Die Anderen sind wir -  - E-Book

Die Anderen sind wir E-Book

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Beschreibung

Wie gehen professionelle Berater und Therapeutinnen in der Begegnung mit dem Fremden um? Neugierde, Verstehen und Empathie bestimmen auch hier gelingende Beziehungen. Die Autorinnen und Autoren erzählen aus eigener Erfahrung im Projekt Kulturendialog, wie sich psychosoziale Fachkräfte den Problemen von Geflüchteten alltags- und begegnungsbezogen sowie professionell und kultursensitiv nähern können. Es geht immer auch um die persönliche Auseinandersetzung mit den uns und dem in uns Fremden. Anhand guter Kulturdialoge wird sichtbar, wie professionelles Handeln funktionieren kann. Dieses praxisorientierte Buch führt Professionelle darin ein, wie man Vorurteile transformiert, etwa indem der Weg des Suchens wichtiger wird als das Gefundene; wie die Selbstreflexion zur Differenzierung des Fremden und zur Humanisierung der Begegnung führt. Last, not least wird die Vergleichbarkeit von Genderaspekten im Mehrkulturellen hinterfragt.

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Herausgegeben vonJochen Schweitzer undArist von Schlippe

Corina Ahlers / Natascha Vittorelli /Gustav Glück / Aladin Nakshbandi (Hg.)

Die Anderen sind wir

Eine Anleitung zum Umgang mitkultureller Uneindeutigkeit

Mit einer Abbildung und 4 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: doul33, Building colorful/Shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6088ISBN 978-3-647-99994-4

Inhalt

Zu dieser Buchreihe

Vorwort

I Der Kontext

1Kulturen im Dialog –Möglichkeiten und Grenzen (Corina Ahlers und Aladin Nakshbandi)

2Begriffsklärung (Corina Ahlers)

3Einleitung (Corina Ahlers)

II Projektbeschreibung

4Das Projekt Kulturendialog (Gustav Glück)

4.1Die Projektartefakte

4.2Konzept

4.3Ihre von uns nachträglich erfassten Erwartungen und Befürchtungen an den Kulturendialog

4.3.1Ihre Erwartungen an das Projekt

4.3.2Befürchtungen im Rahmen des Projekts

4.4Ablauf des Projekts

4.4.1Die Workshops

4.4.2Einzelarbeit an den Videosequenzen

4.4.3Jours fixes

4.4.4Abschlussaufführung aus unserer Sicht: Die Performance

4.4.5Abschlussveranstaltung aus ihrer Sicht: Der Film

4.5Resümee

5Stimmungsbilder

5.1Fremdbild und Fremdsein (Gustav Glück)

5.2Wickie und die fremden Männer (Anna Huber)

5.3Von der Verunsicherung zur Transformation (Martina Ruttin)

5.4»Syndrom Europa« (Natascha Vittorelli)

5.5Spiel und Vorurteil (Magda Glück)

5.6Begegnungen, die berühren, brauchen Gelegenheit (Corina Ahlers)

5.7Erwartungen und Empathie (Michael Kastanek)

III Am Ende

6Quintessenzen des Kulturendialogs für Begegnungen mit Fremden (Corina Ahlers)

7Mein Kulturendialog: Ein Nachwort (Ghazaleh Djananpour)

8Literatur

9Die Autorinnen und Autoren

Zu dieser Buchreihe

Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewältigung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwermachen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) betreffen unsere intimen Beziehungen, deren Anfang und deren Ende, Liebe und Hass, Fürsorge und Vernachlässigung, Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten.

Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich geschrieben, allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick.

Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen Grundlagenwissen (1996/2012) und zum störungsspezifischen Wissen (2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das kontextspezifische Wissen der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind.

Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten.

Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

Vorwort

Ob es uns gefällt oder nicht – schon seit einigen Jahrzehnten befindet sich die Welt in einem Veränderungsprozess, von dem wir noch nicht wissen, wohin er uns führen wird. Viele der Schemata, mit denen wir gewohnt waren, auf die Welt und auf das menschliche Leben zu schauen, greifen nicht mehr. Die Faktoren, die hier hineinspielen, sind zu vielfältig, als dass sie an dieser Stelle erschöpfend behandelt werden könnten – denken wir nur an den Umbau wirtschaftlicher Strukturen im Rahmen der Globalisierung, an die Veränderungen der Kommunikationssysteme, die es ermöglichen, dass Informationen in Sekundenschnelle die ganze Welt durchdringen, ohne auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft zu sein. Oder denken wir an die vielen bewaffneten Auseinandersetzungen, deren Ursachen vielfältig sind, oft als Spätfolgen des Kolonialismus erkennbar, oft auch als Ausdruck moderner imperialer Ansprüche. Nicht zuletzt sind hier auch das weltweite Bevölkerungswachstum und die bedrohlichen Klimaveränderungen zu nennen, die in Kombination mit den vorher genannten Faktoren immer mehr Menschen in existenzielle und/oder wirtschaftliche Notlagen führen.

Wie gesagt, diese Vorgänge sind zu vielschichtig, um hier ausführlich diskutiert zu werden. Aber eines ist klar: Das Leben ist für viele Menschen in ihren angestammten Gebieten massiv erschwert oder unmöglich geworden. Sie machen sich, oft unter großen Opfern und dem Einsatz des eigenen Lebens, auf den Weg, um andere, bessere Lebensbedingungen zu suchen, manchmal auch einfach nur, um schlicht zu überleben. Mehr oder weniger auf der ganzen Welt sind Gesellschaften daher zunehmend mit dem Zustrom von Fremden konfrontiert. Die gewohnten Bilder von geografischen Grenzen verschieben sich.

Die Art, wie mit den hier kurz skizzierten Phänomenen umgegangen wird, unterscheiden sich sehr. Abschottung ist einer der Versuche: Es werden Mauern gebaut, Grenzen verstärkt, die doch – zumindest in Europa – schon fast obsolet geworden zu sein schienen. Verstärkte Grenzen finden sich auch in den Köpfen von Menschen. Gesellschaften teilen sich zwischen denen, die Fremde nur als Bedrohung sehen und denen, die die Bereicherung und Vielfalt von Multikulturalität begrüßen. Die Spannungen innerhalb der aufnehmenden Gesellschaften nehmen derart zu – die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild spricht in diesem Zusammenhang von der »Empathiemauer«, die in den USA die Bevölkerung entzweit, entfremdet, ja fast spaltet (Hochschild, 2017).

So sieht es aus in der Welt von heute! In einer solchen Situation sind Konzepte, wie die Empathiemauern überwunden, wie konstruktive Dialoge möglich werden können, so wichtig wie vielleicht nie zuvor. Ein solches Konzept, ein durchgearbeitetes Modell für einen Kulturendialog wird in diesem Buch vorgelegt. Es ist aber auch viel mehr: es wird auch ein Abenteuer beschrieben, in dessen Verlauf die Akteur:innen sich verändert haben. Das Schöne an diesem Buch ist, dass es hier nicht um irgendein abstraktes Know-how geht. Vielmehr kommen die Beteiligten selbst zu Wort, sie berichten sehr persönlich, was sie erlebt haben. Die Schilderungen zeigen, welche eigenen Veränderungen der Dialog anregt, bereichernde, aber durchaus auch schmerzhafte. Die Erfahrungen sind ermutigend. Sie zeigen, dass es möglich ist, sich den Veränderungen der Welt gegenüber auf konstruktive Weise aufgeschlossen zu zeigen, einfühlend zu sein, ohne dass persönliche Grenzen verschwimmen. Ein solcher Prozess wird von intensiven Gefühlen begleitet, die, wenn sie nicht nur ausgehalten, sondern auch ausgedrückt und gestaltet werden, eine persönliche Bereicherung für die Dialogpartner:innen darstellen können. Die Stelle, in der davon gesprochen wird, wie gemeinsam gelacht wird, hat mich besonders beschäftigt. Lachen scheint ein besonderer Schlüssel zur Gemeinsamkeit zu sein, neben Schmerz, Wut und Tränen.

Die zentrale Aussage dieses Buches ist, dass es möglich ist, sich zu entscheiden, also zu wählen, ob man das Fremde, die Fremden als Bedrohung der eigenen Identität ansieht oder als Einladung, eine »relationale Identität« zu entwickeln, von der hier die Rede ist. Ich finde, es ist ein hoffnungsvolles Bild, dass der Weg, wie man einen Grund findet, auf dem man gemeinsam steht, von Lachen begleitet sein kann. Lassen Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, von diesem Lachen anstecken!

Arist von Schlippe

I

Der Kontext

 

1 Kulturen im Dialog – Möglichkeiten und GrenzenCorina Ahlers und Aladin Nakshbandi

Die voranschreitende Globalisierung bringt die Aneignung von Unvertrautem und Fremdem mit sich und begünstigt damit Vielfalt im Erleben, Denken und Handeln (vgl. Yildiz, 1999). Dieser Prozess ist bereichernd, im selben Maße herausfordernd, verunsichernd und nicht leicht zu bewältigen. Im Kontakt mit dem »Fremden«1 ist niemand davor gefeit, sich rassistisch oder diskriminierend zu verhalten. Das Projekt, auf das sich dieses Buch beruft, begegnet kulturellen Differenzen vorsätzlich polyphon. In einem reflektierten Miteinander des »Miteinanderseins« (engl. withness) und »Andersseins« (engl. otherness) wird Empathie gefördert (vgl. Shotter, 2015; Ahlers, 2017a): Gemeint ist die systemische »Integration des Fremden«, als Erweiterung von Fühl-, Denk- und Handlungsmustern, also nicht nur der Sprache, sondern auch der Geschmäcker, Düfte, Melodien des Transkulturellen. Gerade weil das Fremde lockt, irritiert, fasziniert und bedroht, ist das »Aufeinander Einschwingen« wichtig.

Hätte ich, Corina Ahlers, ihn, Aladin Nakshbandi, nicht kennengelernt, wäre kein Kulturendialog zustande gekommen. Seine Wunderlampe öffnete eine Schatzkammer für mich. In ihr glitzerten bedrohlich verhüllte Körper, gleißende Wüsten, Bilder über die Wiege der Menschheit in Mesopotamien in meiner Kinderbibel, Raketenfeuer in Rakka und islamistischer Terror, 9/11 im Fernsehen und Märchen aus 1001 Nacht.

Als Architekt:innen ein und desselben Kulturendialogs haben wir beide ihn aus unterschiedlichen Perspektiven verwaltet. Motiviert wurde ich (Corina Ahlers) zu diesem Projekt durch die Flüchtlingskrise 2015, die mich »schrecklich« faszinierte. Es herrschte Krieg und er war täglich im Fernsehen zu sehen. Ich fühlte mich als Frau vom Islam bedroht. Das Eingeständnis meiner Angst erlaubte mir, mich meinen Vorurteilen zuzuwenden. Die Angst verwandelte sich in vorsichtige Neugierde. Als ich Flüchtlinge in meinem Haus aufnahm, erlebte ich das tägliche Leben mit ihnen. Ich lernte sie und mich besser kennen und ich nahm wahr, was ich mit ihnen teilen konnte und was nicht. Ich fragte mich, wie wir miteinander wachsen und Gemeinsamkeiten entdecken könnten. Meine eigenen Transformationen als Gastgeberin beschrieb ich in mittlerweile drei veröffentlichten Texten (Ahlers, 2017b; Ahlers, 2018; Ahlers, 2019). Diese Auseinandersetzung machte mich vulnerabel; das Flüchtlingsthema veränderte mich.

Motiviert wurde ich (Aladin Nakshbandi), als ich Corina Ahlers um Hilfe bat, eine PowerPoint-Präsentation auf Fehler zu überprüfen. Wir hatten ein gutes Gespräch. Ich konnte noch nicht ahnen, dass sich daraus das Projekt Kulturendialog entwickeln würde. In der Umsetzung war es dann eine Initiative zwischen der SMART Academy2, der österreichischen Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien (ÖAS)3 und dem Kompetenzzentrum FAMILIENEU4 mit einer bunten Mischung aus Ideen, Begegnungen und gemeinsamem Lernen. Mein Motiv, den Kulturendialog zu pflegen, hat allerdings eine lange Geschichte.

Gegen Ende des Jahres 2011, einige Tage bevor meine Familie und ich die Entscheidung trafen, nach Österreich, dem Ziel