Staatsanwalt Sierlin (Krimi-Klassiker) - John Henry Mackay - E-Book

Staatsanwalt Sierlin (Krimi-Klassiker) E-Book

John Henry Mackay

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Beschreibung

Dieses eBook: "Staatsanwalt Sierlin (Krimi-Klassiker)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Er stand mit einigen anderen Herren vor dem Gericht im Gespräch - auf seine Straßenbahn wartend -, als ein junger Mensch so auffällig dicht an ihm vorüberging, daß er ihn beinahe streifte. Er mußte auf- und ihm nachsehen. Er stockte in dem begonnenen Satze. Er war gutgelaunt, denn er hatte eben die Todesstrafe gegen einen Raubmörder durchgedrückt, den seine Verteidiger durchaus lebenslänglich im Zuchthaus sitzen sehen wollten. (Er, human, war gegen eine solche "Verlängerung der Todesstrafe".) Er unterbrach sich, wie gesagt, denn er sah dem nach, der ihn eben fast berührt: es war derselbe junge Mensch, den er vor Wochen in der Nähe seiner Wohnung so oft gesehen. Er trug zwar einen anderen, leichteren und jetzt grauen Anzug, aber die Haltung - die Hände in den Seitentaschen - und der weiche Hut waren unverkennbar dieselben." John Henry Mackay (1864 - 1933) war ein deutscher Schriftsteller.

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John Henry Mackay

Staatsanwalt Sierlin (Krimi-Klassiker)

Kriminalroman: Die Geschichte einer Rache

e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-2685-9

Inhaltsverzeichnis

I. Staatsanwalt Sierlin
II. Adolf Braun
III.Der Kampf
Der Sieg

I. Staatsanwalt Sierlin

Inhaltsverzeichnis

1.

An einem Märzabend kam Staatsanwalt Sierlin vom Landgericht in Berlin, wie gewohnt, nach Hause, als in der Nähe seiner Wohnung ein junger Mensch hinter ihm herging, der – wie es ihm schien – beim Vorübergehen seine Schritte verlangsamte. Da er aber weder ihn ansah noch zurückblickte, glaubte er sich getäuscht zu haben.

Zwei Tage später, und fast um die gleiche Stunde und auf derselben Stelle, geschah das gleiche: wieder schien es ihm, als ob Schritte, die er hinter sich gehört, beim Näherkommen und Vorüberschreiten langsamer wurden. Diesmal faßte er die Person des Betreffenden ins Auge und sah ihr nach. Aber weder erkannte er in ihr die von vorgestern wieder, noch hatte er Veranlassung, sich weiter um den Fremden zu kümmern, denn er verschwand in dem trüben und mit Regen drohenden Abend. Er hatte den Vorfall bereits vergessen, als er die Tür seines, von der Straße durch einen kleinen Vorgarten getrennten, Hauses aufschloß.

Erinnert wurde er erst wieder an die Begegnung, als sie sich am nächsten Abend, um eine Stunde später, aber wieder in nächster Nähe seines Hauses, zum zweiten Male wiederholte. Wieder war die stille Vorstadtstraße menschenleer. Die wenigen Häuser an ihr – voneinander getrennt stehende Villen – lagen still, wie immer. So auch der kleine Park ihnen gegenüber – Stolz der Anwohner und Freude ihrer Kinder, die im Sommer in ihm spielten.

Wieder also hörte Staatsanwalt Sierlin beim Nachhausekommen die Schritte hinter sich und ihr allmähliches Verlangsamen beim Näherkommen. Wieder ging der junge Mensch – derselbe von gestern und vorvorgestern – ohne ihn anzusehen oder sich sonst im geringsten um ihn zu kümmern, aber wieder – wie er diesmal nicht umhin konnte, zu bemerken – dichter, als es bei der Breite des Trottoirs nötig war, an ihm vorbei. Diesmal warf er ihm einen prüfenden Seitenblick zu und blieb stehen, um ihm nachzusehen, bis er um die Ecke verschwunden war. Es war ein noch junger Mensch, in den Zwanzigern, einfach, aber durchaus anständig gekleidet, ohne Überzieher, mit weichem Filzhut. Er hielt – wie die beiden ersten Male – die Hände in den Taschen seines Jacketts vergraben.

Ein Bankangestellter oder so etwas Ähnliches, dachte der ihm Nachblickende, den sein Beruf um dieselbe Stunde wie mich entläßt, und der wahrscheinlich im Ort selbst wohnt. Aber das muß doch eigentlich ein Umweg für ihn sein. Und warum geht er immer so dicht an mir vorbei: –

Diese jungen Leute von heute haben schlechte Manieren, resümierte er beim Aufschließen seiner Haustür. Sollte ich ihm nochmals begegnen, werde ich ausweichen und beiseite treten, um ihn so auf das Ungehörige seines Betragens aufmerksam zu machen.

Da der junge Mensch indessen in den nächsten Tagen fortblieb, hatte er keine Gelegenheit, seine Absicht auszuführen, und die flüchtigen und gleichgültigen Begegnungen entschwanden seinem Gedächtnis völlig.

2.

Sie würden es für immer gewesen sein, wenn er nicht etwa acht Tage später – und ebenfalls beim Nachhausekommen – auf einer der Bänke, die am Rande des kleinen Gehölzes jenseits der Straße in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren (und zwar auf der, die seinem Hause am nächsten und ihm schräg gegenüber stand), eine Gestalt hätte sitzen sehen, in der er den jungen Mann, der ihm in der letzten Woche mehrere Male hier begegnet war, wiederzuerkennen glaubte. Es geschah selten, daß die Bänke um diese Jahreszeit schon benutzt wurden. Es war noch recht kühl, und der Frühling ließ sich in diesem Jahre besonders schlecht an. Fremde Spaziergänger kamen fast nie in diese abgelegene Gegend, und die hier Wohnenden hatten sich so daran gewöhnt, diese Anlagen als zu ihren Häusern und daher gewissermaßen ihnen allein gehörig zu betrachten, daß unbekannte Personen, die sich hierher verirrten, auffallen mußten.

Was also einen Menschen bewegen konnte, sich an einem so kühlen und feuchten Tage, wie dem heutigen, auf einer der Ränke niederzulassen, war auf den ersten Blick hin unverständlich und konnte seinen Grund nur in einem vorübergehenden Unwohlsein oder großer Übermüdung haben. Wenn keine Absicht vorlag. Aber welcher Art sollte diese wohl sein? – Einbrecher, die nach einer Gelegenheit suchten, die Gegend auszuspionieren, fingen es wohl anders und auf weniger plumpe Weise an. Nach einem solchen sah dieser junge Mensch auf der Bank dort drüben auch gar nicht aus. Daß es jedoch derselbe war, an den er wieder erinnert wurde, darüber war sich Staatsanwalt Sierlin nicht mehr im Zweifel: es war derselbe braune Anzug, derselbe weiche Hut, und es war dieselbe Haltung der in den Seitentaschen vergrabenen Hände. Er blieb, bevor er sein Haus betrat, einen Augenblick stehen, um noch einen zweiten Blick hinüberzuwerfen: ob der dort Sitzende etwa seinerseits zu ihm herübersehen oder aufstehen und weggehen würde. Aber der junge Mann, der dort, nur durch den Fahrdamm und um die halbe Breite der Nebenvilla von ihm getrennt, unter den noch kahlen Bäumen saß, schien ihn auch diesmal nicht gesehen zu haben und auch jetzt noch nicht zu sehen. Sein Gesicht war, soweit es sich auf diese Entfernung erkennen ließ, in die Höhe gewandt, und seine Blicke gingen über die Häuser hinweg und in den Himmel über ihnen. Es war die Haltung eines tief in seine Gedanken Versunkenen, eines seiner Umgebung ganz Entrückten.

Heute ist er früher frei gewesen als ich, sagte sich Staatsanwalt Sierlin, als er die Treppe hinaufstieg, scheint aber noch kein Verlangen zu haben, nach Hause zu kommen, sondern will sich lieber noch die schönste Erkältung holen. Verrückter Kauz! – Und er rief, so zugleich seine Ankunft meldend, wie gewöhnlich nach dem Essen.

Da es nicht gleich kam, während er im Eßzimmer auf die Seinen wartete, trat er noch einen Augenblick ans Fenster und sah hinüber. Der junge Mann saß noch immer dort auf der Bank und in derselben unveränderten Haltung.

Hungrig scheint er auch nicht zu sein. Aber ich bin es! – dachte der ihn Betrachtende weiter. Er trat in das Zimmer zurück, da eben die Suppe aufgetragen wurde.

Er hatte die abermalige Begegnung schon vergessen, als er bei Tisch saß und sich von seiner Frau und seinen Kindern, zwei Knaben im Alter von neun und dreizehn Jahren, die kleinen, aber für sie so wichtigen Neuigkeiten aus Ort und Schule erzählen ließ.

Als er nach der Mahlzeit nochmals an das Fenster trat, diesmal ohne jede Absicht, war die Bank drüben leer. Er bemerkte es nicht.

3.

Nicht so am nächsten Tage, als er, um eine volle Stunde später als gewöhnlich – denn er war durch eine Sitzung aufgehalten worden – in seine Straße einbog.

Noch weniger als der gestrige lud dieser Tag zum Sitzen im Freien ein: es hatte geregnet, die Bänke waren noch naß, und von den Zweigen der Bäume tropfte es nieder.

Aber er saß da. Dieselbe Haltung: Blick nach oben, Hände in den Taschen.

Ein hirnverbrannter Idiot! murmelte Staatsanwalt Sierlin vor sich hin, als er ihn wieder so dasitzen sah, man müßte ihn einsperren lassen, den Narren, damit er sich nicht die Schwindsucht holt ... Obwohl er sich sagte, daß ihn dieser Fremde und sein Gebaren nicht das geringste anging, unterließ er es doch nicht, nach dem Essen einen Blick hinüberzuwerfen, um zu sehen, ob er noch immer dasaß. Es war reine Neugier. Wie lange hielt es so ein Mensch bei solchem Wetter auf einer Bank im Freien aus? –

Wie wenn der so Beobachtete nur auf diesen Augenblick gewartet hätte, erhob er sich, tat ein paar Schritte und überschritt dann den Fahrdamm, geradewegs auf seine Haustür zukommend, aber ohne aufzusehen. Er sah ganz so aus wie ein Mensch, der sich entschlossen hat, einen langgehegten Entschluß endlich auszuführen.

Staatsanwalt Sierlin, am Fenster, war sich keinen Augenblick darüber im unklaren, daß dieser Entschluß einem Besuche bei ihm galt. Daher also die ersten Begegnungen; daher dies Sitzen und Warten auf der Bank gestern und eben. In jedem nächsten Augenblick würde die Klingel ertönen und Marie mit der Frage kommen, ob der Herr Staatsanwalt zu sprechen seien.

Er kannte den Menschen nicht, und er würde ihn natürlich abweisen lassen. Aber er hatte jetzt eine Erklärung für sein seltsames Benehmen. Ein Bittsteller natürlich, der endlich Mut gefaßt hat. Aber für amtliche Dinge – und nur um solche konnte es sich handeln – war er nur in seinen Berufsstunden auf dem Amt, und auch da nur in bestimmten, von ihm vorher genehmigten Fällen, zu sprechen.

Er trat in das Zimmer zurück und wartete.

Er wartete vergebens.

Es klingelte weder, noch erschien das Mädchen. Hatte er wieder den Mut verloren, oder stand er noch immer zögernd in dem jetzt wieder stärker einsetzenden Regen vor der Haustür?

Er machte das Fenster auf und sah hinaus.

Die Straße war leer; der Unbekannte verschwunden.

Er hat gewiß das Ungehörige seines Verhaltens eingesehen und gibt es auf, mich in meinem Hause sprechen zu wollen, dachte er, als er das Fenster schloß und sich die Regentropfen von Stirn und Bart wischte. Ich werde amtlich von ihm hören.

4.

Aber es vergingen acht Tage, ohne daß Staatsanwalt Sierlin irgend etwas von dem Unbekannten hörte oder sah, und wenn er jetzt überhaupt noch an ihn dachte, war es höchstens in dem Augenblick, wo er sein Haus betrat und unwillkürlich einen Blick nach der Bank hinüberwarf, die aber leer war und blieb, obwohl jetzt die schönen Tage gekommen waren.

Er fiel ihm erst wieder ein, als er eines Abends sehr schnelle und feste Tritte hinter sich hörte Gegen seinen Willen wandte er sich halb um und sah, wer es war. Aber statt, wie bisher, dicht an ihm vorbeizugehen, schien ihm dieser junge Mann heute ausweichen zu wollen – er ging so weit von ihm, als es das Trottoir erlaubte, fast auf der Bordschwelle hin, und schnell weiter. Er sah durchaus nicht danach aus, als wenn er etwas von ihm wolle oder mit einem Entschluß kämpfe. Auch in Gedanken schien er nicht zu sein, wie bei seinem Vorsichhinträumen auf der Bank. Er ging ganz so wie einer, der nur den einen Wunsch hat, möglichst rasch nach Hause zu kommen. Ebensowenig schien er sich erkältet zu haben – so frisch und gesund war sein Aussehen und so fest sein Gang. Ihn hatte er wieder nicht im geringsten beachtet, ganz so, als habe er ihn nicht gesehen. Ich muß mich getäuscht haben, sagte sich Staatsanwalt Sierlin.

Seltsam und jetzt auffällig aber war, daß sich dieser Vorgang: das schnelle Vorübergehen in fast absichtlich gewählter, schroffer Distanz die beiden nächsten Tage wiederholte. Es war um so auffallender, als er gerade an diesen beiden Tagen zu ganz verschiedenen Stunden nach Hause kam – ungewöhnlich spät. Es war beide Male schon dunkel, als er den jungen Menschen an sich – fast vor seiner Haustür – vorübereilen und um die Ecke verschwinden sah. Da er dann wieder fortblieb und diese letzten Begegnungen ganz momentane gewesen waren, legte er ihnen auch jetzt noch nicht mehr Wichtigkeit bei, als die einiger flüchtiger Gedanken über die seltsamen Wege des Zufalls und vergaß sie alle über seiner sich täglich bis zur Unerträglichkeit häufenden Arbeit.

Inzwischen war der April herangekommen, auch in diesem Jahre ein launischer und naßkalter Monat. Die Witterung hinderte indessen den Unbekannten nicht, jeden Abend – und zwar eine ganze Woche lang – auf der Bank zu sitzen, vor sich hinzustarren oder in den grauen und wolkenschweren Himmel zu blicken. Auch das hätte Staatsanwalt Sierlin gleichgültig lassen können, wenn er nicht angefangen hätte, sich zu ärgern, und zwar zunächst über sich selbst. Denn einmal galt jetzt sein erster Blick beim Nachhausekommen der Bank; und dann konnte er es, fast gegen seinen Willen wieder, nicht unterlassen, vor dem Essen noch schnell an das Fenster zu treten, um nachzusehen, ob dieser Mensch immer noch dort saß, um dann jedesmal zu finden, daß die Bank leer war. Es war gerade, als habe der eben noch dort Sitzende nur auf den Augenblick seines Nachhausekommens gewartet, um aufzustehen und fortzugehen.

Es war auffallend, und es fiel ihm auf.

Er dachte schon daran, beim nächsten Male auf ihn zuzugehen und ihn zu fragen, ob er auf ihn oder wen sonst hier warte. Aber er unterließ es immer von neuem wieder. Es war unter seiner Würde. Und es hätte einer Sache Bedeutung beilegen heißen, die keine Bedeutung besaß.

Mochte der dort drüben sitzen, bis er schwarz wurde oder sich die Erkältung holte, die ihn dann schon von selbst zwingen würde, sein albernes und unverständliches Gebaren aufzugeben. Die Bank war für alle da. Nur ärgerte er sich jetzt, so oft er ihn sah. Er ärgerte sich auch noch, als er ihn dann plötzlich wieder eine ganze Woche nicht mehr sah. War es die Erkältung? – Er gönnte sie ihm jetzt.

Dann, in der übernächsten Woche, der dritten dieses April, begann das schnelle Vorübergehen wieder, und zwar abermals an drei aufeinanderfolgenden Abenden. Was sollte das heißen, zum Donnerwetter? – Er lauschte auf, wenn er die raschen und festen Schritte hinter sich hörte, blieb stehen, ließ sie an sich vorübergehen und tat es beim dritten Male in einer so herausfordernden Weise, daß jeder andere ebenfalls stehengeblieben wäre, um ihn anzusehen. Aber der Vorübergehende sah weder auf, noch tat er, als ob er ihn überhaupt bemerke. Er sah geradeaus und ging, womöglich noch schneller, weiter. Nachgehen konnte er ihm doch wohl nicht gut – hier in seiner eigenen Straße? – Es wäre das erstemal in seinem Leben gewesen, daß er, der Staatsanwalt Sierlin, einem fremden Menschen nachgegangen wäre! – Er ärgerte sich noch mehr.

Aber er beschloß, sich nicht mehr zu ärgern, als er ihn dann wieder eine Woche lang auf der Bank sitzen sah – Abend für Abend. Er nahm sich vor, weder hinüberzusehen, noch aus dem Fenster zu blicken. Er hatte sich sein Urteil gebildet: ein offenbar nicht ganz Zurechnungsfähiger, ein harmloser Narr, dem man seinen Willen lassen mußte.

Er kümmerte sich also nicht weiter um ihn. Er sprach auch nicht von ihm zu seiner Frau. Es wäre ihm lächerlich vorgekommen; und sie, in ihrer unpassenden Neugier für fremde Menschen, hätte sicherlich versucht, dem Gebaren dieses Fremden irgendeinen Grund unterzuschieben, und ihn nun ihrerseits täglich auf ihn aufmerksam gemacht.

Indessen wurde er jetzt sogar in seinen eigenen vier Wänden an ihn erinnert.

Denn eines Tages sagte der kleine Kurt bei Tisch: »Vatti, in unserem Wald sitzt jetzt immer ein so komischer Mann, der macht immer so ...« Er machte Glotzaugen.

Er schwieg aber gleich erschrocken, als er sah, mit welcher Bestimmtheit er zurechtgewiesen wurde, als habe er etwas Ungehöriges gesagt:

»Laß ihn sitzen! – Was kümmert das euch! – Und laßt euch nicht mit fremden Menschen ein, ich habe es euch schon immer gesagt! –«

Auf den erstaunten Blick seiner Frau hin – (und ehe sie fragen konnte: von wem sprecht ihr denn?) – wurde belehrend hinzugefügt:

»Es hat ein jeder das Recht, dort zu sitzen. Es sind öffentliche Anlagen, die nicht, wie ihr zu scheinen glaubt, euch allein, sondern der Gemeinde gehören, in der wir wohnen.«

Er war wieder ärgerlich, wollte es aber nicht zeigen und sprach von anderem.

Im übrigen hatten die Knaben auch keine Gelegenheit mehr, das Gebot ihres Erzeugers zu befolgen. Der Fremde blieb fort und, wie es schien, auf immer.

Der Frühling war jetzt wirklich da, die Bäume standen in Grün, und der kleine Park war nicht mehr unbelebt. Die in ihm spielenden und jagenden Kinder hatten den Einsamkeit und Stille Suchenden wohl vertrieben.

So dachte Staatsanwalt Sierlin, wenn er noch gelegentlich an ihn dachte (was kaum mehr geschah).

5.

Staatsanwalt Egon Sierlin, jetzt in der Mitte der Vierziger, hatte bei vielen, meist jüngeren, jetzt in alle Welt verstreuten Geschwistern eine unfrohe Jugend hinter sich, die eine verspätete zweite Heirat seines harten Vaters nicht sonniger gestaltete.

Obwohl nur mäßig begabt, nahm er doch seinen Weg: durch nur halb genossene Studien- und arbeitsreiche Referendar- und Assessoren-Jahre, durch alle – mehr oder weniger genügend – bestandenen Examina, bis er sich zu seiner jetzigen Stellung als zweiter Staatsanwalt an einem der Landgerichte der Hauptstadt emporgeschwungen.

Sobald es möglich gewesen war, hatte er geheiratet nach kurzer Bekanntschaft und ohne Liebe (deren er auch wohl kaum fähig war) und ganz in herkömmlichem Gleise. Mit dem zugetragenen Vermögen seiner unbedeutenden, aber gutmütigen Frau hatte er sich dann das Haus in dem Villenvorort erworben, und sein Gehalt ermöglichte ihm und den Seinen jetzt eine auskömmliche und sorgenfreie Lebensweise. In seiner Ehe war er weder glücklich noch unglücklich. Die Erziehung seiner Kinder war bei seinen Anschauungen nicht immer ganz so leicht, wie er sie sich gedacht – auch eine Begleiterscheinung dieser verderbten Zeit, in der nichts mehr heilig war.

Denn seine Anschauungen waren es, die ihn im Grunde so weit geführt: sie waren es, die ihn, trotz verhältnismäßig geringem Wechsel, als Student in das Korps geführt, dem er heute als Alter Herr angehörte; die ihn die mancherlei Demütigungen während jener Jahre ertragen und über sie hinwegsehen ließen; die sein Rückgrat immer wieder stärkten und in denen er allein die wahre Befriedigung seines Geistes fand. Sie waren angeboren, festgewurzelt und in jeder Lebenslage hochgehalten – ein Zweifel an ihrer Gottgewolltheit wäre ihm als ein Verbrechen erschienen. Nie war ihm je ein solcher auch nur gekommen.

Er war groß, kräftig, von gesunder Farbe des Gesichts, in dem die Narben der Mensuren des einst gefürchteten Schlägers ihre scharfen Spuren hinterlassen. Seine Stimme, so oft öffentlich gehört, hatte einen etwas schnarrenden Ton; seine Haltung war unerschütterlich; und sein Benehmen nie anders als absolut korrekt. Er kannte die Gesetze der Gesellschaft wie die des Staates, dessen Anwalt er war, und befolgte beide, die geschriebenen wie die ungeschriebenen, peinlich.

In seinen Kreisen war er wenig beliebt. Andere betrat er nicht. In seinem Beruf gefürchtet, hatte er eigentlich kaum Freunde. Man nannte ihn, nicht ohne Unrecht, einen blutigen Streber, und er wußte, daß man ihn so nannte. Aber die hatten gut reden – sie waren in der Wahl ihrer Eltern vorsichtiger als er gewesen.

Daß er ehrgeizig, ehrgeizig über alle Maßen war, daran war nicht zu zweifeln. Er wollte es sein. Sein Ehrgeiz sollte ihn noch weit höher tragen.

Er glaubte allen Grund zu haben, mit sich zufrieden zu sein; und wenn er es nicht immer war, so deshalb allein, weil ihn dieser sein Ehrgeiz, seiner Ansicht nach, nicht schnell genug nach oben trug. Sein Ziel war eine Stellung am Reichsgericht in Leipzig. Daß dazu seine Begabung doch wohl nicht reichte – sein Fleiß stand über jedem Zweifel –, sagte ihm seine innere Stimme nicht immer mit der nötigen Deutlichkeit.

Sie hätte sonst doch wohl bisweilen einen Tropfen Bitterkeit in sein sonst so zufriedenes und von manchem Kollegen beneidetes Leben geträufelt.

6.

Ein paar Wochen nach jenem kurzen und von allen Beteiligten längst vergessenen Tischgespräch – (der, von dem die Rede gewesen, hatte sich nicht mehr blicken lassen, und der schöne Monat Mai ging zu Ende) – geschah etwas, was Staatsanwalt Sierlin zum ersten Male ernstlich zu denken gab.

Er stand mit einigen anderen Herren vor dem Gericht im Gespräch – auf seine Straßenbahn wartend –, als ein junger Mensch so auffällig dicht an ihm vorüberging, daß er ihn beinahe streifte. Er mußte auf- und ihm nachsehen. Er stockte in dem begonnenen Satze. Er war gutgelaunt, denn er hatte eben die Todesstrafe gegen einen Raubmörder durchgedrückt, den seine Verteidiger durchaus lebenslänglich im Zuchthaus sitzen sehen wollten. (Er, human, war gegen eine solche »Verlängerung der Todesstrafe«.) Er unterbrach sich, wie gesagt, denn er sah dem nach, der ihn eben fast berührt: es war derselbe junge Mensch, den er vor Wochen in der Nähe seiner Wohnung so oft gesehen. Er trug zwar einen anderen, leichteren und jetzt grauen Anzug, aber die Haltung – die Hände in den Seitentaschen – und der weiche Hut waren unverkennbar dieselben.

Das Herankommen seiner Bahn überhob ihn einer Erklärung vor den anderen Herren, die ihm übrigens kaum zugehört (denn sie stimmten ihm durchaus nicht bei), und er konnte sich nur eben noch schnell verabschieden.

Auch diese neuerliche Begegnung mit dem jungen Menschen – nach Wochen und in einer so ganz anderen Gegend – hätte ihm kaum zu denken gegeben und wäre vergessen, wie alle anderen, wenn er ihn nicht etwa eine Stunde später (denn so lange dauerten Straßenbahnfahrt und Umsteigen) auf der Bank vor seinem Hause hätte sitzen sehen.

Er war derartig überrascht, daß er wie angedonnert stehenblieb. Er traute seinen Augen nicht. Wie kam dieser Mensch hierher? – Vor ihm hierher?! – Er stand da und sah hinüber. Diesmal hätte er sich wohl kaum beherrscht, sondern wäre nach kurzem Überlegen auf ihn zugegangen und hätte sich eine Erklärung für dieses abermalige und so überaus seltsame Zusammentreffen erbeten. Aber er sah ihn, kaum daß er sich von seinem ersten Erstaunen erholt, aufstehen und fortgehen. Die Bank war plötzlich wieder leer – der eben noch dort Sitzende ging die Straße hinunter und verschwand um die Ecke. Er ging so schnell, als wäre er in der Tat verfolgt.

Nur die neue Überraschung hinderte Staatsanwalt Sierlin an sofortigem Nachgehen.

Er betrat sein Haus, war während des Essens ungewöhnlich schweigsam und begab sich sofort nach beendeter Mahlzeit auf sein Zimmer, eine dringliche Arbeit nach angreifendem Tage vorschützend. Dort durfte er, wie er wußte, nie gestört werden.

7.

Er steckte sich eine Zigarre an und setzte sich in seinen Lehnstuhl, den, in dem er immer saß, wenn schwierige Fälle zu überdenken waren.