwartet Euch die Klinge. Einzig ein triumphaler Sieg, der alles, was der Gläserne Kaiser je erreicht hat, in den Schatten stellt, könnte Euch noch retten, kaiserliche Hoheiten.«

»Ich danke Euch für Eure Sorge um uns, lieber Onkel.« Makiko umrundete den Steinblock und legte Hiro scheinbar freundschaftlich eine Hand auf den Arm. »Doch nun möchte ich Euch bitten, mich mit meiner Gemahlin allein zu lassen. Wir möchten Abschied nehmen von Jagon, der mir ein Leben lang ein guter Bruder war und nur so schmerzlich wenige Tage ein fürsorgender Gemahl.«

Wie glatt ihr die Lügen von der Zunge gingen, dachte Adelayne. Von Makiko konnte sie noch viel lernen, wenn sie weiterhin Kaiserin am Gelben Fluss bleiben wollte.

Hiro verließ die Kammer. Sorgsam schloss er die kleine hölzerne Pforte hinter sich.

Adelayne sah Makiko erwartungsvoll an. Um sich von Jagon zu verabschieden, waren sie ganz gewiss nicht hier zurückgeblieben.

»Glaubst du, was er sagt?«, fragte die Damien. »Dass unser Tod unmittelbar bevorsteht? Oder dass man uns vielleicht großzügig die Wahl lässt, mit irgendeinem Mann das Bett zu teilen, statt dem Scharfrichter überantwortet zu werden?« Makiko redete sich zunehmend in Rage. »Ich hasse diesen Kaiserhof. Ich hasse die alten Männer, die uns vorschreiben, wie wir zu leben haben, nur weil wir Frauen sind.«

Adelayne nickte und hielt sich vorsichtshalber bedeckt. »Was also werden wir tun?«

»Zwei Dinge. Wir werden binnen einer Woche noch eine der Inseln Caistellas erobern. Es muss ein glorreicher Sieg sein, der den Drachen demütigt. So wie meine Erstürmung der Insel der Märtyrer. Du wirst den Angriff planen. Du verstehst davon mehr als ich.«

Keineswegs, dachte Adelayne, ließ sich aber nichts anmerken. Sie war keine Heerführerin. »Und was ist noch zu tun?«

»Ist dir etwas an Hiro aufgefallen?«

»Er wirkte müde …«

Makiko schüttelte sanft den Kopf. »Das war gespielt, davon bin ich überzeugt. Es geht mir mehr um die Pläne, die er uns offengelegt hat. Er hat mehr gesagt, als klug war.«

Adelayne verstand nicht, worauf die Damien hinauswollte. Diese Winkelzüge bei Hof waren etwas, was ihr so gar nicht lag. »Sein Rückzug von seinem Amt als Einbalsamierer?«, riet sie.

»Genau! Damit hat er sich verraten.«

»Ich fand das nicht unsympathisch.«

Makiko lachte. »Du bist noch sehr fremd hier. Wenn wir sterben, dann ist es besser, wenn er nicht in der Nähe ist. Dadurch kann er überzeugender vorgeben, dass er völlig unbeteiligt war. Auch wenn er bis über beide Ohren in die Intrigen um unseren Tod verstrickt war. Es macht für das Volk einen besseren Eindruck, wenn er fort ist.«

»Aber er hat doch gar kein Interesse am Thron. Auch das schien mir sehr glaubwürdig.«

»Natürlich wirkt er glaubwürdig. Deshalb lebt er noch. Selbst meinen Vater hat er getäuscht.« Die Damien wiegte den Kopf. »Aber es gibt niemanden, der den Thron nicht begehrt. Sogar du hast sofort zugegriffen, obwohl ich von dir tatsächlich glaube, dass du eigentlich nicht vorhattest, Kaiserin zu werden.«

Adelayne mochte in dem müden alten Mann keinen Verschwörer sehen, der ihren Tod plante. Makiko lebte schon zu lange in der vergifteten Atmosphäre des Kaiserhofs. Sie sah überall Mörder. »Hiro verfügt doch nicht einmal über eine Kriegerschar. Wie sollte er sich im Kampf um die Macht durchsetzen?«

»Er hat etwas viel Besseres. Kaiserliches Blut fließt in seinen Adern. Wenn die Fürsten und Feldherren den Kampf um die Macht beginnen, dann wird ihnen sehr schnell bewusst werden, wie gleichmäßig die Macht im Kaiserreich verteilt ist. Das ist etwas, worauf mein Vater immer sehr geachtet hat. Niemand verfügt über viel mehr Krieger oder Gold oder Land als alle anderen. Wenn sie beginnen, sich zu bekriegen, dann wird es ein langes Ringen werden. Jeder wird Bündnisse eingehen müssen, und das wiederum schließt aus, allein zu herrschen. Also brauchen sie jemanden auf dem Kaiserthron, auf den sich alle einigen können. Jemanden, der schwach ist und dem machtvolle Berater ihren Willen aufzwingen können. Deshalb ist Hiro ideal. Ich glaube ihm, dass man ihm das kaiserliche Siegel gebracht hat. Aber anders, als er uns erzählt hat, hat er sich auf die Verschwörer eingelassen. Er will weggehen, um dann voller Trauer über unseren Tod an den Hof zurückkehren zu können.«

Diese verdrehten Gedankengänge bereiteten Adelayne Kopfschmerzen. Sie mochte immer noch nicht glauben, dass Hiro an ihrer Stelle auf den Thron wollte. »Und wenn er einfach nur ein müder alter Mann ist, der sich auf seine Güter zurückziehen möchte? Vielleicht sagt er die Wahrheit. Und vielleicht fürchtet er sich wirklich vor den Seuchen, die mit der Regenzeit kommen werden.«

Makikos Augen blieben von unerbittlicher Härte. »Wenn es so wäre, hätte er eine unverzeihliche Dummheit begangen. Er kennt den Kaiserhof, auch wenn er sich meist ferngehalten hat. Er muss wissen, wie sein Rückzug auf mich wirkt.« Sie schlug mit der flachen Hand auf den großen Steinquader, der die Sarkophage trug, dass es nur so klatschte. »Dies ist der Kaiserhof, Adelayne. Hier kennt man nur eine Strafe für Fehler im Spiel um die Macht: den Tod. Das hätte Hiro wissen müssen.«

Wenn Makiko geglaubt hatte, sie würde dieser Ungeheuerlichkeit mit Worten oder auch nur mit einem sanften Kopfnicken zustimmen, dann hatte sie sich geirrt. Lange maßen sie einander schweigend mit Blicken.

Dann endlich war es die Damien, die nickte. »Ich habe verstanden, wir teilen unsere Pflichten. Dir fehlt es noch an der nötigen Härte, um zu tun, was getan werden muss. Du willst kein Blut an deinen Händen haben. Ich werde Hiro für seine Dienste an meinem Vater und Jagon reich beschenken und feierlich verabschieden, wenn er den Hof verlässt. Ich habe Getreue in seinem Gefolge. Am dritten oder vierten Tag seiner Reise wird ihn ein schwerer, zehrender Durchfall heimsuchen, wie ihn die Alten meines Volkes zu dieser Jahreszeit so oft bekommen. Und zu meinem unendlichen Bedauern wird die tragische Erkrankung meinen geliebten Onkel vor der Zeit ins Grab bringen.«

Das war perfide und zugleich wohldurchdacht. Makikos Widersacher bei Hof würden ahnen, was sich wirklich abgespielt hatte. Die Kaiserin würde sich Respekt verschaffen. Zugleich würde immer ein Hauch von Zweifel bleiben, ob es nicht doch nur eine zufällige Erkrankung war.

Makiko sah sie eindringlich an. »Von dir, liebe Gemahlin mit dem reinen Gewissen, erwarte ich den Sieg, den wir brauchen, um zu überleben. Ersinne den Untergang Caistellas! Denn das ist das Einzige, was unseren eigenen Untergang abwenden wird.«

ABSTAND HALTEN

Der Graue schubberte seinen Kopf an Melvyns Bein. Dabei murrte der hagere Hund genüsslich. Vorhin hatte er reichlich Abfallstücke von einem geschlachteten Maultier bekommen. Obwohl er fraß wie drei, sah er immer noch halb verhungert aus.

Melvyn tätschelte den klobigen Kopf des Streuners. Der Elf vermisste sein Wolfsrudel. Und auch die Adler. Wolkentaucher war mit den übrigen Schwarzrückenadlern zum Albenhaupt zurückgekehrt. Dort lag gewiss schon Schnee, überlegte der Wolfself. Hier gab es bloß endlosen Regen.

Eine einzelne Laterne an einer Seite des Hofs markierte den Albenstern der Festung. Er war unscheinbar. Keine Monolithen oder gewaltigen Bäume markierten ihn, kein kunstvolles Mosaik wie auf Burg Elfenlicht. Die Pflastersteine da unten waren lediglich von einem etwas anderen Grau als die sie umgebenden Steine. Das war nur bei Tageslicht zu bemerken. Nun, bei Nacht, war die Laterne notwendig, um ihn ausfindig zu machen.

Nur eine kleine Karawane war an diesem Tag durch das magische Portal zum Goldenen Netz auf die Insel gekommen: zwölf Maultiere, beladen mit Fässern voller Salzheringe aus dem fernen Uttika. Fische für eine Hafenstadt! Aber der Drache war wohl für alles dankbar, was kam. Er hatte den Händlern sogar die Maultiere abgekauft.

Die Belagerer mussten irgendetwas gedreht haben, um zu erreichen, dass nur so wenige Händler hier auftauchten. Wahrscheinlich boten sie einfach mehr, überlegte Melvyn. Dieser Krieg wurde nicht nur auf den Mauern der Stadt ausgetragen.

Auch wenn der weite Platz unter ihnen – abgesehen von zwei Wachen, die im strömenden Regen ihre Runden drehten – verlassen dalag, täuschte die Ruhe. In den beiden Türmen und den Kasematten neben dem Albenstern waren mehr als zweihundert Krieger einquartiert, bereit, loszuschlagen, sollten die Damien tollkühn genug sein, durch den Albenstern anzugreifen.

Der Graue knurrte leise.

»Wieder Hunger?« Melvyn hielt ihm die Rechte hin, die der Streuner umgehend abschleckte. Doch dann versteifte er sich, kläffte und stellte seine Pfoten auf das Sims der Schießscharte.

Drei Gestalten überquerten den Hof. Hauptmann Nanduval hielt eine Laterne, als wolle er eine Reaktion geradezu herausfordern. Leynelle und Laurelin begleiteten den Krieger. Broja fehlte. Die drei Elfen gingen geradewegs auf den Albenstern zu.

»Zafira! Es geht los«, zischte Melvyn.

Die Lutin gähnte. »Hab ich’s doch gesagt«, murmelte sie müde. »Die wollen zurück.«

Die drei kreuzten den Weg der beiden Wachen. Beide Grüppchen blieben kurz stehen. Irgendetwas wurde gesprochen, dann setzten die Getreuen Alathaias ihren Weg fort.

»Gleich sind sie auf und davon.« Ungeduldig wandte sich Melvyn zu Zafira um. Die Lutin faltete in aller Seelenruhe ihre Decke und legte sie auf die Kiste voller Speere, auf der sie geschlafen hatte.

»Wir haben es nicht eilig«, sagte Zafira.

Zwei Säulen aus grünem Licht wuchsen aus dem Pflaster des Hofs, neigten sich einander zu und verschmolzen zu einem leuchtenden Torbogen.

»Sie gehen schon durch das Portal«, entgegnete Melvyn eindringlich.

Zafira machte sich nicht einmal die Mühe, durch die Schießscharte hinunterzublicken. Stattdessen trat die fuchsköpfige Koboldin, die Melvyn nicht einmal bis zum Knie reichte, an die Wendeltreppe, deren Stufen unangenehm hoch für sie waren. »Wir wollen Leynelle nicht zu nahe kommen. Du weißt, was für eine machtvolle Zauberweberin sie ist«, erinnerte ihn die Lutin.

»Wir haben ihr erst vor ein paar Tagen das Leben gerettet. Sie wird uns jetzt doch wohl nicht …« Noch während er das sagte, überkamen Melvyn Zweifel. Leynelle war einst auch eine Kindsmörderin gewesen. Alathaia, die Fürstin von Langollion, hatte sie damals für diese Morde verurteilt, und dennoch hatte sich Leynelle ihr kürzlich angeschlossen. Die Zauberweberin war ziemlich unberechenbar, das musste er sich eingestehen, und ganz sicher sehr gefährlich.

»Wenn du willst, dass es schnell geht, solltest du mich auf den Arm nehmen.« Zafira stand immer noch an der obersten Treppenstufe.

Melvyn wusste, dass die Lutin üblicherweise nicht gern herumgetragen wurde, und nahm die Aufforderung als gutes Zeichen. Sie hatte es also doch eiliger, als sie tat. Er verließ seinen Beobachtungsposten an der Schießscharte. Der Graue folgte ihm und tänzelte aufgeregt um ihn herum, als wisse er genau, dass es auf eine Jagd ging. Melvyn hob Zafira hoch. Sie war so leicht wie ein Neugeborenes. Für einen Herzschlag dachte er an seine verlorenen Kinder.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Melvyn die Treppe hinab. Das zwang ihn, sich auf jeden Schritt zu konzentrieren und die unwillkommenen Gedanken zu verdrängen. Er presste Zafira an sich und genoss den Geruch ihres Fells. Sie duftete nach Wüste, nach Staub und in der Hitze glühenden Felsen. Und das, obwohl sie schon so lange in Caistella weilten.

Schnell erreichte er den Fuß der Treppe und stürmte hinaus in den strömenden Regen.

Die beiden Wächter eilten ihnen entgegen. »Wohin des Wegs?«

Der Graue kläffte die zwei Krieger an.

»Mach jetzt keine Dummheiten, Melvyn«, flüsterte Zafira.

Der Elf setzte die Lutin ab und tastete mit den Fingerspitzen nach den Krallenhänden an seinem Gürtel. Diese Waffen aus gehärtetem Silberstahl waren ein Geschenk Emerelles, und allein ihr Anblick genügte, um den meisten Albenkindern eisigen Schrecken einzuflößen.

»Wir sind in dringender diplomatischer Mission für Königin Emerelle unterwegs, und ich möchte Euch höflichst bitten, unsere Abreise nicht zu verzögern«, sagte Zafira freundlich, aber bestimmt.

Melvyn hielt nicht viel von solchem Geschwafel. Mit erhobenen Krallenhänden zu fragen, ob sie sich ganz sicher seien, dass sie ihn aufhalten und mit dämlichen Reden behelligen wollten, wäre mehr nach seinem Geschmack gewesen.

»Ihr schnüffelt den drei anderen hinterher.« Der Rechte der beiden Wächter, ein kleiner Damien, dem die Enden seines dünnen Oberlippenbartes wie nasse Seidenfransen bis zum Kinn hinab hingen, machte Anstalten, sich ihnen in den Weg zu stellen.

»Lass die beiden und ihren hübschen Hund doch ziehen.« Der Gefährte des Damien, ein Elf mit langem blondem Haar, der barhäuptig im Regen stand, legte seinem Kameraden eine Hand auf die Schulter und zog ihn zurück. »Natürlich dürft ihr Caistella verlassen, wann immer es euch beliebt. Aber ihr solltet euch gut überlegen, ob ihr noch einmal zurückkehren wollt.«

Wenn es nach ihm ginge, dachte Melvyn, würde er nie mehr wiederkommen, aber inzwischen war er auch überzeugt davon, dass Emerelle Wege finden würde, ihn zu schicken, wohin es ihr beliebte.

Zafira ging zu dem Albenstern. Sie kniete nieder, legte eine Hand auf das nasse Pflaster und schloss die Augen. Melvyn trat, gefolgt von dem Grauen, leise an ihre Seite. Er wusste, dass sie sich auf das Goldene Netz einstimmte, auf die Magie, die alles durchdrang und die an diesem unscheinbaren Ort auf dem Hof der Festung von Caistella besonders stark war, da sich hier sieben Albenpfade kreuzten. Wege, die durch das Nichts führten, durch die grenzenlose Dunkelheit jenseits der vertrauten Welt. Wer sie zu nutzen wusste, der machte Reisen von Hunderten Meilen mit nur wenigen Schritten auf den magischen Pfaden. Doch sie waren tückisch, die Wege durch das Nichts. Wer in das Dunkel neben den magischen Pfaden fiel, der war verloren. Und wer einen Fehler machte, wenn er das Portal eines Albensterns öffnete, den führte die Reise nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit. Dann mochte ein Jahrhundert in wenigen Herzschlägen verstreichen, und die Welt, in die man am Ende des Goldenen Pfades trat, war eine andere geworden.

Zafira stellte Melvyns Geduld auf eine harte Probe. Er war schon einige Male mit ihr durch das Goldene Netz gereist, doch so lange hatte sie noch nie gebraucht, um ein Portal zu öffnen. Endlich erhoben sich zwei Säulen aus pulsierendem grünem Licht aus dem Pflaster und vereinten sich zwei Schritt über seinem Haupt zu einem leuchtenden Torbogen. Vor ihnen lag ein goldener Weg, der pfeilgerade ins Dunkel führte.

»War es schwer?«

»Nein«, sagte Zafira gedehnt. »Und gerade das beunruhigt mich. Leynelle hat keinerlei Anstalten gemacht, etwas zu verschleiern. Die Hauptrichtung, die sie gewählt hat, war ohne Weiteres aufzuspüren. Fast, als wolle sie es uns leicht machen.«

»Vielleicht ist sie ja einfach eine schlechtere Zauberweberin als du?«

Die Lutin lachte auf. »Leynelle? Eine schlechte Zauberin? Ganz gewiss nicht! Die führt irgendetwas im Schilde. Wir sollten Abstand halten. Sonst laufen wir womöglich in eine Falle.«

Melvyn betrachtete skeptisch den goldenen Weg. Leichter Dunst wirbelte darüber, ließ den Pfad vage erscheinen. »Ein Jäger, der zu viel Abstand von seiner Beute hält, wird sie verlieren.«

»Glaub mir, du willst keinen Kampf mit einer Zauberweberin im Goldenen Netz führen. Sie könnte mit Leichtigkeit eine Peitschenschnur aus gleißendem Licht aus dem Weg hervorschnellen lassen, die dir beide Füße abtrennt und deinem Grauen alle vier Pfoten.«

Jetzt betrachtete er den Nebel mit noch mehr Misstrauen. »Das geht einfach so?«

»Nicht einfach so, aber Leynelle ist eine Meisterin.«

»Das bist du auch, Zafira.« Melvyn legte der Lutin eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft.

»Na, ich bin gewiss keine Meisterin im Füße- und Pfotenabschneiden.« Sie seufzte. »Also gut, jetzt sollte der Abstand genügen. Gehen wir!«

»Ich dachte, es ist unmöglich, sich auf einem Albenpfad zu begegnen.« Melvyn konnte sich nicht erinnern, im Nichts je jemandem gegenübergestanden zu haben, der nicht zu der Gruppe gehört hätte, mit der er den Albenpfad betreten hatte.

»Das ist auch so.« Zafira trat durch den Bogen aus grünem Licht. »Aber wenn Leynelle uns auf dem Weg eine Falle hinterlassen hat, ist sie für mich leichter zu erkennen, wenn die Störung der magischen Matrix sich schon einige Augenblicke manifestiert hat.«

»Alles klar.« Melvyn hatte in Wahrheit nichts von dem verstanden, was die Lutin sagte. Er wirkte seine Magie eher intuitiv und beschäftigte sich nicht sonderlich mit dem Goldenen Netz und irgendwelchen Mustern darin. Es war eine Frage des Vertrauens. Zafira wusste, was sie tat.

Ohne zu zögern, gab er dem Grauen mit dem Kopf ein Zeichen, und sie beide folgten ihr auf den Albenpfad. Melvyn fand es unangenehm, sich hier zu bewegen. Es fühlte sich an, als ginge er durch Schlamm. Bei jedem Schritt sank er ein wenig ein. Aber es war leicht, den nächsten Schritt zu tun. Anders als Schlamm hielt der magische Pfad den Fuß nicht gefangen.

Schon bald erreichten sie den ersten kreuzenden Weg aus goldenem Licht. Zafira hielt kurz inne. Dann wies sie nach links. Was sie dazu veranlasste, blieb Melvyn rätselhaft. Sie sah wohl etwas in dem leuchtenden Nebel über dem Pfad, was ihm verborgen blieb.

Eine lastende Stille umgab sie. Nicht das geringste Geräusch kam aus dem Nichts, der endlosen Dunkelheit, die sie umschloss. Melvyn hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und war sich bewusst, dass dies absurd war. Seit dem Sieg über die Yingiz gab es dort draußen buchstäblich nichts mehr.

Zafira wechselte noch an drei weiteren Kreuzungen den Weg. Dann hielt sie inne.

»Was ist?« Melvyn ertappte sich dabei zu flüstern.

»Sie gehen nach Rosan.« Die Lutin sah verblüfft zu ihm auf. »Wissen wir etwas nicht? Ich dachte, die Stadt ist besetzt.«

»Vielleicht sind sie einfach nur todesmutig?«, schlug Melvyn vor, ohne selbst so recht davon überzeugt zu sein.

»Oder das ist die Falle, die sie für uns auslegen.«

»Das würde heißen, Emerelle wäre besiegt …« Melvyn kannte zwar die Geschichten über den lange zurückliegenden Untergang Vahan Calyds und die Flucht der Königin damals, doch konnte er sich nicht vorstellen, dass Emerelle in Langollion hätte unterliegen können. Nicht, nachdem die Insel bereits besetzt worden war.

»Was machen wir? Ihnen folgen oder einen anderen Albenstern in der Nähe nehmen?« Zafira wirkte unruhig. Die schwarzen Tasthaare an ihrer Schnauze zitterten.

Selbst wenn das nächste Portal nur einige Meilen entfernt lag, würden sie die Spur der drei verlieren, wenn sie ihnen nicht unmittelbar auf den Fersen blieben. »Riskieren wir es«, sagte Melvyn. »Folgen wir ihnen!«

Die Lutin sah ihn zweifelnd an. »Ist das eine deiner besseren Ideen?«

»Das sehen wir, wenn wir durch den Albenstern treten«, antwortete er leichthin. »Der Weg in den Untergang ist mir bisher stets verwehrt geblieben …«

»Spinnst du?«, fuhr Zafira ihn an. »Diesen Weg suche ich nicht.«

»War nur so dahergeredet«, sagte er im Bewusstsein, wie wenig überzeugend er klang. Ein guter Tod in der Schlacht wäre ihm willkommen. Oder auch ins Mondlicht zu finden. »Wenn es uns ernst damit ist, Leynelle, Nanduval und Laurelin zu stellen, dann müssen wir durch diesen Albenstern. Wählen wir einen Umweg, dann werden sie entkommen. Aber ich überlasse dir die Entscheidung.«

»Was für eine Entscheidung? Wenn ich dir nicht zustimme, stehe ich als Feigling da.« Die Lutin trat ein Stück vor, kniete nieder und verschwand halb im leuchtenden Nebel.

Dieses Mal dauerte es nur einen Herzschlag, bis sich zwei Säulen aus Licht erhoben. Sie waren von einem grellen Weiß, dessen Strahlen in den Augen brannte. Hinter dem Tor, das sich öffnete, konnte Melvyn steile Dachgiebel erkennen, die sich dunkel gegen einen wolkenverhangenen Nachthimmel abzeichneten. Schneeflocken trieben durch das Portal, und ein eisiger Wind schlug ihnen entgegen. Der Albenstern öffnete sich auf ein großes marmornes Podest.

Melvyn atmete erleichtert ein. Winter! Schnee. Kälte. Er liebte diese Jahreszeit. Entschlossen trat er durch den Albenstern.

»Halt!«, fuhr ihn eine helle Stimme an.

Im nächsten Moment erschien die Lutin zusammen mit dem Grauen an seiner Seite.

Eine Kriegerin in dunkelblauem Waffenrock mit dem Wappen der silbernen Nixe von Alvemer vertrat ihnen den Weg. »Was führt euch nach Rosan?«, fragte sie müde.

»Dies ist die Lutin Zafira, Vertraute der Königin Emerelle. Wir verfolgen Feinde Albenmarks«, antwortete Melvyn.

»Zafira?« Die Elfe wirkte alarmiert. »Dann seid Ihr wohl Melvyn?«

Da war etwas im Ton der Kriegerin, was dem Wolfselfen so gar nicht gefiel.

Zafira trat ihm auf den Fuß, bevor er antworten konnte.

Allerdings bemerkte das auch die Wache. Zwei Herzschläge lang wirkte die Elfe unschlüssig. Dann rief sie plötzlich aus Leibeskräften: »Alarm!«

»Das muss ein Missverständnis sein …«, versuchte Zafira zu beschwichtigen.

Wie aus dem Nichts erschienen weitere Kriegerinnen und Krieger in den Farben Alvemers. Sie blockierten die Rampen, die zum Markt hinabführten, und richteten ihre Speere drohend auf Melvyn, den Grauen, dem sich die Nackenhaare sträubten, und die Lutin.

»Ein Missverständnis …«, versuchte es Zafira noch einmal.

»Schweig, Lügnerin!«, zischte die Elfe erbost. »Selten sind mir so dreiste Betrüger wie ihr untergekommen. Zafira, die Vertraute der Königin, der Wolfself Melvyn und Schwertmeister Ollowain sind gerade erst durch diesen Albenstern getreten.«

»Ihr seid wohl betrunken«, grollte Melvyn.

»Ruhig«, flüsterte Zafira. »Die steht unter einem Zauber. Die ist überzeugt von dem, was sie sagt.«

»Glaubt ihr, ich höre euch nicht? Los, Wachen, legt die zwei Betrüger in Eisen, und lasst ihren Hund einfach laufen. Sollen sie die Nacht in einem Kerker verbringen, dann fällt ihnen vielleicht wieder ein, wer sie wirklich sind.« Zwei Blutstropfen traten aus den Nasenlöchern der Elfe.

»Ein Bannzauber?« Melvyn blickte zu Zafira. Dann versetzte er der Kriegerin mit dem Handrücken eine schallende Ohrfeige. »Ist dein Kopf jetzt wieder in Ordnung?«

Die Elfe zog ihr Schwert, während die anderen Wachen die Rampen hinaufstürmten.

Melvyn entließ den Grauen mit einem Wink, schnappte sich Zafira, duckte sich unter einem Schwerthieb hinweg und sprang über das Geländer des Marmorpodests, um auf dem schneebedeckten Sonnensegel eines Marktstands zu landen. Der Stoff zerriss, er stürzte weiter und schlug hart auf einem Tisch voller Tonkrüge auf, die davonkullerten und scheppernd auf dem Pflaster zerschellten.

»Großartig«, murmelte Zafira, die er eng an die Brust gedrückt hielt. Der Lutin war nichts geschehen, aber sein Rücken fühlte sich nach der unsanften Landung an, als habe er einen Huftritt abbekommen. Mit einem Satz war Melvyn wieder auf den Beinen und stürmte eine Gasse zwischen den Marktständen entlang.

»Wie kommst du darauf, dass eine Ohrfeige einen Bannzauber bricht?«

»Hab ich mal in ’ner Geschichte gehört.« Melvyn lief, so schnell er konnte, und bog bei der ersten Gelegenheit ab. Der Schnee machte das Pflaster schlüpfrig. Hinter ihm erschollen Hörner und Alarmrufe.

»Hast du nicht gesehen, dass sie aus der Nase blutete? Der Armen muss Leynelle ordentlich im Kopf herumgerührt haben. Und jetzt haben wir die halbe Nachtwache der Stadt am Hals. Großartig!«

Melvyn bog erneut ab und sah sich zwei Wachen mit Speeren gegenüber, die ihnen wutentbrannt entgegenstürmten. Er sprang auf einen Markttisch, der selbst leer noch erbärmlich nach Fisch stank, duckte sich unter dem Sonnensegel und versuchte, abseits der Gassen zwischen den Ständen zu entkommen. Vereinzelt erblühte das gelbe Licht von Laternen. Nicht alle Marktbuden waren verlassen.

Jetzt erschollen aus allen Himmelsrichtungen Hörner, als seien sie beide ein kostbares Wild, dem eine Jagdgesellschaft nachsetzte.

Melvyn war überaus zufrieden mit sich. »Wir haben zwar ein bisschen Ärger, aber weißt du was, Zafira? Leynelle haben wir auch eins ausgewischt. Jetzt sind sämtliche Wachen der Stadt auf den Beinen, und jeder, der noch unterwegs ist, hat sie an den Fersen kleben.«

DAS LICHT AM ENDE DES TUNNELS

Hörnerklang beraubte die Nacht der Stille. Schritte hallten durch die Straße, die vor ihnen lag. Laurelin gab Leynelle und Nanduval ein Zeichen, weiter in den Schatten der Gasse versteckt zu bleiben. Leynelle hatte recht gehabt. Es war vollkommen verrückt, zu dritt in eine vom Feind besetzte Stadt zu kommen. Sie hatten es zwar fast bis zum Hafen geschafft, aber das gefährlichste Stück des Weges lag noch vor ihnen. Wenn die Schiffe aus dem Fürstentum Alvemer dort noch immer vor Anker lagen, gab es vermutlich nirgendwo mehr Feinde als im Hafen. Und nun war die ganze Stadt alarmiert. Warum auch immer …

Die Schritte auf der Straße verklangen. Vorsichtig spähte Laurelin über ein zugefrorenes Regenfass hinweg um die Häuserecke. Das Dunkel hatte die Streife verschlungen. Er winkte Leynelle und Nanduval. »Jetzt!«

Geduckt liefen sie dem Hafen entgegen, wobei sie sich, so gut es ging, im Schatten hielten. Wie vom Himmel gestürzte Sterne leuchteten die Positionslichter der Schiffe. Es waren noch mehr geworden, seit sie nach Caistella aufgebrochen waren!

Sie suchten in einem Hauseingang Deckung. Laurelin betrachtete voller Sorge die deutlichen Spuren, die sie im Neuschnee hinterlassen hatten. Melvyn wäre es ein Leichtes, ihnen zu folgen. Weit war der Wolfself bestimmt nicht entfernt. Sie konnten es sich nicht leisten, stehen zu bleiben! »Kannst du das, was du mit der Kriegerin am Albenstern gemacht hast, wiederholen, wenn wir den Hafenwachen in die Arme laufen?«

Leynelle schüttelte den Kopf. »Die Gedanken mehrerer Wachen gleichzeitig zu verwirren übersteigt meine Fähigkeiten. Es ist keine Kleinigkeit, die Wahrnehmung eines Albenkindes derart zu verfälschen.«

»Wir sollten einfach so in den Hafen hinuntergehen«, schlug Nanduval vor. »Wenn wir uns ganz normal verhalten – und nicht so, als seien wir auf der Flucht –, dann wird uns vielleicht niemand sonderlich beachten.«

»Natürlich. Und manchmal frisst die Maus die Katze«, bemerkte Leynelle bissig. »Ich bin nicht mitgekommen, um nur vielleicht die letzten paar Schritte bis zur Fürstin zu schaffen.«

»Ich sehe auch keinen guten Weg, um bis zum Anlegesteg zu gelangen.« Laurelin mochte es nicht, wenn Leynelle so herablassend wurde. Der Hauptmann hatte es nur gut gemeint. »Wir könnten durch eine andere Gasse gehen, die uns näher zum Ziel bringt. Aber auch dann bleiben noch etwa dreihundert Schritt, auf denen uns kein Wachtposten, der die Augen offen hält, übersehen kann. Wenn es einen Zauber gäbe, der uns …« Das Geräusch verstohlener Schritte ließ Laurelin verstummen. Der Jäger drückte sich gegen Leynelle, schob sie tiefer in die Schatten des Hauseingangs und schirmte sie mit seinem Leib ab.

Ein orangeroter Punkt erglomm etwa zehn Schritt entfernt. Eine Pfeife? Ganz schwach war ein derbes Gesicht, beherrscht von einer Knollennase, im Glutschein zu erkennen. Ein Kobold! Laurelin erkannte ihn wieder. Es war der Kerl, mit dem er Suppe holen gegangen war, nachdem die Bolzenspucker sich in aller Heimlichkeit zu ihrem verborgenen Liegeplatz begeben hatte.

»Bleibt in Deckung«, raunte er Leynelle und Nanduval zu. Dann wagte sich Laurelin auf die Straße hinaus, hielt sich dicht an den Hauswänden und eilte zu dem Kobold, der breitbeinig stehen geblieben war.

»Wo ist Broja?«, kam es statt einer Begrüßung. So, wie es auch der König der Fässer gern machte, hakte Olmo seine Daumen in den Saum seines offenen blauen Mantels, zu dem er eine gelbe Weste trug. Knallrote Stiefel rundeten das Erscheinungsbild des auffällig großen Kobolds ab.

»Der wollte nicht kommen.« Laurelin war sich bewusst, dass dies wahrscheinlich nicht die klügste Antwort war, aber er war ein so schlechter Lügner, dass er lieber gleich bei der Wahrheit blieb.

Olmo sog an seiner Pfeife, dass das Glutauge darin hell aufleuchtete, dann blies er eine Rauchwolke zu Laurelin hinauf. »Broja sollte sich mal besser darauf gefasst machen, dass hier bald keiner mehr nach seiner Pfeife tanzt, wenn er nie da ist.«

Laurelin hob verlegen die Hände. Was sollte er dazu sagen?

Auf ein längeres Schweigen folgte eine weitere Rauchwolke. »Ich nehme an, ihr habt den Ärger in der Stadt losgetreten?«

»Nehme ich auch an«, murmelte der Jäger zerknirscht.

»Und ihr wollt zu dem Aal.«

Laurelin nickte.

»Die Eisendose liegt immer noch in ihrem Versteck. Mumm hat sie, unsere Fürstin, sich hier mitten unter ihren Feinden zu verbergen.« Olmo sog nachdenklich an der Pfeife. Dann pustete er einen großen Rauchkringel in die kalte Nachtluft. »So, wie ihr ausseht, nehme ich mal an, dass ihr mir nichts für meine Hilfe zu bieten habt außer eurer Dankbarkeit.«

»Das ist wohl so«, bekannte Laurelin.

»Ihr schuldet mir einen Gefallen. Jeder von euch dreien«, sagte Olmo entschieden.

»Ich kann nur für mich sprechen.« Laurelin war diese Feilscherei äußerst unangenehm.

Der große Kobold legte den Kopf schief und schien auf die Geräusche in der Stadt zu lauschen. Noch immer erschollen Hörner. Es klang, als sei irgendwo in der Gegend um den Markt eine regelrechte Treibjagd im Gange. »Ihr könnt mit eurer Entscheidung natürlich warten, bis Emerelles Häscher hier ankommen«, sagte Olmo gleichmütig.

Laurelin bedeutete ihm, an Ort und Stelle zu warten, und eilte zu den beiden anderen zurück.

Leynelle stimmte sofort zu. Nanduval hingegen tat sich schwer. »Ich weiß, was dieser Olmo für ein Kerl ist. Und ich habe so eine Ahnung, was für eine Art von Gefallen er eines Tages einfordern wird. Das missfällt mir.«

»Kannst du uns vielleicht hier herausbringen?«, fragte Leynelle bitter. »Und der Gefallen, vor dem du dich fürchtest, kann nur eingefordert werden, wenn Alathaia wieder herrscht und du Befehlshaber ihrer Leibwache bist. Davon sind wir denkbar weit entfernt.«

Der Hauptmann nickte widerwillig.

»Dann los!«, entschied Leynelle für sie.

Olmo empfing sie mit einem verschwörerischen Lächeln und führte sie auf einen Hinterhof, auf dem sich Treibgut und Lumpen türmten. Dort winkte er sie in ein Haus, in dem es nach Kohlsuppe, altem Fisch und Armut roch. Über eine enge Stiege ging es hinab in ein niedriges Gewölbe, das durch eine winzige Tür mit dem Keller des Nachbarhauses verbunden war. Dort verschob er ein Regal, hinter dem sich ein Tunnel aus rotem Ziegelstein öffnete. Der Kobold entzündete eine Laterne, winkte sie in den Tunnel hinein und verschloss hinter ihnen den Eingang.

Wasser tropfte von der Decke. Über sinterverkrustetes Mauerwerk huschten Spinnen und anderes Getier. Der Tunnel führte in eine natürliche Höhle mit so niedriger Decke, dass nur noch der Kobold aufrecht stehen konnte. Laurelin musste sich auf Hände und Knie niederlassen. Die Höhle war erstaunlich trocken. In Felsnischen und entlang der unregelmäßigen Wände standen unzählige Kisten, an denen krakelig beschriftete Zettel hafteten.

»Was für ein ungewöhnliches Lagerhaus«, murmelte Laurelin.

Nanduval hinter ihm seufzte. »Das hier ist ein Versteck für Schmuggelgut.«

»Stimmt«, bekräftigte Olmo, der sich noch immer hinter ihnen hielt und gelegentlich Anweisungen gab, in welche Richtung sie weiterkriechen sollten. »Und einer wie du, Nanduval, sollte diesen Ort eigentlich niemals gesehen haben. Erinnert euch daran, dass Broja euch nicht hierhergeführt hat. Dafür gibt es gute Gründe. Behaltet also im Gedächtnis, dass ich viel großzügiger als der König der Fässer war.«

»Nanduval wird vergessen, was er hier gesehen hat«, sagte Leynelle leichthin.

Bis vor einer Stunde hätte Laurelin das für einfach nur so dahergesagt gehalten. Dann jedoch hatte er miterlebt, wie ein Blick Leynelles und ein Wort der Macht genügten, um die Kriegerin aus Alvemer, die den Albenstern am Markt bewachte, davon zu überzeugen, er sei Melvyn, Nanduval der berühmte Ollowain und Leynelle selbst die Lutin Zafira.

»Links«, kommandierte Olmo. »Und nun schiebt die grauen Kisten zur Seite.«

Laurelin gehorchte. Vor ihnen tat sich ein weiterer Tunnel auf, der noch niedriger war als die Höhle.

»Hier trennen sich jetzt unsere Wege«, erklärte Olmo. »Die Flut steht zu hoch. Ich hab es ja nicht so eilig wie ihr, die Stadt zu verlassen.«

Laurelin drehte sich nach dem Kobold um. Der grinste breit.

»Was sollte das heißen?« Nanduval musterte den Schmuggler abschätzig.

»Der Tunnel endet bei der Hafenmauer, genau unterhalb des Anlegers, unter dem sich die Bolzenspucker versteckt. Ich fürchte nur, dass das letzte Stück jetzt unter Wasser steht. Wir haben nun einmal Flut.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Also entweder wartet ihr ein paar Stunden, oder ihr taucht das letzte Stück. Dann müsst ihr vielleicht noch zwanzig Schritt schwimmen, um den Aal zu erreichen. Keine große Sache. Ihr seid doch allesamt Helden.« Er grinste breit. »Ich hingegen bin nur ein einfacher Schmuggler. Ein Kerl, der nicht den Dreck unter dem Fingernagel eines Hauptmanns Nanduval wert ist. Deshalb ziehe ich mich jetzt zurück und suche mir ein warmes Bett für den Rest der Nacht.«

»Wie weit müssen wir tauchen?«, fragte Leynelle ruhig.