Die Androidin - Weg in die Freiheit - Joel Shepherd - E-Book

Die Androidin - Weg in die Freiheit E-Book

Joel Shepherd

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Beschreibung

Die Androidin kehrt zurück: Souverän verbindet der australische Autor Joel Shepherd im dritten Roman der Cassandra-Kresnov-Serie Cyber-Thriller und Weltraumabenteuer zu einem Science-Fiction-Roman mit viel Action und einer Hauptfigur, die so schnell niemand vergisst. Auf den ersten Blick könnte man glauben, Cassandra Kresnov hätte es geschafft: Sie hat sich in ihrer neuen Heimat Tanusha eingelebt und Freunde gefunden. Sogar die öffentliche Meinung hat sich weitgehend zu ihren Gunsten verändert. Doch da entdeckte ihr Geliebter, Agent Ari Ruben, dass die Liga vor Jahren eine technologische Zeitbombe in Cassandras Hirnstamm implantiert hat. Um ihr Leben zu retten, muss sie in den Untergrund gehen. Ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt ...

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Seitenzahl: 764

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Joel Shepherd

Die Androidin - Weg in die Freiheit

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17

Für Stephanie

und ihr Vertrauen

Kapitel 1

Eigentlich hatte Sandy den Tag ganz anders geplant, aber natürlich flog ihr mal wieder alles um die Ohren. Das wurde allmählich zur Gewohnheit.

»Welche Art Sabotage?« Sie saß im Kommandosessel eines funkelnagelneuen A-9-Kampfgleiters. Am Kopf des Piloten vorbei hatte sie durch die runde Kanzel einen guten Ausblick auf Tanusha, das unter ihnen in der Sonne funkelte. Wenig überrascht lauschte sie der Antwort, die durch ihr Headset drang.

»Nein, behelligen Sie Minister Grey nicht damit, in ein paar Minuten kann ich es der Präsidentin persönlich erzählen. Verbinden Sie mich mit Kapitän Reichardt, sobald er wieder erreichbar ist.« Sie deaktivierte das Headset, schwenkte mit dem Kommandosessel herum, weg von dem Arrangement mehrerer Bildschirme, und tippte dem Piloten Gabone auf den Helm. »Was sagst du zum neuen Interface?«, fragte sie ihn.

»Mir wird immer noch ein bisschen schwindelig davon, Kommandantin.«

»Verlang nicht zu viel von dir, es dauert eine Weile, bis man sich daran gewöhnt hat. Ging selbst mir nicht anders.«

»Ich komme schon klar«, erwiderte Gabone zuversichtlich, legte lässig ein paar Schalter des kompakten Bedienpults um und lenkte den Gleiter in eine sanfte Kurve Richtung Steuerbord. »Für solche Feuerkraft ist kein Preis zu hoch.«

Sandy betrachtete den Konvoi der Präsidentin – die Fahrzeuge flogen ordentlich aufgereiht wie im Gänsemarsch vor ihnen her, darunter erstreckte sich scheinbar endlos die Stadt. In Gabones Sichtfeld, wusste sie, wurden zudem Zielmarkierungen und prognostizierte Flugbahnen eingeblendet – das hochentwickelte neue Interface des Gleiters sandte die Graphiken stark beschleunigt direkt in die Gehirne der Piloten und Waffenoffiziere. In der bis zum Platzen vollgestopften stromlinienförmigen A-9 steckte eine so präzise, schlagkräftige Waffentechnologie, dass sie binnen weniger Sekunden den gesamten Konvoi hätten erledigen können, wenn sie das gewollt hätten. Vor nur zwei Jahren hätte man eine solche Bewaffnung in Tanusha für undenkbar gehalten. Aber es waren zwei lange Jahre für die Stadt gewesen, und es war viel passiert.

Sandy wandte sich wieder ihren Bildschirmen zu. Über ihr eigenes Interface scannte sie die gewaltigen Datenströme des Info-Netzwerks der unter ihnen liegenden Metropole viel müheloser, als Gabone oder irgendein anderer Mensch es vermocht hätte. Die Muster, die sie bei ihrem Flug über Tanusha ausmachte, waren ihr vertraut – die Gleiter der Callayanischen Verteidigung flogen in weitgefächerter Defensivformation, so wie sie es immer taten, wenn die Präsidentin oder ein außenweltlicher Besucher vergleichbaren Rangs in Tanusha unterwegs war. Sie registrierte die üblichen Sicherheitsabschirmungen des Parlaments, dem sie sich näherten, und die des fernen Gordon-Raumhafens. Einige typische Brennpunkte, wo gerade Einsätze stattfanden. Einer davon weckte wegen des stark erhöhten Verkehrsaufkommens ihre Aufmerksamkeit. Ein kurzer Scan, und sie sah, dass mehrere Rettungsfahrzeuge gerufen worden waren. Die Velan-Mall, ein großes Einkaufs- und Freizeitzentrum … sie zoomte auf ihrem inneren Monitor näher heran. Im Mittelpunkt des Aufruhrs stand ein Geschäft namens Sim Craze. Die Einsatzkräfte vor Ort hatten Tak-Net eingerichtet, und sie bemerkte eine Menge privater Übertragungen, es herrschte helle Aufregung. Ganz offensichtlich hatte irgendetwas die Leute gehörig aufgeschreckt.

Sie unterdrückte das Lächeln, das auf ihre Lippen drängte, schaltete sich mit ihrer Kommandantenkennung ins Tak-Net zu und war angesichts der Einsatzleitung nicht überrascht, dass der eine oder andere dort unten einen Krankenwagen gebraucht hatte. Auf ihre Anfrage antwortete eine vertraute Stimme.

»Hi, du Klugscheißerin, ich hoffe, du bist zufrieden.« Vanessa klang ein bisschen anders als sonst, irgendwie gedämpft.

Sandy runzelte die Stirn. »Isst du gerade? Du klingst, als hättest du den Mund voll.«

»Weil meine Nase im Eimer ist.«

»Du hast was abbekommen?«

»Was, überrascht dich das etwa? Das waren gottverdammte Flottensoldaten, du dummes blondes Häschen. Die dachten gar nicht daran, einfach stillschweigend den Platz zu räumen, und wir anderen sind nicht so unzerstörbar wie du, falls es dir noch nicht aufgefallen ist …«

»Ricey, es tut mir leid.« Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen entwaffnend entschuldigenden Tonfall zu verleihen … oh, all diese kleinen Feinheiten, auf die sie in ihrem kurzen Leben als Zivilistin zu achten gelernt hatte. »Ich habe dich geschickt, weil du die Beste bist, und ich hätte nie im Leben gedacht, dass sie so ungehobelt sind und versuchen, eine süße kleine Zuckerschnute wie dich plattzumachen.«

»Tja, ihr eigener Sergeant war selbst eine süße kleine Zuckerschnute, also war nix mit Ritterlichkeit.«

»Wie ist es ausgegangen?«

»Sie kommt wieder in Ordnung, wenn sie ihr erst wieder den Kiefer an Ort und Stelle gerückt haben. Zwei der anderen brauchen wohl ein neues Bein und einer von ihnen eventuell auch einen neuen Ellbogen, der kleine Chanderpaul war ein bisschen übereifrig. Ich denke, eine Woche Simulationstraining wird sein hitziges Gemüt abkühlen.«

»Enthusiasmus ist immer gut.«

»Ja, und wir waren vier gegen sechs, da stand mir der Sinn nicht nach Sportlichkeit. So viele sollten es eigentlich laut Einsatzplanung gar nicht sein.«

»Na ja, gute Arbeit jedenfalls. Ab mit dir auf die Krankenstation, damit sie deine Nase richten.«

»Himmel, was würde ich bloß tun ohne deine weisen Ratschläge? Danke für einen komplett versauten Tag.«

»Ach, komm schon, dich juckt es doch schon seit Wochen in den Fingern, dich mal mit ein paar dieser Flottentrottel zu prügeln.«

»Wenn ich mal wieder eine platte Nase haben will, hol ich mir Nachschlag.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Sandy seufzte und fragte sich ungefähr zum zehntausendsten Mal, ob sie wohl jemals das ruhige, friedliche Leben führen würde, das sie sich einst erträumt hatte.

Der Gleiter folgte dem Konvoi der Präsidentin, unter ihnen glitten die sattgrünen Rasenflächen des Parlamentsgeländes dahin, und die Luftwagen des Teams Alpha fächerten aus, während sich der eigentliche Konvoi dem riesigen rotbraunen Gebäude mit all seinen Kuppeln näherte. In den letzten zwei Jahren war Sandy oft hier gelandet, aber trotzdem erschauerte sie immer noch unter dem Anflug schlimmer Erinnerungen. Hätte sie zum hinteren Flügel hinübergeblickt, so hätte sie dort eine Gedenkstätte gesehen, wo einst ein Parkplatz gewesen war: Unzählige bunte einheimische Blumen wuchsen rings um das zerschmetterte Wrack eines Luftwagens von Team Alpha, und in die rotbraune Gebäudewand hatte man die Namen von zweiundsiebzig Toten eingraviert. Sandy klinkte sich ins Tak-Net des Parlaments ein, das den Luftraum der näheren Umgebung im Millisekundentakt scannte, die Daten wurden auf ihrem inneren Monitor eingeblendet. Der CV-Gleiter und der Konvoi sendeten auf den bekannten Frequenzen klar und deutlich ihre Kennungen – in diesem hochsensiblen Luftraum waren ihre elektronischen Signaturen und die sorgfältige Überwachung durch Menschen vor Monitoren dort drinnen das Einzige, was sie davor bewahrte, von den strategisch platzierten Geschützen dort unten vom Himmel gepustet zu werden.

Sie löste den Gurt und die Kabel, die sie mit dem Kommandosessel verbanden, während der Gleiter hinter der Formation von Team Alpha einschwenkte. Unter ihnen kam der Dachlandeplatz des Ostflügels in Sicht; gegen die daneben aufragende zentrale Kuppel wirkte er winzig.

»Bereit«, teilte sie Gabone mit, schnallte das Headset fest und nahm ihr Gewehr aus der Halterung hinter dem Kommandantensitz. »Wartet an Treffpunkt fünf auf mich, hier oben wäre es zu auffällig.«

»Kommandantin«, ließ sich der Waffenoffizier vom vorderen Sitz im Cockpit vernehmen, »da unten auf der Landeplattform wartet ein ganzes Rudel Journalisten, das widerspricht den …«

»Ich weiß, ich habe sie gesehen. Nicht nachlässig werden, während ihr wartet, das hier ist keine Übung.«

Die Hecktüren flogen auf, Wind und Licht drangen ins beengte Innere. Sandy nahm das Gewehr und machte sich auf den Weg, schritt den Gang zwischen den leeren Plätzen für die Soldaten entlang. Als die Türen aufschwangen, konnte sie unter sich die Dachlandeplätze ausmachen, und sie sprang hinaus, während sie noch in der Luft waren, fing den Aufprall locker mit einer halben Drehung ab und verlangsamte vom Rennen zum Gehen, während Gabone hinter ihr mit aufdröhnenden Schubdüsen wieder durchstartete. Der Gleiter stieg vom Parlamentsdach auf und kurvte um die Zentralkuppel davon, unter der sich die Hauptsäle des Parlaments befanden. Mit schussbereitem Gewehr marschierte Sandy durch die abflauenden Luftverwirbelungen; nicht wenige aus Team Alpha starrten ihr entgegen, wie ihr sehr wohl bewusst war.

Sechs gepanzerte schwarze Luftwagen waren gelandet, die Flügeltüren standen offen, ringsum hatten sich bewaffnete Anzugträger positioniert. In einem abgesperrten Bereich hinter mehreren Kübeln mit Grünpflanzen drängten sich an die zwanzig Journalisten und warteten. Keine Kameras, wie Sandy feststellte, nur Diktiergeräte und Vergleichbares … neben vielen anderen Einschränkungen war auch der Gebrauch von Kameras hier im Parlamentsgebäude mittlerweile stark reglementiert.

Präsidentin Neiland, begleitet von mehreren ihrer engsten Berater und umgeben von einem Pulk Leibwachen, ging direkt auf die wartenden Presseleute zu; es war offensichtlich, dass sie etwas zu verkünden hatte. Mit einem Anflug von Verzweiflung schüttelte Sandy den Kopf und drehte sich im Gehen langsam um die eigene Achse, um das weitläufige Gelände in Augenschein zu nehmen, von den zahlreichen Flügeln bis zu den riesigen korinthischen Säulen; sie ließ ihrem Unterbewusstsein absichtlich Raum, um den Anblick auf sich wirken zu lassen und eventuelle verdächtige Hinweise zu bemerken. Nichts. Also schritt sie rasch zwischen Luftwagen und Anzugträgern hindurch auf das Gedränge am Rand des Landeplatzes zu. Niemand hielt sie auf, und sie legte der Präsidentin die Hand auf die Schulter, ehe die das Wort ergreifen konnte. »Frau Präsidentin, der Sicherheitsdienst hat vorläufig sämtliche Außenbereiche zu Risikozonen erklärt. Sie sollten jetzt wirklich hineingehen.«

»Nur ganz kurz, Sandy, es wird nicht lange dauern …«

»Nein, Frau Präsidentin. Jetzt.«

Neiland starrte sie an, in den stahlblauen Augen im blassen, anziehenden Gesicht flammte Ärger auf. Das rote Haar war mit modischen Haarnadeln und einem Kamm zurückgesteckt, bemerkte Sandy. Ganz offensichtlich hatte sie sich auf einen eindrucksvollen Auftritt vor der Presse vorbereitet, ganz gleich, ob Kameras da waren oder nicht. Aber es brauchte mehr als einen wütenden Blick und einen hochtrabenden Titel, um eine kampferprobte GI einzuschüchtern.

Neiland hatte sich rasch wieder im Griff, das Publikum war ihr allzu bewusst. Als Profi, der sie war, verwandelte sie ihre Verärgerung rasch in ein entnervtes Lächeln und verdrehte demonstrativ die Augen, so dass die Journalisten es sehen konnten. »Ist sie nicht ein Sturkopf?«

Die Journalisten lächelten. Einer von ihnen ergriff die Gelegenheit beim Schopf und fragte: »Kommandantin, worum geht es diesmal bei dem Alarm?«

»Kein Kommentar«, beschied ihm Sandy. Und verstärkte den Griff um Neilands Schulter um eine Winzigkeit. Wie fast immer, wenn Sandy das tat, verstand Neiland den Hinweis sofort.

»Setzen wir das doch drinnen fort … wenn das Ihre Zustimmung findet, Kommandantin?« Sie sagte es mit einem Lächeln, aber Sandy ließ sich davon nicht täuschen.

»Natürlich.«

Der Trupp setzte sich in Bewegung. Sandy ließ sich zurückfallen, hinter die Präsidentin und an die Seite von Mitchel, dem Leiter von Team Alpha. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihn mit einem höchst missbilligenden Blick zu mustern. Ein Stück entfernt registrierte sein Stellvertreter Tan diesen Blick und nickte ihr beifällig zu, auch er sah verärgert aus. Mitchel hingegen tat, als bemerkte er nichts.

 

»Es ist mir ganz egal, wer Sie da bei den Eiern gepackt hatte«, sagte sie später im Korridor zu Mitchel, während sie vor dem Saal warteten, in dem Neilands Berater die spontane Pressekonferenz abhielten. Ganz offensichtlich wünschte sich Mitchel weit weg, aber er stand mit dem Rücken zur Wand, Sandy versperrte ihm den Weg, und sie hatte nicht vor, ihn davonkommen zu lassen. Selbst der Leiter des persönlichen Sicherheitsdienstes der Präsidentin muss sich von der zweiten Kommandierenden der Callayanischen Verteidigungsstreitmacht eine Standpauke gefallen lassen … es sei denn, ihm stand der Sinn nach einer »Beförderung« in die Abteilung Training und Rekrutierung. Sandy bewahrte ihren erbarmungslosen Gesichtsausdruck, starrte ihm, ohne zu blinzeln, direkt in die Augen. Mitchel war keineswegs ein Schwächling, weder als Mensch noch in seiner Funktion als Sicherheitsbeauftragter, aber jetzt wirkte er doch ein bisschen nervös.

»Wenn es um die Sicherheit der Präsidentin geht«, sagte sie, »nehmen Sie von niemand anderem Anweisungen an. Ihre eigenen verdammten Vorschriften besagen, dass Sie Sperrzonen unbedingt meiden, ohne Ausnahmen. Seit wann entscheiden Sie selbst, ob eine Sperrzone gerechtfertigt ist oder nicht?«

»Es war nicht gerade ein überzeugender Bericht, Kommandantin«, erwiderte Mitchel mit derselben Sturheit, die auch aus seinen fest angespannten Kiefermuskeln und seinem stechenden Blick sprach. »Es gab nur einen einzigen Zeugen, sehr dürftige Informationen, nichts, was diesen Verdacht erhärtet hätte …«

»Sie sind kein Mitarbeiter des Nachrichtendienstes. Wir haben eine ganze Abteilung voller Spezialisten, deren Job es ist, solche Entscheidungen zu treffen. Ihr Job ist es, zu tun, was man Ihnen sagt, und die Empfehlungen des Nachrichtendienstes umzusetzen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Sie«, entgegnete Mitchel mit zusammengebissenen Zähnen, »sind nicht meine Vorgesetzte.«

»Nein, es ist noch sehr viel schlimmer. Ich bin die erste Sicherheitsberaterin der Präsidentin. Und in meinem nächsten Bericht in dieser Funktion wird es um die besorgniserregende politische Einflussnahme auf Team Alpha gehen und wie diese sich auf Beförderungen und Regelverstöße auswirkt. Sie haben von Ihren Anweisungen nicht abzuweichen, nicht fürs Parlament, nicht für die Mehrheit im Senat und auch nicht, wenn unsere rothaarige Allmächtige es persönlich wünscht. Noch einmal eine solche Extratour, und ich sorge dafür, dass Sie Ihren Job los sind. So einfach ist das.«

Sein Stellvertreter Tan stand ganz in der Nähe, hinreichend nah jedenfalls, um dank der Gehörmodifikationen, die bei Team Alpha Standard waren, jedes Wort mitzubekommen. Sandy tat, als wäre er nicht da – es wäre brandgefährlich, Team Alpha zu spalten, indem sie die beiden gegeneinander aufbrachte. Stattdessen ging sie ein Stück den Gang entlang, bis sie Raum für sich hatte, und wartete, die Waffe quer vor der Brust, auf das Ende der Pressekonferenz. Es machte ihr schwer zu schaffen, wie eng hier auf Callay die Politik mit einfach allem verwoben war. Vor allem mit den Angelegenheiten, wo sie am wenigsten zu suchen hatte.

Einer der engsten Berater der Präsidentin, Sudasarno, unterbrach sie, als sie sich gerade ins Netz einklinken wollte. »Sandy, weshalb denn überhaupt diese Sperrzone, worum ging es da eigentlich?«

Sie hob nicht einmal eine Braue, als er sie bei ihrem Spitznamen nannte – seit zwei Jahren hatte sie ständig mit der Präsidentin und ihrem persönlichen Stab zu tun, da war ein ungezwungener Umgang nur normal. Jedenfalls solange ihnen nicht gerade die Scheiße mit Turboantrieb um die Ohren flog.

»Ach, da ging es nur um so einen kleinen Raketenwerfer, der irgendwie verschwunden ist«, antwortete sie mit triefender Ironie in der Stimme. »Selbstlenkend, mehrere Kilometer Reichweite, genau das Richtige, um die Verteidigungsanlagen zu umgehen und die Präsidentin samt ihrem kleinen Rudel Lieblingsjournalisten in kleine Stücke zu zerlegen.«

»Aus unseren eigenen Beständen?«, fragte Sudasarno mit gequälter Miene.

»Sogar aus eigener Produktion.«

»Scheiße …« Seine indonesischen Züge verzerrten sich, als litte er Schmerzen; seine Krawatte war gelockert, das dunkle Haar ungewohnt durcheinander. »Wir haben mit der Produktion erst nach Gründung der CV angefangen …«

»Davor gab es auf dem Planeten auch schon haufenweise Waffen, nur waren die eingeschmuggelt … diese hier sind jetzt eben einheimisch. Kein großer Unterschied.«

»Es sieht aber nicht gut aus.«

»Das ist Ihr Problem, nicht meins«, teilte sie ihm geduldig mit. »Ich habe immer darauf hingewiesen, dass wir unsere Bestände gut sichern müssen, aber irgendwie kommt immer nur ein Teil der Empfehlungen wirklich an.«

»Wir sind von heute auf morgen zu Waffenproduzenten geworden, Sandy. Callay hat damit keinerlei Erfahrung – vor nur zwei Jahren war es uns noch untersagt, überhaupt eine eigene Streitmacht zu haben, die unabhängig von der Flotte agiert. Wir kriegen das alles noch nicht so richtig gut hin. Wer hat den Raketenwerfer gestohlen?«

Sandy schüttelte den Kopf. »Das wusste mein Informant nicht.«

Sudasarno bedachte sie mit einem müden, wissenden Blick. »Tja, nun denn, dann sagen Sie doch Ihrem Informanten, dass er besser bald ein paar Hinweise liefert, denn die Presse wird wissen wollen, weshalb Sie die Präsidentin quasi weggezerrt haben, statt sie dieses Interview geben zu lassen.«

»Weil gewisse politische Gegner ihre angeblich politisch unangreifbare Sicherheit gefährdet haben.« Sie fasste Sudasarno fest, aber freundlich ins Auge.

Er seufzte, und für einen Augenblick ging sein Blick ins Leere – er sah höchst frustriert aus. »Die Probleme hier hören einfach nie auf, oder?«

Sandy unterdrückte ein Lächeln. »Scheiße, wem sagen Sie das?«

Team Alpha setzte sich in Bewegung, die Saaltüren öffneten sich, und Neiland kam heraus, umgeben von mehreren Beratern. »Sandy«, sagte sie, »kommen Sie doch bitte mit, wenn Sie so freundlich wären.«

An der Seite der eleganten, langbeinigen Präsidentin marschierte Sandy den Korridor entlang und bestaunte nicht zum ersten Mal den großen Kontrast zwischen ihnen beiden – sie selbst war kleiner als Neiland, breitschultrig und ganz im Khakigrün der CV-Uniform. Die Absätze der Präsidentin klapperten bei jedem Schritt, Sandys Stiefel hingegen machten kaum ein Geräusch.

»Verdammt nochmal, Sandy.« Obwohl die Präsidentin leise sprach, war ihrer Stimme die Verärgerung noch immer deutlich anzuhören. »Tun Sie so etwas nie wieder in Gegenwart der Presse. Haben Sie mich verstanden?«

»Frau Präsidentin, setzen Sie nie wieder den Leiter von Team Alpha unter Druck, nur damit er Ihnen den Alltag ein bisschen bequemer macht. Haben Sie mich verstanden?«

»Zum Teufel mit dem ganzen Scheißdreck«, knurrte die Präsidentin, »ich wusste doch, dass es mich noch in den Hintern beißen wird, wenn ich Sie zur Kommandantin mache.«

Sandy zog eine Braue hoch – normalerweise beschränkte sich die Präsidentin auf etwas zahmere Flüche. Wenn sie so loslegte, stand es wirklich übel.

»Ein Raketenwerfer ist verschwunden«, erklärte Sudasarno, der auf ihrer anderen Seite ging.

Neiland seufzte. »Noch einer? Sandy, wenn das so weitergeht, dann sind diese Irren bald besser bewaffnet als Sie.«

»Unwahrscheinlich. Was war denn jetzt eigentlich so wichtig an dieser Dach-Aktion, dass es nicht auch noch ein paar Minuten Zeit hatte?«

»Sudie hat rausgefunden, dass einige meiner politischen Gegner das Info-Netzwerk im Parlament für ihre eigenen Zwecke missbrauchen.«

Die Alphas ganz vorn bogen um die Ecke. Der nächste Gang war breiter, der Fliesenboden gemustert. Gutgekleidetes Parlamentspersonal machte Platz, als sie die präsidiale Prozession kommen sahen – es war inzwischen ein gewohnter Anblick.

Sandy runzelte die Stirn. »Hören die das Netz ab?«, fragte sie mit einem Blick zu Sudasarno, der mit den Schultern zuckte.

»Sie hatten einige Informationen, von denen wir nicht wüssten, wie sie sonst in ihren Besitz gelangt sein sollten«, erklärte er. Mit sie meinte er natürlich besagte Gegner. Sie waren zu zahlreich und zu unterschiedlich, um sie zu zählen oder auch nur klar zu benennen.

Sandy dachte eine Weile darüber nach. »Frau Präsidentin, reden Sie mit mir. Ich bin nicht Ihre Feindin. Lassen Sie uns solche Angelegenheiten im Vorweg gemeinsam koordinieren, und dann organisieren wir geeignete Räumlichkeiten und halten die Sache unter Verschluss, so dass keiner vorgewarnt ist, weder Terroristen noch die Fortschrittspartei.«

Neiland seufzte, als ließe ihre Anspannung etwas nach. »Danke, Sandy. Ich hätte besser vorausdenken müssen, ich war nur einfach … ich hatte so gottverdammt viel um die Ohren. Was gibt es sonst noch für Neuigkeiten?«

»Weitere neun Leute im Krankenhaus – nach Kämpfen mit beurlaubten Flottensoldaten …«

»Verfickt nochmal«, sagte die Präsidentin erschöpft.

Fast hätte Sandy gelächelt. »Wenn die sich mal nur aufs Ficken beschränken würden«, antwortete sie, »das ist doch sonst der liebste Zeitvertreib von Soldaten auf Urlaub. Aber offenbar macht denen der Pöbel das Leben gerade ziemlich schwer.«

»Na, verdammt, was erwarten die denn? Immerhin droht gerade eine abtrünnige Bande verschissener Flottenheinis damit, unsere Stationen zu blockieren.«

»Wir hätten Urlaubssperre erteilen sollen«, sagte Sudasarno.

»Hätte nur für noch mehr Ärger gesorgt«, antwortete Sandy. »Und Ärger mit der Flotte haben wir wirklich mehr als genug. Die gute Nachricht ist, dass fünf der Leute im Krankenhaus zur Flotte gehören – einen davon hat ein sehr wütender Bürger niedergeschlagen, der den schwarzen Gürtel in Kung-Fu besitzt, und die vier anderen verdanken ihren Zustand Majorin Rice und einigen ihrer Freunde.«

»Weshalb überrascht mich das nicht?«, sagte Neiland. »Sonst noch was?«

»Jemand hat die Mekong sabotiert, sie konnten die Schubdüsen nicht mehr starten.«

Neiland blieb abrupt stehen, und das gesamte Team Alpha tat es ihr gleich, ebenso wie Sandy, Sudasarno und die anderen Berater. Die Präsidentin starrte die CV-Kommandantin an. Lange. »Ernsthaft?«

Sandy legte den Kopf schief – was war das denn für eine Frage?

Neiland atmete tief durch. »Verdammt. Das wird Kapitän Reichardt gar nicht gefallen.«

»Das wird einer ganzen Menge Flottenkapitäne nicht gefallen, die seine Ansichten teilen.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt«, murmelte die Präsidentin. »Ein verschissener Bürgerkrieg da oben im Orbit, bei dem sich zwei Fraktionen der Flotte gegenseitig die Köpfe einschlagen.«

»Frau Präsidentin, so viele unflätige Flüche hab ich aus Ihrem Mund noch nie gehört.«

»Ach, schieben Sie sich das in den Hintern.«

 

Der Prunk des großen Kongresssaals verfehlte noch immer nicht seine Wirkung auf Sandy. Wie üblich saß sie auf ihrem Platz in der Mitte der Bank und betrachtete die inzwischen vertrauten Gesichter, die aus den zwei gegenüberliegenden Bankreihen auf sie herabblickten – Kongressmitglieder aus der Fortschritts- und der Unionspartei. Zu ihrer Rechten saß, wie ebenfalls üblich, Mahudmita Rafasan, wie immer im eleganten Sari, und arbeitete sich mit rasender Geschwindigkeit durch diverse Unterlagen auf ihrem Datenpad. Hinter ihr hatten Hunderte von Zuschauern Platz genommen, das Stimmengemurmel hallte von den hohen Wänden wider bis hinauf zur Kuppel, die den Saal überspannte. Kronleuchter spendeten Licht in dem Saal, der architektonisch an eine Moschee erinnerte, und die Muster der Fliesen oben in der Kuppel und die Bögen auf halber Höhe boten einen prachtvollen Anblick.

Der Vorsitzende Khaled Hassan läutete die kleine Glocke, die vor ihm auf dem Tisch stand, und erklärte die Sitzung für eröffnet. Kaum hatte er die Klingel wieder abgestellt, ergriff Kongressmitglied Augustino von der Unionspartei das Wort.

»Kommandantin Kresnov, ich würde sagen, Ihre mitgeführte Waffe ist ein Verstoß gegen die Saalordnung – Sektion 142, glaube ich –, der zufolge in diesem Saal ausschließlich autorisiertem Sicherheitspersonal das Mitführen von Waffen gestattet ist.«

Sandy beugte sich zu ihrem auf dem Tisch montierten Mikrophon vor, damit ihre Stimme über die Lautsprecher im gesamten Saal zu hören war. »Ich bin die zweite Kommandantin der Callayanischen Verteidigungsstreitmacht, Herr Augustino. Wie viel autorisierter hätten Sie es denn gern?«

Im Publikum hinter ihr stieg Gelächter auf, und mehrere andere Kongressmitglieder grinsten. Sandys Sturmgewehr lag offen sichtbar zu ihrer Linken auf dem Schreibtisch – exakt dort, wo es ihrer Meinung nach hingehörte. Aber Augustino ging es auch nicht wirklich um die Saalordnung, das war ihr völlig klar. Er hatte größere Beute ins Auge gefasst. Beute in Sandy-Größe.

»Herr Vorsitzender«, wandte sich der konservative Augustino jetzt an Hassan, »ich möchte hiermit meine Beschwerde über diesen wiederholten Regelverstoß der Kommandantin zu Protokoll geben. Bisher hat sie es bei keinem ihrer Auftritte hier im Anhörungssaal versäumt, ihre Missachtung des Kongresses zum Ausdruck zu bringen. Ihr heutiges Verhalten ist nur ein weiteres unmissverständliches Beispiel.«

Khaled Hassan strich sich mit besorgter Miene über den weißen Bart und forderte Sandy mit einem geduldigen Blick auf zu antworten.

Sandy lächelte ihm zu. Sie mochte Hassan. Sympathie war ein Luxus, den sie sich Politikern gegenüber nicht oft erlaubte. »Herr Vorsitzender, ich bin ein vielbeschäftigtes Mädchen, ich versuche gleich mehreren offiziellen Funktionen auf einmal gerecht zu werden. Allem voran diesem noch nie dagewesenen Experiment, die sogenannte Callayanische Verteidigungsstreitmacht aus dem Boden zu stampfen, gegen das es aus gewissen Kreisen erheblichen Widerstand gibt. Zudem übernehme ich ab und an Aufgaben des Sicherheitsdienstes, so wie heute: Als klar wurde, dass die Präsidentin und ich etwa zur gleichen Zeit eintreffen werden, habe ich angesichts einiger Warnmeldungen beschlossen, selbst die übliche CV-Eskorte zu übernehmen. Deshalb die Waffe – ich bin heute in doppelter Funktion hier. Machen Sie sich keine Sorgen – sie ist gesichert, und ich bin recht geübt im Umgang damit.«

Das brachte ihr einen weiteren Lacher im Publikum ein. Eigentlich reagierte man am besten gelassen und professionell, wenn ein politischer Gegner einen derart in aller Öffentlichkeit anging, so dass die Unprofessionalität des Angreifers auf ihn selbst zurückfiel. In ihrem Fall allerdings hatten mehrere PR-Berater von einem allzu professionellen Auftreten dringend abgeraten. Wenn es um eine für den Krieg entwickelte GI ging, dann jagte laut Umfragen vor allem das Bild einer ausdruckslosen, gefühllosen Killermaschine in Menschengestalt den Leuten Angst ein. Lächeln, hatte man ihr gesagt. Spontan sein. Locker, wann immer es geht. Oh, aber dabei natürlich der Bevölkerung gleichzeitig vermitteln, dass niemand besser für Ihre Aufgaben geeignet wäre als Sie. Diese beiden Ansprüche hätten nicht gegensätzlicher sein können – sie konnte ja wohl schlecht heiter und warmherzig ihre Kompetenz dafür demonstrieren, die tödlichste Streitmacht dieses Planeten zu leiten. Aber wie immer in politisch unlösbaren Situationen gab sie trotzdem ihr Bestes … sie hatte ja keine andere Wahl.

»Ehe wir uns Verfahrensfragen rund um die CV zuwenden, Kommandantin«, begann Kongressmitglied Selvadurai, ebenfalls aus der Unionspartei, »würde ich gern Ihre Stellungnahme zu den gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Mitgliedern der Föderationsflotte und Bürgern von Tanusha hören. Halten Sie es für möglich, dass Ihre aufwieglerischen Bemerkungen über die Anwesenheit der Flotte hier auf Callay irgendetwas damit zu tun haben könnten, dass die Sache derart ausgeartet ist?«

Ruhig und ohne zu blinzeln fasste Sandy ihn ins Auge. »Und welche aufwieglerischen Bemerkungen sollten das wohl sein, Kongressmitglied Selvadurai?«

»Ihre Behauptung beispielsweise, bei der Anwesenheit der Flotte im Orbit von Callay handle es sich de facto um eine Blockade, die zum Zweck habe, Callay und andere Mitgliedswelten der Föderation einzuschüchtern, damit sie Zugeständnisse an die Forderungen der Flotten-Hardliner machen.«

»Ich habe gesagt, dass es sich de facto um eine Blockade handelt«, antwortete Sandy, »womit ich aufgegriffen habe, was vor mir bereits viele andere hier am Parlament und anderswo sagten, einschließlich meiner eigenen Präsidentin. Wenn Sie nachsehen, was genau ich sagte, dann werden Sie feststellen, dass ich über den Zweck dieser Blockade nicht weiter spekuliert habe. Das ist nicht meine Aufgabe.«

»Aber halten Sie es wirklich für angebracht, feindselige Gefühle gegen die Flotte zu schüren, indem Sie die Handlungen der Flotte derart verzerrt darstellen?«

Neben Sandy gab Mahudmita Rafasan ein verärgertes Schnaufen von sich. Sandy ergriff rasch das Wort, ehe es hässlich wurde. »Sehen Sie, Kongressmitglied Selvadurai, uns ist sicher allen klar, dass wir es in unserem Orbit mit einer schwierigen Situation zu tun haben. Es ist nicht meine Absicht, weder hier und heute noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, die Situation durch irgendwelche Bemerkungen weiter anzuheizen oder die Lage noch brenzliger zu machen. Aber es ist doch offensichtlich, dass die Gegenwart hochrangiger Angehöriger der Fünften Flotte an mehreren unserer Orbitalstationen nicht gerade hilfreich ist, um es mal freundlich auszudrücken, im schlimmsten Fall sogar provokativ. Dieses Vorgehen der Fünften ist weder durch Föderationsrecht noch durch irgendein flottenübliches Prozedere zu rechtfertigen, soweit meine Kenntnis reicht …«

»Kommandantin«, unterbrach Selvadurai, »Flottenadmiral Duong von der Fünften hat bereits mehrfach betont, dass sich Callay in diesen Zeiten des politischen Umbruchs in einer äußerst prekären Sicherheitslage befindet. Momentan hält sich ein Viertel der gesamten Föderations-Führungsriege hier bei uns auf, um mit Präsidentin Neiland und Generalsekretär Benale von der Erde zu verhandeln und die neuen Regeln und Abläufe für den Großen Rat festzulegen, der bereits in nur einem Jahr auf unseren Planeten übersiedeln soll. Wir haben es sowohl mit einheimischen als auch außenweltlichen Extremisten und anderen Gruppierungen zu tun, und unsere Welt steht im Zentrum ihrer jeweiligen Anstrengungen. Unsere Sicherheitsstandards haben sich verbessert, sind aber noch immer bestenfalls mangelhaft, und es ist höchst besorgniserregend, dass diese unterschiedlichen destabilisierenden Elemente Zugang zu einem solchen Grad an Bewaffnung und hochentwickelter Netzwerktechnologie haben. Liegt Flottenadmiral Duong da nicht vollkommen richtig, wenn er sagt, dass Callays Sicherheit auf dem Spiel steht und wir Hilfe brauchen?«

»Kongressmitglied Selvadurai, in meiner Funktion als stellvertretende Leiterin der CV habe ich bereits mehrfach betont, dass wir jede echte Hilfe annehmen, die wir bekommen können. Es gab viele Hilfsangebote von verbündeten Welten, die uns auch beim Referendum unterstützt haben und entschiedene Verfechter des Standortwechsels sind, und ihre Hilfe haben wir mit großer Freude angenommen. Unsere Bodensicherheit weiten wir ständig aus, die Parlamentssicherheit und andere hiesige Sicherheitsdienste haben sich ganz bemerkenswert weiterentwickelt und sind mit dem, was wir vor zwei Jahren hatten, kaum mehr zu vergleichen, und die CV sorgt für die notwendige Schlagkraft, falls wir uns einmal mit schwererer Bewaffnung konfrontiert sehen, als es Polizei, der Callayanische Sicherheitsdienst oder andere Einrichtungen handhaben können. Wir sind aktuell nicht in Gefahr, aus dem Orbit mit Kriegsschiffen angegriffen zu werden. Falls doch, dann würde ich erstens die Flotte dringend darum bitten, uns unverzüglich darüber zu informieren, damit wir Gegenmaßnahmen ergreifen können, und zweitens würde ich in diesem Fall zu bedenken geben, dass sie uns als Verteidigung gegen diesen mutmaßlichen Angriff erheblich mehr nützen würden, wenn sie sich irgendwo weiter draußen im System positionieren, so wie es in solchen Fällen üblich ist. Mit Sicherheit wären sie uns keine große Hilfe gegen einen Angriff, solange sie sich an unsere Raumstationen kuscheln, die Nase fest im Dock verankert.«

»Kommandantin«, mischte sich Kongressmitglied Augustino ein, »wir sind ernsthaft in Gefahr, von militanten Aktivisten, Terroristen, Agenten oder hochentwickelten Waffen überrollt zu werden, die entweder aus der Föderation oder auch von weiter her stammen könnten …« Genau, dachte Sandy, bloß nie eine Chance verpassen, das Schreckgespenst Liga zu erwähnen. »… halten Sie es da etwa nicht für eine gute Idee, wenn der Zoll und unser überarbeitetes Personal auf den Stationen dort draußen etwas Hilfe dabei bekommen, diesen Ansturm zu filtern?«

Sandy unterdrückte ein entnervtes Lächeln. »Sir, die Flotte besteht aus Soldaten. Verdammt gute, aber nichtsdestotrotz eben Soldaten. Sie jagen Dinge in die Luft. Oder sie bewachen irgendetwas, um andere davon abzuhalten, es in die Luft zu jagen. Es handelt sich bei ihnen weder um Zollbeamte noch um Ermittler, sie haben keinen Zugriff auf die Akten gesuchter Personen, wenig Erfahrung in der Bekämpfung von Schmugglern, und sie wüssten mit solchen Informationen auch nichts anzufangen. Wir haben dort oben Profis vor Ort, die für ihre Arbeit bestens ausgebildet und ausgerüstet sind.

Der einzige relative Schwachpunkt Callays ist die generelle Sicherheit, insbesondere im militärischen oder paramilitärischen Bereich, auch wenn wir hier sehr rasche Fortschritte erzielen. Eine erhebliche Stärke Callays ist hingegen der Handel. Und der Zoll, den Sie gerade erwähnten, ist dessen Angelegenheit. Es gibt schon seit langer Zeit Handelsbeschränkungen für gewisse Waren, nicht nur aus Gründen der Sicherheit, sondern aufgrund des Handelsrechts und allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen. Unser Handelssystem funktioniert ausgezeichnet, und mit den veränderten Bedingungen, die zu noch strikteren Einfuhr- und Einreisebestimmungen für bestimmte Waren und Personen geführt haben, kommt es hervorragend zurecht. Das alles ist eine Arbeit für Zivilisten in Overalls oder Anzug und Krawatte. Es ist keine, und das betone ich ausdrücklich, es ist keine Arbeit für bewaffnete Soldaten in Kampfanzügen. Ich war selbst Soldatin und bin es in vielerlei Hinsicht noch immer. Ich erinnere mich gut daran, dass ich nur weniges so irritierend fand wie die Augenblicke, da meine Leute und ich für zivile Aufgaben herangezogen wurden, für die wir weder ausgebildet noch ausgerüstet waren. Nicht nur, dass es uns gegenüber unfair war, ich fand es auch denjenigen gegenüber unfair, denen wir zu Diensten sein sollten.

Wir haben die Flotte nicht um Hilfe gebeten, und wir brauchen sie nicht. Tatsächlich habe ich bisher noch keine befriedigende Antwort auf meine Frage erhalten, wer genau es eigentlich war, der die Flotte hergeschickt hat. Und noch schwieriger ist es, zu erfahren, weshalb auch einige Schiffe der Dritten Flotte hier sind, derzeit unter dem Kommando von Kapitän Reichardt auf dem Kriegsschiff Mekong – sie beteiligen sich nicht an den Maßnahmen der Fünften Flotte, und offenbar ist Admiral Duong ihnen gegenüber auch nicht weisungsbefugt. Uns allen ist klar, dass in der Flotte Uneinigkeit herrscht, was die Umsiedlung der föderalen Regierung betrifft. Aus meiner Perspektive als stellvertretende Leiterin der CV bedeutet eine solche Spaltung für uns hier keine größere Sicherheit, sondern bringt im Gegenteil ein erhöhtes Risiko mit sich. Ich persönlich würde es begrüßen, wenn die Flotte ihre privaten Unstimmigkeiten irgendwo anders klären würde, weit weg von Callay, und uns in Ruhe unsere Arbeit machen ließe.«

Mahudmita Rafasan warf ihr einen ziemlich erstaunten und besorgten Blick zu. Den gleichen Blick, mit dem sie sie schon öfter bedacht hatte, wenn die frisch ins Amt berufene CV-Kommandantin ihre offiziellen Befugnisse überschritt und unhöflich wurde. Zum Teufel damit, dachte Sandy, sie stieß ja nur eine eher kleine Fraktion vor den Kopf, wenn sie solche Gedanken laut aussprach. Allerdings gehörte zu dieser Fraktion auch die Präsidentin … das war dann doch ein Problem. Aber möglichst keine Wellen zu machen gehörte nun mal zum Job von Präsidenten. Sandy war mit ihrer Ansicht nicht allein – es gab noch einige andere, die die widerstrebende Präsidentin dazu aufforderten, Admiral Duong und seine Hardliner-Kapitäne über die Rechtslage in Kenntnis zu setzen. Und sie hatten das Gesetz der Föderation auf ihrer Seite, was auch immer die zunehmend isolierte und entfremdete Mehrheit auf der Erde davon halten mochte …

»Kommandantin Kresnov«, sagte Augustino wütend. »Die große Föderationsflotte ist eine viel zu verdienstvolle und ehrwürdige Institution, als dass sie so einfach gespalten werden könnte, wie Sie und einige Panikmacher anzudeuten belieben! Der Sieg gegen die Liga ist einzig den heldenhaften Opfern zu verdanken, die Männer und Frauen der Flotte für uns alle gebracht haben. Nur ihretwegen blieben uns uferloser Tech-Liberalismus, politische Spaltung und Auflösung erspart! Ich für meinen Teil halte es weder für richtig noch für angebracht, wenn jemand wie Sie, der ein öffentliches Amt bekleidet, diese Leistungen schmälert oder Ehre und Einigkeit der Flotte in Zweifel zieht!«

Das Problem war nur, führte Sandy ihren Gedanken weiter, dass die freimütigsten Konservativen unter Callays Politikern, so wie Selvadurai oder Augustino, sämtlich der Unionspartei der Präsidentin angehörten. Sie lärmten herum, weil sie es sich leisten konnten. Die Flotte zu preisen war, wie Vanessa neulich angemerkt hatte, ein Selbstläufer – man lobte sie in den Himmel, alle nickten und applaudierten, und die Gegenseite konnte nicht wirklich dagegen argumentieren. Welcher Politiker würde denn etwas gegen die Verdienste der Flotte sagen und ernsthaft erwarten, danach noch eine Wahl zu gewinnen? Bis vor kurzem war die Flotte hier in Callay so eine Art heilige Kuh gewesen. Sandy bezähmte nur mühsam ihr Lächeln beim Gedanken daran, was ihr Lieblings-Medienstar Rami Rahim erst gestern Abend darüber gesagt hatte – dass die Flotte inzwischen eher einer heiligen Ziege ähnelte. Und zwar einem räudigen Exemplar, hinkend, verlaust und von üblen Flatulenzen geplagt. Wenn es so weiterging, hätten sie es in Bälde gar mit einer heiligen Ratte zu tun. Oder einem dieser kleinen geflügelten Insekten, die einem bei abendlichen Sommerpartys so gern in den Ausschnitt krochen und zubissen …

»Verehrte Kongressmitglieder«, sagte sie in der bedächtigen Sprechweise, die sie vor allem Leuten gegenüber an den Tag legte, vor denen sie wenig Respekt empfand, »da es meine Aufgabe ist, Sie über die aktuelle Sicherheitslage zu informieren, soweit es die CV betrifft, scheint mir dies ein guter Zeitpunkt, um meine Zuständigkeiten ein wenig zu überschreiten und Sie über die neuesten Entwicklungen im Orbit in Kenntnis zu setzen. Offensichtlich wurde das Kriegsschiff Mekong unter dem Kommando von Kapitän Reichardt von der Dritten Flotte sabotiert.«

Totenstille auf den Bänken. Vielbeschäftigten Politikern kamen solche Informationen normalerweise nicht zu Ohren … mit Sicherheit hörten sie gerade zum ersten Mal davon. Durch das Publikum hinter der mit Schnitzereien verzierten Abtrennung ging ein Raunen, Unruhe machte sich breit. Insbesondere aus der Ecke, die der Presse vorbehalten war.

»Es ist am Dock passiert«, fuhr Sandy fort, »und ich habe es selbst erst vor einer halben Stunde erfahren. Ich persönlich war nie Teil einer Schiffscrew, in meiner Zeit als Soldatin waren Schiffe für mich immer nur Transportmittel, also halte ich mich nicht für eine Expertin, aber nach allem, was ich weiß, braucht es für einen solchen Sabotageakt jemanden, der sich gut auskennt.«

»Gezielte Sabotage?«, fragte Kongressmitglied Zhou und beugte sich mit besorgter Miene vor. Sie gehörte zum rechten Flügel der Unionspartei und somit zu Neilands engsten Verbündeten.

Sandy nickte.

»Mit welchem Ziel?«

»Die Triebwerke zu beschädigen – vermutlich, um die Mekong zu einem längeren Wartungsaufenthalt am Dock zu zwingen. Es hätte sie für mehrere Wochen aus dem Spiel nehmen können … glücklicherweise haben die Ingenieure der Mekong das Problem beim letzten Systemcheck entdeckt und konnten ernsteren Schaden verhindern. Bedenkt man den Sicherheitsstandard an Bord von Kriegsschiffen, ob zu Kriegs- oder Friedenszeiten, erscheint es unwahrscheinlich, dass die Sabotage von jemandem durchgeführt wurde, der nicht zur Crew gehört. Insbesondere in Anbetracht der dafür notwendigen Kenntnisse.

Meine Aufgabe in der CV ist es, die Sicherheit Callays zu gewährleisten. Das wird jedoch erheblich erschwert, wenn an unseren Stationen im Orbit lauter Kriegsschiffe der Flotte liegen und sich die zwei verfeindeten Fraktionen gegenseitig bekriegen, mitten in dieser politischen Pattsituation, in der keine klare Befehlskette mehr existiert. Besonders beunruhigend ist die Situation, wenn man sich das momentane Chaos im Großen Rat vor Augen führt. Derzeit scheint es keine zivile Instanz zu geben, die die Flotte im Griff hat und ihre Aktionen koordiniert. Das Flottenoberkommando handelt ganz nach eigenem Ermessen, nur dass es offenbar in zwei Lager gespalten ist.

Außerdem: Seit vor drei Jahren der große Rat nach Kriegsende damit begonnen hat, die Flotte zu verkleinern, gibt es dort deutliche Hinweise auf politische Machenschaften – insbesondere in der Fünften. Wenn in anderen Einheiten Schiffe stillgelegt wurden, hat man die Mannschaften auseinandergerissen, und die größten Pro-Erde-Hardliner-Offiziere sind in die Fünfte versetzt worden, haben altgediente Offiziere ersetzt, die nach all der Zeit endlich wieder nach Hause wollten. Sowohl die Flotte als auch der Große Rat sind deswegen schon mehrfach gewarnt worden, aber es wurde nichts dagegen unternommen. Und jetzt haben wir hier beurlaubte Soldaten von der Fünften Flotte in Tanusha, die offenbar mehr an Streit als an Spaß und Erholung interessiert sind.

Meine Damen und Herren … ich gehöre zur CV. Ich habe große Knarren und professionelle Soldaten unter meinem Kommando. Zivile Unruhen fallen nicht in meine Zuständigkeit. Ich kann nicht verhindern, dass sie sich zu größeren politischen Unruhen auswachsen, die beide Seiten weiter gegeneinander aufbringen und die ohnehin schwierigen Verhandlungen noch heikler machen. Das sind politische Probleme. Ihre Probleme. Ich kann hier und heute nur vor Ihnen sitzen und darum bitten, die steigende Bedrohung zu erkennen, die die Kombination all dieser Faktoren für unsere Sicherheitslage bedeutet.«

 

Zehn Minuten später betrat Sandy das Vorzimmer von Senator Lautrecs Büro – man hatte sie eingeladen. Sofort bemerkte sie den Mann, der links neben der Bürotür in einem eleganten Ledersessel saß. Er lächelte ihr zu und erhob sich, eine Hand zur Begrüßung ausgestreckt, in dem attraktiven dunklen Gesicht blitzten perfekte weiße Zähne auf.

»Kommandantin.« Seine Stimme war tief, kultiviert und auffallend selbstsicher.

Sandy ging zu ihm, ergriff die ausgestreckte Hand und musterte Major Mustafa Ramoja argwöhnisch von Kopf bis Fuß. Er sah gut aus in seinem Anzug. Allerdings hatte sie schon oft gedacht, dass attraktive afrikanische Männer und Frauen in allen Klamotten gut aussahen – keine andere Ethnie war in diesem Punkt derart gesegnet. Nicht, dass Ramoja, der wie sie selbst ein GI war, wirklich irgendeiner Ethnie angehörte, nicht mehr oder weniger als sie selbst wirklich die hellhäutige Europäerin war, die sie zu sein schien.

»Nette Rede«, fuhr er fort. »Wie lange wird es wohl dauern, bis Krishnaswali dich dafür ins Gebet nimmt?«

»Er wird loslegen, sobald ich durch die Tür trete«, antwortete Sandy, immer noch wachsam. »Sie haben dich aus dem Käfig gelassen. Warum?«

Ramoja grinste nur, er war ihre Sticheleien gewohnt. »Der Vizebotschafter ist dort drinnen. Leitenden Mitarbeitern der Botschaft ist es mittlerweile gestattet, GIs als Leibwächter mitzunehmen. Ich habe mich natürlich freiwillig gemeldet.«

»Natürlich. Ich bin sicher, all deine Fans beim CSD haben diese Neuigkeit begeistert aufgenommen.«

Sein Grinsen wurde breiter, und er deutete mit einem Nicken quer durch den Raum. Dort drüben saßen ein Mann und eine Frau und blickten betont unauffällig auf ihre tragbaren Bildschirme. Aber darauf würde niemand hereinfallen: Sie wirkten äußerst gepflegt, ihre Bewegungen strahlten sportliche Lässigkeit aus, und laut Sandys Uplinks waren sie mit einem massiv verschlüsselten Netzwerk verbunden.

»Ich nenne sie Nummer eins und Nummer zwei«, sagte Ramoja selbstgefällig. »Natürlich sind es immer andere. Keine Sorge, ich tue ihnen nichts. Sie benehmen sich ganz mustergültig.« Die beiden CSD-Agenten verstanden sicher jedes Wort, verzogen aber keine Miene.

Es hatte Sandy fast umgehauen, als sie vor gerade mal zwei Jahren von Ramojas Existenz erfahren hatte. Ein GI mit einer höheren Kennung als ihrer eigenen. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht gewusst, dass es solche GIs überhaupt gab … auch wenn das im Rückblick wohl reichlich naiv gewesen war. Die Interne Sicherheitsorganisation der Liga, kurz ISO, hatte ihn Sandy nachempfunden, ihn nach ihrem etwas umstrittenen, aber erfolgreichen Vorbild anfertigen lassen … nun, jedenfalls war sie ein Erfolg gewesen, ehe sie desertierte. Und jetzt war er die Speerspitze der ISO hier auf Callay, normalerweise in der bestens bewachten und gesicherten Liga-Botschaft in der Innenstadt Tanushas untergebracht, aber derzeit auf Ausgang. Eine Enklave voller höchst funktionstüchtiger GIs mitten im Herzen der Stadt entzückte keine der hiesigen Behörden sonderlich. Und in diesem speziellen Fall von Anti-GI-Xenophobie war Sandy ganz ihrer Meinung.

»Darf ich fragen, was du mit Senator Lautrec zu besprechen hast?«, erkundigte sich Ramoja mit charmantem Lächeln.

»Darfst du«, sagte Sandy.

»Schon wieder Probleme mit dem Waffenhandel?«

»Ach wo, wir haben eine Affäre«, entgegnete Sandy trocken.

»Er ist einhundertdrei.«

»Sieht keinen Tag älter aus als fünfundsiebzig. Seine Falten sind mir richtig ans Herz gewachsen.«

»Die sind auch noch das Beste an ihm.«

»Und welchen Grund mag wohl der Besuch des Vizebotschafters haben?«, gab Sandy die Frage zurück.

Ramoja winkte vage ab. »Botschafter der Liga sind momentan sehr populär, man reicht sie von einem zum anderen.«

»So wie Herpes.«

»Ein verblüffend widerstandsfähiger Virus.« Undenkbar, dass Ramoja je um eine Antwort verlegen wäre. »Die heutigen Stämme würden einen Menschen aus vortechnologischen Zeiten im Handumdrehen umbringen, soweit ich weiß, so resistent sind sie geworden nach all unseren Versuchen, sie loszuwerden.«

Sandy zog eine Grimasse. »Sie verfügen über eine der erfolgreichsten Verbreitungsstrategien in der gesamten bekannten Galaxis. Geschlechtskrankheiten waren schon immer am schwersten auszurotten. Sie verbreiten sich so schnell.«

Ramojas Blick zuckte zu den Bürotüren hinüber. »Zum Beispiel auf antiken Senatorenschreibtischen, möchte ich meinen.«

»Auf dem afghanischen Teppich, um genau zu sein. Besser für seinen Rücken.«

Ramoja grinste breit. In letzter Zeit lächelte oder grinste er häufig, jedenfalls wenn man sein sonst eher förmliches Auftreten bedachte. Soweit Sandy wusste, war er hier auf Tanusha zum ersten Mal in nichtmilitärischem Umfeld stationiert, und das schien sogar bei ihm seine Wirkung zu entfalten.

Aus dem Büro des Senators drangen Stimmen, jemand drehte den Türknauf – ein Assistent kam heraus, hinter ihm wurde das Gespräch fortgesetzt. Sandy bedachte den Major mit einem strahlenden Lächeln. »War wie immer sehr interessant, dich zu treffen. Bis zum nächsten Mal.«

»Cassandra«, hielt Ramoja sie auf, ehe sie durch die Tür verschwinden konnte. Misstrauisch sah sie ihn an. »Ich hätte da eine Bitte.«

»Und zwar?«

Er wirkte ein bisschen gequält. Oder nachdenklich, das war bei ihm oft schwer auseinanderzuhalten. »Es geht um einen persönlichen Gefallen«, sagte er. »Meinst du, du könntest vielleicht in Zukunft davon absehen, Rhian über die Vorhaben der Botschaft auszufragen?«

Jetzt war es an Sandy zu lächeln. »Okay. Ich werde mich auf Fragen zur Sicherheitslage der Botschaft beschränken.«

»Es war sehr großzügig von Botschafter Yao und den zuständigen Behörden auf Ryssa, zu gestatten, dass Rhian bei dir wohnt.« Er sagte es in einem ernsthaften, bedächtigen Tonfall. Als hielte er die bloße Idee, jemand könne einer so vernünftigen Anmerkung widersprechen, für vollkommen undenkbar. »Ich habe begriffen, dass ihr beide eine besondere Beziehung habt. Und ich weiß, dass ihre Loyalität … nun, dass sie in Loyalitätskonflikte gerät. Niemand nimmt ihr das übel. Aber bitte versuch, ihre Lage nicht noch schwieriger zu machen, als sie es ohnehin schon ist.«

»Rhian befindet sich nicht in einer schwierigen Lage«, erklärte ihm Sandy. Inzwischen waren mehrere Berater des Vizebotschafters aus dem Büro des Senators gekommen und warteten auf ihren Chef. »Es geht ihr großartig. Ich habe sie noch nie zuvor so glücklich und lebendig gesehen. Und ihre sozialen Fähigkeiten haben sich so gewaltig weiterentwickelt, dass ich aus dem Staunen nicht mehr herauskomme. Ich freue mich so sehr darüber – ich habe ganz sicher nicht die Absicht, ihr das Leben schwerzumachen.«

Ramoja zog die Augenbrauen hoch und rieb sich nachdenklich über das säuberlich glattrasierte Kinn. »Ich muss zugeben, sie entwickelt sich zu einer ganz bemerkenswerten jungen Frau. Und wir alle sind dir sehr dankbar für das, was du ihr ermöglichst, und freuen uns für sie, dass sie so über sich hinauswächst. Aber sie hat klare Anweisungen, Bericht zu erstatten, wenn du ihr gewisse Fragen stellst …«

»Ja, das hat sie mir gesagt«, antwortete Sandy ohne Umschweife.

Ramoja nickte. »Dann verstehen wir einander ja. Es wäre wirklich außerordentlich bedauerlich, wenn gewisse Behörden nervös werden und über meinen Kopf hinweg entscheiden, dass die momentane Vereinbarung nicht länger tragbar ist.«

Jetzt kam auch der Vizebotschafter heraus. Ramoja bedachte Sandy mit seinem wirklich umwerfenden Lächeln. »Es war mir ein Vergnügen, Kommandantin. Wir sehen uns.«

Und weg war er, sicherte den Weg für den wichtigen Mann, dessen Leben ihm anvertraut worden war. Sandy wartete an der Bürotür, bis der Vizebotschafter mitsamt seinen Beratern hinausging, dicht gefolgt von den beiden CSD-Beamten, die mit Sicherheit gerade aufgebracht andere Agenten draußen im Gang benachrichtigten. Auf gar keinen Fall war Ramoja nur als Leibwächter hier, dachte Sandy finster. Das war nur ein Vorwand, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen, sich im Dunstkreis der Machthaber zu bewegen. Wie sie selbst war auch Ramoja kein gewöhnlicher GI. Was genau das für ihre alte Freundin Rhian Chu bedeutete … da war sie sich noch unschlüssig.

Sie trat ins Büro und schloss die Tür hinter sich. Der grauhaarige Senator Lautrec stand hinter seinem Schreibtisch, die Wände ringsum mit Büchern und Flaggen dekoriert, und sah ihr mit herzlichem Lächeln entgegen. »Cassandra! Kommen Sie herein, kommen Sie herein. Und wie geht es Ihnen heute?«

Sandy atmete aus – ihr war bis eben gar nicht bewusst gewesen, dass sie die Luft angehalten hatte. »Als hätte ich gerade fünf Runden Boxkampf mit einem mordlüsternen Laserskalpell hinter mir.«

Kapitel 2

»Es wird immer schlimmer mit ihm«, brummte Vanessa, während sie nebeneinander den überdachten Gehweg entlangliefen, der den CSD-Komplex mit dem flachen, rechteckigen Gebäude verband, das einmal die sogenannte SWAT-Hundehütte gewesen war und jetzt das Hauptquartier der Callayanischen Verteidigung beherbergte. Ein Stück dahinter ragte der neue Hangar mit seinen vielen höhlenartigen Landebuchten empor, der auf einen weitläufigen Hof hinaussah, vollgeparkt mit militärischen Gleitern. Der Platz reichte bei weitem nicht aus, aber die neue CV-Anlage am Stadtrand war noch im Bau, und so mussten sie sich vorerst mit dem begnügen, was nach hastigen Umbaumaßnahmen und der Errichtung zusätzlicher Gebäudeflügel eben zur Verfügung stand.

»Ohne ihn wären wir aufgeschmissen«, antwortete Sandy. General Krishnaswali hatte sie sich gerade gründlich vorgeknöpft und wieder ausgespuckt, unter besonderer Würdigung von Sandys Auftritt am Parlament. Er war, das hatte er ganz klar herausgestellt, von solchen »advokativen Reden« nicht im Geringsten angetan. Die CV, insistierte er, hatte Anweisungen zu befolgen und durfte nicht Partei ergreifen. Es hatte auch nicht geholfen, als Sandy ihn daran erinnerte, dass ihre Funktionen als zweite Kommandierende der CV und als außerordentliche Beraterin der Präsidentin in Sicherheitsfragen nun mal hin und wieder schwierig miteinander zu vereinbaren seien. Am liebsten hätte sie ihm auch gesagt, dass laut dem Wörterbuch in ihren kybernetischen Speichern »advokativ« gar kein richtiges Wort war. Aber sie hatte beschlossen, dass es dafür der falsche Zeitpunkt war.

»Er bewegt sich ständig in bürokratischen und politischen Kreisen, die uns im Handumdrehen in den Wahnsinn treiben würden«, fuhr sie im Gehen fort. »Er kümmert sich ganz vorbildlich um unseren Etat, die ganze komplizierte Verwaltung und um sämtliche Rechtsfragen. Das alles könnte ich nie im Leben.«

Eine Windböe fegte Blätter über den Rasen und rüttelte an Bäumen und kleineren Pflanzen. Von den umstehenden Gebäuden hallte ein Donnerschlag wider; ein gleißender Blitz erhellte die Gartenanlagen und wurde von den Fensterscheiben reflektiert.

»Sogar während seiner SWAT-Zeit hat ihn der Orga-Kram mehr interessiert als alles Soldatische«, beklagte sich Vanessa. In ihren Nasenlöchern steckten Wattebäusche, und sie klang, als hätte sie Schnupfen. »Ich frage mich ja schon manchmal, wie schlagkräftig eine Streitmacht mit ihm an der Spitze überhaupt sein kann.«

Sandy zuckte mit den Schultern. »Was der Job erfordert, hängt immer auch vom Umfeld ab. Und hier ist das Umfeld eben größtenteils politisch und bürokratisch. Wenn wir nicht jemanden an der Spitze hätten, der damit umzugehen weiß, würde überhaupt nichts mehr funktionieren.«

Ein weiterer Donnerschlag zerriss den Himmel. Der warme Wind roch nach Regen und duftete süß nach Blumen. Im nächsten Augenblick fielen die ersten Tropfen aus dem aufgewühlten Himmel und klatschten dick und schwer auf die durchsichtige Überdachung, unter der sie entlangliefen.

»Aber so musst du dann als zweite Kommandierende alle strategischen Entscheidungen treffen und bist auch noch für die gesamte Einsatzplanung verantwortlich«, entgegnete Vanessa, »während ich mich um Personalfragen kümmere. Trotzdem müssen wir beide, die wir in diesem Geschäft die größte Erfahrung haben, für jeden Furz einem Technokraten Rede und Antwort stehen. Der es uns dann noch übelnimmt, dass wir alle wichtigen Entscheidungen treffen und nicht er, auch wenn ihm das aus Höflichkeit niemand ins Gesicht sagen würde.«

Sandy seufzte und schaute auf die weite Rasenfläche hinaus – jetzt fing es richtig an zu schütten, als wären im Himmel die Schleusen aufgegangen. Ein erfreuter Frosch hüpfte durchs Gras und hieß den Wolkenbruch willkommen. »Wie zum Teufel ist es bloß dazu gekommen, dass wir zwei Idioten eine Armee befehligen?«, fragte sie sich laut.

»Wir haben uns freiwillig dafür gemeldet.« Sie erreichten die Tür, die sich sofort öffnete, weil das Sicherheitssystem sie erkannte.

»Ja, das wird’s wohl sein.«

Vanessa bog in einen anderen Gang ab, Richtung Übungsräume, bei ihr stand gleich Kampftraining auf dem Programm. Sandy begab sich auf direktem Weg zu den Wartungsdocks. Ein rascher Zugriff auf ihren Terminplan für heute: Die nächsten zwei Stunden waren dafür verplant, an den A-9-Kampfgleitern weiterzuarbeiten, danach standen die üblichen Besprechungen zurückliegender Einsätze an, und es würde um künftige Strategien gehen. In der Verwaltung war Krishnaswali in seinem Element, das Personalmanagement war bei Vanessa in besten Händen – Sandys Stärke hingegen war schlicht und einfach das Gefecht. Neue Waffensysteme, ganz neue Truppenkoordination und -organisation und obendrein ein Haufen frischer Rekruten; irgendwer musste dafür sorgen, dass alles ineinandergriff und, falls der Ernstfall eintrat und der Einsatz der CV erforderlich wurde, auch funktionierte.

Ohrenbetäubender Lärm schlug ihr entgegen, als sie die Haupthalle für Wartungsarbeiten betrat; kraftvoll dröhnende Schubdüsen, aufröhrende Motoren, jede Menge Werkzeug, alles auf engstem Raum. Sie schaute sich um und freute sich darüber, welche Fortschritte sie in den letzten zwei Jahren gemacht hatten. Alles hier hatte mal zu SWAT gehört, war Teil des Callayanischen Sicherheitsdienstes gewesen – unterbesetzt und bei weitem nicht gut genug ausgerüstet für die Bedrohung, der sich Callay mittlerweile gegenübersah. Neun Teams zu je fünfzehn »Agenten« waren es damals gewesen, dazu ein paar aufgemotzte Zivilgleiter und Kampfanzüge. Aber jetzt – ihr Blick glitt über lange Reihen windschnittiger, gefährlich aussehender Kampfgleiter. Unterschiedliche Modelle, aber allesamt unheilvoll mattdunkel lackiert, die Mündungen der eingebauten Waffen ragten hervor wie die Stacheln angriffslustiger Insekten. Momentan beherbergte der CV-Hangar vier Geschwader – Truppentransporter und dazu die Kampfgleiter als Luftunterstützung. Fünfhundertzwanzig hochtrainierte Soldaten – manche von ihnen stammten aus den aufgelösten früheren SWAT-Teams, die anderen hatten sie aus Polizei und öffentlichem Sicherheitsdienst zusammenrekrutiert, ergänzt durch einige Heimkehrer aus der Flotte. Und noch immer bauten sie die Streitmacht aus, zwei weitere Geschwader waren in Arbeit, und die Rekrutierung, Vanessas Abteilung, schob Überstunden auf der Suche nach geeigneten Leuten – nur wenige erfüllten die notwendigen physischen und mentalen Voraussetzungen für den Job. Alles in allem umfasste die CV an die fünftausend Leute, wenn man Bürovolk, Techniker, Planungsabteilung und alle anderen mitzählte. Auf jeden Soldaten kamen neun weitere Mitarbeiter – eigentlich war ihr das zu viel, aber in zivilem Umfeld lief es nun mal anders, als sie es aus ihrer rein militärischen Vergangenheit gewohnt war. Und außerdem war es ja nicht ihr Geld. Solange die Truppen hinreichend schlagkräftig waren, musste es sie nicht kümmern … und die CV, wie sie mit zunehmendem Stolz beobachtete, wurde tatsächlich immer schlagkräftiger.

 

Kapitän Reichardt schritt durch das Dock und beobachtete den Aufruhr in der riesigen Halle, deren Boden durch die Wölbung der Station nach hinten anstieg. Ein wildes Durcheinander von Mannschaftstransportern und Tiefladern, dazwischen ein kleines Meer aus Menschen. Viele der Leute waren mit Transparenten bewaffnet, andere nur mit lauten Stimmen und Kraftausdrücken. Am Eingang der Bucht, in der die Amazon lag, hatte sich eine schützende Phalanx gepanzerter Soldaten mit schussbereiten Waffen formiert. Volle Kampfmontur, wie Reichardt feststellte, und er presste die Lippen zu einem dünnen, harten Strich zusammen. Duong verlor offenbar allmählich die Geduld.

»Kapitän, wie lautet der Plan?« Oberleutnant Nadaja lief neben ihm, sie trug die für den Bereitschaftsdienst übliche »Ausgehkleidung« – leichte Körperpanzerung unter Tarnklamotten mit sichtbaren Rangabzeichen und Mekong-Aufnähern, an der Hüfte eine schwere Pistole. Neben und hinter ihnen marschierten fünf ebenso gekleidete Soldaten, die Nadajas Kommando unterstanden. Reichardt konnte ihre Anspannung förmlich riechen, während sie sich dem Menschenauflauf näherten und die im Dock widerhallenden Rufe immer lauter wurden. Die Soldaten dort vorn waren Männer und Frauen, die im Krieg gegen die Liga gedient hatten. In Körperpanzerung und mit durchschlagskräftigen Waffen, die sie zu handhaben wussten. Das hier war etwas ganz anderes als aufsässige Zivilisten, die sich in Friedenszeiten zu einem Mob zusammenrotteten.

»Neutralität«, sagte Reichardt laut genug, dass sie alle ihn verstanden. »Nicht vergessen: Die Dritte Flotte bleibt neutral.« Schon als die Worte seinen Mund verließen, klang es irgendwie falsch. Es implizierte, dass die Fünfte Flotte im Gegensatz zur Dritten nicht neutral war. Und die Andeutung, es könne eine Spaltung zwischen zwei integralen Bestandteilen der föderalen Flotte geben, war furchterregend für jemanden, der mit ganzem Herzen der Föderation diente. »Unser Ziel ist gegenseitiges Vertrauen, nicht Aggression. Aggression ruft feindselige Reaktionen hervor. Wir sind neutrale Vermittler, und wir kämpfen nur und wirklich nur dann, wenn wir selbst angegriffen werden.«

Er spürte Nadajas Frustration, als würde sie sie körperlich ausdampfen. Sie hatte nach voller Kampfmontur verlangt, wie die Soldaten der Amazon sie trugen. Der Anlass war allerdings nicht dieser Aufstand hier. Die Lage zwischen den Vertretern der Dritten und Fünften Flotte hatte sich dramatisch zugespitzt, es war eigentlich nicht mehr länger tragbar. So etwas hätte nicht passieren dürfen. In den Militärgeschichten, die Reichardt als Kind verschlungen hatte, standen sämtliche Einheiten der Armee stets unerschütterlich zueinander, verbunden durch den gemeinsamen Glauben an den großen, mächtigen Staat, dem sie dienten, und die großen und mächtigen Ideale, die er repräsentierte. Zwischen den Einheiten herrschte ein gewisser Wettstreit, manchmal auch Rivalität, ja, niemals jedoch offene Feindseligkeit.

Stattdessen hatte sich die Flotte im Laufe des drei Jahrzehnte währenden Kriegs gegen die Liga in ein fremdartiges Ungeheuer verwandelt. Am Ende hatten viele Schiffskapitäne monatelang keinen Kontakt zu ihren Vorgesetzten gehabt. Ihre Entscheidungen trafen sie vorwiegend auf eigene Verantwortung. Oft interpretierten sie Befehle sehr eigenwillig, orientierten sich dabei an ihren eigenen spontanen Eingebungen und Vorurteilen. Allein und isoliert mitten im feindseligen All, hatte sich unter vielen Mannschaften eine grimmige Loyalität zum eigenen Schiff herausgebildet, allem voran zum jeweiligen Kapitän.

Und was alles noch viel schlimmer machte: Die Einheiten der Fünften Flotte nahe Callay waren Extremisten – infolge einiger recht kreativer Personalumverteilungen der letzten paar Jahre. Interne Streitigkeiten im Großen Rat und im Flottenkommando hatten beide Institutionen praktisch handlungsunfähig gemacht. Während des Kriegs hatten die Schiffskapitäne wenigstens gewusst, dass es irgendwo dort draußen ein Flottenkommando gab. Aber jetzt, da die gesamte Befehlskette zu einem hoffnungslos verfahrenen, ineffektiven Durcheinander kollabiert war, tat sich an der Spitze der Flotte ein gähnender Abgrund auf. Niemand, am allerwenigsten ein Kapitän der Dritten im mittleren Dienstalter, hatte so etwas je gesehen – unabhängige, zum Äußersten entschlossene Flottenkommandanten, die eigenmächtig über ihr Vorgehen entschieden und dabei keinem Vorgesetzten Rechenschaft ablegen mussten. Nein, so etwas hätte nicht passieren dürfen. Es war schlimmer als schlimm. Es war beängstigend.

Wegen des gewölbten Bodens schien der Mob zu ihnen hinunterzusinken, als Reichardt mit seinem Trupp näher kam. Die meisten der Leute waren Dockarbeiter – auf sämtlichen Stationen, die Reichardt bisher besucht hatte, ähnelten sie einander zum Verwechseln in ihren abgetragenen, oft verdreckten Overalls und mit ihrer Neigung zu eigenwilligen Frisuren oder Körperschmuck, der in scharfem Kontrast zu der ihm vertrauten Flottendisziplin stand. An der Innenwand, die das Dock von der Station trennte, standen die weniger engagierten Stationsbewohner vor den Läden, Bars und Hotels in Grüppchen zusammen und beobachteten den Aufruhr mit einer Mischung aus Begeisterung und Nervosität. In fünfzig Metern Entfernung hatte sich eine kleinere Gruppe abgetrennt; sie standen neben einem niedrigen Transportfahrzeug mit großen, breiten Reifen und sahen der sich nähernden Mekong-Crew entgegen, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Kapitän«, grüßte ein breit gebauter, arabisch aussehender Mann in ärmellosem Overall und streckte ihm die Hand entgegen. Reichardt brachte die letzten Schritte hinter sich und schüttelte sie, während seine Soldaten ein Stück hinter ihm stehen blieben und die skandierende, Plakate schwenkende Menschenmenge im Auge behielt. Der Handschlag des Arabers war kräftig, seine Armmuskeln wölbten sich unter der Haut. Von einem Ring in seinem Ohr baumelte eine schmale Silberkette, und während sein Schädel an den Seiten rasiert war, fiel ihm der Rest des Haupthaars lang und lockig über den Rücken. Seine Stimme war tief und hatte einen deutlichen callayanischen Akzent. »Ich bin Bhargouti, Chefmechaniker der Station.«

»Sind Sie für diese Demonstration verantwortlich?«, fragte Reichardt – mit erhobener Stimme, damit er über die lauten Rufe zu verstehen war.

»Niemand ist hier wirklich verantwortlich, Kapitän«, erwiderte Bhargouti mit unverhohlener Aufsässigkeit. »Das ist eine spontane Demonstration.« Und was, schien er unausgesprochen hinzuzusetzen, willst du dagegen tun, du Militärfuzzi?

»Na gut«, sagte Reichardt und fiel absichtlich in seinen alten texanischen Akzent zurück, der den formellen militärischen Ton verdrängte. »Wo liegt denn das Problem?«

»Die Arbeiter der Nehru-Station verweigern den angedockten Flottenschiffen den Dienst, solange unsere Forderungen nicht erfüllt werden.« Hinter Bhargouti hatten sich mittlerweile etliche Demonstranten zu ihnen umgedreht, und auf seine Worte folgte lauter Jubel.

»Wir fordern, dass das Militär augenblicklich die Zollerhebung und die Identitätsprüfungen einstellt«, fuhr Bhargouti fort und erhob seine Stimme, damit alle ihn hören konnten. Wieder stiegen Jubelschreie zur Decke empor und hallten im Dock wider, und die Arbeiter drängten sich näher heran, um die Auseinandersetzung zu verfolgen. Leutnant Nadajas Soldaten musterten die heranwogenden Mengen mit starrem, wachsamem Blick. »Wir verlangen, dass die Soldaten und sonstigen Angehörigen der Flotte unsere Station augenblicklich verlassen. Ihre Anwesenheit und ihr Verhalten betrachten wir als gezielte Einschüchterungsversuche.« Wieder ein Jubeln. »Und außerdem verlangen wir, dass die Flotte unverzüglich die Anweisungen ihrer rechtmäßigen Vorgesetzten im Großen Rat befolgt und sämtliche hier angedockten Schiffe die Station verlassen!«

Ein drittes Jubeln, ohrenbetäubend laut diesmal. Zufrieden wandte sich Bhargouti seinen Kollegen zu.

Reichardt sah sich mit ausdruckslosem Blick um, versuchte die Situation einzuschätzen. Als der Lärm ein wenig verebbte, ergriff er das Wort. »Augenblicklich bin ich in diesem System der ranghöchste Kapitän der Dritten Flotte«, teilte er ihnen mit. »Ich persönlich habe keine Einwände gegen Ihre Forderungen. Bedauerlicherweise entscheide ich nicht allein.«

»Und wer ist es dann, der entscheidet, Kapitän?«, fragte Bhargouti scharfsinnig – er musste mehrere Zwischenrufe übertönen, die allerdings dank gezischter Aufforderungen aus der Menge rasch verstummten. »Nimmt denn Ihr Freund, der Admiral, neuerdings keine Befehle mehr entgegen? Oder macht er ganz einfach immer, wonach ihm gerade zumute ist?«

»Das ist ein verdammter Putsch!«, brüllte irgendwer. »Genau das ist es nämlich!« Ein ganzer Chor zustimmender Rufe erhob sich und hallte von den kalten Metallwänden des langgestreckten Docks wider.

Eher halbherzig hob Reichardt die Hände … und war ein bisschen überrascht, als die Leute tatsächlich verstummten. »Ich habe nicht vor, hier politische Grundsatzdebatten zu führen, Sir«, erklärte er dem bulligen Dockarbeiter. Trotz seiner Erscheinung war Bhargouti ganz eindeutig kein hirnloser Muskelprotz, in den dunklen Augen leuchtete ein scharfer Verstand. »Ich bin Soldat. Ich befolge meine Befehle.«

»Da wären Sie aber der Einzige«, witzelte jemand. Gelächter und Applaus brandeten auf.

Reichardt nahm es gelassen hin. »Der Punkt ist, Sir«, fuhr er in ziemlich genau dem Tonfall fort, den er von seinem Vater oft gehört hatte, wenn der zu Hause auf der Ranch nahe Amarillo mit Nachbarn über den Viehpreis diskutiert hatte, »dass ihr Jungs hier ebenfalls nicht ganz nach den Regeln spielt. Der Stationsvorsteher sagte mir, dass diese Demonstration nicht genehmigt wurde und alle an ihre Arbeit zurückkehren sollen, ehe hier der ganze Betrieb lahmgelegt wird. Da draußen warten haufenweise Schiffe darauf, anzudocken, und im Augenblick hat hier niemand Zeit für einen Streik, das wissen Sie sehr gut.«

»Hey, hören Sie mir mal gut zu«, erwiderte Bhargouti unbeirrt und zur großen Freude der Menge, »Sie kümmern sich um Ihre Leute und wir uns um unsere. Wir fertigen hier kein Schiff der Fünften Flotte ab, und basta.«

»Na schön«, sagte Reichardt, ohne zu zögern.

Bhargouti runzelte die Stirn.