Die Anarchisten - John Henry Mackay - E-Book

Die Anarchisten E-Book

John Henry Mackay

0,0

Beschreibung

Die Anarchisten" (Erstpublikation 1891) ist ein revolutionäres Buch: Es wurde in neun Sprachen übersetzt und erreichte in Deutschland schon nach einigen Jahren Bestsellerstatus. Manche sahen es als eines der radikalsten Bücher seiner Zeit an, weil es die grundlegende Ordnung in Frage stellte, dabei nichts anderes wollte als zu klären, wie der Mensch frei wird. Der Text ist in weiten Teilen biografisch eingefärbt und ein philosophisches Dokument in Romanform. Anhand zweier Charaktere mit unterschiedlichen Grundsätzen illustriert John Henry Mckay, ein schottischstämmiger Berliner, den Wert des individualistischen Anarchismus und des Kommunismus seiner Zeit. Auban, Mackays alter ego und Hauptfigur des Romans, setzt sich dabei mit den Widrigkeiten einer Bewegung auseinander, die sich zwar anarchistisch nennt, aber mit seinen individualistischen Grundsätzen nicht konform geht. In der Auseinandersetzung mit seinem Freund Trupp, der ein glühender Anhänger der kommunistischen Arbeiterbewegung ist, beschreibt Mckay sein eigenes Konzept des individualistischen Anarchismus. Mackay war ein Künstler, Dichter und leidenschaftlicher Schriftsteller, der sich als Anarchist empfand, aber kaum in die üblichen Kategorien eines politischen Anarchisten passte. Mckays Anarchisten, wie er sie in seinen Schriften beschrieb, waren weder Chaoten noch Bombenleger. Sie sind Intellektuelle, die einen eigenen Weg aus der sozialen Misere des späten 19. Jahrhunderts finden - gewaltfrei. Freiheit ist das zentrale Motiv seines Werks. Die wird allerdings nicht durch Umstürze und Revolutionen gewonnen, auch nicht durch Demokratie und Parlamentarismus, sondern vielmehr durch die Emanzipation des Individuums, durch passiven Widerstand gegen den Staat, zivilen Ungehorsam. Ein herausforderndes Buch, das jeden von uns nachdenken lässt, wie viel Freiheit wir wirklich haben - und erringen könnten. 100% Klassiker: vollständig, kommentiert, relevant!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 444

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



John Henry Mackay

Die Anarchisten

Kulturgemälde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts

Mit einem einleitenden Essay

.

Impressum

ISBN 978-3-940621-35-1

Digitalisat basiert auf der Ausgabe von 1928

Digitalisierung: Vergangenheitsverlag. Bearbeitung: Dr. Alexander Schug

© Vergangenheitsverlag, 2010 – www.vergangenheitsverlag.de

Einleitendes Essay

John Henry Mckay (1864-1933) war ein gebürtiger Schotte, der von seinem zweiten Lebensjahr an in Deutschland aufwuchs. Nach dem Studium der Literatur- und Kunstgeschichte, das er ab 1884 in Kiel, Leipzig und Berlin absolvierte, bereiste er ganz Europa und machte schon früh als Autor auf sich aufmerksam, der die Ideen des individualistischen Anarchismus und radikalen Liberalismus verarbeitete. 1887 ging er für ein Jahr nach London, um die sozialen und politischen Bewegungen dort zu studieren.

In London wird Mackay 1888 mit den Ideen des amerikanischen Anarchisten Benjamin R. Tucker vertraut. Mackay verbrachte danach mehrere Jahre in der Schweiz, reiste viel und kehrte 1892 nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tode in Berlin-Charlottenburg lebte. Mckay lebte lange Zeit von dem Geld seiner Mutter, die ihn unterstützte und nach ihrem Tod eine ansehnliche Erbschaft hinterließ, was ihm ein unabhängiges Leben erlaubte. Aber auch mit seiner schriftstellerischen Arbeit konnte er Erfolge erzielen. Eine Zäsur wurde die Inflationszeit 1923, während der sein gesamtes Vermögen entwertet wurde und die ihn in finanzielle Schwierigkeiten brachte.

Mackay war ein Künstler, Dichter und leidenschaftlicher Schriftsteller, der sich als Anarchist empfand, aber kaum in die üblichen Kategorien eines politischen Anarchisten passte. Mckays Anarchisten, wie er sie auch in seinen Schriften beschrieb, waren weder Chaoten noch Bombenleger. Sie waren Intellektuelle, die einen eigenen Weg aus der sozialen Misere des späten 19. Jahrhunderts finden – gewaltfrei. Freiheit ist das zentrale Motiv seines Werks. Die wird allerdings nicht durch Umstürze und Revolutionen gewonnen, auch nicht durch Demokratie und Parlamentarismus, sondern vielmehr durch die Emanzipation des Individuums, durch passiven Widerstand gegen den Staat, zivilen Ungehorsam. Er will der Allmacht des Staates entgehen, seinem Gewalt- und Finanzmonopol. Statt Agitation auf der Straße betont er den Weg der Selbstverwirklichung. Der gewaltlose Widerstand, der Streik, der Boykott, waren seiner Meinung nach wirksame Mittel gegen den Staat und das Kapital. Dazu käme die Verwirklichung der Freiheit durch eigenes Verhalten, eigene Beispiele sowie die Durchsetzung von Vorschlägen und Ideen, die der wirtschaftlichen Unabhängigkeit dienlich sind.

Mckay war zu seiner Zeit kein belächelter Eigenbrötler. Seine Texte publizierten namhafte Verlage wie beispielsweise S. Fischer. Mackay verkehrte in den Jahren bis zur Jahrhundertwende mit vielen bekannten Dichtern, wie mit den Brüdern Heinrich und Julius Hart, mit Karl Henckel, Bruno Wille, Wilhelm Bösche. Zu seinem Bekanntenkreis gehörten Johannes Schlaf, Max Halbe, Richard Dehmel, Erich Mühsam und andere Schriftsteller. Eine enge Freundschaft verband Mackay mit Rudolf Steiner, der trotz eines späteren Zerwürfnisses, Mckay als einen Menschen erinnerte "der Welt in sich trug" und dem im sozialen Leben der Menschen alles, was Gewalt (Archie) war, verhasst war.

Mckay verstanden nicht alle. Von ihm hieß es, er sei ein Weltbürger, der in Deutschland immer ein Ausländer blieb, von manchen radikal abgelehnt, weil er es wagte, jenen zu widersprechen, die der Menschheit einen glückseligen Zustand versprachen, aber mit ihren Ideologien nur neues Unheil bewirkten und sich von der Freiheit immer nur entfernten – so eine wissenschaftliche Arbeit von der Jahrhundertwende 1900.

Außenseiter war Mackay auch deshalb, weil er sich für die homosexuelle Befreiungsbewegung in Deutschland stark machte. Er schrieb die homoerotischen Romane "Puppenjunge" und "Fenny Skaller", die zum Eigenschutz alle unter dem Pseudonym Sagitta (Pfeil ) erschienen – und Mckay vor einem Kreuzfeuer der Kritik bewahrte und seine schriftstellerische Existenz nicht in Frage stellte, selbst wenn die Schriften Sagittas beschlagnahmt und der Verleger Bernhard Zack, der Mackay deckte, wegen „öffentlicher Beleidigung“ zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Mackays Pseudonym blieb anonym – er selbst unterstützte den Verlag finanziell und ließ 1911 bei Zack seine "Gesammelten Werke" (8 Bände) erscheinen.

Zu seinem 65 Geburtstag am 6. Febr. 1929 konnte Mackay noch die Glückwünsche von prominenten Schriftstellern wie Stefan Zweig, Thomas Mann, Hermann Hesse, Walter von Molo, Erich Mühsam, Roda Roda und anderen entgegen nehmen; er erhielt 1929 auch noch zum zweiten Mal den Preis der Weimarer Schillerstiftung, aber er vermochte keinen großen Verlag mehr für seine Werke zu gewinnen. Mackays Freunde begründeten deshalb 1931 die Mckay-Gesellschaft, um den durch die Inflation in Not geratenen Schriftsteller zu unterstützen, seine Bücher zu verbreiten, aber auch, um Mackay in die Lage zu versetzen, sein letztes Buch "Abrechnung" fertigzustellen und zu verlegen. Der Machtantritt des Nationalsozialismus machte der Mackay-Gesellschaft ein Ende. Mackay selbst starb in Berlin am 16. Mai 1933 nach längerer Krankheit, jedoch schlossen enge Freunde nicht aus, dass er sich selbst das Leben nahm.

Sein Buch "Die Anarchisten" (Erstpublikation 1891) wurde in neun Sprachen übersetzt und erreichte in Deutschland bis 1928 eine Auflage von 17.000 Exemplaren, was durchaus als Bestseller bezeichnet werden kann. Manche sahen darin eines der radikalsten Bücher seiner Zeit. Der Text ist in weiten Teilen biografisch eingefärbt und ein philosophisches Dokument in Romanform. Anhand zweier Charaktere mit unterschiedlichen Grundsätzen illustriert Mckay den Wert des individualistischen Anarchismus und des Kommunismus seiner Zeit. Auban, Mackays alter ego und Hauptfigur des Romans, setzt sich dabei mit den Widrigkeiten einer Bewegung auseinander, die sich zwar anarchistisch nennt, aber mit seinen individualistischen Grundsätzen nicht konform geht. In der Auseinandersetzung mit seinem Freund Trupp, der ein glühender Anhänger der kommunistischen Arbeiterbewegung ist, beschreibt Mckay sein eigenes Konzept des individualistischen Anarchismus.

Einleitung

Das Werk der Kunst hat für den Künstler zu sprechen, der es schuf; die Arbeit des betrachtenden Forschers, welcher hinter ihr zurücktrat, erlaubt ihm zu sagen, was ihn trieb, sich zu äußern.

Der Vorwurf der Arbeit, die ich vollende, erlaubt mir nicht nur, sondern verlangt von mir, sie mit einigen Worten zu begleiten.

Zuvor das eine: wer mich nicht kennt und in den folgenden Blättern etwa sensationelle Enthüllungen in der Art jener verlogenen Spekulationen auf die Urteilslosigkeit des Publikums erwartet, aus welchen dieses seine ganze Kenntnis der anarchistischen Bewegung schöpft, der gebe sich nicht die Mühe, über diese erste Seite hinaus zu lesen.

Auf keinem Gebiet des sozialen Lebens herrscht heute eine heillosere Verworrenheit, eine naivere Oberflächlichkeit, eine gefahrdrohendere Unkenntnis als auf dem des Anarchismus. Das Wort an und für sich wirkt bereits wie das Schwenken eines roten Tuches - in blinder Wut stürzen die meisten darauf los, ohne sich Zeit zu ruhiger Prüfung und Überlegung zu lassen. Sie werden auch dieses Werk zerfetzen, ohne es verstanden zu haben. Mich werden ihre Stöße nicht treffen. -

London und die Ereignisse des Spätjahres 1887 haben mir als Hintergrund meines Gemäldes gedient.

Als ich im Anfang des darauf folgenden Jahres noch einmal für einige Wochen auf den Schauplatz zurückkehrte, hauptsächlich um meine East-End-Studien zu vervollständigen, ahnte ich nicht, daß gerade die von mir zu eingehenderer Schilderung gewählte Gegend durch die Frauenmorde »Jack des Aufschlitzers« bald nachher in aller Munde sein würde.

Das Kapitel über Chicago wurde nicht abgeschlossen, ohne daß ich auch das dicke Bilderbuch für große Kinder, mit dem inzwischen der Polizeikapitän Michael Schaack den infamen Mord seiner Regierung zu rechtfertigen suchte: »Anarchy and Anarchists« (Chicago, 1889), einer Durchsicht unterzogen hätte. Es ist nichts weiter als ein - nicht unwichtiges - Dokument stupider Brutalität sowohl, wie raffinierter Eitelkeit

Die Namen von Lebenden sind von mir in bewußter Absicht nirgends genannt; der Näherstehende wird trotzdem fast überall unschwer die Züge erkennen, die mir Vorbilder gewesen sind.

Zwischen der Niederschrift des ersten und des letzten Kapitels liegen drei Jahre. Immer neu auftauchende Zweifel zwangen mich immer wieder, oft auf lange hinaus, zur Unterbrechung der Arbeit. Ich begann sie vielleicht zu früh; zu spät beende ich sie nicht

Nicht jede Seite der Frage konnte ich erschöpfen; meist war es mir nicht vergönnt mehr zu geben als die Schlußsätze oft langer Gedankenreihen. Die völlige Unvereinbarkeit anarchistischer und kommunistischer Weltanschauung; die Zwecklosigkeit und Schädlichkeit gewaltsamer Taktik; endlich die Unmöglichkeit irgendeiner »Lösung der sozialen Frage« durch den Staat - hoffe ich bewiesen zu haben.

Das neunzehnte Jahrhundert hat die Idee der Anarchie geboren. In seinen vierziger Jahren wurde der Grenzstein zwischen der alten Welt der Knechtschaft und der neuen der Freiheit gesetzt. Denn es war in diesem Jahrzehnt daß P.-J. Proudhon die titanische Arbeit seines Lebens mit »Qu'est-ce que la pro-priété (1840) begann und Max Stirner sein unsterbliches Werk: »Der Einzige und sein Eigentum«(1845) schrieb.

Sie konnte vergraben werden unter dem Staube zeitweiligen Rückschrittes der Kultur. Aber sie ist unvergänglich. Sie ist bereits wieder erwacht

Seit zehn Jahren kämpft in Boston, Mass., mein Freund Benj. R. Tucker mit der unbesieglichen Waffe seiner »Liberty« für die Anarchie in der neuen Welt. Oft habe ich in den einsamen Stunden meiner Kämpfe meinen Blick auf das funkelnde Licht gerichtet, das von dort aus die Nächte zu erhellen beginnt...

Als ich vor nun drei Jahren die Gedichte meines »Sturm« der Öffentlichkeit übergab, begrüßten mich freundliche Stimmen als den »ersten Sänger der Anarchie«.

Ich bin stolz auf diesen Namen.

Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es heute nicht so sehr darauf ankommt Begeisterung, für die Freiheit zu erwecken, als vielmehr von der unbedingten Notwendigkeit ökonomischer Unabhängigkeit, ohne welche sie ewig der wesenlose Traum der Schwärmer bleiben wird, zu überzeugen.

In diesen Tagen der wachsenden Reaktion, die in dem Siege des Staatssozialismus ihren Höhepunkt erreichen wird, ist die Forderung unabweisbar für mich geworden, hier auch der erste Verfechter der anarchistischen Idee zu sein.

Ich hoffe, ich habe meine letzte Lanze für die Freiheit noch nicht gebrochen.

Rom, im Frühjahr 1891

Vorwort zur Volksausgabe

Mit dem Erscheinen einer wohlfeilen Volksausgabe meiner »Anarchisten« verwirklicht sich mir ein immer gehegter Lieblingswunsch, den die Umstände bei der Drucklegung des Werkes selbst nicht zuließen und dessen Erfüllung sich seitdem alle jene Schwierigkeiten entgegengestellt haben, die bei der Ungunst der heutigen Verhältnisse jede freiheitliche Handlung zu einer Unmöglichkeit zu machen sich verschworen zu haben scheinen.

Die Schwierigkeiten sind überwunden, und von neuem tritt, nachdem zwei Jahre vergangen, mein Werk an die Öffentlichkeit, sich heute vor allem an jene wendend, denen es bisher schwer zugänglich gewesen ist: an die deutschen Arbeiter.

Zu ihnen ein erstes und voraussichtlich auf lange hinaus letztes, kurzes Wort zu sprechen, darf ich mir nicht versagen. So fest hat sich in den deutschen Arbeitern - mit dem Wachsen der sozialdemokratischen Partei - im Verlauf der letzten Jahrzehnte die Überzeugung eingewurzelt, daß die Befreiung der Arbeit, welche gleichbedeutend ist mit der Schwächung und dem Tod der Privilegien des Kapitals, nur möglich ist, wenn dies letztere den Händen des Einzelnen entzogen und auf dem Wege gewaltsamer Enteignung »Eigentum der Gesellschaft« geworden ist, und so unerschütterlich scheint mir dieser Glaube geworden zu sein, daß ich nicht sehe, was anders sie von diesem Irrtum abzubringen imstande sein könnte als die Erfahrung.

Wie bitter diese Erfahrung und wie groß die Enttäuschung sein wird, ahnt nur der, der gleich mir weiß, daß jede Unterbindung wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit zugleich eine Verstärkung des traurigen Zustandes gegenseitiger Abhängigkeit bedeutet.

Aber möge diese Erfahrung gemacht werden, wenn es denn nicht anders sein kann! ...

Freilich: die großen Demagogen unserer Tage, die sonst so klein sind, wird dann der Tod der ungeheuren Verantwortung, welche sie auf sich geladen, enthoben haben, und vergebens werden ihre opferfreudigen Kämpfer suchen, sie zur Rechenschaft zu ziehen für das, was sie versprochen und immer wieder - versprechen.

Den Kindern dieser Kämpfer wird nichts anderes übrigbleiben, als, vor die traurigste Notwendigkeit gestellt, ihr Heil endlich in der Freiheit, und nur in der Freiheit allein, zu suchen.

Drei große Feinde hat der Arbeiter als Feinde zu erkennen und zu überwinden: die Politiker, die Philanthropen und - sich selbst. Erst wenn er eingesehen haben wird, daß die Knechte, um die Herren zu verdrängen, nicht erst selbst zu Herren von Knechten geworden sein müssen und daß die Erreichung dieses Zieles - des Zieles aller und jeder Politik - ihn um keinen Schritt seiner wirtschaftlichen Befreiung näher bringt, da diese allein eine Folge harmonischer Entwickelung im sozialen Organismus sein kann; erst wenn er sich von jenen neuen und letzten Predigern einer alten, in ihren Todeszuckungen sich noch einmal aufbäumenden Religion, den Weltverbesserern und Utopisten mit den heißen Köpfen und den lauwarmen Worten, den Ethikern und Moralisten jeder Art, losgemacht hat, die da alle nicht begreifen können und wollen, daß es nicht die Menschen, sondern die Verhältnisse zu ändern gilt, aus welchen heraus die Menschen »gut« und »böse« werden; erst wenn er durch und durch begriffen haben wird, daß nichts auf der Welt ihm zu helfen imstande ist als er selbst und diese Einsicht ihn zu neuer, durch kein »Klassenbewußtsein« mehr getrübten, gründlicheren Erkenntnis der Bedingungen, unter denen er lebt und leidet, und damit zu ganz verändertem und aussichtsreicherem Handeln treibt: erst dann, sage ich, kann er hoffen, die Ketten seiner Abhängigkeit zu brechen und von sich zu werfen.

Die Besprechungen, welche meinem Werke und seinen Übersetzungen so reichlich zuteil geworden sind, haben ihm nichts nehmen und mir nichts geben können. Die Absicht, auf einige zu antworten, gab ich auf; ich überzeugte mich, daß der Liebe Müh' doch umsonst sein würde. Von den Kommunisten wurden keine anderen als die alten Argumente vorgebracht - daß ich sie aufs neue widerlegen würde, durften sie selbst nicht erwarten; den professionellen Kritikern der Literatur waren die hier behandelten Fragen völlig verschlossen - ein Verständnis daher nicht zu erwarten; die große Tagespresse, die »Dirne der öffentlichen Meinung«, schwieg natürlich - sie wußte warum; und die meisten von den Organen der sozialdemokratischen Presse, welche sich das Werk unter ausdrücklicher Zusicherung einer Besprechung von Zürich senden ließen, kamen in ihrer feigen Servilität und jammervollen Abhängigkeit noch rechtzeitig von einem Entschlüsse zurück, dessen Ausführung an »allerhöchster« Stelle ein nicht unbegründetes Mißfallen erregt haben würde.

Den wenigen, die ernsthaft gelesen, worüber sie schrieben, dankte ich im Stillen.

So schwieg ich auf alles. Nur ein einziges Mal schloß ich klatschend einen schamlosen Mund, der die ungeheuerliche Lüge auszusprechen wagte, die revolutionären Kommunisten seien von mir als Räuber und Mörder geschildert worden, während dieses ganze Buch nur ein einziger Protest gegen den gesetzmäßigen Diebstahl, den privilegierten Raub und den sanktionierten Mord des Staates ist. Daß ich heute - angesichts so vieler starrender Bajonette und Säbel - mehr als je von der völligen Aussichtslosigkeit eines für die Sache der Arbeit gewaltsam geführten Kampfes überzeugt bin, bekenne ich ebenso ungescheut wie die stets neue Freude, welche ich empfinde, wenn ich höre, daß es meinen Worten gelungen ist, den einen oder andern vor unbesonnenem Vorgehen bewahrt, das heißt den Klauen der Gewalt, der Verfolgung und dem Gefängnis entrissen, und für die Taktik des passiven Widerstandes - den siegreichen Kampf einer hoffentlich nicht mehr so fernen Zukunft - gewonnen zu haben. Wie berechtigt diese Freude ist, wird mir dann am meisten klar, wenn ich sehe, wie unausgesetzt weiter vom sicheren Auslande her durch ebenso unsinnige und törichte wie zwecklose und feige Handlungen Sicherheit und Leben der »Genossen« aufs Spiel gesetzt wird.

Die Volksausgabe der »Anarchisten« ist unverändert geblieben. Bei einer Stelle empfand ich indessen die Verpflichtung, nicht sie zu ändern, sondern so durch einige ergänzende Zeilen zu erklären, daß sie hinfort keinem Mißverständnis - welches einige Male glaubte, sich als Beschuldigung gebärden zu dürfen - mehr ausgesetzt ist.

Ich habe auf die von vielen Seiten an mich gerichtete Frage zu antworten: warum ich, um meinen Ideen eine weitere Verbreitung zu geben, nicht agitiere, nicht propagandiere, nicht in den Versammlungen spreche und diskutiere, und vor allem, weshalb ich nicht auf dem einzigen Wege, auf dem die Mehrzahl der Menschen heute allein noch erreichbar ist, dem der Presse, zu ihnen gehe.

Ich erwidere darauf: weil ich es nicht kann; weil ich es nicht könnte, auch wenn ich es wollte. Die Gaben der Menschen sind verschieden. Ich bin ein Künstler; vielleicht nicht »durch und durch«, denn mein Interesse gehört vielem im Leben, doch so manches lastet auf mir, von dem ich mich, ich fühle es, nur befreien kann in dichterischem Schaffen. Die Herausgabe und Leitung einer Zeitung aber würde mich töten, und ein Hervordrängen meiner Person in den lauten, rohen Kampf des Tages und seiner Meinungen wäre mir ebenso unmöglich.

Man erwarte also nichts von mir als »von Zeit zu Zeit ein Buch«. Vielleicht, daß ich die hier begonnene Arbeit direkt wiederaufnehme; aber solange die großen, klaren Grundlinien der Weltanschauung des Anarchismus noch so wenig begriffen worden sind, solange der Boden, auf dem sie sich aufbaut, ein noch so unbetretener ist, solange noch immer wieder anzukämpfen ist gegen das völlige und in seiner Allgemeinheit beispiellose Mißverstehen schon des Wortes an sich - so lange drängt mich nichts zu umfassenderen und begründeteren Darlegungen.

Möge daher vorerst dies Werk noch einmal seine ungeschwächte Kraft erproben und das Bollwerk der Voreingenommenheit von neuem berennen, immer dieselbe Stelle, bis ein Weg sich öffnet.

Ich habe meine letzte Lanze für die Freiheit noch nicht gebrochen. Aber die Wahl meiner Waffen, ich muß sie mir immer vorbehalten.

Das letzte Wort den Freunden der Freiheit: meinen bekannten, meinen unbekannten Freunden ...

Alles, sie mögen davon überzeugt sein, wird auch hier getan werden, wenn die Zeit dazu gekommen ist: mit den rechten Männern werden sich auch die rechten Wege, und dann auch die Mittel, sie zu beschreiten, finden. Nach dem so glänzend gegebenen Beispiel meines großen amerikanischen Freundes, dessen Sein und Wirken allein schon genügen müßte, um keinen Augenblick die Hoffnung sinken zu lassen, wird sich auch hier eine Propaganda entfalten, gewiß aus kleinen Anfängen heraus, aber unternommen und ins Werk gesetzt mit jener aus Wissen, Erkenntnis, Überlegung, Entschlossenheit, Zähigkeit und Mut geborenen Überlegenheit, welche zwar gelangweilt und ermüdet, nicht aber entmutigt und beirrt werden kann, da sie nicht zu überreden, sondern einzig und allein zu überzeugen bestrebt ist.

Dann wird dieses Buch ein Anfang gewesen sein ... Das wünscht keiner heißer als ich.

Nur der versteht die Freiheit, welcher sie liebt. Wer sie aber - und darin liegt alle Zukunft - liebt als die Notwendigkeit seines Lebens, der muß sie auch, durch alle Irrtümer hindurch, verstehen lernen … Aus dem Wirrwarr und dem Widerstreit der Meinungen hebt sich klar, verständlich, siegreich am Ende unseres Jahrhunderts allein die Lehre von der Souveränität des Individuums.

Wer wagt es zu leugnen, daß sie daß Ziel aller menschlichen Entwicklung ist?

Barbarei und Knechtschaft vergangener Zeiten haben uns endlich zu der Erkenntnis gebracht, daß Kultur und Zivilisation erst in jenem Zustand der Gesellschaft ihren höchsten Triumph zu feiern imstande sind, in welchem mit dem letzten Vorrecht auch die Gewalt, die es schützte, der Staat, geschwunden ist: dem Zustande gleicher Freiheit, wo ein verfeinerter und höchstgesteigerter Egoismus auch den Letzten gelehrt hat, daß seine Freiheit wächst und abnimmt mit der Freiheit des anderen, daß er in demselben Maße unabhängiger wird, als er seinem Nächsten erlaubt, unabhängig von ihm zu sein.

Vergebens werden wir weiter versuchen, uns den letzten Konsequenzen zu entziehen, zu denen die Logik des Denkens uns mit unfehlbarer Sicherheit und unaufhaltsamer Kraft treibt. Denn wir dürsten nach Glück, dem Glück auf Erden. Und nicht eher - den trüben Fanatikern des Kommunismus, wie den schwankenden Machthabern der Gewalt gleich zum Trotz - werden wir ruhen, bis wir uns dieses Glück, welches die Freiheit ist, errungen haben.

Berlin, im Frühjahr 1893

Erstes Kapitel: Im Herzen der Weltstadt

Über London hin begann sich ein naßkalter Oktoberabend zu breiten. Es war der Oktober desselben Jahres, in welchem noch nicht fünf Monate vorher jene albernen Feierlichkeiten der fünfzigjährigen Regierungszeit einer Frau, welche sich »Königin von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien« nennen ließ, in Szene gesetzt waren, nach denen das Jahr 1887 »Jubilee Year« genannt wurde.

An diesem Abend - es war der letzte einer Woche - suchte sich durch wirre, enge und fast leere Gassen ein Mann aus der Richtung von Waterloo Station her nach der Eisenbahnbrücke von Charing Cross seinen Weg. Als er langsam, wie ermüdet von einem stundenweiten Gange, die Holztreppe, welche zu dem schmalen, neben den Schienen sich hinziehenden Fußgängerpfad der Brücke führt, hinaufgestiegen und ungefähr über der Mitte des Flusses angelangt war, trat er in eine der runden Ausbuchtungen nach der Wasserseite hin und stand dort eine Weile, während er die Menschen hinter sich vorbeitreiben fühlte. Es war mehr eine Gewohnheit als eigentliche Ermattung, die ihn haltmachen und die Themse hinunterblicken ließ. Da er trotz seines bereits dreijährigen Aufenthaltes in London nur selten »jenseits der Themse« gewesen war, so versäumte er nie, bei Überschreitung einer der Brücken den großartigen

Anblick, den London von einer jeden unter ihnen bietet, wieder in sich aufzufrischen.

Es war noch eben hell genug, daß er bis nach Waterloo Bridge hin zu seiner Rechten die dunklen Massen der Lagerhäuser und auf dem Spiegel der Themse zu seinen Füßen die Reihen der aneinandergekoppelten weitbauchigen Frachtkähne und Flöße erkennen konnte, doch flammten bereits überall die Lichter des Abends in das dunkle, gähnende Chaos dieser ungeheuren Stadt hinein. Wie parallele Linien zogen sich die beiden Latemenreihen auf Waterloo Bridge hin, und jedes der Lichter warf seinen scharfen, flimmernden Schein tief und lang nieder in die zitternde, dunkle Flut, während zur Linken in terrassenförmigem Aufstieg die ungezählten kleinen Flammen, welche die Embankments und den Strand mit seiner Umgebung allabendlich erhellten, aufzuleuchten begannen. Der ruhig Dastehende sah drüben auf der Brücke die vorüberhuschenden Lichter der Cabs; er hörte hinter sich die Züge der Südostbahn rasselnd und dröhnend in die Halle von Charing Cross hineinrasen und wieder hinaus; sah unter sich die trägen Wellen der Themse mit fast unhörbarem Plätschern an der sich tief herabziehenden dunkelschwarzen Schlammasse lecken, und indem er sich zum Weitergehen wandte, öffnete sich vor ihm - von weißen Fluten des elektrischen Lichtes taghell durchleuchtet - die Riesenhalle des Bahnhofs von Charing Cross, dieser Mittelpunkt eines Tag und Nacht nicht rastenden Getriebes ...

Er dachte an Paris, seine Heimatstadt, als er langsam weiterschritt. Welcher Unterschied zwischen den breiten, flachen und hellen Ufern der Seine und diesen starren, ragenden Massen, auf welche selbst die Sonne keinen Schimmer von Freude zu zaubern vermochte!

Er sehnte sich zurück nach der Stadt seiner Jugend. Aber er hatte London lieben gelernt mit der leidenschaftlichen, eifersüchtigen liebe des Trotzes.

Denn man liebt London entweder, oder man haßt es ...

Wieder blieb der Wanderer stehen. So hell war die riesige Halle erleuchtet, daß er die Uhr an ihrem Ende deutlich erkennen konnte. Die Zeiger standen zwischen der siebenten und der achten Stunde. Das Leben auf dem Fußweg schien sich verstärkt zu haben, als ob eine Menschenwelle von diesseits nach jenseits hinüber gespült würde. Es war, als ob der Zögemde sich nicht losreißen könne. Er betrachtete einen Augenblick das unablässige Spiel der Signalarme an dem Einfahrtspunkte der Halle; dann versuchte er, über die Schienen hinweg und durch das Gewirr von Eisenpfosten und Waggons Westminster Abbey mit seinen Blicken zu erreichen; aber er konnte nichts als das schimmernde Zifferblatt am Turm von Parliament House erkennen und die dunklen Umrisse gigantischer Steinmassen, welche sich drüben erhoben. Und überall hingewirrt die tausend und abertausend Lichter ...

Wieder wandte er sich nach der freien Seite, an welcher er vorher gestanden hatte. Unter seinen Füßen rollten dumpfbrausend die Züge der Metropolitan Railway hin; die ganze Weite des Victoria Embankment lag bis Waterloo Bridge halbhell erleuchtet unter ihm. Starr und ernst hob sich die Nadel der Kleopatra in die Höhe.

Zu dem Manne herauf drang das Lachen und Singen der Burschen und Mädchen, welche allabendlich die Bänke der Embankments belegt hatten. »Do not forget me-do not forget me« war der Refrain. Ihre Stimmen klangen hart und schrill. »Do not forget me« - überall konnte man es im Jubilee Year in London hören ... Es war das Lied des Tages.

Wer das Gesicht des eben über den Brückenrand Gebeugten jetzt beobachtet hätte, dem wäre ein seltsamer Ausdruck von Härte nicht entgangen, der es plötzlich beherrschte. Der Fußgänger hörte nichts mehr von dem verhaltenen, hier gedämpften Lärm und dem trivialen Gesang. Ein Gedanke hatte ihn wieder beim Anblick der gewaltigen Kai-Anlage zu seinen Füßen gepackt: wieviel Menschenleben mochten wohl unter diesen weißen Granitquadern, so sicher und unüberwindlich aufeinandergetürmt, zermalmt sein? Und er dachte wieder jener schweigenden, unbelohnten, vergessenen Arbeit, welche all das Große, das er um sich sah, geschaffen.

Schweiß und Blut werden abgewaschen, und der Einzelne erhebt sich lebend und bewundert auf den Leichen von Millionen Ungenannt-Vergessener ...

Als stachele ihn dieser Gedanke auf, schritt Carrard Auban weiter. Indem er die Steinbögen am Ende der Brücke durchmaß, die Überreste der alten Hungerford Suspension Bridge, sah er zu Boden und ging schneller. Wieder, wie immer, lebte er in den Gedanken, denen auch er die Jugend seines Lebens gewidmet hatte, und wieder packte ihn die grenzenlose Größe dieser Bewegung, welche die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrjunderts die »soziale« genannt hat: dorthin Licht zu tragen, wo noch das Dunkel herrscht -in die duldenden, unterdrückten Massen, deren Leiden und langsames Sterben »den anderen« das Leben gibt ...

Aber als Auban die Brückentreppe niedergestiegen war und sich in Villiers Street, jener merkwürdigen kleinen Straße, die vom Strand nach dem Stadtbahnhof von Charing Cross hinabführt, befand, wurde er wieder von dem ihn umrauschenden Leben gefesselt. Unaufhörlich drängte es sich an ihm vorbei: diese wollten noch den Zug erreichen, der eben jene, welche so eilig dem Strand zueilten - verspätete Theaterbesucher, die sich vielleicht wieder in den Entfernungen Londons geirrt -, ausgespien hatte; hier redete eine Prostituierte auf einen Herrn im Seidenhut ein, den sie mit einem Wort und einem Blick ihrer müden Augen hierher gelockt hatte, um mit ihm über den »Preis« handelseinig zu werden; und dort drängte eine Schar hungriger Gassenkinder ihre schmutzigen Gesichter an die Scheiben eines italienischen Waffelbäckers, gierig jede Bewegung des unermüdlich Arbeitenden verfolgend - Auban sah alles. Er hatte dieselbe Aufmerksamkeit eines im Beobachten geübten Auges für den zehnjährigen Jungen, welcher den Vorübereilenden einen Penny abzubetteln suchte, indem er vor ihnen her auf dem feuchten Straßenpflaster Rad schlug, und für die verkommenen Züge jenes Burschen, welcher sofort, als er stehengeblieben war, sich an ihn drängte und ihm die nächste Nummer der »Matrimonial News« - »für alle unentbehrlich, welche zu heiraten wünschen« - aufzuschwatzen suchte, aber sich sofort dem nächsten zuwandte, als er sah, daß er keine Antwort erhielt.

Auben ging langsam weiter. Er kannte dieses Leben zu gut, als daß es ihn noch verwirrt und betäubt hätte; und doch packte und fesselte es ihn immer wieder aufs neue mit seiner ganzen Gewalt. Er hatte während dieser Jahre Stunden und Tage seinem Studium gewidmet, und immer und überall fand er es neu und interessant. Und je mehr er ihre Strömungen, ihre Abgründe und ihre Untiefen kennenlernte, desto mehr bewunderte er diese einzige Stadt…

Seit einiger Zeit war diese Zuneigung, welche mehr war als Anhänglichkeit und weniger eigentlich als Liebe, zu einer leidenschaftlich erregten geworden. London hatte ihm zu viel - weit mehr als dem Bewohner und dem Besucher - gezeigt; und nun wollte er alles sehen. Die Unruhe dieses Wunsches hatte ihn denn auch an dem heutigen Nachmitag hinübergestoßen auf das jenseitige Themse-Ufer, zu stundenlangen Wanderungen in Kennington und Lambeth - jenen Vierteln eines entsetzlichen Elends, um ihn müde und zugleich entmutigt und erbittert zurückkehren zu lassen und ihm jetzt am Strand den Widerschein wie die Kehrseite jenes Lebens zu zeigen.

Er stand nun an dem Eingang des dunklen und öden Tunnels, welcher unter Charing Cross durch auf Northumberland Avenue zuläuft. Die schrillen und zitternden Töne eines Banjo drangen an sein Ohr; eine Gruppe von Vorübergehenden hatte sich zusammengescharrt: in ihrer Mitte schlug ein Knabe in zerrissenem Karikaturkostüm und mit überrußtem Gesicht sein Instrument - wer hat die bizarren Gestalten dieser »Neger-Komödianten« nicht schon an den Straßenecken Londons ihre lärmenden Singtänze aufführen sehen? -, während zu seinen Klängen ein Mädchen mit jener mechanischen Gleichgültigkeit tanzte, die keine Ermüdung zu kennen scheint. Auban warf, indem er sich vorbeidrängte, auch in das Gesicht dieses Kindes einen Blick: Gleichgültigkeit und doch zugleich eine gewisse Ungeduld lag auf ihm.

»Sie ernähren ihre ganze Familie, die Armen«, murmelte er. In der nächsten Minute hatte sich die Menge zerstreut und das kleine Paar sich zur nächsten Straßenecke durchgedrängt, dort Spiel und Tanz von neuem zu beginnen, bis der Policeman sie forttrieb, der gehaßte, der gefürchtete.

Auban durchschritt den Tunnel, dessen Steinboden von Schmutz übersät war, und aus dessen Ecken eine verpestete Luft aufstieg. Er war fast leer; nur hin und wieder schlich eine unerkennbare Gestalt an den Wänden hin und an ihm vorüber. Auch Auban wußte, daß an naßkalten Tagen und Nächten hier, so gut wie an Hunderten anderer Durchgänge, ganze Reihen von Unglücklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten Wände gepreßt, und immer gewärtig, im nächsten Augenblick von dem »Arm des Gesetzes« auseinandergetrieben zu werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in Hunger und Schmutz, die »Parias« der Gesellschaft, die in Wahrheit Heimatlosen ...

Und während er die Stufen am Ende des düsteren Ganges emporstieg, stand vor ihm plötzlich wieder jene Szene, welche er vor etwa einem Jahre an diesem Ort erlebt hatte, mit einer so erschreckenden Deutlichkeit, daß er unwillkürlich stehen blieb und sich umsah, als müsse sie sich leibhaftig vor seinen Augen wiederholen -:

Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitternacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen undurchsichtigen Schleier gehüllt. Er war hierhergegangen, um einzelnen der Obdachlosen die wenigen Kupferstücke zu geben, welche sie brauchten, um die Nacht über in einem Lodginghouse, statt in der eisigen Kälte der Nacht, zu verbringen. Als er die Stufen niedergeschritten war - der Tunnel war überfüllt mit Menschen, die, nach allen Stadien des Elends, am letzten angelangt waren -, sah er vor sich ein Gesicht auftauchen, welches er nie wieder vergessen hatte: die von Aussatz und blutigen Geschwüren entsetzlich entstellten Züge eines Weibes, welches - an der Brust einen Säugling - ein etwa vierzehnjähriges Mädchen an der Hand nach sich schleppte, während ein drittes Kind, ein Junge, sich an ihren Rock anklammerte. - Zwei Shilling nur, Gentleman, zwei Shilling nur! - Er war stehen geblieben, um sie zu fragen. - Zwei Shilling nur! Sie ist noch so jung, aber sie wird alles tun, was Sie wollen... und dabei zog sie das Mädchen näher, welches sich zitternd und weinend abwendete.

Ein Schauder überlief ihn. Aber die flehende Stimme des Weibes ertönte weiter:

Bitte, nehmen Sie sie doch mit. Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir draußen schlafen; - nur zwei Shilling, Gentleman, nur zwei Shilling, sehen Sie nur, sie ist so hübsch... und wieder riß sie das Kind an sich.

Auban fühlte, wie das Entsetzen ihn überschlich. Er wandte sich - unfähig, ein Wort hervorzubringen - zum Gehen.

Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als sich das Weib plötzlich schreiend vor ihm auf den Boden hinwarf, das Mädchen mit sich riß und sich an ihn anklammerte.

Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! schrie sie in entsetzlicher Verzweiflung. - Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir verhungern - nehmen Sie sie mit - hierher kommt sonst niemand mehr, und auf den Strand dürfen wir nicht - tun Sie es doch - tun Sie es doch!...

Aber, als er sich, ohne es zu wollen, umsah, sprang die vor ihm Liegende plötzlich auf.

Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie keinen Policeman! rief sie ängstlich-schnell.

Da, als sie aufstand, gewann Auban seine Ruhe wieder. Er griff wortlos in die Tasche und reichte ihr hin, was er an Geld erfaßte. Das Weib stieß einen Freudenschrei aus. Wieder nahm sie das Mädchen am Arm und stellte es vor ihn hin.

Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman - sie wird alles tun, was Sie wollen... fügte sie flüsternd hinzu. Auban wandte sich ab und ging so schnell wie möglich durch die Reihen der Schlafenden und Betrunkenen dem Ausgange zu. Keiner hatte der Szene geachtet.

Als er am Strand war, fühlte er, wie sein Herz jagte und seine Hände zitterten.

An acht folgenden Tagen suchte er Abend für Abend in dem Tunnel von Charing Cross und seiner Umgebung nach dem Weibe und den Kindern, ohne sie wiederfinden zu können. Es hatte etwas in den Augen des Mädchens gelegen, das ihn beunruhigte. Aber der Augenblick war zu kurz gewesen, als daß er hätte erkennen können, was dieser Abgrund von Furcht und Elend verbarg ...

Dann vergaß er über dem ungeheuren Jammer, welcher sich ihm täglich zeigte, diese eine Szene, und täglich sah er wieder auf den Straßen die Kinder der Armut, Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren, sich darbieten - und war unfähig zu helfen!

Wer war bemitleidenswerter, die Mutter oder die Kinder? Wie groß mußte das Elend sein, wie entsetzlich die Verzweiflung, wie wahnsinnig der Hunger der beiden? Aber mit Abscheu spricht die Frau der Bourgeoisie von dem »Scheusal von Mutter« und von dem »verkommenen Kinde« - die Pharisäerin, welche unter der Hand desselben Elends genau denselben Weg gehen würde ...

Mitleid! Jämmerlichste unserer Lügen! Unsere Zeit kennt nur Ungerechtigkeit. Es ist heute das größte Verbrechen, arm zu sein. Gut so. Um so schneller muß die Erkenntnis kommen, daß die einzige Rettung darin besteht, dieses Verbrechen zu unterlassen.

»Die Wahnsinnigen«, murmelte Auban vor sich hin, »die Wahnsinnigen - sie sehen alle nicht wohin Mitleid und Liebe uns gebracht haben!« Seine Augen waren umschattet, wie von der Erinnerung an die Kämpfe, welche diese Erkenntnis ihm auferlegt hatte.

Wie deutlich er heute abend beim Durchschreiten des Tunnels wieder die wimmernde, verzweifelte Stimme des Weibes und ihr drängendes: »Do it! Do it!« zu hören glaubte! Und aus dem trüben Dunkel tauchten wieder die scheuen, krankhaften Augen des Kindes auf. Er kehrte um und durchschritt abermals den Tunnel. Bevor er sich jedoch dem Strand zuwandte, bog er in eine der Seitenstraßen ein, welche sich nach der Themse hinunterziehen. Er kannte sie alle - diese Gassen, diese Winkel, diese Ein- und Durchgänge: hier war der nüchtern-graue Hinterbau des Theaters, dessen Frontseite den Strand mit Licht überschwemmte; und jenes schmale, dreistöckige Haus mit den blinden Fenstern war eines jener berüchtigten Absteigequartiere, hinter deren Mauern sich allnächtlich Szenen der Verworfenheit abspielen, welche sich auch die sinnlich entartetste Phantasie nicht auszumalen wagt. Hier wohnte noch das Elend, und in jener nächsten, stillen Straße schon der Wohlstand - und so wirrten sich beide durcheinander bis zu der kleinen Kirche von Savoy inmitten ihrer kahlen Bäume und bis zu den vornehmen, verschlossenen Bauten des Temple mit seinen herrlichen Gärten ...

Auban kannte alles: sogar den ewig-leeren, breiten, gewölbten Gang, der unter den Straßen durch nach den Embankments führt, und von dessen verlassener, geheimnisvoller Stille aus das Leben des Strand sich anhört wie das ferne Rauschen einer immer letzten und immer ersten Welle auf ödem Sandufer... Die Kälte wurde mit der vorgerückten Stunde empfindlicher und sickerte mit der nebligen Feuchtigkeit Londons nieder. Auban begann müde zu werden und wollte nach Hause. Er bog zum Strand ab.

Der »Strand«! West End und City verbindend, lag er vor ihm da, erhellt von den ungezählten Lichtern seiner Läden, durchrauscht von einer nie stockenden und nie endenden Menschenflut: zwei geteilte Ströme, der eine hinauf nach St Paul's, der andere hinunter wogend nach Charing Cross. Zwischen beiden der betäubende Wirrwarr eines ununterbrochenen Verkehrs von Wagen: ein Bus, schwerfällig, übersät mit bunten Reklamen, beladen mit Menschen, hinter dem andern; ein Hansom, leicht, behend auf seinen zwei Rädern dahinhuschend, dem andern folgend; dröhnende Lastwagen; rote, geschlossene Postwagen der Royal Mail; starke, breite Forewheelers; und dazwischen sich durchwindend, in der dunklen Masse kaum erkennbar, dahinsausende Bicycles ...

Das East End ist die Arbeit und die Armut, aneinandergekettet durch den Fluch unserer Zeit: die Knechtschaft; die City ist der Wucherer, der die Arbeit verkauft und den Gewinn einzieht; das West End ist der vornehme Nichtstuer, der jene verbraucht. Der Strand ist eine der schwellendsten Adern, durch welche das geldgewordene Blut rinnt; er ist der Rivale von Oxford Street und sträubt sich dagegen, von ihr besiegt zu werden. Er ist das Herz von London. Er trägt einen Namen, den die Welt kennt. Er ist eine der wenigen Straßen, in welchen du Menschen aus allen Stadtteilen siehst: der Arme trägt seine Lumpen und der Reiche seine Seide hierher. Wenn du dein Ohr öffnest, kannst du die Sprachen der ganzen Welt hören: die Restaurants haben italienische Eigentümer, deren Kellner französisch mit dir sprechen; unter den Prostituierten sind mehr als die Hälfte Deutsche, die entweder hier untergehen oder sich soviel erwerben, daß sie in ihr Vaterland zurückkehren und dort »anständig« werden können.

Am Strand liegen die mächtigen Gerichtshöfe, und man weiß nicht, ob man Schauspieler oder Verrückte vor sich hat, wenn man die Richter in ihren langen Mänteln und in ihren weißgepuderten Perücken mit den zierlich-albernen Zöpfen (alles äußerliche Würdeabzeichen einer würdelosen Komödie, die jeder vernünftige Mensch innerlich verlacht und verachtet und die jeder mitspielt, wird er geladen) - wenn man sie in die hohen Torbögen hineineilen sieht; der Strand vereinigt eine verwirrende Anzahl von Behörden (von deren Existenz du nie in deinem Leben gehört hast, wenn sie dir genannt werden) in seinem kalten Somerset House; und der Strand hat seine Theater, mehr als irgendeine Straße der Welt.

So ist der erste Gang des Fremden, der am Bahnhof von Charing Cross anlangt und den seine meist engen und aufeinander gepreßten Häuser enttäuschen; so wird er dessen letzter sein, wenn er London verläßt, der, dem er seine letzte Stunde schenkt.

Auban tauchte unter in das Menschengewoge. Jetzt, wo er an Adelphi vorbeiging und das elektrische licht die Straße - die Gasflammen weit überstrahlend - mit seinem hellweißen Licht überschimmerte, konnte man sehen, daß er leicht hinkte. Es war fast unbemerkbar, wenn er schnell ging, aber wenn er langsam dahinschlenderte, zog er den linken Faß nach und stützte sich fester auf seinen Stock.

Am Bahnhof von Charing Cross hatte sich das Leben gestaut. Auban stand einige Augenblicke an einer der Einfahrten. Der Eingang zu Villiers Street, welche er wenige Minuten vorher weiter unten gekreuzt hatte, war belagert von Blumenverkäuferinnen, welche teils hinter ihren halbgeleerten Körben fröstelnd und müde kauerten, teils die Vorübergehenden mit ihren unaufhörlichen »Penny a bunch!« zum Kauf ihrer kümmerlichen Blumenbündel zu verlocken suchten. Ein Policeman trieb eine von ihnen roh zurück; sie hatte sich mit einem Schritte auf das Pflaster gewagt, und sie durften keine Linie über die Grenze der Seitenstraße hinaus. Das gellende Durcheinanderschreien der Zeitungsjungen, die ihre letzten Special Editions los sein wollten, um noch in Gatti's Hungerford Palace Charlie Cobom - den inimitable - in seinen »Two Lovely Black Eyes« bejubeln zu können, wäre unerträglich gewesen, wenn es nicht von dem Wagengerassel auf den Steinen des Vorhofes von Charing Cross, welches der mit Asphalt und Holzpflaster verwöhnte West-Ender fast nicht mehr kennt, und dem heiseren Rufen der Omnibus-Kondukteure übertönt worden wäre.

Mit jener Sicherheit, die nur durch langes Vertrautsein mit dem Straßenleben der Großstadt gewonnen wird, benutzte Auban die erste Sekunde, in der die Wagenreihen einen Durchgang zeigten, um die Straße zu überschreiten, und während sich hinter ihm in der nächsten die Fluten schlossen, ging er an der Kirche von St. Martin vorbei, warf einen Blick auf den totenstill daliegenden Trafalgar Square, durchschritt die enge und dunkle Green Street, ohne sich im geringsten um den Cabby zu kümmern, der ihm von seinem Bock aus mit unterdrückter Stimme zurief, er habe ihm »etwas zu sagen« - etwas von einer »jungen Dame« - und befand sich nach drei Minuten an den grell erleuchteten Eingängen der Alhambra, von welchen verspätete Besucher sich nicht abweisen lassen wollten, da sie noch einen Stehplatz in dem überfüllten Hause zu erlangen hofften. Auban ging gleichgültig vorüber, ohne einen Blick auf die schillernden Photographien der üppigen Balletteusen - Reklameaufnahmen aus dem neuen Monstreballett »Algeria«, dem halb London zuströmte - zu werfen.

Der Garten in der Mitte von Leicester Square lag in Dunkel gehüllt. Die Statue Shakespeares war nicht mehr erkennbar von den Gittern aus. »There is no Darkness but Ignorance« - stand dort Wer las es? ... An der Nordseite des Square herrschte lautes Leben. Auban mußte sich durch Scharen französischer Prostituierten, deren lautes Lachen, Schreien, Schelten alles übertönte, durchdrängen. Ihre überladenen und geschmacklosen Toiletten, ihre schamlosen Anerbietungen, ihre unaufhörlichen Bitten: - »Chéri, Chéri«-, mit denen sie sich an jeden Vorübereilenden drängten und ihn verfolgten, erinnerten an die Mitternachtsstunden der Außen-Boulevards von Paris.

Überall schien ihm seine Zeit die entstellteste Seite ihres Gesichtes zu zeigen.

Vor ihm gingen zwei junge Engländerinnen. Sie waren kaum älter als sechzehn Jahre. Ihre aufgelösten und von der Nässe feuchten blonden Haare hingen lang über den Nacken hinab. Als sie sich umwandten, zeigte ihm ein Blick in ihre müden, blassen Züge, daß sie schon lange so gewandert waren - immer dieselbe kurze Strecke, Abend für Abend... An einer Straßenecke erzählte eine Deutsche im Kölner Dialekt einer anderen mit weitschallender Stimme - alle Deutschen schreien in London -, sie habe seit drei Tagen nichts Warmes und seit einem überhaupt nichts gegessen: die Geschäfte würden immer schlechter; und an der nächsten entstand ein Zusammenlauf von Menschen, in den Auban hineingestoßen wurde, so daß er die Szene mit ansehen mußte, die sich nun abspielte: eine Alte, welche Streichholzschachteln verkaufte, war mit einem der Frauenzimmer in Streit geraten. Sie schrieen einander an. »Da« - brüllte die Alte und spie in das Gesicht der vor ihr Stehenden, aber in derselben Sekunde hatte sie die Beschimpfung zurückempfangen. Einen Augenblick standen beide sprachlos vor Wut. Die Alte steckte zitternd ihre Schachteln in die Tasche. Dann schlugen sie sich gegenseitig unter dem Beifallsgebrüll der Umstehenden die Nägel in die Augen und wälzten sich schimpfend auf dem Boden umher. Bis einer der Zuschauer sie auseinanderriß, worauf sie ihre Sachen - die eine ihren zerbrochenen Schirm und die andere ihren Fetzen von Hut - auflasen und der Haufen sich lachend nach allen Seiten zerstreute.

Auban ging weiter, dem Piccadilly Circus zu. Diese Szene - eine unter unzähligen -: was war sie weiter, als ein neuer Beweis dafür, daß die Methode, das Volk in Roheit zu erhalten, um dann von dem »Mob« und seiner Verkommenheit zu sprechen, vortrefflich anschlug?

Musikhallen und Boxereien - sie füllen die paar freien Stunden der ärmeren Klassen Englands aus; an den Sonntagen Gebete und Predigten -: vortreffliche Mittel gegen das »gefährlichste Übel der Zeit« - das Erwachen des Volkes zu geistiger Selbsttätigkeit.

Auban stieß unwillkürlich heftig mit dem Stock, dessen Griff er fest umspannt hielt, auf den Boden.

Der Square, den er eben verlassen, Piccadilly und Regents Street - sie sind allabendlich und allnächtlich die belebtesten und frequentiertesten Märkte lebendigen Fleisches für London. Hierhin wirft die Not der Weltstadt unterstützt von den »zivilisierten« Staaten des Festlandes, ein Angebot das sogar eine unersättliche Nachfrage übersteigt. Von dem Anbruch der Dämmerung bis hinunter zum Aufflimmern des neuen Tages beherrscht die Prostitution das Leben dieser Zentralpunkte des Verkehrs und scheint die Achse zu sein, um welche es sich ausschließlich dreht.

Wie wundervoll bequem - dachte Auban - machen es sich doch die Herren Leiter unseres öffentlichen Lebens! Wo ihre Vernunft vor dem Scheunentor steht und sie nicht weiter können, gleich heißt es: ein notwendiges Übel. Die Armut - ein notwendiges Übel; die Prostitution - ein notwendiges Übel. Und doch gibt es kein weniger notwendiges und kein größeres Übel als sie selbst! Sie sind es, die alles ordnen wollen und alles in Unordnung bringen; alles leiten wollen und alles von den natürlichen Wegen ablenken; alles fördern wollen und alle Entwicklung hemmen ... Sie lassen dicke Bücher schreiben, das sei immer so gewesen und müsse immer so sein, und um doch etwas zu tun, wenigstens scheinbar, begeben sie sich an die »Reformarbeit«. Und je mehr sie reformieren, desto schlimmer wird es ringsumher. Sie sehen es, aber sie wollen es nicht sehen; sie wissen es, aber sie dürfen es nicht wissen! Weshalb? Sie würden sonst unnütz - und heutzutage muß sich doch jedermann nützlich machen. Mit dem »materiellen Dahinleben« ist es nicht mehr getan. - Betrogene Betrüger! vom ersten bis zum letzten, sagte Auban lachend vor sich hin; und es lag fast keine Bitterkeit mehr in seinem Lachen.

Aber dieser Mann, welcher wußte, daß es nie und nirgendwo Gerechtigkeit auf der Erde gab, und der den Glauben an eine himmlische Gerechtigkeit als die bewußte Lüge erkaufter Priester verachtete, oder als die bewußt- und gedankenlose Hingabe an diese Lüge fürchtete, ahnte, sooft er die Hand an die eiternde Wunde der Prostitution legte, mit Schaudern, daß hier ein Weg war, auf welchem langsam, unendlich langsam, eine träge Gerechtigkeit von den Leidenden zu den Lebenden hinaufkroch. Was ist dem Besitzenden das Volk - das Volk, welches »nicht zu gut behandelt werden darf«, damit es nicht übermütig wird? Gleichberechtigte Menschen mit den gleichen Wünschen an das Leben wie sie selbst? Törichte Schwärmereien! Eine Arbeitsmaschine, die versorgt werden muß, damit sie ihren Dienst tun kann. Und es fiel Auban die Strophe aus einem englischen Liede ein: »Unsere Söhne dienen ihnen bei Tage, unsere Töchter dienen ihnen bei Nacht—«. Ihre Söhne - gut genug zur Arbeit. Aber in der Entfernung - in der Entfernung. Ein Druck der Hand, die für sie arbeitet? Arbeit ist ihre Pflicht. Und diese Hände sind so schmutzig - von der Arbeit eines ewig währenden Tages.

Ihre Töchter - gut genug, als Abzugskanal für den trüben Strom ihrer Lüste zu dienen, der sich sonst über die unbefleckten und reinerhaltenen Seelen der eigenen Mütter und Töchter ergießen würde. Ihre Töchter - bei Nacht! Was kauft das Geld vom Hunger und der Verzweiflung nicht?!...

Aber hier - hier allein! - zieht die so Geopferte ihre Mörder hinein in den Strudel ihres Verderbens.

Wie eine dunkle, drohende Wolke breitet sich über unser ganzes geschlechtliches Leben - das hier zügellos rasende, dort in die Unnatur der Ehe gepferchte - ein Heer furchtbarer Krankheiten aus, bei deren Namen jeder erbleicht, der sie hört, da keiner vor ihnen sicher ist. Und wie es einen bereits unübersehbaren Teil der Jugend unserer Tage durchfressen hat, so steht es schon wie die Erfüllung eines unausgesprochenen Fluches über einer noch im Schlummer liegenden Generation.

Auban wurde gezwungen aufzusehen. Aus dem Restaurant des London Pavilion, dessen Gasfackeln ihre Lichtströme über Piccadilly Circus hinwarfen, taumelte eine Schar von jungen Männern der Jeunesse dorée. Auf ihren geistlosen, brutal- verlebten Gesichtern stand ihre ganze Beschäftigung nur allzudeutlich: Sport, Weiber und Pferde. Sie waren natürlich in Full dress: aber die Zylinderhüte waren eingedrückt und aus dem schwarzen Fräcken sahen von Whisky und Zigarrenasche beschmutzte und zerknitterte Hemden hervor. Unter rohem Gelächter und zynischen Ausrufen umstellten die einen einige der Halbweltlerinnen, während die anderen nach Hansoms schrieen, die eilfertig angefahren kamen; die sich kreischend wehrenden Frauenzimmer wurden hineingeschoben, und das Singen der Trunkenen erstarb in dem Fortrollen der Wagen.

Auban überschaute den Platz. Dort vor ihm - Piccadilly hinunter - dehnte sich eine Welt des Reichtums und des Wohllebens aus: die Welt der aristokratischen Paläste und der großen Klubs, der luxuriösen Läden und der fashionablen Kunst - das ganze übersättigte und raffinierte Leben der »großen Welt«... das Trugleben des Scheins ... Der Blitz der kommenden Revolution muß hier zuerst einschlagen. Es kann nicht anders mehr sein.

Als Auban die Straße überschritt fiel ihm die zerlumpte Gestalt eines Mannes auf, der unablässig, so oft der Wagenverkehr es zuließ, den Übergang von den Spuren der Wagen und Pferde reinigte, und jedesmal, wenn sein Besen die Arbeit getan, bescheiden auf die Aufmerksamkeit derer wartete, deren Füße er vor einer Berührung mit dem Schmutze bewahrt hatte: und es kam Auban die Lust an zu sehen, wie viele diesen Dienst überhaupt bemerken würden. Er lehnte sich etwa fünf Minuten an den Laternenpfahl vor dem Eingangsbogen von Spiere und Ponds Restaurant am Criterion und schaute der unermüdlichen Arbeit des Alten zu. In diesen fünf Minuten überschritten etwa dreihundert Personen trockenen Fußes die Straße. Den Alten sah keiner.

Ihr macht keine guten Geschäfte? fragte er ihn, als er ihm näher kam.

Der Alte griff in die Tasche seines zerfetzten Rockes und zeigte ihm vier Kupferstücke:

Das ist alles in drei Stunden!...

Und nicht einmal genug für Euer Nachtlager, sagte Auban und legte ein Sixpencestück hinzu.

Der Alte sah ihm nach, wie er langsam mit seinen mühsamen Schritten über den Platz ging.

Hinter Auban versanken die Lichter des Platzes, die hellen gleichmäßigen Häuser des Quadrant von Regents Street; und während sich die Weite hinter ihm verengerte und der brausende Lärm sich verlor, schritt er sicher weiter und immer weiter hinein in das dunkle, geheimnisvolle Straßengewirr von Soho...

Um dieselbe Stunde - die neunte war nicht mehr fern - kam von Osten aus der Richtung von Drury Lane her auf Wardour Street zu mit der unsicheren Schnelligkeit des Ganges, welche verrat, daß man sich in einer fremden und unbekannten Gegend befindet und doch gerne schnell ein bestimmtes Ziel erreichen möchte, ein Mann von etwa vierzig Jahren in der unauffälligen Kleidung eines Arbeiters, die sich in London nur durch ihre Einfachheit von der des Bürgers unterscheidet. Als er - überzeugt, daß bei weiterem Forteilen in der eingeschlagenen Richtung er schwerlich seine Ungeduld bald befriedigen würde - stillstand und vor einem der zahllosen Public-Häuser einen der dort herumstehenden Burschen nach seinem Wege fragte, zeigte dessen vergebliches Bemühen, die erbetene Auskunft möglichst klar und verständlich zu machen, daß der Frager ein Ausländer sein mußte.

Indessen schien dieser endlich die Erklärungen verstanden zu haben, denn er schlug eine von der vorher genommenen völlig verschiedene Richtung ein. Er wandte sich dem Norden zu. Nachdem er noch zwei oder drei der gleich dunklen, schmutzigen und einander völlig gleichenden Straßen durchgangen hatte, befand er sich plötzlich in dem betäubenden Lärm einer jener Verkaufsstraßen, in denen die Bevölkerung der ärmeren Viertel am Samstagabend mit dem Lohn der vergangenen Woche ihre Bedürfnisse für den folgenden Tag einhandelt. Die Seiten der Straße waren besetzt mit zwei endlosen Reihen von sich dicht hintereinander drängenden Wagentischen und Gestellen, dicht beladen mit jedem von den tausend Erfordernissen des täglichen Lebens. Zwischen ihnen ebenso wie auf den engen Trottoiren an den geöffneten und überfüllten Läden vorbei drängte und quetschte sich eine unruhige und feilschende Masse, deren Schreien und Lärmen nur von dem gellenden Durcheinanderrufen der anpreisenden Verkäufer übertönt wurde. Die Straße war in ihrer ganzen Länge von dem flackernden Scheine unzähliger Petroleumflammen in eine blendende Helle, eine Helle, wie sie das Licht des Tages nie hierher brachte, getaucht; die feuchte Luft erfüllt mit einem dicken und qualmenden Rauch; der Boden übersät mit zertretenen Abfällen aller Art, welche das Gehen auf dem glitscherigen, unregelmäßigen Steinpflaster noch erschwerten.

Der Arbeiter, der nach dem Wege gefragt hatte, war in das Gewühl hineingeraten und drängte sich durch, so schnell es ging. Er hatte kaum einen Blick für die rings aufgespeicherten Schätze: die Bänke mit den großen, rohen, blutigen Fleischstücken; die hochbeladenen Karren mit Grünkraut jeder Sorte; die Tische, voll von altem Eisen und Kleidern; die langen Reihen von aneinandergebundenem Schuhwerk, welche sich über ihm fort und über die Straße spannten; für den ganzen undurchdringlichen Wirrwarr des Kleinhandels, der ihn umtoste und umdrückte. Als sich unter dem Schimpfen der Menge ein Karren rücksichtslos durch das Gewühl stieß, nahm er die Gelegenheit wahr, hinter ihm herzugehen, und kam so schneller, als er gehofft hatte, an die Ecke der nächsten Kreuzstraße, wo sich das Leben wieder verteilte und einen Augenblick des Stillstehens ermöglichte.

Da, als er sich umsah, erblickte er auf der andern Seite der Straße plötzlich Auban. Überrascht, seinen Freund so unverhoffterweise und in dieser Gegend zu sehen, eilte er nicht sogleich zu ihm; und dann - als er schon die Straße halb überschritten hatte - trat er in das Gedränge zurück, von dem Gedanken getrieben: Was tut er hier?- Er blickte in der nächsten Minute aufmerksam zu ihm hinüber.

Auban stand mitten in einer Reihe von halbbetrunkenen Männern, die den Eingang des Public House umlagerten, in der Hoffnung, von einem ihrer Bekannten eingeladen zu werden: - »Have a drink!« - Er stand da, etwas vornübergebeugt, mit beiden Händen auf seinen zwischen die Knie geklemmten Stock sich stützend und unverwandt in das an ihm vorbeitreibende Gewühl starrend, als warte er darauf, aus ihm ein bekanntes Gesicht auftauchen zu sehen. Seine Züge waren ernst; um den Mund lag eine scharfe Falte, und seine tief liegenden Augen hatten einen starren und trüben Blick. Seine glattrasierten Wangen waren mager, und die scharfe Nase gab den Zügen seines schmalen und feinen Gesichtes den Ausdruck starker Willensfahigkeit Ein dunkler weiter Mantel fiel nachlässig an der ungewöhnlich langen und schmalschulterigen Gestalt nieder, und als ihn der andere von der gegenüberliegenden Straßenecke so dastehen sah, fiel ihm zum ersten Male auf, daß er ihn seit Jahren nie anders gesehen hatte als in demselben weiten Anzug von demselben bequemen Schnitt und derselben einfachsten, dunklen Farbe. Genauso schlicht und doch so auffällig war seine äußere Erscheinung gewesen, als er ihn - wie lange war es her: sechs oder sieben Jahre schon? - in Paris kennengelernt hatte, und genauso unverändert wie damals mit denselben gleichen scharfen und trüben Zügen, die höchstens blässer und grauer geworden waren, stand er heute da drüben, nachlässig und unbekümmert, in grübelnden Gedanken inmitten des sich überhastenden und freudlosen Treibens des Samstagabends von Soho.

Da kam er auf ihn zu: starr geradeaus blickend. Aber er sah ihn nicht und wollte an ihm vorübergehen.

- Auban! rief der andere.

Der Gerufene fuhr nicht zusammen, aber er wandte sich langsam zur Seite und sah mit einem leeren und abwesenden Blick in das Gesicht des ihn Rufenden, bis der ihn am Arm packte:

- Auban!

Otto? fragte der Angerufene da, aber ohne Erstaunen. Und dann, fast flüsternd und in dem dunklen, noch im Grauen befangenen Tone des Erwachenden, der von seinem schweren Traume erzählt, leise, um ihn nicht zur Wirklichkeit zu wecken: - Ich dachte an etwas anderes, an das Elend, wie groß es ist, wie ungeheuer, und wie langsam das Licht kommt, wie langsam ...

Der andere sah ihn erstaunt an. Aber schon lachte Auban jäh erwacht auf, und in seinem gewohnten beherrschten Tone fragte er dann:

- Aber in aller Welt, wie kommst du aus deinem East End nach Soho?

- Ich habe mich verlaufen. Wo ist denn eigentlich Oxford Street? Dort, nicht wahr?

Aber Auban nahm ihn lächelnd an der Schulter und drehte ihn um.