Elfenwinter - Bernhard Hennen - E-Book

Elfenwinter E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Über hunderttausend verkaufte Exemplare, monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste: Bernhard Hennens „Die Elfen“ war der in Deutschland erfolgreichste Fantasy-Roman seit Jahren. Mit „Elfenwinter“ kehrt er zurück in die Welt der geheimnisvollsten Geschöpfe, die es je gegeben hat.

Dies ist die definitive Geschichte über ein Volk, das aus dem Mythenschatz der Menschheit nicht wegzudenken ist – unentbehrlich für jeden „Herr-der-Ringe“-Leser.

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Seitenzahl: 1203

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Das Buch

Von ihrem jubelnden Volk umgeben zieht die ebenso schöne wie kühle Königin der Elfen, Emerelle, zum sagenhaften Fest der Lichter, bei dem die Fürsten aller Elfenstämme Albenmarks ihre Macht bestätigen sollen. Doch unter der glitzernden Oberfläche der Feierlichkeiten schwelen Unzufriedenheit und Machtgier. Zwei Mordanschläge hat die Elfenkönigin nur durch eine glückliche Fügung des Schicksals überlebt. Dennoch versucht Ollowain, der Kommandant ihrer Leibwache, die Herrscherin vergeblich davon abzuhalten, an dem Fest teilzunehmen. Ollowain hegt den Verdacht, dass der Auftraggeber für den Mord unter den Elfenfürsten selbst zu finden ist. In seiner Verzweiflung wirbt er Silwyna an, eine geheimnisvolle und unfehlbare Bogenschützin aus dem Elfenstamm der Maurawan. Als ein Pfeil erneut die Königin nur um Haaresbreite verfehlt, befällt Ollowein ein schrecklicher Verdacht. Treibt Silwyna ein doppeltes Spiel? Hat er Emerelles Feinde gar mit den Informationen versorgt, wann die Königin am verwundbarsten sein wird?

Es folgt eine Nacht der Schrecken, in der ein seit Jahrhunderten gewonnen geglaubter Krieg erneut aufflammt. Während Ollowain einen Mörder jagt, erscheint ein Heer vor den Toren der Stadt und reißt Albenmark wie auch das Menschenreich im Fjordland in einen Strudel von Tod und Vernichtung. Es ist die Zeit, in der Alfadas, der Sohn des legendären Mandred Menschensohn, beweisen muss, ob er das Zeug zum Helden hat wie einst sein Vater. Und es ist die Zeit, in der er sich endgültig entscheiden muss, ob er in die Welt der Menschen oder der Elfen gehört. Denn in beiden Welten gibt es eine Frau, die ihn liebt …

Der Autor

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Asiatische Altertumskunde. Mit dem Auftakt zu seiner atemberaubenden Elfen-Saga, »Die Elfen«, stürmte der Autor zahlreicher phantastischer und historischer Romane in kürzester Zeit die Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in Krefeld.

Mehr zu Autor und Werk: www.BernhardHennen.de

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorWidmungInschriftDAS FEST DER LICHTERCopyright

Für Menekse und Melike,mein Zuhause

»Wo gehen wir denn hin?« »Immer nach Hause.«

NOVALIS

DAS FEST DER LICHTER

»Sie werden versuchen, die Königin zu töten.«

Die junge Elfe blickte Ollowain ungläubig an. Sie schien seine Worte für einen schlechten Scherz zu halten. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, verflog aber sogleich wieder, als er keine Anstalten machte, es zu erwidern.

Ollowain war klar, wie ungeheuerlich seine Behauptung klingen musste. Emerelle galt im Volk als die von allen geliebte Herrscherin. Sie war die Güte selbst, die mütterliche Königin der Albenkinder. Und doch hatte es bereits zwei Mordanschläge gegen sie gegeben. »Such dir ein Versteck, von dem aus du die Mastkörbe der Schiffe rings um die Prunk-Liburne der Königin beobachten kannst. Und sobald du etwas Verdächtiges siehst, schieß! Jedes Zögern könnte Emerelles Tod bedeuten.«

Die hoch gewachsene Elfe trat an den Rand der Terrasse und blickte hinab auf die Hafenstadt. Vahan Calyd lag an einer weiten, felsigen Bucht am Ende einer Landzunge. Es war die größte Stadt am Waldmeer, obwohl nur wenige Albenkinder hier ständig lebten. Die Palasttürme, die sich stolz über die einfachen Häuser erhoben, standen fast immer leer. Einmal alle achtundzwanzig Jahre versammelten sich die Fürsten Albenmarks in Vahan Calyd, um gemeinsam das Fest der Lichter zu feiern. Dann erwachte die Stadt für wenige Wochen aus ihrem immerwährenden Schlaf. Jede Sippe Albenmarks, die als bedeutend galt, unterhielt hier zumindest ein Haus, auch wenn es fast immer leer stand. Und die Fürsten der Albenkinder versuchten einander mit der Pracht ihrer Palasttürme zu überbieten. Doch all dies war nichts als eitler Tand und nur für wenige Wochen in achtundzwanzig Jahren von Bedeutung. In der übrigen Zeit stolzierten Winkerkrabben, die sich aus den nahen Mangroven nach Vahan Calyd verirrten, durch die weitläufigen Straßen der Stadt. Sie übertrafen die Diener und die Holden, die Vahan Calyd hüteten, an Zahl und an Muße. Dann nisteten Kolibris, Seeschwalben und Trollfingerspinnen wieder unter den Giebeln der Paläste und würden für viele Generationen nahezu unbehelligt bleiben, bis erneut das Fest der Lichter nahte. Dann drängten sich Tausende durch die Straßen der Hafenstadt, und die Winkerkrabben wurden in großen Kupferkesseln gekocht und an jeder Ecke feilgeboten. Vahan Calyd quoll über vor Leben, wenn, so wie heute, die Nacht der Nächte nahte und die stolzesten Schiffe Albenmarks sich im Hafen zum Stelldichein trafen. Es war ein Fest der Eitelkeiten. Ein Fest, bei dem die Fürsten einander ihre Macht und ihren Reichtum vorzeigten.

Silwyna wandte sich wieder Ollowain zu. Sie trug ihr Haar zurückgekämmt und zu einem langen Zopf geflochten, was ihr scharfkantiges Gesicht noch strenger aussehen ließ. Die Jägerin galt als eine der Besten unter den Bogenschützen Albenmarks. Und was noch wichtiger war, der Schwertmeister kannte sie als verschwiegen. Er würde sich darauf verlassen können, dass sie nicht ausplauderte, was hinter den Kulissen des Festes geschah. Am allerwichtigsten jedoch war: Wenn sie auf seiner Seite stand, dann diente sie in dieser Nacht keinem anderen Herrn. Zumindest hoffte er das. Silwyna war eine Maurawani. Sie entstammte jenem Elfenvolk, das hoch im Norden in den unwirtlichen Wäldern der Slanga-Berge lebte. Die Maurawan galten als unberechenbar und verschlagen. Und die meisten von ihnen machten keinen Hehl aus ihrer Verachtung für Emerelle und den Prunk ihres Hofes.

»Was du von mir verlangst, ist unmöglich«, sagte Silwyna ruhig und ließ den Blick noch einmal über den weiten Hafen schweifen. Mehr als hundertfünfzig größere Schiffe lagen an den Kais vor Anker. Ein wahrer Wald von Masten ragte über dem Wasser auf, und schon jetzt kletterten in der Takelage der Schiffe unzählige Schaulustige auf der Suche nach den besten Plätzen für das große Fest umher.

»Stell dir einmal vor, du wolltest Emerelle töten, kurz bevor sie auf dem Achterdeck der Mondschatten die Huldigung durch die Fürsten der Albenkinder entgegennimmt. Wie würdest du das anstellen?« fragte Olowain

Silwyna sah sich um. Die Sonne berührte den Ozean, die Masten warfen lange Schatten. Schon wurden die ersten Lichter entzündet. Die Schiffe waren mit Blumenketten geschmückt. Immer mehr Albenkinder drängten sich auf den Decks und am Hafen. Bald würde es kaum mehr ein Durchkommen geben.

Ollowain lief die Zeit davon. Er musste hinab zum Magnolienhof, wo sich das Gefolge der Königin sammelte. Vielleicht konnte er Emerelle ja doch noch davon abbringen, sich wie eine lebende Zielscheibe auf der Mondschatten zu zeigen.

»Ich wäre dort drüben.« Die Bogenschützin deutete auf ein türkisfarbenes Schiff mit silbernen Beschlägen an Rumpf und Aufbauten. »Die Atem der See. Von dort kann man Emerelles Prunk-Liburne gut einsehen. Das Schiff liegt weit genug von der Mondschatten entfernt, um nicht zu scharf beobachtet zu werden. Vor allem ist der Abstand groß genug, um einen Vorsprung zu haben, wenn die Jagd beginnt.«

Ollowain musterte die junge Elfe scharf. Sie ist eine Maurawani, ermahnte er sich. Beute nachzustellen war ihr Leben. Ihn überlief ein Schauer. Nie hätte er sich träumen lassen, seine Königin in Gedanken einmal Beute zu nennen. Er straffte sich. »Warum die Atem der See? Ich habe die letzten fünf Stunden damit verbracht, mir Gedanken über die Schiffe im Hafen zu machen. Was du sagst, trifft auf mindestens noch drei andere Schiffe zu.«

»Wie viel weißt du?«

Ollowain wich ihrem Blick aus. »Wenig.« Und von dem Wenigen konnte er ihr das Meiste nicht sagen.

»Wenn man vorhat, die Königin mit einem Pfeil zu töten, dann geschieht dies, weil, wer immer es tut, mit dem Leben davonkommen will. Oder irre ich mich?«

»Ich hoffe nicht«, entgegnete Ollowain tonlos. Alles, was bisher geschehen war, sprach dafür, dass Silwyna Recht hatte.

»Von der Atem der See kann man entkommen.« Sie deutete hinüber zur Galeasse, deren helles Türkis in der Dämmerung zu einem blassen Grau verwischte. »Die Schiffe halten Abstand zur Atem der See. Dort ankern sie weniger dicht.«

»Das geschieht, damit die Galeasse ihre Ruder zu Wasser bringen kann. Sie braucht mehr Platz zum Manövrieren«, erklärte Ollowain. Insgeheim ärgerte er sich, dass er nicht selbst daran gedacht hatte. Er ahnte, worauf Silwyna hinauswollte.

»Sie könnte sich genau wie die Segelschiffe in freies Fahrwasser schleppen lassen. Wenn ich die Königin töten wollte, würde ich im vorderen Mastkorb stehen. Nach dem Schuss ist es ein Leichtes, über die Rah zu fliehen und ins Hafenbecken zu springen. Dort würde ich einen Delfin rufen, um mich aus dem Hafen zu den Mangroven oder zu einem Boot bringen zu lassen, das draußen auf der offenen See wartet.«

Ollowain spürte, wie ein einzelner Schweißtropfen über seine Stirn rann. Er musterte Silwyna eindringlich. Hatte er sich in ihr geirrt? Sie konnte sich allzu gut in den Mörder hineindenken. Lag es nur daran, dass sie eine Jägerin war? Sie war vorbereitet! Für den flüchtigen Betrachter wirkte sie festlich gekleidet, doch er sah in ihr mehr als nur einen harmlosen Gast. Sie war bereit, mit den Schatten der Nacht zu verschmelzen. Zu lauern und zu töten. Silwyna trug ein dunkles Wams aus Leder, in das ein aufwändiges Blütenmuster geprägt war. Darunter ein schwarzes Seidenhemd und eine weite seidene Hose. Ihr Antlitz war mit Bandag bemalt, dem rotbraunen Saft des Dinko-Busches. Ihre helle Hautfarbe verschwand fast gänzlich unter dem dunklen Muster aus Spiralen und stilisierten Wolfsköpfen. Selbst der lederne Sehnenschutz, den sie am linken Unterarm trug, wirkte auf den ersten Blick wie Schmuck. Gewiss, sie machte in diesem Festgewand einen düsteren Eindruck, aber das würde niemanden wundern. Im Gegenteil, man erwartete von den Maurawan geradezu, dass sie gegen jede Form der Etikette verstießen. Sie waren Wilde. Aufgewachsen in Wäldern. Angeblich lebten sie mit Tieren zusammen. Ollowain hielt das für Gerede, aber er wusste, dass viele diese Geschichten für wahr hielten.

Sie hat etwas geahnt, beruhigte der Schwertmeister sich in Gedanken. Schließlich warst du es, der sie gebeten hat, mit ihrem Bogen herzukommen. Andererseits traf man sich in einer Nacht wie dieser auf einem Tanzparkett und nicht auf einer verborgenen Terrasse des Palastes der Königin. Jedenfalls nicht, wenn man für die Sicherheit der Herrin Albenmarks verantwortlich war. Silwyna hatte geahnt, dass sie zu einer Jagd eingeladen war. Und sie hatte sich entsprechend gekleidet.

»Ich werde mich jetzt auf der Atem der See umsehen«, sagte sie ruhig.

Ollowain presste verärgert die Lippen zusammen. Wie naiv! »Das ist das Flaggschiff der Fürsten von Arkadien. Sie werden dich nicht an Bord lassen. Und ich glaube nicht, dass der Attentäter dort zu finden ist.«

»Ich hatte nicht vor zu fragen, ob man mich an Bord bittet«, entgegnete sie selbstsicher.

Unten am Hafen wurden die ersten Lichter zu Wasser gelassen, kaum handgroße Schwimmer aus Kork, auf denen Öllampen brannten.

Silwyna hielt ihn mit ihrem Blick gefangen, so schien es Ollowain. Ihre Iris war von kaltem, hellem Blau, umgeben von einem dünnen schwarzen Rand. Wolfsaugen, dachte er, und ihn schauderte.

»Sag mir endlich, was du weißt! Warum sollte der Mörder nicht auf der Atem der See sein?«, fragte sie schneidend.

»Darüber werde ich nicht sprechen. Geh du auf die Jagd für mich, und ich sorge dafür, dass du durch Atta Aikhjartos Albenstern in die Welt der Menschen reisen darfst.«

Silwyna schenkte ihm ein vieldeutiges Lächeln. »Warum mache ich nur immer wieder den Fehler, mich mit euch verzogenen Höflingen einzulassen? Ich weiß, ich sollte dem Menschensohn nicht in seine Welt folgen. Er wird mich enttäuschen. Ich muss wohl als Kind vom Mutterbaum gefallen und mit dem Kopf auf den Wurzeln aufgeschlagen sein. Wenn die Alben mich lieben, begegnen wir uns eines Tages in einem Wald, Ollowain, und ich verspreche dir, dann wirst du höflicher sein.« Sie griff nach ihrem Bogen. Noch einmal sah sie kurz auf. »Übrigens, du hast da etwas Schweiß in deinen Brauen.«

»Tatsächlich?« Ollowain zog ein Leinentüchlein hinter seinem Gürtel hervor und tupfte sich die Brauen. »Danke«, antwortete er tonlos.

Silwyna würdigte ihn keines weiteren Blickes. Sie schwang sich über das Geländer der Terrasse und fand mit sicherem Tritt die schmale Koboldtreppe, die halb zwischen Schlingpflanzen verborgen an der Außenfassade des Palastturms hinabführte. Leichtfüßig lief sie die steile Treppe hinunter. Ollowain sah noch, wie sie über das dichte Wurzelwerk eines Mangobaums hinwegstieg, dann war sie im Spiel von Licht und Schatten verschwunden.

Der Schwertmeister drapierte das Schweißtüchlein wieder hinter dem Gürtel. Kritisch sah er an sich herab und zupfte sein Seidenwams zurecht, damit sich die stählerne Brustplatte, die er darunter verborgen trug, nicht allzu deutlich durch den dünnen Stoff abzeichnete. Heute Nacht hatte der Tod eine Verabredung mit Emerelle getroffen. Er würde zwischen die beiden treten!

Ollowains Blick wanderte zu den Türmen, um die nun geisterhafte Lichter spielten. Er mochte Vahan Calyd nicht. Es hieß, die Alben hätten an diesem verwunschenen Ort einst ihre ersten Kinder erschaffen. Hier, wo der Wald und das Meer in riesigen Mangrovensümpfen ineinander übergingen, sodass es keine Küstenlinie gab, hier, wo Grenzen nicht mehr galten, schien alles möglich zu sein. Selbst die Jahreszeiten waren hier aufgehoben. Zumindest wenn man aus dem Norden kam und daran gewöhnt war, dass ein Jahr im Lauf der Zeit viele Gesichter hatte. Hier gab es nur schwüle Hitze. Nichts wurde jemals ganz trocken. Und die Mondwechsel unterschieden sich nur darin, dass es manchmal etwas mehr regnete.

Ollowain strich sich mit fahriger Geste über die Stirn. Die meisten Elfen lernten schon als Kinder, sich mit einem Wort der Macht gegen Kälte oder Hitze zu wappnen. Sie konnten in der klirrenden Kälte von Snaiwamark ein dünnes Seidenhemd tragen, ohne zu frieren, oder auf dem Fest der Lichter hier in Vahan Calyd mit prächtigen Pelzen prunken, ohne einen Tropfen Schweiß zu vergießen. Ollowain hatte diesen Zauber niemals gemeistert. Und so schwitzte er. Nicht wie die Kentauren, deren nackte Oberkörper in der Dschungelhitze stets vor Schweiß glänzten, als hätten sie ihre Muskeln eingeölt. Nur hin und wieder stand dem Schwertmeister eine einzelne Schweißperle auf der Stirn, oder er spürte, wie sein Seidenhemd an seiner feuchten Haut klebte. Doch das war schon zu viel! Zu schwitzen war ungehörig. Es ziemte sich einfach nicht für den Kommandanten der Leibwache der Königin.

Gleich, beim Festakt, würde er links von Emerelle stehen. Tausende Augenpaare würden auf ihm ruhen. Und er wusste, dass getuschelt werden würde. Er hasste es, unvollkommen zu erscheinen. Die Elfen waren das vollkommenste Volk unter den Albenkindern. Jenes, das die Alben zuletzt erschaffen hatten. Sie waren makellos, und etwas scheinbar so Unbedeutendes wie Schweiß in den Augenbrauen war für einen Elfen ein Stigma, wie es für einen Kobold ein von Pockennarben zerfressenes Gesicht gewesen wäre.

Es war unziemlich von Silwyna gewesen, ihn so direkt darauf anzusprechen. Aber was wollte man von einer Maurawani schon erwarten! Ollowain wünschte, er hätte eine andere Wahl gehabt, als ausgerechnet sie in seinen Dienst zu nehmen. Würde sie ihn verraten, so wie sie einst seinen Ziehsohn Alfadas verraten hatte?

Der Waffenmeister straffte sich. Es war dumm, seine Zeit mit fruchtlosem Grübeln zu vertun. Er rückte seinen Schwertgurt zurecht und stieg die breite Marmortreppe zum Innenhof hinab. Der Palast der Königin war ein himmelhoher Bau aus etlichen ineinander verschachtelten Türmen. Es gab mehr als ein Dutzend Höfe, und Terrassen umgaben den Turm wie Blätter einen Blumenstängel. Der größte Teil des Palastes war aus dem blauweißen Marmor der Ioliden erbaut. Üppige Bäume hatten ihre Wurzeln im Lauf der Jahrhunderte tief ins Mauerwerk gegraben. Sie hatten sich den Turm erobert, so als sei er nichts weiter als eine von Menschen geschaffene Klippe. Schlangenfarn wuchs die Wände hinauf, und überall sah man zarte Orchideen in Wurzelgabeln und auf windgeschützten Simsen, wo sich ein wenig Humus gesammelt hatte.

Emerelle kam nur alle achtundzwanzig Jahre nach Vahan Calyd. Immer wenn der Tag der ersten Schöpfung auf eine Neumondnacht fiel, wurde das Fest der Lichter begangen. Alle Fürsten der Albenkinder feierten hier gemeinsam, und vor langer Zeit war es Brauch gewesen, in dieser Nacht den König von Albenmark zu wählen. Doch Emerelle herrschte nun schon seit Jahrhunderten, und niemandem wäre es eingefallen, ihren Anspruch auf den Thron infrage zu stellen. Zur Wahl gegen Emerelle anzutreten war aussichtslos. Sie war zwar durchaus nicht bei allen beliebt, doch waren die Fürsten der Albenkinder untereinander so zerstritten, dass niemand darauf hoffen durfte, eine Mehrheit gegen Emerelle zu erzielen. Doch sollte der Königin ein Leid geschehen … Dann wäre man gezwungen, sich auf einen neuen Herrscher zu einigen. Das Fest der Lichter war die beste Gelegenheit für einen Anschlag auf Emerelles Leben, falls der Auftraggeber des Meuchlers nach der Königswürde strebte. Nur jetzt konnte unmittelbar auf den Tod der Herrscherin eine neue Königswahl folgen, denn alle Fürsten Albenmarks waren in Vahan Calyd oder hatten zumindest Vertreter geschickt. War der Meuchler in dieser Nacht nicht erfolgreich, dann war ein Anschlag sinnlos. Unter anderen Umständen würde es über ein Jahr dauern, eine Versammlung der Fürsten einzuberufen. Viel Zeit, um Intrigen zu spinnen und womöglich sogar offene Machtkämpfe auszutragen. Wenn der Mord aber hier während des Festes geschah, dann wären alle überrumpelt. Alle bis auf den Einen, der den Tod der Königin geplant hatte. Wer dann entschieden und selbstbewusst auftrat, der konnte binnen einer einzigen Nacht die Krone erringen.

Ollowain war es ein Rätsel, wer freiwillig nach der Bürde der Macht streben mochte. Bei Hof gab es Gerüchte über eine heimliche Fehde zwischen der Königin und dem Fürsten von Arkadien. Man munkelte, der Tod seines Vaters sei kein Unfall gewesen. Die Spitzel der Königin berichteten, dass man in der Fürstenfamilie glaubte, Farodin, der Verbannte, habe in Emerelles Auftrag einen Mord begangen. Das war absurd! Wer Farodin kannte, konnte über solche Behauptungen nur lachen. Und dennoch ließ Ollowain die Atem der See, das Flaggschiff Shahondins, des Fürsten von Arkadien, besonders scharf beobachten.

Womöglich ging es bei den Anschlägen auf Emerelle gar nicht um den Thron, sondern lediglich um Rache? So gesehen war es eine kluge Wahl, die Blutfehde während des Festes zu vollenden. Man würde immer denjenigen verdächtigen, der anschließend nach der Macht griff.

Ollowain durchmaß eiligen Schrittes einen gemauerten Tunnel. Blaues Licht sickerte aus den Deckensteinen. Die feinen Härchen im Nacken des Kriegers richteten sich auf. Die Luft prickelte vor magischer Kraft.

Tausende Zauber wurden in diesem Augenblick gesprochen. Jedes Geschlecht der Albenkinder, das die Macht geerbt hatte, wirkte in dieser Stunde Magie. Es war ein jahrhundertealter Wettstreit unter den Zauberern, sich in dieser Nacht gegenseitig zu überbieten. Ollowain dachte mit Schrecken an die ungezählten Möglichkeiten, die ein begabter Magier hatte, wenn er einen Anschlag auf die Königin verüben wollte. Vor dreihundert Jahren war sein Onkel unter Qualen gestorben, weil eine enttäuschte Geliebte mit einem Fingerschnippen einen Schwarm Ratten in seinen Magen gehext hatte. Ein Wort der Macht mochte reichen, um Emerelle durch ihre eigenen Gewänder erdrosseln zu lassen oder den Wein in ihrem Pokal in Säure zu verwandeln. Immer wieder hatte Ollowain auf Emerelle eingeredet, eine Zauberin in ihr Vertrauen zu ziehen. Die Königin brauchte jemanden um sich, der keine andere Aufgabe hatte, als sie vor einem magischen Angriff zu beschützen. Doch die Herrscherin hatte sich in dieser Hinsicht als erschreckend uneinsichtig erwiesen. Gewiss, sie war die bedeutendste Zauberweberin Albenmarks. Wahrscheinlich kam ihr niemand an Macht gleich. Und deshalb beharrte sie darauf, sich selbst zu schützen. Doch auf dem Fest würde Emerelle durch tausend andere Dinge abgelenkt sein, und ein Zauber konnte in Gedankenschnelle töten.

Erst am Mittag hatte Ollowain noch mit Emerelle darüber gestritten, dass sie zusätzlichen Schutz brauchte. Doch die Königin hatte ihn lediglich kühl darauf hingewiesen, dass bei den fehlgeschlagenen Attentaten auch keine Magie im Spiel gewesen war. Vor drei Tagen hatten sie einen vergifteten Dorn im Polster von Emerelles Thronsessel gefunden. Das Gift hatte einen Kobold getötet, der das Polster ausgeklopft hatte. Nur Augenblicke später hätte sich die Königin auf dem Thron niedergelassen. Und dann gab es den Marmorblock, der dicht neben Emerelle auf den Magnolienhof gestürzt war. Es hatte sich gezeigt, dass der Mörtel, der den Stein gehalten hatte, keineswegs mürbe geworden war. Ein Stück der Terrassenmauer war mit einer Brechstange gelockert worden. Jemand hatte dort oben darauf gewartet, dass die Königin den Hof überquerte.

Ollowain würde seine linke Hand dafür geben, wenn er wüsste, was der Mörder als Nächstes plante. Bisher hatte der Attentäter immer Abstand zur Königin gehalten. Deshalb vermutete Ollowain, dass der nächste Mordanschlag mit Pfeil und Bogen durchgeführt wurde. Aber was war, wenn der Mörder in Panik geriet? Emerelle würde schon in wenigen Tagen abreisen. Die Zeit lief dem Meuchler davon. Wie fanatisch war er? Wenn er sein Leben gegen das der Königin zu setzen bereit war, dann konnte man ihn kaum aufhalten. Während des Festes würden hunderte Gäste in Emerelles Nähe sein. Der Mörder mochte einen Dolchstoß nach der Kehle der Königin führen. Oder würde er vielleicht doch versuchen, Magie anzuwenden? Waren die beiden missglückten Attentate vielleicht Teil eines heimtückischen Plans? War der Meuchler in Wahrheit ein Magier? In dieser Nacht der tausend Zauber würde das Weben verderbter Magie wohl unbemerkt bleiben, bis sie ihre unselige Macht entfaltete.

Ollowain musste an seine Mutter denken. Während eines Festmahls in der Himmelshalle von Phylangan hatte sie plötzlich das Glas in ihrer Hand zerbrochen, einen Blütenkelch aus rotem Bergkristall. Er hatte ihr gegenüber gesessen. Sieben Jahre war er alt gewesen. Er erinnerte sich noch an das Blut auf dem weißen Kleid seiner Mutter und an ihren Blick. Ihre wunderschönen grünen Augen, voller Angst. Und dann hatte sie sich den langen Stängel des Kristallglases durchs Auge tief in den Schädel gestoßen. Es konnte nie geklärt werden, ob sie unter einem Zauberbann gestanden und ob ein fremder Wille sie zu dieser Bluttat gezwungen hatte. Manche sagten, sie habe sich auf diese grässliche Weise das Leben genommen, um Landoran, seinen kaltherzigen Vater, zu bestrafen. Doch Ollowain hatte das nie geglaubt. Sie hätte ihn nicht allein zurückgelassen. Niemals! Sie war ermordet worden.

Der Schwertmeister blickte auf. Vom Ende des langen Tunnels her erklang Hufgetrappel. Fackellicht warf tanzende Schatten auf die Eingangswände. Kentauren. Die Ehrengarde war also schon eingetroffen. Ollowain hoffte, dass keiner von ihnen betrunken war. Es war ihm ein Rätsel, warum Emerelle ausgerechnet Kentauren dazu auserkoren hatte, sie vom Palast zur Prunk-Liburne zu geleiten. Manchmal erschien es ihm, als habe die Königin eine heimliche Vorliebe für Geschöpfe, die sich buchstäblich einen Dreck um die Hofetikette scherten. So hatte sie auch diesen raubeinigen Menschensohn gemocht, der vor so vielen Jahren über die Shalyn Falah nach Albenmark gekommen war. Mandred, den Unbeugsamen, so nannten ihn die Höflinge spöttisch und spielten darauf an, dass er die Königin gleich bei ihrer ersten Begegnung beleidigt hatte, indem er sich nicht verbeugt hatte, um Emerelle die ihr gebührende Ehre zu erweisen. Mehr als dreißig Jahre waren seitdem verstrichen, doch die Erinnerung an den Fjordländer war noch immer lebendig. Wohin er wohl gegangen sein mochte, als er sich mit seinen beiden Elfenfreunden gegen die Königin verschworen hatte? Die Spur der drei verlor sich im labyrinthischen Netz der Albenpfade.

Ollowain trat aus dem Tunnel und blickte auf den weiten Magnolienhof hinab. Er war das Herzstück des Palastes, und wurde beherrscht von Matha Murganleuk, einem Magnolienbaum, so alt, dass sein Stamm mächtig wie ein Turm geworden war. Hoch oben in seinem Geäst lagen Emerelles Gemächer. Es hieß, Matha Murganleuk habe von ihrem eigenen Holz gegeben, um der Königin einen Zufluchtsort für einsame Stunden zu schenken. Niemand durfte Emerelle dorthin folgen, nicht einmal ihre Zofen oder Kobolddiener. Es war der einzige Ort in Vahan Calyd, an dem die Königin allein sein konnte.

Doch jetzt wartete Emerelle in dem weißen Pavillon, der, eingebettet in das Wurzelwerk, an eine riesige, halb geöffnete Magnolienblüte erinnerte. Kobolde und winzige Auenfeen umringten die Herrscherin. Ein bocksbeiniger Faun reichte ihr ein gewundenes Trinkhorn. Emerelle nippte nur kurz an dem schweren, goldenen Gefäß. Dann sagte sie etwas zu dem Faun, und der bärtige Kerl brach in schallendes Gelächter aus. Die Kentauren, die sich etwas abseits um eine große Weinamphore versammelt hatten, blickten neugierig auf.

Ollowain fluchte stumm. Er kam spät! Sie alle warteten auf ihn. Und es war nicht gut, Kentauren warten zu lassen. Sie hatten die unheimliche Begabung, immer irgendwo Wein aufzutreiben. Manchmal hatte der Schwertmeister den Verdacht, dass der Umstand, länger als einen Tag nüchtern zu sein, unter dem Volk der Pferdemänner als ein Makel galt. Mit Schrecken stellte sich Ollowain vor, wie Emerelle von einer Horde grölender, angetrunkener Kentauren zur Prunk-Liburne eskortiert wurde. Er hätte sich nicht verspäten dürfen!

Mit einem weiten Schritt nahm er die letzten drei Treppenstufen auf einmal und wäre fast in einen Haufen frischer Pferdeäpfel getreten, der halb verborgen zwischen den Wurzeln lag. Das war einer von vielen Gründen, warum er diese Barbaren nicht für hoffähig hielt!

Allerdings waren sie bedingungslos loyal. Unter ihnen würde sich niemals ein Attentäter befinden. Wenn sie eine Fehde ausfochten, dann gab es keine Heimlichkeiten. Ein Kampf, von dem man nicht bei einem Trinkgelage erzählen konnte, war es in ihren Augen erst gar nicht wert, geführt zu werden.

Als Ollowain den Pavillon erreichte, kniete er vor seiner Königin nieder. »Ich bitte um Verzeihung dafür, dass ich dich warten ließ, meine Herrin.«

Emerelle lächelte. »Ich kenne dich, Ollowain, und ich ahne, dass deine Pflicht dich aufgehalten hat. Nun erhebe dich. Dies ist kein Hoftag. Es besteht kein Grund, noch länger vor mir zu knien.«

Erwartete sie, dass er berichtete, was ihn aufgehalten hatte? Oder wusste sie es? Emerelle vermochte den Schleier der Zukunft zu zerteilen. Immer wieder überraschte sie den Hof mit ihrem Wissen. War sie deshalb so ruhig? Wusste sie, dass ihr heute Nacht nichts geschehen würde? Hatte sie sich insgeheim vorbereitet, ohne selbst ihn einzuweihen?

»Lass uns einen Augenblick hier stehen, Ollowain, und die Schönheit dieses Abends genießen.« Sie stützte sich auf das Geländer des Pavillons und blickte hinauf in den Wipfel von Matha Murganleuk. Wie ein riesiger Baldachin spannte sich die Baumkrone über den weiten Hof. Die Blätter flüsterten im Wind. Einzelne Blüten segelten in weiten Spiralen zu Boden.

Die Jahrhunderte waren an Emerelle vorübergegangen, scheinbar ohne Spuren zu hinterlassen. Sie gehörte zu den Wenigen, die die Alben noch gesehen hatte. Und dennoch wirkte die Herrscherin fast kindlich. Emerelle war von zarter Gestalt; Ollowain überragte sie um mehr als Haupteslänge. Dunkelblondes Haar fiel in Wellen auf ihre nackten, milchweißen Schultern. In dieser Nacht trug sie das Kleid der Augen. Es war von leuchtendem Rot, durchsetzt mit einem Muster aus gelben Kreisen und schwarzen Punkten. Man musste der Königin sehr nahe kommen, um zu bemerken, welche Bewandtnis es mit dem Kleid auf sich hatte. Es lebte! Tausende Schmetterlinge hatten sich auf einem schlichten, grünen Untergewand niedergelassen. Mit ausgestreckten Flügeln bedeckten sie die Königin, als wollten sie Emerelle vor allzu neugierigen Blicken bewahren. Wenn sie sich bewegten, schienen Wellen über das Kleid zu gleiten. Und auf allen Flügeln prangte ein großes gelbschwarzes Auge.

Unvermittelt wandte sich Emerelle zu ihm um. Leise raschelten die Schmetterlingsflügel. Die Königin hielt Ollowain das goldene Horn entgegen. »Trink, mein Beschützer. Du musst durstig sein.«

Schwitzte er wieder? Die Königin würde ihn nie direkt auf seinen Makel ansprechen. Aber lag in ihren Worten nicht eine versteckte Spitze? Er nahm das Trinkhorn.

Emerelle wirkte entrückt. Sie lächelte melancholisch, und ihre hellbraunen Augen blickten durch ihn hindurch. Ollowain entspannte sich. Offensichtlich war die Königin in Gedanken weit entfernt. Der Schwertmeister nahm einen tiefen Schluck. Es war herrlich gekühlter Apfelwein. Frisch und süß, aus den Äpfeln dieses Spätsommers.

»Leere das Horn bis zur Neige«, sagte Emerelle leise. »Dies wird eine lange Nacht werden.« Die Königin sah wieder hinauf in die Krone des alten Magnolienbaums.

Sie nimmt Abschied, dachte Ollowain beklommen. So, als würde sie Matha Murganleuk niemals wiedersehen.

Sein Blick wanderte über die von Schlingpflanzen überwucherten Wände. Weiße Erker schoben sich wie Felsvorsprünge durch den dunklen Pflanzenteppich. Nur in wenigen Fenstern brannte Licht. Emerelle war diesmal nur mit einem kleinen Gefolge nach Vahan Calyd gereist. Meister Alvias war zurückgeblieben, ebenso Obilee und viele andere. Der größte Teil des Palastes von Vahan Calyd stand leer. So wie fast immer, denn bis zum nächsten Fest pflegten nur wenige Diener hier auszuharren, um nach dem Rechten zu sehen. Zu wenige, um im Kampf gegen die wuchernde Wildnis des Waldmeers zu bestehen. In gewisser Weise war der Zustand des Palastes ein Spiegel von Emerelles Herrschaft. Sie ließ den Völkern der Albenkinder fast alle Freiheiten. Selten mischte sie sich in die Angelegenheiten der Elfensippen, in die Blutfehden der Kentauren oder die anrüchigen Geschäfte der Faune. Sie ließ sie gewähren, solange sie eine gewisse Grenze nicht überschritten. Doch wenn dies geschah, reagierte Emerelle mit aller Härte. So wie damals, als sie Noroelle, die ihr so nahe stand wie eine Tochter, verbannt hatte.

Manche Betrachter mochten den Palast verfallen nennen. Doch in Ollowains Augen besaß er eine unwiderstehliche Anziehung. Nur dort, wo das wuchernde Grün die Substanz des Gebäudes bedrohte, wurde es beschnitten. So war über die Jahrhunderte eine wilde Schönheit entstanden, wie kein Baumeister und kein Gärtner sie hätten entwerfen können.

Emerelle seufzte leise. Dann wandte sie sich erneut Ollowain zu. Bei jeder ihrer Bewegungen liefen schillernde Wogen über das Kleid der tausend Augen. Und dann verharrte es wieder, und die großen Flügelaugen schienen ihn anzustarren. »Es ist Zeit zu gehen.«

»Ich habe einen kleinen Segler bereitmachen lassen, meine Herrin. Du musst nicht auf dieses Fest. Es ist ein Fehler, dorthin zu gehen. Ich kann dich in der Menge kaum schützen.«

»Man kann vor seinem Schicksal nicht davonlaufen, Ollowain. Wie ein Schatten haftet es einem an den Fersen. Es wird uns einholen, ganz gleich, was wir tun.« Sie gab den Kentauren einen Wink, und der ausgelassene Lärm ihres Gelages verstummte. Abgesehen von Orimedes, ihrem Anführer, gab es keinen einzigen berühmten Krieger in dieser Schar. Bisher hatte Ollowain die Wahl der Ehrenwache für eine Laune der Königin gehalten. Doch jetzt ahnte er, welche verborgene Absicht dahintersteckte.

»Du solltest mir sagen, was du für diese Nacht erwartest, Herrin«, flüsterte er. »Dann werde ich dich besser beschützen können.«

»Ich weiß es nicht, die Schleier der Zukunft wollen sich nicht teilen. Eine fremde Macht mischt sich in meine Magie. Sie vermag den Spiegelzauber zu stören. Und ihr Eingreifen verändert die ferne Zukunft fast stündlich. Ich weiß nicht, was uns im Hafen erwartet, Schwertmeister. Doch eines ist gewiss: In dieser Nacht wird das Blutvergießen beginnen. Das Schwert wird über die Zukunft Albenmarks entscheiden.« Ihre Pupillen weiteten sich. Sie starrte durch ihn hindurch, wie in weite Ferne, so als könne sie das Unheil auch in diesem Augenblick schon nahen sehen.

Die Kentauren brachten Emerelles Sänfte zum Pavillon. Sie war erst an diesem Mittag fertig geworden. Diener hatten sie über und über mit Blumen geschmückt, und selbst jetzt, zu Beginn der Nacht, wurde die Blütenpracht von Kolibris umschwirrt. Ollowain betrachtete das seltsame Tragegestell skeptisch. Man hatte einen kleinen Nachen genommen, eines jener breiten Boote mit flachem Rumpf, wie es die Fischer in den Mangroven verwendeten. Soweit der Schwertmeister es erkennen konnte, waren als einzige Veränderung ein paar Löcher in den Bootskörper geschnitten worden, durch die nun Tragestangen geschoben waren. Durch die Wahl dieser Sänfte wollte die Königin ihre Verbundenheit zu den Bewohnern von Vahan Calyd ausdrücken.

Emerelle trat mit einem weiten Schritt vom erhöhten Pavillon auf die Sänfte, und Ollowain folgte ihr. Die Königin stützte sich auf eine Querstange, die unauffällig am Mast angebracht war. Bei jeder ihrer Bewegungen war das leise Sirren der Schmetterlingsflügel zu hören. Manchmal lösten sich Gruppen der Falter und umschwirrten sie, ohne sich weiter als bis auf Armeslänge zu entfernen.

Durch die Löcher im Rumpf des Bootes waren sechs gepolsterte Tragestangen geschoben. Auf ein Kommando von Orimedes griffen die Kentauren nach den Stangen und stemmten die Sänfte auf ihre Schultern. Ollowain musste sich am Mast festhalten, um durch den Ruck nicht von den Beinen gerissen zu werden.

Eine Schar von Holden kam unter den Ruderbänken des Nachens hervor. Die kleinen, grünbraunen Gestalten reichten Ollowain nicht einmal bis zum Knie. Sie waren entfernte Verwandte der Kobolde und lebten in den Mangroven des Waldmeers. Ihre Köpfe schienen viel zu groß im Vergleich zu den kleinen, sehnigen Körpern. Sie trugen nichts als lederne Lendenschurze und bunte Stirnbänder.

»Los, los, los, ihr Sumpfasseln! Dient der Königin!«, schimpfte ein grauhaariger Holder mit golddurchwirktem Stirnband. Er trug als Einziger ein Messer an seinem Gürtel. Mit gelben Augen funkelte er den Schwertmeister an. »Darf ich Seiner allerprächtigsten Ritterschaft etwas zu trinken anbieten?«, fragte er mit öliger Stimme. Sein breites Grinsen passte nicht zu seinem unterwürfigen Tonfall.

Ollowain tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

»Habe ich dir schon Gondoran vorgestellt, den Bootsmeister meines Palastes?«, fragte Emerelle beiläufig. »Es war seine Idee, diesen Nachen zur Sänfte umzubauen.«

»Sehr originell«, entgegnete der Schwertmeister knapp. »Vielleicht wäre es doch besser, sich zu Pferde zum Hafen zu begeben.«

Gondoran funkelte Ollowain böse an. Zugleich wirkte er überrascht. Einen Augenblick lang zumindest. Vermutlich hatte der Vorschlag, Pferde zu nehmen, ihn aus der Fassung gebracht.

»Nein!«, sagte Emerelle leise, doch in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sie nicht weiter über diese Entscheidung zu sprechen wünschte.

Der Anführer der Holden grinste triumphierend. Dann befahl er seinen Männern, die Spitze des Mastes umzulegen, damit die Sänfte durch den langen Tortunnel hinab zu den Kais getragen werden konnte.

»Im Schritt marsch!«, kommandierte der Kentaurenfürst. Er ging auf Höhe des Mastes neben ihnen her. Ollowain sah, wie die Last der Sänfte auf seine Schultern drückte. Orimedes drehte ihm den Kopf zu. Der Kentaur hatte eine breite Nase, die ihm offensichtlich schon mehrfach eingeschlagen worden war. Durch seine linke Braue lief eine weiße Narbe. Ein schlecht gepflegter, blonder Bart rahmte sein Gesicht. Um das Kinn herum war das Haar von vergossenem Wein verfärbt. Über die nackte Brust des Pferdemannes lief ein breiter, goldbeschlagener Schwertgurt, und um den linken Oberarm trug Orimedes einen Dolch gegürtet. Alle Kentauren stanken nach Wein, Schweiß und Pferdehaar.

Langsam setzte sich die Kolonne in Bewegung. Ein Trupp Reiter kam von einem der anderen Höfe herbei und schloss sich ihnen an, prächtig herausgeputzte junge Elfen, deren Rösser von Faunen am Zügel geführt wurden. Ollowain kannte die meisten von ihnen nur flüchtig. Sie waren Gäste des Palastes, und es hatte keine Möglichkeit gegeben, sie dort zurückzulassen.

Der Tunnel hallte wider vom Tritt der Hufe. Die Luft hier drinnen war stickig. Es roch nach verfaulten Pflanzen und altem Stein. An manchen Stellen wucherte grünlich leuchtendes Pilzgeflecht an den Wänden. Kleine Eidechsen suchten in den Mauerspalten Zuflucht, als die Reiterkolonne vorüberzog.

Das Rufen von Muschelhörnern begrüßte sie von allen Türmen der Stadt, als sie den Tortunnel schließlich hinter sich ließen. Die Straße war voller jubelnder Albenkinder; nur unmittelbar vor der Sänfte der Königin öffnete sich eine Gasse in dem Gedränge. Bocksbeinige Faune mit wilden Bärten trugen Koboldkinder auf den Schultern, die sonst zwischen all den trampelnden Beinen verloren gegangen wären. Am Ende der Straße sah Ollowain sogar einen Frostriesen, der ganz offensichtlich unter der Hitze litt und sich mit einem segelgroßen Fächer Kühlung verschaffte. Zwischen den zerbrochenen Säulen eines verfallenden Turms standen drei Oreaden, Bergnymphen, die nur sehr selten die Ioliden verließen. Wunderschöne Apsaras tanzten auf dem Wasser eines großen Brunnens wie auf Parkett. Sie waren ein wenig üppiger als Elfenfrauen. Ihre nackten Leiber hatten sie mit Bandag bemalt; schlangengleich wanden sich Glyphen auf ihrer Haut. Es hieß, sie schrieben sich ihre geheimsten Wünsche auf den Leib, und wer die arkane Schrift zu entschlüsseln vermochte, dem blieben sie treu, bis der Weg ins Mondlicht die Entrückten auf immer von den Suchenden trennte.

Eine Koboldkapelle brach aus der Phalanx der Schaulustigen hervor. Sie alle hatten weiße Lotosblüten an ihre Mützen gesteckt, was in Anbetracht der Launenhaftigkeit des kleinen Volkes einer Uniformierung gleichkam. Einige Takte lang folgten die Trompeten, Trommeln, Rasseln und Triangeln den Vorgaben des Kapellmeisters, bis dessen Bart plötzlich wild zu wuchern begann und er sich mit dem Taktstock darin verhedderte. Während der Kobold fluchend stürzte und die Melodie der Kapelle in lautstarkes Scheppern zerfloss, sah Ollowain zwei Lutins zwischen den Beinen einiger hünenhafter Minotauren verschwinden. Dieses fuchsköpfige Koboldvolk war berüchtigt dafür, dass sie keinen derben Scherz ausließen und ihre außergewöhnlichen magischen Kräfte stets nur nutzten, um damit Schabernack zu treiben. Besorgt blickte der Schwertmeister zur Sänfte der Königin. Die Holden richteten gerade die Mastspitze wieder auf und hissten das Elfenbanner, ein goldenes Ross auf grünem Grund. Die Sänfte schwankte wie ein Boot in leichter Dünung, während die Kentauren sich einen Weg durch die Schaulustigen bahnten.

Ollowain hielt sich dicht bei der Königin. Ruhelos hetzte sein Blick über die Menge und dann wieder zu den Terrassen der anderen Paläste, an denen sie vorbeikamen. In dem Nachen schwebten sie hoch über den Köpfen all der Schaulustigen ringsherum. Es war ein Albtraum! Die Königin bot ein kaum zu verfehlendes Ziel für den Mörder, der irgendwo hier draußen lauerte.

Ollowain versuchte ein weiteres Mal, sich in den Meuchler hineinzuversetzen. Wie würde er es anstellen, wenn er Emerelle töten wollte? Von diesem Auftritt in der Sänfte hatte der Mörder unmöglich wissen können. Ollowain selbst hatte erst am Nachmittag davon erfahren. Nur den Holden, die das Boot vorbereitet hatten, war die Absicht der Königin schon länger bekannt. War es denkbar, dass jemand von ihnen das Geheimnis verraten hatte?

Ollowain ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Es war aussichtslos. Der Attentäter würde ihm immer einen Schritt voraus sein. Er konnte nur reagieren, während der Mörder tausend Möglichkeiten hatte.

Ein Schwarm kleiner Auenfeen stieß aus dem Nachthimmel hinab. Kaum größer als Libellen, umschwirrten sie die Königin und bestäubten ihr Haar mit parfümiertem Blütenstaub. Hunderte Schmetterlinge lösten sich aus dem Kleid der tausend Augen und stiegen auf, um mit den Auenfeen in schillerndem Farbenreigen zu tanzen. Emerelle lachte und winkte der Menge zu.

Blütenblätter wurden von den Terrassen der Paläste geworfen. Die Luft war erfüllt von Wohlgerüchen. Überall wehten Seidenbanner, und auf den hohen Palasttürmen hatten die Elfenmagier mit ihren Zaubern begonnen. Kristalle brachen Licht in schillernde Regenbogen. Goldene Fontänen schossen in den Himmel und öffneten sich zu vielfarbigen Blüten. Selbst die einfachen Häuser, die über keine Zauberer geboten, erstrahlten in goldenem Licht. Dort hatte man hunderte von Öllämpchen aufgestellt, um an der Nacht der Lichter teilzuhaben.

Der warme Klang von Schilfrohrflöten drang an Ollowains Ohr. Kurz erhaschte er einen Blick in eine enge Gasse, in der Minotauren tanzten. Sie hatten goldene Räucherfässer an ihre Hörner gebunden und wanden sich in ekstatischem Reigen zum Klang der Flöten. Dabei zogen sie weißblaue Rauchschlangen hinter sich her.

Aus dem Augenwinkel sah Ollowain etwas Längliches auf die Königin zurasen. Er stieß Emerelle zur Seite. Scheppernd schlug das Geschoss gegen die Brustplatte, die unter seinem Wams verborgen war. Erschrockene Rufe erklangen.

Die Königin war sofort wieder auf den Beinen und winkte der Menge zu. »Du bist zu nervös, Ollowain«, flüsterte sie und deutete auf den geschälten Ast, der vor ihm auf dem Boden des Nachens lag. In das helle Holz waren schwarze Runen eingebrannt. Ein Frauenname?

Hinter ihnen kletterten zwei Holde den glatten Mast hinauf und spähten der Königin neugierig über die Schultern. Einer hatte sein Haar zu fett glänzenden Zöpfen geflochten. Er grinste den Schwertmeister frech an und begann plötzlich zu singen: »Der Ollowain, das Ritterlein, der hat wohl Angst, bepisst sein Bein.«

Emerelle brachte den Spötter mit einer harschen Geste zum Schweigen. Dann ließ sie den Blick suchend über die Menge schweifen. Schließlich deutete sie auf eine Kentaurin mit kurz geschorenem schwarzen Haar. Das Pferdeweib stieg auf die Hinterbeine und versuchte wild rufend die Aufmerksamkeit der Königin zu erhaschen.

Emerelle bückte sich nach dem Stab, führte ihn an die Lippen und hauchte einen Kuss auf das helle Holz. Dann warf sie ihn in weitem Bogen der Kentaurin entgegen. »Ein Amulett«, erklärte sie. »Die Kentauren glauben, wenn ihre Frauen einen Stab aus Weidenholz bei sich tragen, den ich berührt habe, dann werden sie in der nächsten Liebesnacht einen Sohn empfangen.«

Ollowain hörte die Worte der Königin kaum. Ein dumpfes Geräusch, fast verdeckt vom Lärm des Festes, ließ ihn herumfahren. Der Holde, der ihn eben noch verspottet hatte, war von einem Pfeil an den Mast genagelt worden. Das Geschoss zitterte noch von der Wucht, mit der es sich in das Holz gebohrt hatte. Dunkles Blut troff von der Brust des Toten und sammelte sich am Gürtel, der den Lendenschurz hielt. Der Pfeil, der den Spötter getötet hatte, war schwarz, seine Befiederung dunkelgrau und weiß gestreift.

Ollowain zog Emerelle dicht an sich. So wie der Pfeil im Mast steckte, musste er aus erhöhter Position von einem der Schiffe aus abgeschossen worden sein. Dass die Königin sich nach dem Weidenholz gebückt hatte, hatte ihr vermutlich das Leben gerettet.

»Die Sänfte nieder!«, befahl Ollowain dem Anführer der Kentauren.

Orimedes sah verwundert zu ihm auf. »Hier, mitten im Gedränge? Bist du verrückt geworden?«

Auch Emerelle versuchte sich aus dem Griff des Kriegers zu winden. Die Schmetterlinge ihres Kleides waren aufgestoben, um nicht zwischen den Leibern zerdrückt zu werden. Sie bildeten eine dichte Wolke um die Herrscherin. Das würde dem heimtückischen Schützen das Zielen erschweren! Es waren nur wenige Augenblicke verstrichen, seit der Pfeil den Holden getroffen hatte. Doch ein geübter Bogenschütze vermochte drei Pfeile in die Luft zu bekommen, bevor der erste in seinem Ziel einschlug.

Wie als Antwort auf Ollowains Gedanken bohrte sich dicht neben ihm ein zweites Geschoss in eine der Ruderbänke. Der Pfeil hatte sie um kaum mehr als Handbreite verfehlt. Dass der Bogenschütze nicht getroffen hatte, war gewiss nur den Schmetterlingen zu verdanken. Zu hunderten schwirrten sie nun um die Königin herum.

»Herrin, du wirst sterben, wenn du darauf bestehst, auf der Sänfte zu bleiben«, sagte Ollowain ruhig. Jetzt, wo er endlich handeln konnte, war seine Anspannung gewichen.

»Küss sie!«, grölte jemand in der Menge, der Ollowains Handeln gründlich missverstanden hatte.

Der Schwertmeister zog die Königin mit sich zur Reling. Er packte sie bei den Hüften und sprang hinab. Schmetterlingsflügel streiften seine Wangen. Er konnte kaum etwas sehen.

»Schau zum Mast!«, rief er dem Kentaurenfürsten zu. »Jemand schießt auf uns!« Ollowain zog Emerelle unter den Rumpf des Bootes. Hier waren sie in Sicherheit. Rings herum erhob sich Geschrei. Wahrscheinlich hatten die ersten Schaulustigen den toten Holden gesehen.

»Wir müssen verheimlichen, was geschieht.« Emerelle machte sich aus Ollowains Umklammerung los. »Wenn jetzt eine Panik ausbricht, werden vielleicht hunderte zu Tode getrampelt.«

»Du darfst dich nicht zeigen!«, begehrte der Schwertmeister auf. »Bisher hast du Glück gehabt, Herrin. Schon der nächste Schuss könnte dich töten. Wir dürfen dem Mörder keine weitere Gelegenheit geben. Du musst zurück in den Palast!«

»Warum glaubst du, dass mich ein Mann töten will?«

»Ob Mann oder Frau, ist jetzt gleichgültig. Das Einzige, was zählt, ist deine Sicherheit, Herrin! Du musst zurück zum Palast!« Ollowain war sich nur allzu bewusst, warum er nicht darüber sprechen wollte, ob auch eine Frau geschossen haben könnte. Er hätte Silwyna nicht ins Vertrauen ziehen dürfen!

»Sagt den Elfen im Gefolge, sie sollen absteigen, und sorge dafür, dass die Holden den Toten vom Mast nehmen«, rief Ollowain dem Kentaurenfürsten zu.

Emerelle trat unter dem schützenden Boot hervor.

Sofort war der Schwertmeister an ihrer Seite. »Herrin, bitte …« Er sah nicht das Blinken von Stahl, dicht bei der Königin. Eine Klinge! Er stieß eine junge Elfe zurück und bemerkte erst dann, dass ihre polierte Gürtelschließe ihn genarrt hatte. Emerelle legte ihm die Hand auf die Schulter und zog ihn zurück.

»Vergiss nicht, dass auch ich einmal eine Kriegerin war«, sagte sie. »Inmitten der Albenkinder wird mich der Bogenschütze nicht treffen können.«

»Und wenn es einen zweiten Mörder gibt? Wie soll ich dich hier vor einer Klinge schützen?«

Die Antwort Emerelles ging in Jubelrufen unter. Eine Schar Kobolde entdeckte die Königin und drängte auf sie zu. Die Schmetterlinge vom Kleid der Augen flüchteten und tanzten hoch über der Herrscherin in der Luft. Bald war Emerelle ganz von schwitzenden Leibern eingekeilt. Ein Lamassu, ein riesiger, geflügelter Stiermann aus dem fernen Schurabad, pflügte durch die Menge und versuchte mit seiner Donnerstimme, den Lärm zu übertönen, um Emerelle in eine philosophische Diskussion über die Vergänglichkeit aller Dinge zu verwickeln.

Endlich schaffte es Ollowain, die jungen Elfen aus dem Gefolge im Kreis um die Königin aufzustellen. Unversehens ließ das Gedränge etwas nach. In diesem kurzen Augenblick ging eine seltsame Veränderung mit der Königin vor sich. Plötzlich wirkte sie verletzlich wie ein Kind.

Das Lärmen rings herum verebbte. Eine Gasse bildete sich vor ihnen. Fischer, Fernhändler und Weise standen in stummem Staunen. Es schien, als schreckten sie davor zurück, diese zerbrechliche Gestalt zu sehr zu bedrängen.

Nun kamen sie leichter voran. Immer wieder blieb die Königin stehen, um durch das Spalier ihrer Wachen hindurch Hände zu schütteln oder ein paar Worte zu wechseln. Sie durchquerten einen Park, in dem Magier Figuren aus Blütenblättern durch die Luft tanzen ließen.

Ollowain hatte keinen Blick für die Schönheit des Zaubers. Argwöhnisch musterte er die dichten Bäume und suchte nach einem weiteren verborgenen Schützen. Der Weg hinab zum Hafen zog sich in qualvolle Länge. Emerelle hingegen gab sich unbeschwert. Sie genoss es, bejubelt zu werden, und versprühte einen Liebreiz, dem selbst die stierköpfigen Minotauren nicht zu widerstehen vermochten, obwohl sie allgemein für ihre griesgrämige Religiosität verschrien waren, die kein Lächeln oder gar lauten Jubel duldete.

Unbehelligt gelangte die Herrscherin bis zu dem Kai, an dem die Mondschatten vertäut lag. Selbst Ollowain, der Emerelle täglich so nahe kam wie kaum ein Zweiter in ihrem Gefolge, fühlte sich ergriffen von der Aura seiner Königin. War es ein Zauber? Oder war es das wahre Gesicht der Herrscherin, das sich auf einmal zeigte? Er vermochte es nicht zu sagen.

Die Wachen der königlichen Prunk-Liburne bildeten ein Spalier, als ihre Gebieterin an Bord kam. Auf dem Hauptdeck standen entlang einer festlichen Tafel die bedeutendsten Fürsten Albenmarks. Kein Platz war leer geblieben. Ollowain musterte die stolzen Gesichter. Die Mehrheit der Fürsten waren Elfen. Sie vertraten die Völker der Meere und Ebenen, der fernen Inseln und der Eisebenen aus der Snaiwamark.

Sie alle verbeugten sich vor Emerelle, als sie das Schiff betrat, selbst Shahondin von Arkadien. Manche der Edlen lächelten ironisch, wie um der altüberlieferten Geste der Ehrerbietung etwas von ihrem Pathos zu nehmen. Doch keiner wagte es, Emerelle offen herauszufordern, indem er ihr die Verbeugung verweigerte.

Die Schmetterlinge hatten sich wieder auf Emerelles Gewand niedergelassen. Das Bad in der Menge hatte der Königin nichts von ihrer majestätischen Erscheinung genommen. Gemessenen Schrittes stieg sie zum Achterdeck hinauf, wo alle Gäste sie sehen konnten.

Eine junge Elfe trat an Ollowains Seite. Yilvina. Ollowain hatte sie zur Kommandantin der Elfengarde auf der Mondschatten bestimmt. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie leise.

»Nein«, murrte der Schwertmeister. »Sieht es so aus? Welche Vorkehrungen hast du zur Sicherheit der Königin getroffen?«

»An Bord stehen zweiundsiebzig Krieger unter Waffen. Die Mastkörbe sind mit Armbrustschützen besetzt. Auf dem Achterdeck stehen meine zuverlässigsten Kämpfer. Sie alle sind mit Turmschilden gewappnet, so wie du es befohlen hast. Und sollte es zum Schlimmsten kommen, sind drei verschiedene Fluchtwege vorbereitet.«

Ollowain entspannte sich ein wenig. Er hatte mit Yilvina gemeinsam in vielen Schlachten gekämpft. Selbst beim Massaker in Aniscans, als sie von einer Übermacht von Barbaren eingekreist worden waren, hatte sie einen kühlen Kopf bewahrt. Der Schwertmeister besah sich, wie die Wachen postiert waren, und nickte zufrieden. Die Krieger auf dem Achterdeck hatten altmodische Rüstungen mit Brustplatten aus polierter Bronze angelegt. Prächtige Federbüsche wehten von ihren silbernen Helmen. Sie trugen große, ovale Schilde, die mit wunderbaren Bildern bemalt waren. Auf den arglosen Betrachter wirkten sie nicht bedrohlich, sondern wie ein Teil einer großartigen Kulisse bei einem Fest, das so alt wie die Elfenvölker selbst war. Und doch mochten ihre Schilde binnen eines Herzschlags zu einer hölzernen Mauer werden, die sich zwischen die Königin und jeden Feind schob.

Ollowain nickte knapp. »Gute Arbeit, Yilvina. Aber schick jemanden hinauf zum Vormast. Die Armbrustschützen dort sollen die Atem der See im Auge behalten. Vielleicht verbirgt sich auf einem ihrer Masten ein Bogenschütze. «

»Ich werde mich persönlich darum kümmern.« Die Elfe machte auf dem Absatz kehrt und eilte zum Vordeck.

Emerelle hatte mit der feierlichen Rede begonnen, mit der sie ihren Verzicht auf den Thron erklärte. Sie stand an der Brüstung des Achterdecks und blickte zu den Fürsten hinab.

»… ein langer Mondzyklus ist verstrichen, und die Bürde der Macht ruht schwer auf meinen Schultern.« Der Königin gelang es, dass die altüberlieferten Floskeln aus ihrem Munde aufrichtig klangen. Doch Ollowain wusste genau, dass sie niemals auf ihre Herrschaft verzichten würde. Er ging zum Aufgang auf das Achterdeck. Es war besser, an Emerelles Seite zu bleiben, bis diese Nacht vorüber war.

»Seht her, ohne Krone bin ich vor euch getreten. Nun sagt mir: Wer aus unserer Mitte soll künftig die Last der Herrschaft tragen?«

Einen Augenblick herrschte Stille. Dann trat Hallandan – der Fürst von Reilimee, der weißen Stadt am Meer – unter den Edlen hervor. »Ich benenne Emerelle, um den Schwanenreif zu tragen. Weisheit und Güte vereinen sich in ihr. Sie soll über uns herrschen.«

Eine frische Bö ließ die Fürstenbanner entlang der Reling knattern. Emerelle öffnete den Mund … Sie wirkte orientierungslos.

Ollowain stürmte die Treppe zum Achterdeck hinauf. Doch schon hatte die Königin sich wieder gefangen. »Ihr Fürsten von Albenmark. Findet sich denn keiner, der die Bürde der Verantwortung an meiner Stelle tragen mag?«

Der Schwertmeister blickte zu Shahondin, doch der Herrscher Arkadiens blieb stumm.

»Wenn also kein anderer den Thron begehrt, so gelobet mir nun Treue«, fuhr Emerelle fort. »Ein Titel ist nur ein Wort. Eine Krone nur eitler Tand. Ihr aber seid das Fleisch meiner Herrschaft. Ohne euch gibt es kein Königtum.«

Nun traten die Fürsten einzeln vor, knieten vor Emerelle nieder und leisteten ihr den Treueid. Ollowain stand hinter seiner Königin. Er wünschte, er hätte in den Gedanken der Fürsten lesen können. Ihre Gesichter waren Masken. Sie verrieten keine Regung. Sicherlich waren die meisten Emerelle tatsächlich ergeben. Doch mindestens einer sann auf ihren Tod. Vielleicht Alathaia, Fürstin von Langollion, die schon lange im Streit mit Emerelle lag, weil sie sich angeblich der dunklen Seite der Magie verschrieben hatte und zu sehr nach den verborgenen Schätzen auf dem Albenhaupt strebte? Oder gar der stille Eleborn, ein weißhaariger Wassermann, der Herr über das Reich unter den Wogen? War es doch Shahondin? Oder am Ende irgendjemand ohne großen Namen, der einen Groll gegen die Königin hegte und auf Rache sann? Ollowain wünschte, diese Nacht sei endlich vorbei!

Eine junge Elfe in blütenweißem Kleid stieg zum Achterdeck empor. Auf einem blauen Samtkissen trug sie die Krone von Albenmark. Sie war aus weißem Gold und hunderten Diamantsplittern gefertigt und sah aus wie ein Schwan, der sich gerade aus dem Wasser eines Sees in die Lüfte erhob. Der stilisierte Kopf war weit nach vorne gestreckt, während die Flügel sich nach hinten krümmten und einen breiten Reif bildeten.

Emerelle nahm die Krone. Einen Herzschlag lang hielt sie das kostbare Kleinod hoch über ihren Kopf, sodass jeder an Bord es deutlich sehen konnte. Dann setzte sie die Krone auf. Es war ein Augenblick feierlicher Stille.

»Nehmt Platz an meiner Tafel, edle Fürsten, und seid meine Gäste in dieser Nacht der Wunder.« Wie auf ein geheimes Signal hin schossen von allen Fürstentürmen schillernde Lichtfontänen in den schwarzen Himmel. Ausgelassenes Jubelgeschrei erklang auf den Kais und den Schiffen. Albenmark hatte wieder eine Königin.

Emerelle ließ sich auf ihren Thronsessel sinken. Sie wirkte sehr erschöpft. Der Schwertmeister sah, dass ihre

Originalausgabe 01/2006 Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2006 by Bernhard Hennen Copyright © 2006 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Karte: Dirk Schulz Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-641-06492-1

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