Die Androidin - Auf der Flucht - Joel Shepherd - E-Book

Die Androidin - Auf der Flucht E-Book

Joel Shepherd

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Beschreibung

Sie ist schön, selbstbewusst – und äußerst gefährlich. Cassandra Kresnov ist eine Androidin, die von der Liga gebaut wurde, um als Elitesoldatin in einem interstellaren Krieg gegen die mächtige und konservative Föderation zu kämpfen. Aber Cassandra ist als experimentelles Modell weit intelligenter und kreativer als ihre Vorgänger. Was nicht folgenlos bleibt: Sie bekommt moralische Skrupel und flüchtet schließlich, inkognito, auf den Föderationsplaneten Callay, um dort ein neues Leben zu beginnen. Doch schon bald fliegt ihre Tarnidentität auf, und sie muss sich mit List und Gewalt in einer Welt behaupten, die nicht wahrhaben will, dass es sie überhaupt gibt. Denn auf Callay haben Androiden wie Cassandra keine Lebensberechtigung und werden erbarmungslos gejagt ... Ein Science-Fiction-Roman, der an ›Blade Runner‹ von Philip K. Dick erinnert, nur dass er aus der Perspektive des künstlichen Menschen geschrieben wurde. »Einerseits eine tolle Abenteuergeschichte mit einer Androidin in der Hauptrolle, andererseits eine Dekonstruktion unserer Vorstellungen vom Menschsein – und in beiderlei Hinsicht gleichermaßen gelungen.« Bookgasm

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Seitenzahl: 796

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Joel Shepherd

Die Androidin - Auf der Flucht

Roman

Aus dem Englischen von Maike Hallmann

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Leseprobe aus J. Shepherd, Die Androidin – Zwischen allen FrontenKapitel 1

Für meine Eltern, die alles erst möglich gemacht haben.

Kapitel 1

Sonnenschein flutete üppig und golden über den Boden des Hotelzimmers, fiel auf glatte weiße Laken und einen blassen Arm. Als die Gestalt im Bett sich schläfrig regte, zeichnete sich unter der lichtgesprenkelten Decke die Wölbung einer Hüfte ab. Augenlider öffneten sich blinzelnd. Eine Weile lag sie nur da und lauschte in den Morgen. Von unten drangen entfernte Verkehrsgeräusche herauf. Stadtgeräusche. Das schwache Jaulen der Magnetschwebebahn war klar herauszuhören. Dann das tiefe, klagende Stöhnen eines Luftwagens, der auf einer Flugstraße nahe dem Fenster vorüberschwebte.

Über ihrem Gesicht lag ein Vorhang aus zerzaustem dunkelblondem Haar, das sie sich träge aus der Stirn strich. Als sie sich auf den Rücken drehte, schmiegten sich Bettzeug und Matratze an ihre nackte Haut. Sie wandte den Kopf auf dem Kissen zur Seite und sah gleichmütig zu dem riesigen Fenster hinüber, das die gesamte gegenüberliegende Wand einnahm, dunkelgolden getönt gegen die blendenden Strahlen der aufgehenden Sonne. Ein weiterer Luftwagen zog mit kehligem Seufzen am Fenster vorbei, gleißendes Sonnenlicht spiegelte sich auf den eleganten, scharfen Konturen.

»Butler«, sagte sie mit noch schlaftrunkener Stimme. »Weniger Abdunkelung, bitte.«

Die Tönung der Fensterscheibe verblasste, das Sonnenlicht wurde heller.

»Das reicht.« Kurz schmerzte die Sonne in ihren Augen, aber sie passten sich rasch an das grelle Licht an.

Draußen ragten die Hochhäuser der Stadt auf, gewaltig in Höhe und Breite und von unterschiedlichster Bauweise. Eine wahre Freude für jeden Architekten. Der Traum eines Ökonomen. Technologische Wunderwerke. Sie drängten sich nicht aneinander, sondern standen in großzügigem Abstand, das Glas erstrahlte im Glanz der Morgensonne. Dazwischen zogen die Luftwagen ihre gemächlichen Bahnen, gesteuert von einem unsichtbaren Verkehrsleitsystem.

Dies also war die Stadt Tanusha im Morgenlicht, von einem Einzelzimmer im sechzigsten Stock des Hanaman-Gebäudes aus betrachtet, dessen fünfzigste bis siebzigste Etage das Hotel Emerald Si’an einnahm. Inzwischen ganz wach, bestaunte die Frau blinzelnd die Aussicht.

Ruhe. Ihre Lippen verzogen sich zu etwas, das ein Lächeln sein mochte. Der Verkehr brummte in der Ferne, eine leise Kakophonie des Lebens, und sie lauschte, ohne auf etwas Bestimmtes zu horchen, sah hinaus, ohne wirklich hinzusehen. Gedankenverloren räkelte sie sich zwischen den seidigen Laken.

Auch im Netz nahm der Verkehr allmählich Fahrt auf. Sie hörte es – oder, präziser ausgedrückt, spürte es: ein beständiger, an- und abschwellender Strom von Stimmen und miteinander kommunizierenden Maschinen im Meer des statischen Rauschens. Als sie sich darauf konzentrierte, wurden die Stimmen deutlicher, sie schnappte vereinzelte Wörter auf, Wortfetzen, spürte die dunklen Schleier verschlüsselter Informationen, die durch den morgendlichen Äther wogten. Leute unterhielten sich, die Bäuche voller Kaffee oder Tee, saßen im Sonnenlicht, das golden durch die Fenster hereindrang, schlugen ihre Zeitungen auf, frühstückten … Sie zog sich zurück, für den Augenblick ganz zufrieden damit, dass die Stimmen zu einem konstanten Murmeln am Rande ihrer Wahrnehmung verblassten, das sie mühelos ausblenden konnte.

Es war 07.13 Uhr Ortszeit, der Tag hatte vierundzwanzig Stunden. Genüsslich reckte sie sich, bog den Rücken durch, die Arme über den Kopf gestreckt, ihre Fingerspitzen streiften die Wand. Sie seufzte. Schlug die Decken beiseite, schwang sich leichtfüßig aus dem Bett und ging nackt zum Bad hinüber, wobei sie mit den Fingern rasch das Haar halbwegs ordnete.

Um 07.26 Uhr kam sie aus der Dusche, sie hatte sich mehr Zeit gelassen als nötig. Das wurde ihr allmählich zur Gewohnheit. Sie stand auf dem warmen Badezimmerboden, ihre Haut kribbelte von der Trocknungsphase, die feinen Härchen darauf hatten sich vor Behagen aufgerichtet. Mit der Handfläche fuhr sie sich über den Unterarm und strich die Härchen glatt. Es kitzelte ein wenig. Sie lächelte über sich selbst und schüttelte leicht den Kopf. Nahm eine Bürste von der Ablage, bearbeitete ihr gerade erst getrocknetes Haar und betrachtete sich dabei im Spiegel.

Hellblaue Augen erwiderten ihren Blick. Schöne Augen, dachte sie. Ja, definitiv schön. Ihr Haar sah wieder ordentlich aus. Sie legte die Bürste beiseite und beugte sich vor, besah sich ihre Augen aus der Nähe. Zog mit der Zeigefingerspitze eine Braue nach, strich hinunter bis zur Nasenspitze. Weiter nach unten, zog an einer Lippe. Versuchte sich an einem Lächeln, und ihr gefiel, wie es aussah. Zufrieden ging sie wieder ins Zimmer, immer noch nackt, ließ sich auf dem weichen Teppichboden nieder und begann mit ein paar Dehnübungen.

Einige Minuten später läutete es an der Tür. »Zimmerservice«, rief eine echte, nichtautomatische männliche Stimme.

Geschmeidig erhob sich die Frau, reckte noch einmal die Arme und griff nach ihrem weißen Hotelbademantel. »Herein«, sagte sie, während sie den Bademantelgürtel locker verknotete. Das Licht an der Tür sprang auf Grün, und die Tür schwang auf. Ein kleiner Mann betrat das Zimmer, gutgekleidet mitsamt Fliege, in einer Hand trug er ein Tablett.

»Ihr Frühstück, Madam«, sagte der sehr unautomatische Hotelangestellte. Hinter ihm im Gang stand sein Wagen, vollgeladen mit Frühstückstabletts.

»Vielen Dank.« Sie lächelte ihn an und nahm ihm das Tablett ab.

Er lächelte zurück. »Bitte entschuldigen Sie die kleine Verspätung, Frau Cassidy. Wie Sie sicher wissen, sind nur Maschinen immer pünktlich.«

Sie winkte ab. »Kein Problem. Mir ist persönlicher Service lieber.«

»Das freut mich zu hören.« Der Mann lächelte noch einmal und zog sich zurück. Die Tür schloss sich hinter ihm, und sie war wieder allein. Sie trug das Tablett zu ihrem Bett, stellte es vorsichtig ab und kletterte ebenfalls wieder aufs Bett. So verzehrte sie ihr Frühstück – im Schneidersitz und im Bademantel auf dem Bett sitzend, mit Blick auf den Luftverkehr, der sich seufzend zwischen den in der Sonne gleißenden Gebäuden von Tanusha hindurchfädelte.

Sie spülte ein Stück Toast mit einem Schluck des duftenden chinesischen Tees hinunter, für den sie eine große Vorliebe entwickelt hatte, und streckte sich nach dem kleinen, kompakten Gerät, das auf dem Nachttisch stand. Nahm es auf den Schoß und zog an der Seite ein langes, dünnes Kabel heraus. Strich an ihrem Hinterkopf das Haar beiseite und schob den schmalen Metallstecker in die Buchse. Er rastete mit einem leisen, aber nachdrücklichen Klick! ein, das sie tief im Innenohr eher spürte, als dass sie es hörte. Sie drückte auf einen Knopf an der kleinen Interface-Einheit und stellte die Verbindung her.

Sie fand ihre persönlichen Daten im mehrfach gesicherten und verschlüsselten System des Hotels, schoss durch die Barrieren und sortierte ein bisschen Datenkleinkram, überprüfte ihre Fallen und sah nach, ob jemand Informationen über sie abgerufen hatte – ob autorisiert oder nicht. Fand nichts Verdächtiges und war sehr zufrieden. Ihre Glückssträhne hielt immer noch an.

Wie immer in Tanusha war das Datenaufkommen ringsum gewaltig. Die Automatischen schossen geschäftig umher und taten, was immer ihre Programmierung ihnen vorgab, mit der für sie typischen geistlosen Effizienz. Menschlicher Verstand bewegte sich im Netz langsamer, grübelte, sinnierte, dachte nach. Überall ringsum herrschte Bewegung, überall Wände aus Licht, leuchtende Formen und Texturen, undurchdringlich trotz ihrer transparenten Erscheinung, vielfach verästeltes Bewusstsein, das sich mal ausdehnte, mal zurückzog, absichtsvoll oder gedankenlos …

Noch ein letztes Mal schaute sie ihre Aufzeichnungen durch, überflog die Zahlen, die Namen, die Bilder. April Cassidy. Es war nicht wirklich ihr Name, aber es war der Name, den sie fürs Erste benutzte. Am 15. Mai 2521 Standardzeit geboren, auf Octavia 3 in der Stadt Tillanna. Eine ordentlich gemeldete Bürgerin der Föderation, deren zahlreichen Regeln und Prinzipien unterworfen und Nutznießerin der damit verbundenen immensen Vorteile. Beide Eltern im Krieg gegen die Liga umgekommen. Keine Geschwister oder sonstige Angehörige. Aufgewachsen in einem Heim für Kriegswaisen, das nach Kriegsende aufgrund von Sparmaßnahmen geschlossen worden war. Und noch ein paar andere Daten – Sozialversicherungsnummer, Geburtsurkunde, Kreditkarten, Unterlagen über Aufträge und Firmen … sie war freiberufliche Spezialistin für Kognitive Software, eine Art Wandergesellin, die der Arbeit nachreiste. Und natürlich verfügte sie über einen Haufen Geld und einen großzügigen Kreditrahmen bei ihrer Bank.

Ein interessantes Leben. Während sie die Verbindung zur Interface-Einheit unterbrach und das Kabel sich ins Innere zurückspulte, sann sie darüber nach. Sie fragte sich, wie diese April Cassidy wohl sein mochte, mit ihrer Vergangenheit als Waisenkind und ihren Softwarefertigkeiten. Manchmal fühlte sie sich ihr nahe – dieser Frau ohne Eltern, ohne Zuhause, ohne Kindheit. Dann wieder schien es ihr unmöglich, einen so wohlerzogenen Menschen mit derart zivilisierten Gedanken zu verkörpern, wie zerrüttet dessen Kindheit auch gewesen sein mochte. Mit gekreuzten Beinen saß sie da, badete im Sonnenlicht und dachte über dieses geliehene Leben nach, während die Stadt aus ihrem leichten Dämmerschlaf erwachte und ein neuer Tag anbrach.

Ein gutes Leben, dachte sie – Frieden finden inmitten der millionenfachen alltäglichen Geschäftigkeit ringsum, unter all diesen Menschen, die ihrer Arbeit nachgingen, den Familien, den Kindern auf dem Weg zur Schule. Die Prioritäten hier waren schlicht. Das Leben war wie ein Teppich, gewebt aus einfachen Sorgen und einfachen Bedürfnissen; den Menschen ging es gut.

Der Krieg hatte diese Stadt nie direkt betroffen, auch wenn ihre Gelder und Technologien ihn kräftig angeheizt hatten. Hier könnte sie glücklich sein. Und wenn nicht hier, dann gab es doch noch eine Menge anderer Sterne und Planeten und Städte zu entdecken. Aber jetzt war sie erst einmal hier. Und sie hatte einen Termin.

 

Um 8.19 Uhr wurde sie zu ihrem ersten Vorstellungsgespräch hereingerufen. Sie ließ die Ausgabe von Straßenbilder auf dem Beistelltisch im Wartezimmer zurück, folgte der Sekretärin den Gang entlang zu einer offenen Tür und trat ein.

»Frau Cassidy?«, fragte die vietnamesisch aussehende kleine Frau hinter dem riesigen Schreibtisch und erhob sich.

»Richtig«, antwortete April Cassidy, und beim Händeschütteln lächelten sie einander an. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Frau Phung.«

»Ganz meinerseits. Bitte nehmen Sie doch Platz.« Sie wies auf den gepolsterten Stuhl vor dem Schreibtisch. April setzte sich und sah rasch noch einmal aus dem Fenster, während Frau Phung zu ihrem Platz zurückkehrte. Das Büro war nur im zwanzigsten Stock, nicht annähernd so weit oben wie ihr Hotelzimmer. Die Straßen waren näher, ebenso der rege Verkehr, den sie durch die Lücken zwischen den hohen Bäumen ausmachen konnte.

»Eine wunderbare Aussicht«, bemerkte sie. »Mir scheint, alle Büros in Tanusha haben einen solchen Ausblick.«

»Ja, das ist eindeutig ein Vorteil daran, in Tanusha zu leben und zu arbeiten. Sie sind ja schon weit herumgekommen, wie ich Ihrem Lebenslauf entnommen habe.«

April Cassidy nickte, die Beine sorgsam übereinandergeschlagen, die Hände entspannt im Schoß gefaltet. »Ja, ich liebe das Reisen. Und ich habe bisher nie einen Ort gefunden, den ich wirklich mein Zuhause hätte nennen können. Hier jedoch«, sie deutete aus dem Fenster, »hier fühle ich mich sehr wohl. Ich könnte mich definitiv daran gewöhnen.«

Frau Phung lächelte und zog das Datapad zu Rate, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand. »Ich lese hier, Sie haben Ihre Abschlussprüfungen mit Bestnoten bestanden … sehr beeindruckend.«

April Cassidy saß ganz ruhig da und wartete auf die nächste Frage.

»Was halten Sie denn von der Batista-Universität? Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der dort studiert hat.«

»Sie ist hervorragend. Es gehört zu ihren Prinzipien, keine Elfenbeinturmwissenschaft zu betreiben, es gibt etliche privatwirtschaftliche Verbindungen und dadurch zahlreiche Gelegenheiten, an praktischen Projekten teilzunehmen. Gute Jobchancen – ich habe nach meinem Abschluss viele Angebote erhalten, wollte aber nicht unbedingt auf Octavia bleiben.«

»Hmmm.« Frau Phung nickte, ihr Interesse wirkte aufrichtig, und sie ging die Unterlagen weiter durch. »Ich habe gehört, die Möglichkeiten auf Octavia seien sehr vielversprechend.«

»Das sind sie tatsächlich, aber ich war schon immer ehrgeizig. Ich wollte reisen und in einem etwas moderneren Umfeld arbeiten. Viele der besten Stellen auf Octavia sind bereits besetzt, entsprechend dauert es mitunter lange, bis man befördert wird.«

»Ich verstehe.« Sie las weiter. »Und was reizt Sie an Wardell Systematics?«

»Wenige andere mittelständische Firmen in Tanusha sind derart innovativ. Forschung und Entwicklung haben einen hohen Stellenwert, und Sie haben sehr lange Vertragslaufzeiten – das hat mein Interesse geweckt.«

»Sie bevorzugen eine mittelständische Firma gegenüber einer größeren?«

»Wenn ich die Wahl habe, ja, dann schon, denn dort sind kreative Lösungen am meisten gefragt. Das ist die Art von Arbeit, die mich begeistert und die mir auch am meisten liegt.«

Frau Phung nickte. »Nun, vielleicht mögen Sie mir eine Kostprobe Ihrer Fähigkeiten geben?«

»Natürlich.« Sie zog ihre kleine schwarze Interface-Einheit aus der Innentasche, zog das Kabel heraus und steckte es in die Buchse in ihrem Hinterkopf. Schaltete das Gerät mit dem Daumen ein, und es verband sich klickend mit dem Datennetz des Büros. Daten strömten auf sie ein, eine sichtbare, spürbare Woge. Imposantes System. Aber hier in Tanusha gewöhnte sie sich allmählich daran. »Was soll ich mir ansehen?«

»Dies hier.« Frau Phung gab etwas ein, und innerhalb des klar umrissenen Datennetzes der Firma erschien eine Systemstruktur … ein gewaltiges, kompliziertes Konstrukt, ein eindrucksvolles Stück programmierter Intelligenz. »Was können Sie mir dazu auf den ersten Blick sagen?«

»Nun, es sieht aus wie ein kognitives System der Stufe neun … ich würde sagen, dass es der visuellen Zuordnung dient. So wie die Gedächtnisbänder sich zu Level-drei-Backups verzweigen, ähnlich wie …«

Die Analyse nahm einige Zeit in Anspruch. Frau Phung ließ sich nichts anmerken, aber April Cassidy wusste, dass sie beeindruckt war. Was sie nicht überraschte. Sie war ihrerseits beeindruckt vom technischen Niveau bei Wardell Systematics – größtenteils waren die Systeme hochmodern und bemerkenswert kreativ, fast schon Maßanfertigungen. Das war der eine Bereich, in dem kleinere Firmen hier wirklich die Nase vorn hatten im Vergleich zu den großen Konzernen, für die sich individuelle Aufträge nicht rechneten. Sie bezweifelte, dass dieses Konstrukt schon das Nonplusultra von dem darstellte, was die Firma leisten konnte – vieles wurde sicher streng unter Verschluss gehalten. Hochinteressant.

»Ich werde mich mit den anderen beraten«, teilte ihr Frau Phung mit, als sie schließlich fertig waren und sich erhoben. »Natürlich kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nichts versprechen, aber ich muss sagen, ich bin sehr beeindruckt von dem, was ich heute gesehen habe.«

»Vielen Dank. Sie wissen, wie Sie mich erreichen?«

»Im Hotel Emerald Si’an, ja. Ich habe Ihre Zimmernummer irgendwo in den Unterlagen. Ein gutes Hotel, das Emerald. Probieren Sie das Thai-Restaurant ganz oben auf der höchsten Etage aus, es ist ganz fabelhaft.« Sie streckte die Hand aus, und April Cassidy ergriff sie, drückte fest und freundlich ihre Hand und lächelte. »Ich werde daran denken, danke schön.«

»Sie haben heute vermutlich noch weitere Vorstellungstermine?«

»Ja, heute noch drei und morgen dann vier. Die Pausen dazwischen wollte ich damit verbringen, mich ein bisschen umzusehen.«

Frau Phung seufzte. »Nun dann … ich vermute, falls wir uns dafür entscheiden, Sie einzustellen, können wir uns glücklich schätzen, Sie auch zu bekommen, korrekt?«

April Cassidys Lächeln wurde breiter. »Wie Sie bereits sagten, es lässt sich im Vorfeld nichts versprechen … aber es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, und falls es sich ergeben sollte, dass ich für Ihre Firma arbeite, wäre es mir eine große Freude. Es hängt eben ganz davon ab. Das verstehen Sie sicher?«

Frau Phung erwiderte ihr Lächeln. »Das tue ich. Ich verstehe es sehr gut.« Sie ging zur Tür und hielt sie ihr auf. »Nur noch eine letzte Frage«, sagte sie, und April Cassidy blieb auf der Türschwelle stehen. »Ihre frühere Firma auf Reta Prime, Boushun Information in Guangban … weshalb haben Sie dort aufgehört, falls die Frage Ihnen nicht unangenehm ist?«

»Nicht im mindesten. Nun, ich …« Sie lächelte und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »… ich bin ein ziemlich umtriebiger Mensch. Boushun war sehr gut zu mir – und umgekehrt ebenso, möchte ich hoffen –, aber ich hatte einfach das Gefühl, ich wäre woanders besser aufgehoben. Und Guangban ist nicht halb so schön wie Tanusha. Ich halte es für das Sinnvollste, eine solche Entscheidung zu treffen, wenn man noch jung ist und noch nicht allzu viele Verpflichtungen und Verbindlichkeiten hat. Na, und jetzt bin ich hier.«

»In der Tat. Sie sind wirklich zu beneiden.« Sie beide lachten. »Ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit in Tanusha. Und möglicherweise sehen wir uns ja dann bald wieder.«

»Ich würde mich sehr darüber freuen. Auf Wiedersehen.«

Als sie die Büroräume von Wardell Systematics verließ, war April Cassidy mit sich selbst ziemlich zufrieden. Es lief alles bestens. Mit ein bisschen Glück würde sie sich im Lauf der nächsten Tage die Rosinen aus dem Kuchen picken können, und das aus einem wirklich traumhaften Kuchen. Es würde sich kaum eine junge Tech-Spezialistin finden lassen, die auch nur ansatzweise über ihre Fähigkeiten verfügte – und sie hatte noch darauf geachtet, bei dem Gespräch nicht in Angeberei zu verfallen, so wie auch ihr Gegenüber sich bedeckt gehalten hatte. Die Arbeit wäre interessant, das Gehalt ausgezeichnet, und vielleicht würde sie ganz nebenbei sogar ein paar Freunde finden. Eine sehr verlockende Liste von Pluspunkten. Ja, alles in allem gefiel es ihr immer besser in Tanusha.

Sie aß in einem der vielen grünen Parks zu Mittag, auf einer reizend altmodischen hölzernen Bank im Schatten eines üppig belaubten Baumes. Ihre Mahlzeit bestand aus knusprigen Gemüseröllchen mit einem würzigen Dip, die sie an einem Stand im Park erstanden hatte – es schmeckte köstlich. Ein leichter Wind rauschte freundlich in den Blättern und vermischte sich mit den Verkehrsgeräuschen, die selbst hier unten am Boden noch gedämpft zu hören waren. Über die Baumwipfel lugten dezent einige kleinere Gebäude, und überall ringsum ragten die wie zufällig, aber doch gleichmäßig verteilten Hochhäuser schimmernd in den klaren blauen Himmel empor.

Tanusha war ein bemerkenswertes Beispiel für Stadtplanung, ein überdimensionales Modell der hiesigen Gesellschaftsstruktur. Die Bürotürme der A-Klasse, auch Megatürme genannt, waren einheitlich um die vierhundert Meter hoch, dabei aber sehr unterschiedlich in ihren phantasievollen, originellen Designs. Sie standen weit voneinander entfernt, niemals zwei von ihnen zu dicht beisammen, wenn man von den gelegentlichen Zwillingstürmen absah, und befanden sich jeweils im Zentrum von dichter bebauten und verkehrsreichen Abschnitten. Um diese Knotenpunkte drängten sich die mittleren Hochhäuser der von Straßen und Schienen durchzogenen Geschäftsbezirke, die sich in die umliegende Stadt auffächerten. Die mittleren Hochhäuser maßen zwischen hundert und hundertfünfzig Meter und waren ebenfalls sehr unterschiedlich, allerdings gab es offenbar gebietsabhängige Höhenbegrenzungen. Zwischen diesen Zentren lagen vorstädtisch wirkende Wohngebiete: von üppig belaubten Bäumen gesäumte Straßen in einem bunten Teppich aus Parks, Schulen, Kirchen und Tempeln, Einkaufsmeilen, Sportstadien, hier und da unterbrochen von vereinzelten mehrstöckigen Wohngebäuden.

Selbst von hier unten erkannte sie das Muster, auch wenn man den 57-Millionen-Menschen-Maßstab erst aus großer Höhe wirklich würdigen konnte. Dichtbebaute Inseln inmitten eines vielgestaltigen Meers menschlicher Wohnstätten. Immer wieder floss alles zusammen und türmte sich zu schwindelnden Höhen auf, ebbte dann ab, um sich erneut aufzuschwingen. Verkehrsfluss, Streckenplanung, der Zugang zu Tanushas diversen Freizeitmöglichkeiten und sonstigen Attraktionen … die gesamte Infrastruktur wurde von Computern berechnet. Teure und weniger teure Adressen verschmolzen zum beiderseitigen Vorteil zu gemeinsamen Vierteln.

In Tanusha gab es keine üblen Gegenden, darauf hatten die Stadtplaner offensichtlich geachtet. Sie war beeindruckt von dieser zivilen Effizienz. Darüber hinaus war es wirklich schön hier – wo sie auch hinschaute, war die Stadt abwechslungsreich und ansprechend gestaltet. Und so viele Bäume überall. Sie nahm einen weiteren Bissen und war sehr zufrieden mit ihrer Entscheidung, hier den Neuanfang zu wagen.

Ihre Vorstellungsgespräche waren ausgezeichnet gelaufen, und sie war überzeugt, einen guten Eindruck gemacht zu haben. Tanushas Softwaretechnologie war legendär, womöglich führend in der gesamten Föderation, aber sie selbst verfügte über einige Fähigkeiten, die sicher auch hier eine Seltenheit waren. Zweifellos ein unfairer Vorteil. Sie nutzte ihn jetzt seit einem guten Jahr, und er verschaffte ihr ein behagliches, sicheres Leben bei guter Bezahlung. Und noch einiges darüber hinaus.

Ein Tumult in der Nähe weckte ihre Aufmerksamkeit – ein ganzer Haufen Kinder von etwa acht, neun Jahren tobte lachend und schreiend zwischen den Bäumen hindurch über das grüne Gras. Bei dem Gebäude dort musste es sich wohl um eine Schule handeln.

Manche der Kinder kickten Bälle durch die Gegend oder spielten Frisbee. Sie machten jede Menge Lärm, überwiegend vollkommen unnötig. Einige Leute, die in der Nähe zu Mittag gegessen hatten, standen auf und machten sich davon, manche sahen verärgert aus, andere amüsiert. April Cassidy blieb sitzen, verspeiste ihr letztes Gemüseröllchen und betrachtete die Kinder so gebannt wie ein Musiker, der ein besonders interessantes Notenblatt studiert. Lächelte über die Streitereien um Kleinigkeiten, die für die Kinder von welterschütternder Bedeutung waren.

Nach dem letzten Bissen stand sie auf, warf ihren Abfall in den Mülleimer und schlenderte den Weg zur Metro-Haltestelle entlang, von wo aus sie zu ihrem nächsten Termin hätte fahren können – wenn sie denn vorgehabt hätte zu fahren, statt zu laufen.

Direkt vor ihren Füßen landete ein Football, und ein Junge jagte hinterher, noch ein gutes Stück entfernt. Sie hob den Ball mit einer Hand auf und legte ihre Aktentasche auf den Boden. Erwartungsvoll hob der Junge die Hände, aber sie deutete auf das gut dreißig Meter entfernt stehende Mädchen, mit dem er gespielt hatte. Mit großen Augen lief sie ein Stück rückwärts und wartete auf den Wurf. April Cassidy warf nicht mal besonders hart, aber der Ball schoss in hohem Bogen durch die sonnenflirrende Luft, rotierte wild um die eigene Achse und landete mindestens zehn Meter hinter dem Mädchen, das hinterherhetzte.

Der Junge stieß einen fast ehrfürchtigen Jauchzer aus und grinste sie dann an. April Cassidy grinste zurück, hob ihre Aktentasche auf und ging weiter zu ihrer Haltestelle.

 

Um 18.32 Uhr kehrte sie in ihr Zimmer im Emerald Si’an zurück; es dunkelte bereits, der Himmel hinter den Fenstern leuchtete in unterschiedlichsten Schattierungen von Rosa und Orange. Sie legte die Aktentasche auf das frisch gemachte Bett und schälte sich aus ihren Kleidern, die sie fein säuberlich zusammenfaltete und neben der Aktentasche aufeinanderstapelte. Danach nahm sie sich Zeit für eine ausgiebige Dusche, ehe sie sich ein anderes Outfit aus dem Schrank zusammensuchte, in den sie gestern nach ihrer Ankunft ihre Kleidung gehängt hatte. Eine Weile erwog sie das enge schwarze Kleid, ehe sie beschloss: Nein, nicht schon beim ersten Ausgehen. Endlich entschied sie sich für ein Kostüm, das zwar etwas förmlicher war, aber farbenfroh gestreift; es hatte einen ausgestellten Saum, weite Armbündchen und einen tiefen Ausschnitt, der einiges an bloßer Haut sehen ließ. Dazu eine ebenfalls tiefausgeschnittene schwarze Bluse und passende Kniestrümpfe. Sie kleidete sich sorgfältig an, prüfte eingehend jedes Kleidungsstück im Spiegel, völlig versunken in den eigenen Anblick, dabei aber eher neugierig als selbstverliebt. Als sie fertig war, kümmerte sie sich um das Make-up, auch wenn sie sich nie richtig dafür hatte erwärmen können oder auch nur begriff, wozu es gut sein sollte. Mit ihrem kleinen Kosmetikköfferchen saß sie vor dem Spiegel und brachte – mit bemerkenswertem Geschick für jemanden mit so wenig Übung – eine Spur Farbe auf Lippen, Augenlidern und Wimpern auf. Und dann der Schmuck … na gut, sie besaß keinen Schmuck bis auf die silberne Kette mit dem sternförmigen Anhänger, ein Symbol, das in irgendeiner südasiatischen Kultur irgendeine Rolle spielte – sie legte sie an, und sie schmiegte sich angenehm um ihren Hals, der Anhänger blitzte nur knapp aus dem V-Ausschnitt ihrer Jacke hervor.

Ganz am Schluss bürstete sie sich rasch das Haar und begutachtete sich ein letztes Mal im Spiegel. Sie sah … gestylt aus. War sie attraktiver als sonst, obwohl sie doch nur anders gekleidet war? Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, und musste über ihre eigene Ahnungslosigkeit lächeln. Jedenfalls fand sie, dass sie sehr gut aussah.

»Was weißt du schon?«, fragte sie die Frau im Spiegel. Die Frau im Spiegel lächelte gelassen zurück. Zurückhaltend, aber aufrichtig und mit einem Funken Humor. Ein anderes Lächeln besaß sie nicht.

Tanusha bot viele Möglichkeiten für Nachtschwärmer, doch die Farnstraße zählte zu den zehn bekanntesten Ecken – was in einer Stadt wie Tanusha, die für ihre Vergnügungsviertel berühmt war, einiges zu bedeuten hatte. Sie verlief entlang einer birnenförmigen Halbinsel in einer der vielen Schleifen des Flusses Shoban. Es war ganz offensichtlich, weshalb das Nachtleben ausgerechnet hier tobte. Auf dem Weg Richtung Fluss sah April Cassidy zu den hoch über dem Ufer aufragenden Wolkenkratzern empor. Auf der dunklen Wasseroberfläche flammten und zuckten Lichter, tanzten im Kielwasser eines vorüberfahrenden Kreuzfahrtschiffs und einiger kleinerer Boote.

Ein wirklich erlesenes Stück Land. Vor allem die isolierte Halbinsel in der Flussschleife mit ihren auffallend mächtigen und hell erleuchteten Hochhäusern. Überwiegend Wohnungen und Touristik, dachte sie, während sie mit tief in den Taschen vergrabenen Händen vorbeischlenderte. Ringsum Flussblick – kein Wunder, dass es eine heißbegehrte Wohngegend war. Und wo Leute waren, fanden sich auch bald Vergnügungen aller Art ein.

Allerdings hatte man praktisch überall in Tanusha Flussblick. Die Mega-Metropole erstreckte sich quer durchs ausgedehnte Shoban-Flussdelta, in das sich aus nordöstlicher Richtung die Ausläufer des Tuez-Gebirges hundertfach aufgefächert durch die bewaldete Ebene erstreckten. Diese flussreiche Topographie hatte die Städteplaner inspiriert: Die Flussufer waren von Wohngegenden gesäumt, und wo immer möglich, war der Baumbestand erhalten geblieben. All das Grün und das schimmernde Wasser sahen so gar nicht städtisch aus. Wieder fragte sie sich, welche Prioritäten wohl in einer Stadt vorherrschen mochten, die sich so hingebungsvoll verspielten Launen widmete.

Arm in Arm liefen Paare an ihr vorbei, Ampeln warfen gedämpftes Licht auf die Gehsteige. Aus allen Richtungen wehte Musik heran, und von einem vorbeifahrenden Kreuzfahrtschiff trieben Unterhaltungsfetzen über das Wasser herüber, die Klänge einer Jazzband, Gläserklirren.

Die meisten hübschen jungen Frauen befanden sich in attraktiver männlicher Begleitung, stellte April Cassidy fest. Sie zog die Blicke der Vorbeigehenden auf sich, insbesondere die der Männer, und das lag vielleicht vor allem daran, dass sie allein war. Allerdings musste es das auch geben. Wie sollten sich Leute zu Paaren zusammenfinden, wenn sie nicht zuvor Singles waren?

Seit gut einem Jahr hatte sie ganz nebenbei während der Arbeit begriffen: Sex war nicht schwierig, Beziehungen allerdings schon. Das Umwerben war ausgesprochen verwirrend, und Romantik entzog sich gänzlich ihrem Verständnis. Sie bevorzugte komplikationsfreie, regelmäßige Orgasmen. Aber dann wiederum – was wusste sie schon?

Ein Stück weiter veränderte sich die friedliche Uferpromenade, die weiträumig verteilten Bäume wichen altmodischen, kompakten Backsteinbauten, vierstöckig und mit buntgestrichenen Fassaden, schmalen Fenstern und hübschen Holzläden. Überall drängten sich die Menschen an vollbesetzten Tischen, und Gespräche, Musik und Lachen vermengten sich zu einem allgegenwärtigen Getöse. Das ganze Ufer war voller Bars und Restaurants, und alle paar Schritte warben Schilder für irgendeine lokale Spezialität. Es roch köstlich. Alles roch köstlich.

Endlich fand sie in einer etwas ruhigeren Ecke einen freien Tisch in Ufernähe. Ein gutgekleideter Kellner nahm ihre Bestellung auf – die Auswahl hatte sie ganz nach dem Zufallsprinzip getroffen – und eilte geschäftig davon. Irgendwo nicht weit entfernt spielte ein Saxophon ohne jede Begleitung, es klang ihr höchst angenehm in den Ohren. Weiter weg und gedämpft durch die Unterhaltungen ringsum stampften Technorhythmen.

Ihr Essen war … ungewohnt. Callayanische Meeresfrüchte aus den Fischfarmen der nah gelegenen Küste. Der Kellner musste sich gerade um keinen anderen Gast kümmern und versicherte ihr, es handle sich um eine regionale Delikatesse. April Cassidy war sich nicht ganz so sicher – es schmeckte intensiv, aber wirklich sehr ungewohnt. Erst als sie fertiggegessen und das halbe Glas des dazu gereichten Obstweins getrunken hatte, beschloss sie, dass es ihr schmeckte. Ihr übliches Fazit bei allem Ungewöhnlichen. Sie bestellte ein Dessert, schaute aufs Wasser hinaus und widmete sich der zweiten Hälfte ihres Weins.

Ein Mann glitt auf den Stuhl gegenüber. »Macht es dir etwas aus, wenn ich mich setze?«, fragte er.

»Nein, natürlich nicht.«

Ein leichtes Lächeln. »Ich bin Joachim.« Er streckte ihr die Hand hin, und sie ergriff sie.

»April.«

»April. Ein entzückender Name.«

Das Gespräch mit Joachim erwies sich als recht interessant. Offensichtlich wollte er mit ihr ins Bett. Während sie sich unterhielten, musterte sie ihn verstohlen und befand seine Chancen für ausgezeichnet. Nachdem das geklärt war, erfreute sie sich an ihrem Fruchteis und einem zweiten Glas Wein, das Joachim ihr gebracht hatte, und genoss die Gesellschaft.

»Was machst du denn beruflich, Joachim?«

»Ich arbeite für eine kleine Firma im Bereich Kommunikationstechnik. Hsu Communications – du hast bestimmt noch nichts von uns gehört, du bist ja noch ganz neu in der Stadt.«

Sie schüttelte den Kopf und nippte an ihrem Wein.

»Von meinem Büro im Mohan-Gebäude habe ich eine so großartige Aussicht …«

An diesem Abend lernte sie von Joachim einiges über Tanusha. Überwiegend unbedeutende Kleinigkeiten – wo man sich am besten vergnügen konnte oder wie der berühmteste Kampfkunst-Star Tanushas hieß, oder auch, wie man anschreiben lassen konnte, wenn man nach vielen spätabendlichen Sauftouren pleite war … zweifellos in Begleitung wechselnder ungebundener, attraktiver Frauen, von denen sie nur die neueste Eroberung war. Nach einer halben Stunde hätte sie vielleicht doch ihre eigene Gesellschaft der seinen vorgezogen, aber sie entwickelte so langsam ein Gefühl für den typischen Einwohner von Tanusha, das war ja auch etwas wert. Und außerdem hatte sie sich jetzt schon auf Sex eingestellt.

 

Es war 0.37 Uhr, und April Cassidy stand nackt vor dem großen Fenster in Joachims Wohnung. Das nächtliche Tanusha bot ein wirklich sehenswertes Spektakel. Nie zuvor hatte sie eine so üppige und vielfältige Beleuchtung gesehen – tastende Lichtstrahlen, flackerndes Stroboskoplicht, manchmal isoliert, manchmal in zentrierten Mustern, tausend Farben … sie legte eine Hand an die kalte Glasscheibe und ließ den Blick müßig über die vor Licht gleißende Stadt schweifen.

Ein Lufttransport jaulte vorbei, quecksilbergleich glitt gespiegeltes Licht über seine schimmernde Flanke. Sie sah zu, wie er dahinzog, vernahm halbbewusst anschwellende und wieder leiser werdende Stimmen, eine deutliche, ganz körperliche Empfindung. Maschinenverkehr, Fußgängerverkehr, Börse, Verkehrsleitsysteme, persönliche Telefonate … alles verschmolz miteinander. Die Stadt führte Selbstgespräche, kommunizierte mit anderen Städten rund um den Globus und mit der Sendestation hoch oben und mit noch viel weiter entfernten Planeten und den Menschen dort. Das Netz war riesig. Unermesslich. Und noch gewaltiger …

Sie drehte sich zu Joachim um. Er lag nackt und mit ausgestreckten Gliedern auf den zerwühlten Laken, von draußen leuchteten die Lichter der Nacht herein. Mit einem leisen Seufzer sammelte sie ihre Kleider auf, die sie vor 107 Minuten fallen gelassen hatte. Joachim rührte sich nicht, womöglich hatte er am Abend ein Gläschen zu viel getrunken. Und sie hatte ihn ordentlich ausgelaugt – 107 Minuten schienen für ihn eindeutig mehr zu sein als gewohnt.

Nun, dachte sie und schloss den Gürtel ihrer Jacke, sie hatte keinen Grund zur Klage. Es war nur schon ein Weilchen her gewesen. Mindestens eine Woche. Sie überprüfte, ob ihr Portemonnaie noch in der Tasche steckte und alle Geldkarten und Ausweise da waren, wo sie hingehörten, stellte sich vor den Schlafzimmerspiegel und strich sich im durchs Fenster fallenden Licht das Haar zurecht. Es war etwas zerzaust, aber es gefiel ihr so, und sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Das Spiegelbild lächelte zurück.

Dann, weil sie insgeheim hoffte, eines Tages eine hoffnungslose Romantikerin zu werden, trat sie ans Bett und drückte Joachim einen zarten Kuss auf die Lippen. Sein Atemrhythmus veränderte sich vielleicht unmerklich, aber seine Lider flatterten nicht einmal. April Cassidy ging lautlos zur Tür, öffnete und schloss sie behutsam und lief den leeren Flur entlang. Noch immer hörte sie im Geiste die sehnsuchtsvollen Klänge eines Saxophons.

 

In dieser Nacht, allein in ihrem Hotelbett, hatte sie einen Traum.

Kaltes, dunkles Metall umgab sie. Ringsum stampfender mechanischer Lärm, Fliehkräfte drückten sie hart in ihren Sitz und warfen sie gleich darauf nach vorn gegen den Sicherheitsbügel. Ihre rechte Hand schmiegte sich in einen schweren Handschuh und umklammerte den Griff eines Gewehrs, das in einer massiven Verankerung befestigt war. Sie steckte in einer Körperpanzerung, leicht und doch widerstandsfähig, und unter ihrem Kinn war der Gurt eines Helms festgezurrt. Das Visier stand offen, die Systeme kurz vor dem Absprung offline.

Auf den Bänken ringsum wurden Soldaten mit identischer Panzerung und Bewaffnung von ihren Sicherheitsbügeln am Platz gehalten, während gewaltige Kräfte an ihnen rissen und das Motorengeräusch in ihren Ohren jaulte. Sie kannte ihre Namen. Dort war der schmächtige Tran mit seinem Kindergesicht. Rachmin mit kalten Augen und schmalem Kinn. Chu, die immer die Zunge leicht herausstreckte, wenn sie nervös war. Dobrov, mürrisch wie immer. Mahud in seinem unbezähmbaren Eifer. Der Mann im Sitz gegenüber musterte sie finster. Sergei. Oder Stark, wie er meistens genannt wurde.

»Gleich ist es so weit, Sandy.« Auf dem eingeblendeten Radar weiter vorn sah sie, dass sie sich dem Ziel näherten. Sie sah sich um. Wieder schoss der Gleiter in die Höhe, und sie wurde hart in ihren Sitz gepresst, die Sicht verschwamm. Ihr Unbehagen wuchs.

»Ich heiße nicht Sandy. Ich nenne mich jetzt April Cassidy.«

»Was soll ’as heiß’n, Cap’n?«, fragte Chu.

»Das ist mein Name«, wiederholte sie. »Ich bin nicht mehr Sandy. Mein Name ist April Cassidy.«

Verständnislos starrten alle sie an. Tran gähnte.

»Nähern uns dem Ziel, Captain«, sagte Stark. Sein Blick wirkte wie immer unheilverkündend.

»Ich kann euch nicht führen«, erklärte sie ihm. »Ich sollte gar nicht hier sein. Das ist alles ein Fehler.« Ihr wurde immer unwohler. Es blieb nicht mehr viel Zeit, und sie war unvorbereitet, vollkommen unvorbereitet. Wie sollte sie die anderen ohne jeden Plan anführen? Wo waren ihre Aufklärungsberichte? Sonst nahm sie vor einer Mission immer an Einsatzbesprechungen teil, aber diesmal konnte sie sich nicht daran erinnern.

»Dreißig Kilometer«, verkündete der Pilot. Sie wusste nicht, wie er hieß. Oder war es Marsh? Nein, das konnte nicht sein, Marsh hatte es bei Operation Riemus erwischt. Panik stieg in ihr auf. Sie musste wissen, wer sie flog. Wie hatte sie zulassen können, dass ein ihr fremder Pilot ihre Leute in eine Gefechtszone flog? Nein, bei dieser Operation stimmte etwas nicht, sie musste etwas tun …

»Abbruch«, bellte sie ins Mikro, »Mission abbrechen! Hier spricht Captain Cassandra Kresnov, ich befehle den sofortigen Abbruch der Mission …« Bei Gott, sie hatte den Codenamen der Mission vergessen. Das war nicht möglich. Entsetzt sah sie zu Stark hinüber, der sie wenig hilfreich anstarrte.

»Was ist los, Cap?«, fragte Mahud aus einiger Entfernung und grinste sie an. »Kalte Füße?«

»Zwanzig Kilometer«, meldete der Pilot, und ein weiterer heftiger Schub ließ ihren Helm gegen die Kopfstütze knallen. Schüsse zischten an ihnen vorbei, das Zielsystem reagierte und erwiderte das Feuer …

»Ich sollte nicht hier sein«, schrie sie die anderen verzweifelt an. »Ich bin nicht mehr euer Captain, ich bin April Cassidy. Ich bin Spezialistin für Kognitive Software …«

Mahud schnaubte vor Lachen.

»Du bist was?«, erkundigte sich Dobrov mit wenig Interesse.

»Nähern uns dem Ziel, Sandy«, unterbrach Stark warnend. Teufel auch, sie würden alle sterben in diesem Gefecht, über das sie nichts wusste, in einer Operation ohne ordnungsgemäße Einsatzbesprechung, nur weil sie nicht ganz beieinander war und keinen Schimmer hatte, worum es bei dieser Mission eigentlich ging, von den Rückzugsbedingungen mal ganz abgesehen, und es hing alles von ihr ab, was bedeutete, dass sie alle sterben würden. Genau wie beim letzten Mal würden alle sterben …

 

Voller Panik schoss sie aus dem Schlaf, rang schweißüberströmt nach Luft …

Lange, sehr lange saß Cassandra Kresnov aufrecht im Bett, der Schweißfilm auf ihrer Haut trocknete in der kühlen Luft, die Decke war ihr bis zu den Hüften hinuntergerutscht.

Sandy. Ihr Name war Sandy. Sie hatte geglaubt, sie könne ihn einfach ändern, und damit hätte es sich erledigt. Alle amtlichen Dokumente belegten unzweifelhaft, dass ihr Name April Cassidy lautete und nie anders gelautet hatte, aber die amtlichen Dokumente waren gefälscht.

Captain Cassandra Kresnov, Dark-Star-Spezialkommando. Als könnte sie dem jemals wirklich entkommen.

Hinter den Fensterscheiben ging die Sonne auf. Es war 6.24 Uhr, sie hatte etwas weniger als sechs Stunden geschlafen, aber alles über vier Stunden war für sie ohnehin reiner Luxus. Müdigkeit war kein Thema für April Cassidy. Für Sandy.

Frustriert kniff sie die Augen zusammen. Cassandra Kresnov. Sandy für ihre Freunde. Wenn es denn wirklich Freunde waren. Schwer zu sagen bei diesem Haufen zweidimensionaler Persönlichkeiten, für die »töten oder getötet werden« nicht nur eine Überlebensstrategie war, sondern ihre gesamte Lebensphilosophie. Vielleicht war sie selbst einmal ein bisschen so gewesen. Vielleicht. Aber jetzt waren die anderen alle tot. Sie stand auf, wollte nicht weiter darüber nachdenken.

Nach dem Duschen setzte sie sich halbwegs erholt auf den Boden und machte Dehnübungen. Ihre Muskeln, die sie seit über einer Woche nicht mehr wirklich beansprucht hatte, ächzten und stöhnten unwillig. Dehnübungen waren besser als nichts, aber sie war gut beraten, bald mit einem etwas ernsthafteren Training zu beginnen. Was sich als schwierig erweisen würde, denn hier in Tanusha trainierte man in der Regel öffentlich. Aber vielleicht würde sie ja etwas finden, das ihr guttat, ohne dass sie die Einheimischen zu sehr erschreckte. Oder die Behörden auf den Plan rief.

Als sie fertig war, blieben noch immer siebzehn Minuten bis zum Frühstück, also setzte sie sich im Schneidersitz aufs Bett und loggte sich ins Netz ein. Ihre Daten waren noch immer ordentlich im geschützten System des Hotels verwahrt, allerdings waren sie wie erwartet einige Male abgerufen worden. Alle vier Zugriffe gingen aufs Konto der Firmen, bei denen sie sich gestern vorgestellt hatte. Aus einem Reflex heraus sah sie sich die hinterlassenen Datenspuren näher an, verfolgte sie in zwanzig Richtungen zugleich und überprüfte, was sie sich angesehen und was sie mit den Informationen angestellt hatten. Firmennamen, Adressen, offizielle und weniger offizielle Zugangscodes, Verschlüsselungen, Umgehungspfade … alles raste in Höchstgeschwindigkeit vorbei, wurde mit gleichbleibender Sorgfalt ausgelesen, geprüft, für unwichtig befunden.

An manchen Stellen gab es ein Fragezeichen, mehr nicht. Und ihre Stolperdrähte, für den Fall, dass jemand tiefer grub, waren noch immer unberührt. Nur ein paar interessierte Firmen, die einen Bewerber überprüften, so wie das jede gute Firma tun würde. Und sie würden nichts als enthusiastische Empfehlungen finden, nicht zuletzt von Boushun Information, für die sie wirklich herausragende Arbeit geleistet hatte – während ihrer Zeit dort hatte sie den Jahresgewinn um dreißig Prozent steigern können. Das junge Start-up hatte eine nahezu Unbekannte eingestellt, über die sie nicht viel mehr wussten als das, was in ihren Ausbildungsunterlagen stand, die also eigentlich ein Sicherheitsrisiko darstellte. Und tatsächlich hätte sie sich an der Firma bereichern können, wenn es ihr um Geld gegangen wäre, ohne dass es bei Boushun jemand mitbekommen hätte. Aber sie hatte es nicht getan, hatte die Firma stattdessen lediglich mit einem gesunden Kontostand und den ersehnten Empfehlungsschreiben verlassen, ohne die sie wohl kaum eine Chance bei einem der großen Technologiekonzerne von Tanusha gehabt hätte.

Sie hatten ihr eine enorme Gehaltserhöhung angeboten, als sie gehen wollte, aber sie hatte sie ausgeschlagen. Zu unglücklich dürfte Boushun allerdings alles in allem nicht gewesen sein – sie hatte ihnen einige Patente für grundlegende Designs dagelassen, die der Firma in den nächsten sechs bis sieben Jahren einen fünfzehnprozentigen jährlichen Gewinnzuwachs sichern würden. Mindestens. Damit war sie ebenfalls sehr zufrieden. Boushun hatte viel für sie getan, und sie hatte sich revanchiert. Ein so unkompliziertes, einfaches Geschäft, dieses freundliche, zivilisierte Nett-zueinander-Sein. Ein schlichtes, einfaches Vergnügen. Es gefiel ihr sehr. Und außerdem konnte sie jederzeit weitere solche Software-Patente aus dem Hut zaubern.

Das Frühstück wurde drei Minuten zu spät geliefert, wieder von demselben Hotelangestellten mit der Fliege, und wieder bat er für die Verspätung um Entschuldigung. Sogar für einen Hotelangestellten war er bemerkenswert höflich und liebenswürdig und entschuldigte sich so wortreich und ausgiebig, dass das nächste Frühstückstablett sich noch mehr verspäten würde. Vielleicht schloss er aus ihrem rasch übergeworfenen Bademantel, dass sie ansonsten gern nackt in ihrem Zimmer herumspazierte. Vielleicht wollte auch er sie gern flachlegen.

Als er fort war, grinste sie in sich hinein und streifte den Bademantel ab, verzehrte nackt und mit gekreuzten Beinen auf dem Bett ihr Frühstück und sah zu, wie die Sonne in aller Pracht zwischen den Wolkenkratzern emporstieg. Sie würde auf gar keinen Fall den Zimmerservice vögeln – er war ohnehin schon spät dran. Allerdings würde er auch irgendwann freihaben.

Und dann war da noch der Mann gestern im Fahrstuhl, der ihr einen zweiten und dritten Blick zugeworfen hatte. Auch er hatte nicht schlecht ausgesehen. Sie fragte sich, ob sie ihm heute wieder begegnen würde. Offensichtlich lebte eine ungebundene Frau mit ausgeprägtem sexuellen Appetit ganz und gar nicht schlecht in Tanusha.

»Alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist«, hatten sie beim Militär gesagt, und sie hatten nicht vom Erschießen geredet.

Sandy, oder April Cassidy, oder wie auch immer du heißen magst – du bist definitiv keine Einmannfrau, dachte sie, lächelte breit und fiel mit frischem Elan über ihr Frühstück her. Sie fühlte sich wieder sehr viel besser.

 

Die Stadtgalerie von Tanusha war ein Erlebnis. Ebenso interessiert an der Einrichtung wie an der Kunst selbst, schlenderte sie müßig über die polierten Holzböden. Die langgezogenen Wände waren weiß und glatt. Jedes Ausstellungsstück wurde von durchdacht platzierten kleinen Lampen ausgeleuchtet, die Deckenbeleuchtung spendete sanftes Licht. Leute standen oder schlenderten herum, unterhielten sich gedämpft, einige betrachteten tiefversunken die Leinwände. Vor einer davon blieb Sandy stehen: Der rechteckige Rahmen nahm fast die gesamte Wand ein. Es war ein völliges Chaos: Farbe, wohin man blickte. Rote Farbe, blaue Farbe, grüne Farbe in dünnen, scheinbar zufälligen Linien über die Leinwand gespritzt und geschmiert. Aber nein, sicher nicht zufällig. Sie sah genauer hin und kniff konzentriert die Augen zusammen, versuchte das Konzept dahinter zu verstehen, das es bei einer Arbeit wie dieser zweifellos gab. Immerhin wurde das Bild in einer der führenden Galerien des Planeten ausgestellt. Aber es war schwer zu erkennen.

Und vielleicht, grübelte sie, war genau das die Absicht des Künstlers gewesen. Die Menschen zum Hinsehen zu bewegen. Und zum Nachdenken. Was ihr höchst eigenartig vorkam – die Vorstellung, dass ein Künstler zu diesem Zweck die Kunst selbst in Frage stellte. Sie vielleicht sogar abwertete. Sie war nicht sicher, ob sie mit dem Gedanken etwas anfangen konnte.

Sie richtete sich auf und betrachtete die anderen Leute, die allesamt ähnlich abstrakte Werke betrachteten und die Sache offenbar sehr ernst nahmen. Was sehen sie wohl darin?, fragte sie sich. Etwas, das ihrem Blick verborgen blieb? Hing es nur mit den gewöhnlichen individuellen Unterschieden zwischen den Menschen zusammen, oder lag es daran, dass sie selbst so anders war?

Sie wandte sich wieder zu dem Gemälde um und änderte die optischen Einstellungen ihrer Retina. Es blieb kalt und flach. Ein Stück tote Leinwand mit Farbe darauf. Sie änderte das Farbspektrum, aber das ließ die Farben nur noch chaotischer erscheinen. Wieder zurück zur Standardeinstellung. Das gleiche Bild wie zuvor. Und immer noch: nichts weiter als ein Durcheinander.

Sie blieb noch eine Weile und erfreute sich an der gedämpften, gedankenschweren Atmosphäre. Alle bewegten sich langsam, niemand hatte es eilig. Ihre bequemen Laufschuhe quietschten angenehm auf den polierten Dielen, und mit etwas Mühe konnte sie fast die knirschende, stetig wachsende Steifheit ihrer Muskeln verdrängen, die sich nach Training oder einer Massage sehnten.

Vier Stunden später und nachdem sie in einem der sehr behaglichen Restaurants der Galerie zu Mittag gegessen hatte, machte sich Sandy wieder auf den Weg. Die morgendliche Sonne über den Straßen der Stadt war dicken Wolken gewichen, es regnete gleichmäßig und ausdauernd. Zügig lief sie den Fußweg am fünfstöckigen, altmodisch anmutenden Galeriegebäude entlang, einen Schirm in der Hand und den Mantel fest um sich gewickelt, damit ihre legere Jeans nicht allzu sehr nassgeregnet wurde. Windböen fegten durch die Bäume am Straßenrand, und der Verkehr zischte auf nassen Reifen vorüber. Aber das Wetter war ihr keineswegs unangenehm, sie lief fröhlich drauflos, platschte im Dauerregen durch die Pfützen.

Licht blitzte durch einen Spalt zwischen zwei nahen Türmen. Dann ein Donnern, ein tiefes, rollendes Rumpeln, das eigenartig zwischen den Gebäuden widerhallte. Menschen spähten unter ihren Schirmen hervor nach oben. Ein paar weibliche Teenager hasteten lachend und schwatzend auf einen überdachten Fußweg zu, um sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen – wenn nicht gerade eine scharfe Seitenböe kam.

Ein Stück voraus stürzten ein Mann und eine Frau aus der Deckung heraus zu einem wartenden Lufttaxi und kletterten rasch hinein. Die Türen schlossen sich, dann ertönte deutlich vernehmbar ein Heulen über dem geschäftigen Rauschen des Straßenverkehrs, und die Lichter entlang des Fußwegs schalteten auf Rot um. Die Leute blieben hinter den gelben Linien zurück und sahen zu, wie sich das Taxi aus der quergestreiften Landezone in die Luft erhob. Sandy spürte die vertraute statische Aufladung ihrer Haare, winzige Nadelstiche, die gleich wieder verschwanden, als sich das Motorengeräusch änderte, das Lufttaxi auf und davon flog. Durch das regennasse Glas der Überdachung sah Sandy ein weiteres Taxi herankommen, um beim Ende der Schlange, wo nun gelbe Lichter blinkten, zu landen. Sie vernahm deutlich die Landefrequenz des Taxis, ein schlichter, effizienter Binärcode, der die Tonleiter rauf und runter ging, als sie rasch hinter die neue gelbe Linie zurücktrat. Ein interessanter Code, dachte sie im Gehen. Seine Notation, ganz anders aufgebaut als gewöhnlichere Maschinensprachen, stach klar heraus.

Donner raste über den Himmel, ein hoher Klang, der sich zu einem tiefen, lang anhaltenden Grollen senkte und die Luft vibrieren ließ. Sie vermeinte es in der Luft zu schmecken: der warme Ozongeruch eines Gewitters, pure Energie.

Hinter ihr setzte das neu hinzugekommene Lufttaxi mit wimmerndem Motor auf dem Boden auf, und wieder hörte sie seinen Binärcode. Im Weitergehen zerlegte sie ihn gedanklich in seine Bestandteile, sah die eigentümlichen Verästelungen der dreiphasigen interaktiven Modulatoren und die stark komprimierten Speichersegmente vor sich, denen sie zuarbeiteten … Sie wich dem Verkehr aus und lief unter einer Überdachung entlang, fand ihren Weg ganz nebenbei, ohne richtig hinzusehen, ihr Blick in weite Ferne gerichtet. Ja, hohe Bandbreite, ungeheure Datenmengen. Es gab einige Ebenen, zu denen sie auf die Schnelle nicht vordringen konnte. Vielleicht lag es an den Blitzen. Interessant.

In der Metro spürte sie es noch zweimal: eine blasse, geisterhafte Präsenz vor dem ganzen Hintergrundverkehr. Die Waggons summten gleichmäßig an regenglänzenden Straßen und den gelegentlichen blinkenden Lichtern von Kreuzungen vorbei. Von ihrem Fenstersitz aus sah sie überall zwischen den Türmen weitere Lichter hell aufblitzen. Über dem elektronischen Jammern des Zugs vernahm sie fernes Donnergrollen.

Mit einem raschen Blick nach oben aus dem Fenster stellte sie fest, dass der Luftverkehr sich davon nicht stören ließ. Luftwagen kurvten sanft zwischen den Türmen hindurch, verschwanden kurz hinter nassem Grün und tauchten wieder auf. Das Glas der Türme spiegelte wolkiges Grau, finster und stumm unter dem dunkelnden Himmel

»Was für ein Tag, nicht wahr?«, sagte die Frau neben ihr und spähte ins trübe Zwielicht hinaus.

Sandy trennte die mentale Verbindung zum Netz, die ihr bis eben gar nicht richtig bewusst gewesen war, und lächelte. »Ich mag die Blitze«, sagte sie. »Sie machen den Tag interessanter.«

Nachdenklich musterte die Frau sie. »So kann man es natürlich auch sehen.« Und sie verstummte.

In der Annahme, dass das Gespräch damit beendet war, tauchte Sandy wieder ins Netz ein. Die Funkverbindung ermöglichte weniger Interaktionen als der direkte Link, aber für ein paar einfache Suchvorgänge genügte es. Wieder überprüfte sie ihre Unterlagen. Alles war, wie es sein sollte, keine weiteren Abrufe. Beiläufig fragte sie sich, wann wohl eines ihrer Bewerbungsgespräche zu einer Anstellung führen würde, und folgte einem der Datenpfade, während der Zug in die nächste Station einfuhr und ringsum Leute sich von ihren Plätzen erhoben. Sie loggte sich bei der Seite von Wardell Systematics ein, die so sauber und komplex aufgebaut war wie erwartet. Der Zug hielt, Türen öffneten sich, und die Aussteigenden drängten sich an den Einsteigenden vorbei nach draußen. Regenschirme wurden eingeklappt, und die neuen, größtenteils nicht allzu nassen Fahrgäste verteilten sich auf die frei gewordenen Sitze.

Wieder hörte Sandy den Binärcode, verlor in einem kurzen statischen Rauschen die Verbindung, konnte sie aber fast sofort wiederherstellen. Lange starrte sie blicklos aus dem Fenster, wo Bäume, Fahrbahn und Passanten immer schneller vorüberglitten, aber ihre Aufmerksamkeit war auf die Spiegelung eines Mannes gerichtet, der vier Reihen hinter ihr auf einem Platz am Gang saß. Er hatte ein Kommunikationsgerät bei sich, dessen Übertragungen irgendetwas mit dem Binärcode zu tun hatten. Das war es, was ihre Verbindung unterbrochen hatte. Möglicherweise hatte es nichts zu bedeuten. Vielleicht, dachte sie ruhig, war es reiner Zufall. April Cassidy hätte sich den Luxus erlauben können, an reine Zufälle zu glauben. Cassandra Kresnov nicht.

Ihr Blick schweifte durch das Innere des Waggons, über all die Reihen bequemer Sitze und den geräumigen Mittelgang. Ihr gegenüber auf der anderen Seite des freien Platzes neben der Tür saß ein Mann. Er trug einen durchsichtigen, mit Wassertropfen übersäten Plastikregenmantel über seiner Kleidung. Verzerrt spiegelte sich der gesamte Waggon hinter ihr darin, den sie sich nicht ansehen konnte, ohne sich umzudrehen.

Einen Schnappschuss dieser Spiegelungen speicherte Sandy ab, um ihn sich dann genauer vorzunehmen. Sie zoomte heran und überflog die einzelnen Ausschnitte. Verschwommen rasten die Bilder an ihr vorbei. In einem Sekundenbruchteil hatte sie sie durchgescannt. Suchte die schärfste Aufnahme heraus und machte sich daran, sie zu verbessern, passte die zu blassen Farben an und glättete die Verzerrungen. Am Ende hatte sie das halbwegs klare Bild eines mittelgroßen Asiaten in schwarzem Mantel vor sich, Schultern und die Säume der Hosenbeine waren nass. Die nasse Hose erweckte ihre Aufmerksamkeit, sie war dunkel vor Wasserspritzern, als wäre der Mann lange durch Pfützen gelaufen. Die meisten Berufspendler in Tanusha nutzten ein Transportmittel. Und dieser Mann war kein Tourist.

Mit leichtgeschürzten Lippen atmete Sandy sachte aus. Es blieb ihr nichts übrig, als das Schlimmste anzunehmen. Fürs Erste jedenfalls. Falls sie sich irrte – nun, das würde sie dann ja merken. In ihrem Hinterkopf beklagte eine kleine, panische Stimme verzweifelt ihren Traum von einem friedlichen Leben in Tanusha – alles binnen eines kurzen Augenblicks zerschmettert. Tiefschwarze Verzweiflung wallte in ihr auf.

Nein. Das war überstürzt. Typische Soldatenparanoia. Es war zu erwarten gewesen, dass ihr die Anpassung an ein bürgerliches Leben schwerfallen würde. Und ihre übertriebene Reaktion war eine der Schwierigkeiten, mit denen zu rechnen gewesen war – sie ging immer gleich vom Schlimmsten aus. Es musste nicht so sein.

Nun denn. Sie würde es herausfinden.

Kurz vor dem nächsten Halt stand sie auf und hielt sich vor der Tür am Griff über ihr fest. Ließ scheinbar gleichmütig den Blick durch den Waggon schweifen. Der Asiate las eine Zeitschrift. Aber das hatte nicht viel zu bedeuten.

An der Haltestelle stieg sie aus und lief unter der Überdachung entlang bis zu einer Kreuzung. An der Straßenecke gegenüber stand einer der gewaltigen Mega-Türme, direkt daneben ein gut neun Stockwerke hohes riesiges Einkaufszentrum, dessen Architektur schamlos mit gläsernen Rolltreppen und Laufwegen protzte. Sandy joggte darauf zu, das Wetter bot eine gute Ausrede für ihre Eile. Sprang in großen Sätzen die Treppe zur überdachten Fußgängerbrücke hinauf. In beide Richtungen strömten Passanten. Die Scannersicht zeigte nichts als fließende Lichtgestalten in Rot- und Blautönen. Nichts Magnetisches oder Elektronisches bis auf das künstliche rechte Auge einer Frau, dessen Kabel sich bis zum Interface-Anschluss wand. Und den Jungen mit den Kopfhörern, deren Signatur jedoch nicht weiter verdächtig war. Der Verkehr rauschte vorüber. Riesige, fünf Stockwerke hohe Neonbuchstaben verkündeten den Namen der Einkaufspalastkette. Donner rollte wie eine Welle über den Verkehr und die aus den Geschäften dringende Musik und verklang in der Ferne.

Das Einkaufszentrum war riesig. Über die gesamte Höhe von neun Stockwerken zogen sich Laufwege rings um den glasüberdachten Lichthof in der Mitte, gesäumt von Geschäften. Dutzende gläserne Fahrstühle und Rolltreppen, alle gestopft voll mit Leuten, Hunderte und Tausende Stimmen hallten überall wider und suchten die Lautsprecher zu übertönen.

Auf allen Seiten strömten jetzt rot-blau changierende Gestalten an Sandy vorbei. Zielstrebig schritt sie zwischen ihnen hindurch, während sie weiter Daten verarbeitete. Die Menschenmenge lenkte sie ab und bot ihren Feinden, wenn sie denn existierten, Deckung. Aber zugleich bot sie ihr auch Schutz. An einer Infotafel blieb sie stehen und drückte wahllos einige Icons. Den aufflammenden Wegbeschreibungen zollte sie wenig Aufmerksamkeit, stattdessen scannte sie die Eindrücke am Rand ihres Sichtfelds auf Anzeichen für etwaige Verfolger. Nichts als Tüten schwenkende Leute auf ihrem Einkaufsbummel. Irgendwo drüben im offenen Atrium war ein Fahrgeschäft in Betrieb, mechanisches Scheppern und das Geschrei begeisterter Kinder hallten herüber. Sie drückte auf ein anderes Icon, und die Anzeige auf der Infotafel änderte sich.

Und am Rande ihres Bewusstseins flackerte vages Wiedererkennen auf. Sie sah auf, um das Atrium zu scannen. Mit dem Spektrum stimmte etwas nicht, ein kaum wahrnehmbarer Schleier lag über ihrer Wahrnehmung … und gleich darauf entdeckte sie die Quelle der Störung: Am Geländer gegenüber stand ein Mann mit dunkler Sonnenbrille.

Sandy wandte sich um und ging weiter, jetzt etwas zügiger. Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie hatten sie gefunden. Wer oder wie war nicht weiter von Belang, sie hatten jedenfalls nichts Gutes im Sinn. Das hatten sie nie. Ungeduldig drängte sie sich an einem gemächlich dahinbummelnden Pärchen vorbei, das die Schaufensterauslagen betrachtete. Vom Fahrgeschäft stieg Geschrei auf und hallte von der hohen Decke des Atriums wider. Sie schob den zusammengeklappten Regenschirm in die Manteltasche, um die Hände frei zu haben, und wandte sich nach rechts, lief rasch an den hereindrängenden Passanten vorbei in den angrenzenden Gang.

Jetzt erst fiel ihr eine Unstimmigkeit auf: Wenn irgendwer es auf sie abgesehen hatte, wäre seine beste Chance gewesen, sie im Schlaf in ihrem Hotelzimmer zu überraschen. Nicht in einem überfüllten Einkaufszentrum. Außer natürlich, sie hatten jetzt erst herausgefunden, wer und wo sie war, und beschlossen, keine Zeit zu verlieren. Möglich, dass sie eine so hohe Priorität hatte. Sogar sehr gut möglich.

Ihre Datenverbindung lief auf Hochtouren, während sie weitereilte, sie arbeitete sich durch die regionalen Datenbanken, verfolgte die offiziellen Verkehrsströme auf der Suche nach Polizeiaktivität und Sicherheitsalarm … und dann, während sie durch den überfüllten Gang auf die Fußgängerbrücke zueilte, checkte sie ihre im Hotel hinterlegten Daten. Stellte fest, dass der Zugriff blockiert wurde, sobald sie mehr als das öffentlich Einsehbare abrufen wollte, und ihr Eindringen löste einen Alarm aus. In heftig aufwallendem Zorn zerschoss sie das Alarmprogramm und sandte ihre Killerprogramme aus, um Jagd auf elektronische Signaturen zu machen.

Die Geschwindigkeit, mit der dies alles über sie hereinbrach, machte ihr Angst. Sie wusste nur zu genau, was los war, und ein bedachtes Vorgehen würde sie kein Stück weiterbringen – sie hatten sie auf dem Radar, und daran würde keine vorgebliche Gelassenheit etwas ändern.

Sie rannte auf den röhrenförmigen Übergang zu, und drinnen drängte sie sich rücksichtslos durch die nicht vorhandenen Lücken zwischen den anderen Fußgängern hindurch, ringsum stürzten Leute zu Boden, während sie die Röhre entlangrannte, von überall her ertönten die Schreie empörter und erschrockener Passanten. Mit gut dreißig Stundenkilometern setzte sie über ein kleines Kind hinweg und sah, dass sich in dem gegenüberliegenden engen Durchgang die Einkaufsbummler stauten. Landete und stieß sich gleich wieder ab – überall ringsum verblüffte und erschrockene Gesichter, die Leute duckten sich vor der Frau im langen Mantel, die knapp über ihren Köpfen hinwegflog. Sie streifte irgendjemanden mit der Hüfte am Kopf und landete auf Po und Füßen, schlitterte mit Wucht in zwei weitere Passanten hinein, die hart zu Boden stürzten … und spürte das elektronische Echo der Zielerfassung, als eine Waffe auf ihren Kopf gerichtet wurde. Schnappte sich jemanden als Schild (keine Panik, Mann, die würden nie einfach so einen Passanten erschießen), ließ ihn wieder los, rannte rückwärts und kreuz und quer, in dem Versuch, den verwirrten Mann zwischen sich und der geduckten Gestalt mit der kleinen schwarzen Handfeuerwaffe zu halten …

Und weiter durch einen breiten, marmornen Gang voller Anzugträger, an denen sie mit wehenden Mantelschößen in unmenschlicher Geschwindigkeit vorbeiraste. Im kreuzenden Gang eine einkalkulierte schmerzhafte Kollision mit der gegenüberliegenden Wand, dann flog sie, acht Stufen auf einmal nehmend, das weiträumige Treppenhaus hinauf. Gerade als sie bei der obersten Stufe in die Kurve ging, krachte neben ihr ein Schuss in die Wand. Betäubungsmunition, registrierte sie, während sie schon die nächste Treppe hinaufjagte. Sie wollten sie lebend.

Noch eine Kurve und noch eine, sie rannte einen weiteren Passanten um … und registrierte die Bewegung zweier Gestalten ein Stück weiter oben. Stieß sich mit dem nächsten Schritt ab und sprang direkt auf sie zu. Traf, packte ihr sich wegduckendes Ziel mit der Rechten und warf den Mann hart gegen die nächste Wand, schlitterte in einer fließenden Bewegung weiter, stieß sich von der Wand ab und stürzte sich auf den zweiten Typen. Ein Krachen, und ihr linker Arm flog zur Seite. Sie wirbelte herum, ihr Roundhouse-Kick traf ihn mit voller Wucht in die Rippen und schleuderte ihn zwei Meter weit gegen die nächste Wand, dann schlitterte er mit leblosen Gliedern die Stufen hinunter, die sie eben hinaufgehetzt war. Sie rannte weiter, griff rasch aufs Netz zu, um sich zu vergewissern, dass es auf diesem Stockwerk einen Lufttaxistand gab, und überprüfte den Grundriss auf Engstellen auf dem Weg dorthin. Taub vom Bizeps abwärts, hing ihr linker Arm schlaff herab. Die dumpfe Taubheit verriet ihr, dass ein chemisches Geschoss sie erwischt hatte. Okay – sie wussten, wer sie war. Im Laufen hielt sie den Arm fest, damit er nicht hin und her baumelte. Es machte sie langsamer.

An weiteren glotzenden Leuten vorbei, die meisten waren durch den wilden Tumult vorgewarnt und drängten sich an die Wand, mit Ausnahme eines kühnen Idioten, der sie aufzuhalten versuchte und wie ein Gummiball zurückprallte, als sie ihm im Laufen einen präzisen Stoß mit der Schulter versetzte. Sie raste durch einen anderen Gang und war gerade noch rechtzeitig da, um zu sehen, wie am anderen Ende die Sicherheitstür herunterfuhr und sie von den wartenden Taxis abschnitt. Sie beschleunigte, aber als sie nur noch fünf Meter entfernt war, schloss sich die Tür endgültig, und sie krachte mit voller Wucht dagegen.

Halbbetäubt prallte sie zurück, schaute sich benommen um, versuchte, ihre Verbindungen wiederherzustellen und einen neuen Fluchtweg ausfindig zu machen. Stellte fest, dass es keinen gab – sie musste zurück, oder sie saß in der Falle.

Sie wandte sich wieder der Tür zu, setzte zu ihrem härtesten Sidekick an und legte alle Kraft hinein. Ein lautes Krachen hallte durch den Flur, und die gut eine halbe Tonne schwere Tür erzitterte in ihrer Halterung. Eine Wendung und ein zweiter Tritt, ein dritter, und noch einmal. Beim fünften Tritt gab in einer Explosion aus Funken die linke Führungsschiene nach. Der sechste Tritt löste die Tür fast aus der rechten Schiene. Rasch zwängte sich Sandy durch den Spalt, wobei ihr Mantel sich in verdrehtem und zerrissenem Metall verfing.

Und dann stand sie vor einem leeren Taxistand, ein ungeschützter offener Platz mitten im feuchten, stärker werdenden Wind, sieben Stockwerke über dem Boden. Sie sah zum Einkaufszentrum zurück, doch nirgends auch nur die Spur eines Taxis – alle Stände waren verlassen, die gelbgestreiften Landeplätze regennass. Ihre Netzverbindungen behaupteten nach wie vor, dass der Stand aktiv war – sie fing sogar das ID-Signal eines zur Landung ansetzenden Taxis auf der anderen Seite des Turms auf …

Sie nahm sich das ID-Signal vor, zerlegte in grimmiger Entschlossenheit den Code in seine Bestandteile … und stieß auf die Einspeisungsquelle und die Ersatzsubroutinen, die es so authentisch erscheinen ließen für jemanden, der keine Zeit hatte, alles sorgfältig zu prüfen.

In der gegenüberliegenden Wand öffneten sich Türen, bewaffnete Männer und Frauen kamen mit auf sie gerichteten Waffen heraus. Sandy sah ihnen entgegen, ihre Schultern hoben und senkten sich, mit der rechten Hand umklammerte sie ihren herabbaumelnden Arm. Ihr war nur allzu klar, dass es keinen Fluchtweg mehr gab. Ihre Beine fühlten sich kraftlos an, und sie hatte Angst.

Ein Mann trat vor. Er hatte ein junges Gesicht, das dunkle Haar hing ihm offen bis auf die Schultern, sein Blick war hart. Er richtete die Waffe in seiner Rechten auf ihr Brustbein. Vier Meter vor ihr blieb er stehen, zu weit weg, das wusste sie. Er wusste es auch und musterte sie mit einem widerwärtigen Grinsen. »Dann lass mal sehen, wie du hier wieder rauskommst, Puppe.«

Und damit schoss er ihr in die Brust.

Kapitel 2

Dunkelheit. Sie kämpfte gegen die Sedierung. Errichtete eine aktive Barriere. Mehr erreichte sie beunruhigenderweise nicht. Eigentlich hätte sie aufwachen müssen, es sei denn, es gab eine vorsätzliche Blockierung, was noch beunruhigender war. Sie konzentrierte sich mit aller Macht und spürte etwas jenseits der Betäubung. Versuchte, sich in dem Chaos aus Farben und Licht zu orientieren, und langsam kehrten ihre Sinne zurück.

Geräusche, schwach und in weiter Ferne, die langsam klarer wurden. Ein Piepen. Es klang wie das Signal eines Monitors. Menschliche Stimmen. Undeutlich. Das Winseln irgendeiner Mechanik. Elektronik.

»… kannst du nicht …«

»… sehr ich auch … Tiefenwirkung reicht nicht …«

Und solches Zeug.

Vielfarbiges, unidirektionales Licht. Das sah sie immer zuerst, vor allem anderen. Es wurde heller und klarer, sie wurde sich ihrer Augenlider bewusst und blinzelte. Ihre Lippen teilten sich, und ganz kurz spürte sie, wie sie kribbelten.

Ihr wurde klar, dass sie auf den Boden starrte. Sie lag bäuchlings auf irgendetwas. Spürte ihren Körper nicht. Noch nicht. Wieder das Winseln. Dann ein tiefes Brummen. Es roch schwer und widerwärtig nach Chemikalien. Antiseptisch. Entsetzen wallte in ihr auf – dieser Geruch war ihr nur allzu vertraut.

»Fast vollständig wiederhergestelltes Bewusstsein. Verdammt, geht das schnell.«

»… können es erst mal nicht wieder runterfahren … diese Barrierenmatrix ist zu komplex, das ist harte Arbeit, bis ein Infiltrator nahe genug rankommt.«