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Robert Weinbaum, kaufmännischer Leiter eines Institutes für Biochemie, anorganische Chemie und Virologie, wird in eine prekäre Situation gebracht, so dass ihm nichts anderes übrigbleibt, als den Anweisungen von außen zu folgen. Er ist durch viele Auslandseinsätze während seiner Zeit in der Fremdenlegion traumatisiert und hat nicht nur mit den aufkommenden Problemen, sondern nebenher mit sich selbst zu kämpfen. Gelegentlich erscheint ihm eine dunkel gekleidete schwarzhaarige Frau. Ein unheimliches Wesen, scheinbar nicht von dieser Welt. Ist sie real oder nur ein Produkt seiner Fantasie? Jemand erpresst ihn mit Morden, die er gar nicht begangen hat. Als sich Robert auf eine waghalsige Aktion einlässt, könnte das weltweite Folgen nach sich ziehen. Kann er eine Katastrophe noch verhindern? Ein packender Thriller zwischen Realität, Science-Fiction und künstlicher Intelligenz.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Einige Jahre zuvor 30. September 2010
Zurück zur Gegenwart
Dienstag, 14. November
EPILOG
Danksagung
Über den Autor
Impressum
Edition Paashaas Verlag
Autor: Eric Eaglestone Originalausgabe: April 2022
Covermotiv: Fotograf: Hans Josef Werker
Covermodel: Mareike Haas
Coverdesign: Michael Frädrich
© Edition Paashaas Verlag
www.verlag-epv.de
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-103-8
Die Handlung ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de
abrufbar.
DIE ANGST KANN WARTEN
La peur peut attendre
Eric Eaglestone
Zentral im Innenraum des alten Luftschutzbunkers befand sich der große Saal, in dem über einhundert Menschen Platz fanden. Am Kopfende führten sechs Stufen zu einer Art Altar hinauf: einem Klotz aus Sandstein, der von zwei mannsgroßen Engeln flankiert wurde. Die Flügel dieser Engelsfiguren waren halb geöffnet, als wenn sie zum Flug ansetzten. Ihre Häupter waren nach oben geneigt. Die Gesichter sahen nicht friedlich aus, wie man es von solchen Himmelswesen erwartet. Sie waren eher von Angst geprägt.
Unten vor den Stufen standen zur Linken und zur Rechten des Altars zwei Rabenfiguren. Auf dem Standsockel des linken war der Name ,Hugin' zu lesen, auf dem zur Rechten der Name ,Munin‘. Die beiden Figuren waren der germanischen Mythologie entnommen und sind dort die ständigen Begleiter Odins. Zu jeder Morgenstunde berichten sie ihm alle Vorkommnisse, die sich während der Nacht zugetragen haben.
Hugin bedeutet Gedanke, Munin Erinnerung.
Es war eine zweifelhafte Kombination zwischen der christlichen und der germanisch heidnischen Welt. Sie ergab keinen Sinn. Zumindest nur dann einen, wenn der noch ergründet wurde.
Mehrere Kerzenleuchter schmückten die Altarebene. Am hinteren Ende befand sich eine schwere alte Holztür.
Es herrschte Stille in dem von Kerzen beleuchteten Raum. Auf den Stühlen saßen Männer und Frauen und schauten allesamt erwartungsvoll in Richtung dieser Tür. Sie trugen schlichte schwarze Kapuzenmäntel.
Plötzlich erhellte ein Spot von der Decke her den Altar in einem bläulichen Lichtkegel. Ein schwaches Raunen ging durch die Menge, als ein großer schlanker Mann aus der Tür hervortrat. Auch er war in eine schwarze Kutte gehüllt, die als Zeichen seiner höheren Würde, einige silberfarbene Applikationen aufwies. Er breitete seine Arme aus und schaute erhoben auf die Gemeinde. Das leise Raunen verstummte, und die Anwesenden schlugen die Kapuzen über ihre Köpfe.
Der Mann ließ seine dunklen Augen über die Anwesenden schweifen und sprach mit klarer Stimme: „Meine lieben Freunde, in wenigen Augenblicken wird unser aller Beschützer zu uns sprechen. Veritas, der allwissende Geist und die Wahrheit.“
Alle senkten ihre Köpfe und sprachen wie aus einem Mund: „Ich bin ihm treu ergeben, das Licht sei mit ihm.“
Ludger Schacht saß am Küchentisch seiner vierzig Quadratmeter großen Sozialwohnung in einem achtstöckigen Wohnhaus in Köln-Porz. Den Kopf hatte er in die Hände vergraben. Der fünfzigjährige große schlanke Mann war verzweifelt. Nichts war ihm von seinen zwölf Wohnhäusern geblieben, in denen jeweils zehn Familien ihren Platz fanden. Die Immobiliengesellschaft “Home & More“ hatte ihn ruiniert. Vor etlichen Jahren hatte ihm diese Gesellschaft ein lukratives Finanzgeschäft angeboten. Vielmehr hatte sie ihn geködert, sich großflächig an Palmöl-Plantagen und diversen anderen Fonds zu beteiligen. Es hatte alles seriös und sehr lukrativ ausgesehen, so dass Ludger Schacht angebissen, seine Häuser im Gesamtwert von fünfzehn Millionen Euro belastet und investiert hatte.
Nachdem er erste Gewinne hatte verzeichnen können, hatte sich die “Home & More“ zurückgezogen und aus Südamerika weiter agiert.
Es waren Finanzkrisen gefolgt, von denen auch die Fonds von Ludger Schacht betroffen gewesen waren. Ob diese hausgemacht waren oder ob es sich um tatsächliche Krisen gehandelt hatte, war nicht nachzuweisen gewesen. Nur, dass die “Home & More“ gute Finanzjongleure gewesen waren, wurde allseits bekannt. In nur drei Jahren hatte Ludger seine gesamte Investition verloren. Die Banken hatten ihr Geld verlangt, und seine Häuser waren unter den richterlichen Hammer gekommen. Gekauft hatte sie allesamt weit unter Wert die deutsche Immobiliengesellschaft “Pfeifer. Schöner wohnen“, ein Tochterunternehmen der “Home & More.“ Deren Rechnung war somit aufgegangen. Ludger war fortan mittellos und überschuldet. Eine Privatinsolvenz war gefolgt. Sein Leben hatte sich grundlegend geändert. Das Privathaus, das in einer gehobenen Wohngegend stand, hatte sich seine Frau Karin Setter zu eigen gemacht, die zur Absicherung für alle Fälle als Eigentümerin verzeichnet worden war. Sie hatte nach der Heirat ihren Mädchennamen beibehalten. Nachdem Ludger in die Armut abgerutscht war, hatte sie nicht im Geringsten daran gedacht, ihm beizustehen, sondern ihm regelmäßig Vorwürfe gemacht, was für ein Versager er doch sei. Zum Glück hatte sie als Virologin ihr eigenes Einkommen. Das Institut, für das sie arbeitete, bezahlte sie gut. Ludger war nach seiner Misere zu Hause geblieben, hatte keine Einstellung gefunden und sich immer wieder die Vorwürfe seiner Frau Karin anhören müssen. Er hatte zu trinken begonnen, um alles zu vergessen. Aber statt zu vergessen, hatte der unkontrollierte Alkoholkonsum weitere Probleme aufgeworfen. Die täglichen verbalen Entgleisungen, denen sich Ludger hingegeben hatten, hatten Karin dazu bewogen, ihn eines Tages kurz und bündig des Hauses zu verweisen. Auch die gemeinsame Tochter Vivien, neunzehn Jahre alt, hatte sich von ihm abgewandt, nachdem er im betrunkenen Zustand die Hand gegen sie erhoben hatte.
Der einst gut situierte und freundliche Mann hatte einen sozialen Sturzflug gemacht und war bei Hartz vier gelandet. Er hatte die Kehrseite der Medaille kennengelernt und zu hassen begonnen. Der Kapitalismus hatte ihn auf hinterhältige Art und Weise zu Fall gebracht. So seine Meinung. Die Welt, in der er sich selbst vor Jahren noch wohlgefühlt hatte, wurde zum Hassobjekt. Er wurde nahezu manisch. Das ging so weit, dass kein Auto der gehobenen Klasse im Vorbeigehen vor seinem Schlüsselbund sicher war.
„Scheiß Blagen“, brummelte Ludger und stand von seinem Stuhl in der spärlich eingerichteten Küche auf. Er schaute aus dem Fenster hinunter zum Hof, auf dem einige Kinder verschiedenster Nationen spielten. Kinderlärm, den er vor Jahren noch als Zukunftsmusik empfunden hatte, war inzwischen eine Zumutung für ihn geworden. Schweigend schloss er das Fenster und schlurfte zurück zu seinem Stuhl. Seine abgetragene Jeans mit ebenso altem T-Shirt ließen nicht mehr den Mann vermuten, der er einst gewesen war, oft im Maßanzug und mit teuren italienischen Schuhen gekleidet.
Neben seinem Smartphone, auf dem seit vierzehn Tagen niemand mehr angerufen hatte – außer einer Dame vom Sozialamt mit einigen Fragen –, stand eine Flasche billiger Korn auf dem Tisch. Er nahm einen Schluck und drehte sich anschließend mit den Händen eine Zigarette, zündete sie an, hustete, rieb sich über das unrasierte Gesicht und über die fettigen Haare. Er hatte seit einer Woche nicht mehr geduscht. Dann starrte er mit seinen braunen Augen die Wände an und grübelte weiter. So hatte Ludger bereits den gesamten Vormittag verbracht. Überall standen leere Schnaps- und Bierflaschen herum. Der Mülleimer quoll über Auf der kleinen Arbeitsplatte in der Küche standen seit Wochen leere Dosen und Behältnisse von Fertiggerichten. Es stank, was ihn aber weiter nicht störte. Ludger fiel in diesem achtstöckigen Mehrfamilienhaus nicht auf, da er nicht der Einzige war, der hier ein solch kümmerliches Leben führte. Er hatte sich aufgegeben und war nicht in der Position, um an der “Home & More“ Rache zu nehmen, dessen war er sich bewusst. Schon seit Wochen plagten ihn Gedanken, wie er wieder auf die Beine kommen könnte, fand aber keine Lösung aus dieser Misere. Es blieb ihm nur noch eine Möglichkeit, um aus dieser Situation herauszukommen. Ludger beschloss, sich das Leben zu nehmen. Aber wie? – Kurz und schmerzlos sollte es geschehen. Wenn ich mich am Bahnhof vor einen einfahrenden Zug werfe, wie fühlt sich das wohl an? Ich werde noch einige Sekunden oder eine halbe Minute leben, während mich der Zug zwischen den Schienen zermalmt. Es schauderte ihn bei diesem Gedanken. Nein, das kommt nicht infrage. Mich von einer Brücke zu stürzen ebenso wenig. Ich muss einschlafen und sanft in den Tod hinübergleiten. Das wäre das Beste. Vorher möchte ich aber noch einige Drecksäcke aus der Finanzbranche umbringen. Aber ich komme ja nicht mal in ihre Nähe, so wie ich jetzt aussehe. Am besten saufe ich mich tot. Karin, das Miststück, hat nicht ansatzweise versucht mir zu helfen. Sie widert mich an. Es tut mir aber leid, dass ich Vivien geschlagen habe. Ich habe einfach die Kontrolle verloren.
Ludger leerte die noch viertelvolle Flasche in einem Zug und ging zum Küchenschrank. In der Schublade befand sich seine Geldbörse, die er jetzt auf den Inhalt prüfte. „6,62 Euro“, seufzte er. „Reicht noch für `ne Flasche.“ Im Kühlschrank müssten auch noch zwei Flaschen Bier sein. Morgen sehe ich dann weiter.
Sein Handy klingelte plötzlich. Er zuckte erschrocken zusammen. Wer kann das sein? Bestimmt wieder die Tante vom Amt. Er schlurfte zum Tisch und nahm es ans Ohr. „Ludger Schacht.“
„Guten Morgen, Herr Schacht“, meldete sich eine fremde männliche Stimme. „Ihnen scheint es nicht besonders gut zu gehen.“
„Woher wollen Sie das wissen?“ Er war irritiert, dass sich plötzlich ein Fremder bei ihm meldete, der um sein Wohlergehen besorgt war. „Sind Sie von der Wohlfahrt, von der Gemeinde oder von der Heilsarmee?“
„Keins von allem, Herr Schacht. Ich möchte Ihnen helfen.“
Ludger dachte an einen schlechten Scherz und wollte den Anrufer wegdrücken, aber ...
„Herr Schacht, ich kann verstehen, dass Sie misstrauisch sind und das Gespräch nicht weiterführen wollen. Aber lassen Sie mich bitte ausreden.“
„Warten Sie einen Moment!“ Er hatte ja nichts mehr zu verlieren und holte sich eine Flasche Bier aus der Küche. Schnell einen Schluck nehmen, und dann mache ich es mir mit dem Kerl gemütlich. Nachdem er getrunken hatte, stieß er einen Rülpser aus, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und stellte die Bierflasche auf den Tisch. Ich höre.“
„Gut, nennen Sie mich Raimund. Ich will Sie aus dieser Situation und aus dieser Wohnung herausholen. Da gehören Sie nicht hin.“
„Das würde mich freuen.“ Ludger grinste und glaubte immer noch an einen Witz.
„Sie glauben mir nicht? Gut, aber ich werde meine Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen.“
„Dann mal los. Wie werden Sie das anstellen? Und was wollen Sie als Gegenleistung?“, fragte Ludger mit heiterem Unterton. Die getrunkene Flasche Korn hatte ihre Wirkung voll entfaltet.
„Packen Sie Ihre Sachen, duschen Sie und ziehen Sie sich was halbwegs Vernünftiges an. Ich lasse Sie morgen um Punkt acht Uhr vor dem Haus abholen. Sie werden in eine Wohnung umziehen, die Ihnen angemessen ist. Ihnen wird es an nichts fehlen. Die Kündigung Ihres derzeitigen Domizils werde ich persönlich in die Hand nehmen. Alles Weitere kommt später. Auf jeden Fall kann ich Sie insofern beruhigen, dass alles seriös zugeht. Sie werden in keinerlei krumme Geschäfte verwickelt. Als Erstes verlange ich von Ihnen nur eine Sache.“
Ludger bekam Interesse an dem Angebot. Aber seinen Zweifel konnte er nicht ablegen. „Und die wäre?“
„Hören Sie mit dem Trinken auf. Jetzt sofort, sonst wird es nichts.“ Raimund, wie er sich nannte, legte auf.
Ludger ging zum Fenster und öffnete es. Er sog die frische Luft tief in seine Lungen und konnte immer noch nicht fassen, was er soeben erlebt hatte. Wenn ich den Kerl ignoriere, könnte ich eine Chance verpassen.Wenn ich darauf eingehe und morgen vergebens vor dem Haus warte, dann bin ich gründlich verarscht worden. Das Beste wäre, dass ich darauf eingehe, aber mit einer Enttäuschung rechne. Zunächst räume ich den Saustall hier auf.
Ludger hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Seine Hände zitterten. Angstgefühle begleiteten ihn an diesem klaren Septembermorgen. Die Konsequenz aus zweijährigem Alkoholmissbrauch. Was ihm zugutekam, war sein eigener starker Wille, der mit einer Zielsetzung verbunden war. Jene, die ihm Raimund am Tage zuvor unterbreitet hatte: die Hilfe, ihn aus dieser Situation herauszuholen.
Um sich vom Alkohol abzulenken, hatte Ludger am Tage zuvor seine Wohnung aufgeräumt, sämtlichen Müll zum Container gebracht, geputzt und gewischt. Er saß geduscht und rasiert am Küchentisch und führte eine Tasse Kaffee mit beiden Händen zu seinem Mund. Wenn das Scheißzittern doch bald aufhören würde, dachte er sich und sah auf die Wanduhr. Viertel vor acht. Ich gehe jetzt los.
Ein letzter Blick auf den Wandspiegel in der Diele bestätigte, dass er inzwischen halbwegs wie ein zivilisierter Mensch aussah. Bis auf sein Gesicht … Der Alkohol hatte seine Spuren hinterlassen. In sauberen Jeans und einem dunkelblauem Hemd nahm er eine schwarze Kapuzenjacke vom Haken. Wenn das alles nur ein Witz ist, klaue ich mir eine Flasche Scotch und mach `ne Einmannparty. Mit diesem Gedanken nahm seine beiden Koffer auf und verließ die Wohnung.
Draußen vor der Haustür schlug ihm das Sonnenlicht unangenehm hart entgegen. Er war stocknüchtern. Ein Zustand, den er seit zwei Jahren zum ersten Mal wieder erlebte. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Seine Hände zitterten, Angst und Unsicherheit ließen ihn nicht los. Das Verlangen, etwas zu trinken, verstärkte sich.
Ludger schaute auf. Ein schwarzer Audi hielt vor dem Haus. Der Fahrer stieg aus und kam auf ihn zu. „Ich bin Rainer“, sagte der blonde mittelgroße Mann lächelnd. Ludger schätzte ihn auf circa vierzig bis fünfundvierzig Jahre. „Ich helfe dir eben mit den Koffern.“
Ludger staunte, vergaß sich vorzustellen und konnte dem adrett gekleideten jüngeren Mann nur noch hinterhersehen, wie dieser seine Koffer in den Wagen verfrachtete.
„Komm schon!“, forderte dieser ihn auf.
Als Ludger im Wagen saß, übergab Rainer ihm ein Päckchen mit Tabletten und reichte ihm dazu eine kleine Flasche Wasser.
„Nimm in den nächsten drei Tagen alle drei Stunden zwei davon. Danach nur eine. Reduziere so lange, bis du auf null bist. Ich denke, in zwei Wochen hast du es geschafft.“
Ludger sah auf die Schachtel. „Distraneurin, was ist das?“
„Die werden dir über den Berg helfen, Ludger. Das Zittern wird aufhören, die Kapseln werden dich sehr beruhigen. Du wirst ein höheres Schlafbedürfnis empfinden, solange du sie einnimmst. Aber eins darfst du nicht: nebenher Alkohol trinken. Das wird nicht gut ausgehen.“ Rainer behielt sein Lächeln bei und startete den Wagen.
„Danke, wenn es hilft.“ Ludger wischte sich den auftretenden Schweiß von der Stirn. „Kommst du von so einem Alkoholikerverein?“
„Absolut nicht, aber wir kennen uns da aus.“
Ludger nahm zwei der Kapseln und spülte sie mit einem Schluck Wasser herunter. „Wohin fahren wir? Und warum das Ganze? Wer hat dich beauftragt, und was liegt diesem Raimund an mir?“ Er hatte Fragen über Fragen, wusste zudem nicht, wie er diese neue Situation einschätzen sollte.
„Wir fahren nach Rodenkirchen zu deiner neuen Wohnung. Komm erst mal zur Ruhe. Danach wartet eine hochinteressante Aufgabe auf dich.“
„Ich soll für Raimund arbeiten? Aber als was?“
„Arbeiten kann man das nicht nennen. Es ist eine Berufung. Die “Home & More“ hat dir übel mitgespielt, ... richtig?“
„Ja, wieso?“
„Auch sie ist in unserem Fokus. Das ist alles fürs Erste. Komm du jetzt zur Ruhe. Ich werde mich regelmäßig bei dir melden.“
Sie fuhren über die Rheinbrücke. Ludger sah auf den Fluss und überlegte. Diese Drecksgesellschaft ist mir im Moment egal. Ich muss erst einen klaren Kopf bekommen, dann sehe ich weiter. Hoffentlich ist die Sache koscher. Im Moment kann ich nicht glauben, dass ich in eine gehobene Wohngegend ziehen soll. Dieser Raimund bezahlt alles. Leistung und Gegenleistung. Mal sehen, was auf mich zukommt.
Nach einer knappen halben Stunde fuhr der Wagen in einer schmucken Wohngegend in eine Seitenstraße. Ludger konnte von der Straße aus ein weißes Wohnhaus erkennen, das hinter einer mannshohen Hecke etwas versteckt lag. Sein Begleiter lenkte den Wagen in die Einfahrt und hielt am Ende vor der Garage. Eine innerliche Ruhe kam in Ludger auf, denn die Medikamente zeigten bereits ihre Wirkung.
Bevor Rainer ausstieg, wandte er sich zu ihm. „Du fühlst dich schon besser, richtig?“
„Erstaunlicherweise ja“, bestätigte Ludger und tat einen leichten Seufzer.
Als sie über den Weg zum Haus gingen, wurde er ein wenig wehmütig. Der große gepflegte Vorgarten des Zweifamilienhauses erinnerte ihn an Zeiten, an denen es ihm wesentlich besser gegangen war, finanziell und auch vom sozialen Status her. Rainer trug die Koffer und ging vorweg.
Ludger staunte, als sie den Eingangsbereich des Hauses betraten. Sein Begleiter schloss die Wohnungstür auf und ging hinein. Ludger folgte ihm, immer noch sehr verwundert. Die große Wohnung war mit den nötigsten Möbeln eingerichtet.
Rainer stellte die Koffer in der Diele ab und wies Ludger an, ihm zu folgen. Sie betraten ein großes Wohnzimmer mit einer einladenden Couchlandschaft.
„Setz dich. Ich habe einige Informationen für dich, bevor ich wieder losfahre.“
„Okay, was hast du mir zu sagen?“, fragte der Angesprochene stirnrunzelnd und lehnte sich entspannt zurück. „Aber eine Frage hätte ich noch. Wer ist dieser Raimund?“
„Der Chef möchte im Hintergrund bleiben, aus persönlichen Gründen. Dir wird es hier an nichts fehlen. Du hast deine Medikamente. Wenn sie alle sind, bekommst du neue. Getränke wie Wasser, Säfte und Limonaden sind genug vorhanden. Ebenso Nahrungsmittel. Im Kleiderschrank im Schlafzimmer liegt Kleidung in deiner Größe. Auch passende Schuhe sind da. Damit du auf andere Gedanken kommst, hast du im TV unbegrenzten Zugang zu allen Kanälen. Außerdem ist genügend Lesestoff im Regal vorhanden.“ Rainer deutete zu einem Bücherregal und holte einen Briefumschlag hervor. „Hier ist einiges an Bargeld für die nächsten zwei Wochen. Du kannst dich frei bewegen, ein Restaurant besuchen, ins Kino gehen und dich im Puff vergnügen, was immer du willst. Nur, bleib bitte sauber, ... keinen Alkohol. Du wirst es nicht bereuen.“
Ludger stimmte ihm mit einem Kopfnicken zu. „Das ist in Ordnung. Ich werde mich dran halten.“
Er reichte seinem Begleiter zum Abschied die Hand, da dieser bereits aufgestanden war und auf seine Armbanduhr schaute. „Tschüss, ich werde mich in zwei Tagen telefonisch bei dir melden“, sagte Rainer leise und klopfte Ludger auf die Schulter.
Dieser sah ihm lächelnd hinterher.
Der weiße pralle Briefumschlag auf dem Tisch reizte seine Neugier. Er sah auf den Inhalt und erkannte ein dickes Bündel Fünfzig-Euro-Scheine, das mit einer Banderole versehen war. „2500 Euro für zwei Wochen“, murmelte Ludger. Ist das Großzügigkeit? Was kommt auf mich zu? Ich muss mich ein wenig hinlegen. Ich bin müde. „Was ist denn das?“ Er hatte einen Zettel entdeckt und las. „Das Licht sei mit dir.“
Es war spät geworden. Robert hatte am frühen Abend dieses Tages seinen Freund und Kollegen Tom besucht. Es mussten wichtige Angelegenheiten besprochen werden. Er wollte eigentlich schon früher den Weg nach Hause angetreten haben, denn es juckte ihn, an seinem Manuskript weiterzuschreiben. Das Interesse an der Schriftstellerei war in ihm vor sechs Jahren erwacht, als er das, was er auf vergangenen Reisen erlebt hatte, geistig hatte passieren lassen.
Was soll`s, dachte er und wartete, bis die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Die ganze Nacht lag also vor ihm, so dass er genügend Zeit hatte, seine Ideen niederzuschreiben. Diese kamen meist am Abend. Am Folgetag war er außerdem seinem Arbeitgeber vorerst nicht mehr verpflichtet. Mit diesem Gedanken setzte er gutgelaunt den Weg fort.
Er zog den Reißverschluss seiner gefütterten Jacke etwas höher, denn feuchtkalte Luft schlug ihm entgegen in dieser kühlen Oktobernacht. Sein Weg führte in Richtung des Bahnhofs, der zweihundert Meter weiter entfernt lag.
Robert Weinbaum war 45 Jahre alt und wohnte in Recklinghausen, eine Kreisstadt im Ruhrgebiet, die in der Blütezeit des Bergbaus groß geworden war.
Er war kaufmännischer Leiter des “Stonebridge Instituts mit Sitz in Münster, das für Forschungen auf den Gebieten der Biochemie, anorganischen Chemie und Virologie in Fachkreisen bekannt war. Es handelte sich dabei um ein kleines Institut, das durch Publikationen und Vorträge des Institutsleiters, Professor Franz Wewershausen, finanziell unterstützt wurde. Die Haupteinnahmequelle jedoch waren Aufträge aus der Wirtschaft.
An diesem Abend hatte Robert mit seinem Freund und seiner rechten Hand Thomas Pescher einige Formalitäten besprochen. Dieser sollte ab dem darauffolgenden Tag die kommissarische Leitung seiner Abteilung für zwei Monate übernehmen. Robert trug sich zudem mit dem Gedanken, ganz aus dieser Branche auszusteigen.
Er war 1,80 Meter groß, recht muskulös, hatte kantige Gesichtszüge und mittelbraunes, kurz geschnittenes Haar. Im Alter von einundzwanzig Jahren hatte ihn die Abenteuerlust gepackt. Schließlich hatte er sich eines Tages spontan in Straßburg bei der Fremdenlegion gemeldet und um Aufnahme gebeten. Er war angenommen worden und hatte der knüppelharten Ausbildung standgehalten. Es waren Einsätze in Afrika und im ehemaligen Jugoslawien gefolgt. Nach fünfzehn Jahren Dienstzeit war er als Sergeantchef ehrenhaft entlassen worden. Spurlos war diese Zeit nicht an ihm vorbeigegangen.
Seine Eltern waren vor Jahren leider viel zu früh gestorben. Geschwister hatte er nicht. Die einzige Verwandte war seine Großtante gewesen, die im Alter von 94 Jahren vor nicht allzu langer Zeit über Nacht friedlich eingeschlafen war. Er beschloss, nachdem er einen nicht gerade geringen Betrag von ihr geerbt hatte, sich erst einmal eine längere Auszeit zu gönnen, um sich danach neu zu orientieren.
Der Eingang zu der öffentlichen Tiefgarage befand sich mitten auf dem Bahnhofvorplatz, auf dem die Busse bis in die späten Abendstunden ein- und ausfuhren. Die Hände in den Taschen schlenderte Robert die Straße bis zur Fußgängerampel vor den Bushaltestellen hinunter. Irgendwo aus der Nähe kam Hundegebell, und das Rauschen eines abfahrenden Zuges war nicht zu überhören. Es herrschte wenig Verkehr auf den Straßen. Robert nutzte die Gelegenheit, die auf Rot geschaltete Fußgängerampel zu ignorieren. Er überquerte die Straße und betrat das Gelände. Einige Menschen standen wie verloren an den Haltestellen. Sein Blick richtete sich nach oben zu der Uhr an dem Bahnhofsgebäude. Viertel vor Zwölf. Okay, ab nach Hause. Gedanklich saß er schon in seinem Auto. Robert fror ein wenig, denn bei zehn Grad Außentemperatur ist der Aufenthalt im Freien an einem Oktoberabend nicht gerade angenehm und zu später Stunde in der ungemütlichen Bahnhofsgegend schon gar nicht.
Die Treppe, die zu der Tiefgarage hinunterführte, lag in der Mitte des Platzes. Er beeilte sich, sie zu erreichen, denn diese Gegend bereitete ihm in der Dunkelheit Unbehagen. Sie zog immer wieder zwielichtige Typen an.
Schnellen Schrittes lief er die Treppe hinunter und betrat die gut ausgeleuchtete Parkebene. Gespenstische Leere und Stille umgaben ihn. Das Verlangen, endlich mit seinem Auto auf der Straße zu sein, verstärkte sich, als ihn ein eiskalter Luftzug erreichte. Oder war es nur Einbildung? Seit einigen Jahren war er ängstlich und sehr vorsichtig geworden. Daher schaute er sich um, ob ihm jemand folgte. Aber hinter ihm war keiner, zum Glück.
Plötzlich erschrak Robert und zuckte zusammen. Wenige Meter vor ihm stand eine Frau an der Begrenzungssäule am Ende der Parkreihe. Sie war groß und mit einem langen dunklen Ledermantel bekleidet. Das schwarze strähnige Haar lag offen über ihren Schultern. Ihr Gesicht war außergewöhnlich blass und maskenhaft, nahezu weiß und wirkte eingefallen. Die dunklen schwarzen Augen starten Robert wie hypnotisierend an. Sie stand völlig bewegungslos da. Der Blick war glühend, angsteinflößend und schien ihn zu durchbohren. Ihr Gesicht zeigte nicht die kleinste Regung, obwohl sie registrierte, wie Robert bei ihrem Anblick zusammenzuckte. Kein Ton kam über ihre Lippen, aber die Augen sprachen für sich. Von diesen ging eindeutig eine Bedrohung hervor.
Robert warf ihr einen scheuen Blick zu, brachte es aber nicht fertig, sie anzusprechen. Die Frau war nicht von dieser Welt, so schien es ihm. Er sprang in seinen Mazda und setzte ihn zurück, legte den ersten Gang ein und wollte vorwärts in Richtung Ausfahrt. Er kam aber nur wenige Meter voran, denn die Frau stand inzwischen vor ihm, mitten auf der Fahrspur. Er bremste ab und betätigte die Zentralverriegelung. Sein Herz pochte bis zum Hals, als er langsam wieder die Kupplung losließ und den Wagen ins Rollen brachte. Fast berührte er diese eigenartige Person mit der Stoßstange, aber die Frau bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle. Sie öffnete den Mund, als wolle sie ihm was mitteilen. Es kam aber kein Ton über ihre Lippen. Ihre seelenlosen Augen trafen ihn wie Pfeilspitzen. Robert riss sich zusammen und ließ das Fenster an der Fahrertür einen spaltbreit herunter. Die Wut über diese dreiste Person überwog seine Angstgefühle. Was wollte sie nur von ihm? Er wollte gerade den Unmut gegenüber dieser Frau loslassen, aber sie war verschwunden. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst ...
„Bloß weg hier“, keuchte er und gab Gas. Seine Beine zitterten, als er an der Schranke hielt, um sein Park-Ticket in den Schlitz des Automaten zu schieben.
Die Schranke ging hoch, und Robert durchfuhr die Ausfahrt. Als er in die Straße einbiegen wollte, stand die Frau plötzlich neben seinem Fahrzeug. Er zuckte zusammen. Wieder traf ihn dieser Blick aus dem regungslos blassen Gesicht. Er gab Gas und brauste davon, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.
Die Straße war frei, und Robert machte sich auf den Weg in den Osten der Stadt. Unterwegs versuchte er das Geschehene gedanklich zu analysieren. Was war das denn? Sowas gibt es doch nicht. War das ein Junkie? Ein Weib aus der Gothic-Szene? Aus der Gothic-Szene und besoffen? Nein, geschwankt hat sie jedenfalls nicht. Das ist alles noch erklärbar. Aber diese Augen. Die waren nicht menschlich. Was wollte sie von mir? Mir drohen? Oder wollte sie mich auf irgendwas hinweisen, war aber dazu nicht in der Lage? Meine Beine zittern immer noch. Robert stieg plötzlich auf die Bremse.
„Pass doch auf, du Penner!“ Ein Taxifahrer hatte ihm soeben die Vorfahrt genommen. „Meine Fresse, die Alte im Parkhaus hat mir schon gereicht. Jetzt muss noch so ein Wichser ... Komm, beruhige dich, Robert, bringt sowieso nichts.“ Der Tag war für ihn gelaufen, aber die Nacht hatte erst begonnen.
Zwanzig Minuten nach Mitternacht schloss er seine Garage ab, schaute über den Gemeinschaftsgarten des Vierfamilien-Doppelhauses, das sich in einer ehemaligen Bergarbeiter-Siedlung befand, und blickte sich nach allen Seiten um. Der Eingang des renovierten Backsteingebäudes lag auf der Rückseite des Hauses. Die Begegnung in der Tiefgarage saß ihm noch in den Knochen. Robert schaute zu den Fenstern in der oberen Etage. Es brannte kein Licht. Silvia schläft schon.
Silvia Bachmann wohnte eine Etage über ihm und war geschieden. Sie war vor drei Jahren eingezogen und acht Jahre älter als Robert. Im Laufe der Zeit hatte sich eine Freundschaft entwickelt. Sie war nunmehr eine mütterliche Freundin und stand ihm im Alltagsleben mit Rat und Tat zur Seite, wenn es um häusliche Dinge ging. Sie war kaufmännische Angestellte und für eine Frau mit ihren 1,72 Metern recht groß. Schlank, sportlich und betrieb seit über dreißig Jahren Shōtōkan Karate. Nur an Turnieren nahm sie nicht mehr teil. „Dafür bin ich zu alt“, hatte sie einmal zu ihm gesagt. Sie trainierte aber noch regelmäßig, um fit zu bleiben.
Eine behagliche Wärme umschmeichelte ihn beim Betreten seiner Dreizimmerwohnung. Was er jetzt brauchte, waren eine Tasse Kaffee und eine Zigarette. Er versuchte seine Gedanken auf das nächste Kapitel seines Romans zu fokussieren, während in der Küche die Kaffeemaschine brodelte. Der Raum war rein funktional eingerichtet. Nippes und irgendwelchen Schnickschnack an den Wänden brauchte er nicht. Zur Linken befand sich die schlichte Küchenzeile mit den üblichen Hängeschränken. An der rechten Wand stand ein Tisch mit drei Stühlen. Es machte den Eindruck, als wenn dieser Raum nicht komplett wäre. Das hatte ihm Silvia schon vorgeworfen, was ihn aber weiter nicht störte. Außerdem war Robert ein miserabler Koch. Es reichte für Bratkartoffeln mit Spiegelei. Mal ein Kotelett oder Schnitzel braten ging auch noch. Oder Forelle im Backofen, eingewickelt in Folie. Würstchen warmmachen schaffte er auch. Wenn er Glück hatte, platzten sie nicht. Das war aber auch alles. Wozu sollte er sich auch die tägliche Mühe geben, für sich alleine? Dafür kochte Silvia fantastisch. Er ging fast jeden Abend zum Essen zu ihr hoch. Als Gegenleistung besorgte er ihren täglichen Einkauf. Schließlich musste sie tagsüber arbeiten. Robert hingegen hatte den Vorteil, seine Zeit besser einteilen zu können.
Während der Kaffee durchlief, machte er seinen täglichen Kontrollgang durch die Wohnung, schaute hinter jede Zimmertür und auch ins Bad. Einmal, als er mit Silvia zusammen nach Hause gekommen war und sie seine Wohnung betreten hatten, hatte sie ihm irritiert bei dieser Prozedur zugeschaut. „Suchst du Einbrecher?“, hatte sie ihn lachend gefragt.
Robert hatte ihr zu verstehen gegeben, dass er wahrscheinlich eine Zwangsneurose hatte. Er arbeite aber daran, sie abzustellen. Daraufhin hatte er mitleidiges Kopfschütteln geerntet.
Die Rollos waren hinabgelassen. Robert setzte sich an den Schreibtisch, zündete sich eine Zigarette an und fuhr den Rechner hoch.
Die E-Mails wurden noch gecheckt und anschließend das virtuelle Bücherregal bei Amazon überprüft. Dort hatte er in Eigenregie seine drei Werke zum Kauf angeboten. Er hatte keinesfalls die Illusion, ein Bestsellerautor zu werden. Nur die Bestätigung seiner Schreibkunst wünschte er sich, falls sich mal ein Verlag bei ihm melden sollte.
Mit verschränkten Händen hinter seinem Kopf schaute er zur Zimmerdecke und überlegte. Wie sollte er seinen Protagonisten aus dem Schlamassel herausholen, den er ihm eingebrockt hatte? Der Kopf war leer, denn seine Gedanken hingen noch in der Tiefgarage bei dieser eigenartigen Frauengestalt.
Plötzlich machte der Rechner ein surrendes Geräusch, stürzte ab und fuhr selbständig wieder hoch. „Mist, das ist ja noch nie passiert.“ In der Anzeige bot sich an: Im abgesicherten Modus starten' oder ,Windows normal starten'. Robert klickte auf ‚normal starten'. Doch was war das? Nach einer gewissen Anzahl undefinierbarer Zahlenreihen tat sich ein Fenster im Vollbildmodus auf. Es erschien der Kopf einer Person, die mit einer schwarzen Sturmhaube und einer dunklen Brille maskiert war.
„Wie hast du dich in meinen Rechner gehackt? Was willst du?“, rief Robert erschrocken. Er begann heftig zu schwitzen, und seine Hände zitterten.
„Stellen Sie keine Fragen. Ich werde sie nicht beantworten“, sagte die männliche blecherne Stimme hinter der Maske. „Sie sind auserwählt und haben eine Mission.“
„Wozu? Was für eine Mission? Ich will in Ruhe leben, mehr nicht.“
Der Mann hinter der Maske ignorierte das und blieb höflich.
„Zunächst möchte ich mich für meinen unangemeldeten Besuch entschuldigen. Außerdem wird er keine Spuren auf Ihrem Computer hinterlassen. Über Ihre Mission werden Sie später aufgeklärt werden. Sie sind uns sehr wichtig, deshalb haben wir sämtliche Daten von Ihnen erfasst, auch Ihr Bewegungsmuster. Sie können sich nicht vor uns verstecken, wir finden Sie immer und überall. Die Gründe, warum Sie auserwählt wurden und zu welchem Zweck, werden Sie früh genug erfahren. Ich wollte mich heute nur vorstellen. Weitere Anweisungen werden folgen. Und noch etwas: kein Wort zu niemandem!“
Der Maskierte hielt einen Dolch vor die Kamera und ließ seine Zunge über die Klinge fahren.
Robert erschrak heftig. Der Kerl ist pervers und unberechenbar. Er war in Alarmbereitschaft. War es ein übler Scherz, den man mit ihm trieb? Verstehen Sie Spaß? Nein, mit Spaß hatte das nichts mehr zu tun.
„Werden Sie kooperieren, Herr Weinbaum? Es lohnt sich für Sie.“ Der Maskierte machte eine Pause. „Sie brauchen nicht sofort zu antworten. Ich melde mich morgen wieder zur gleichen Zeit und wünsche eine gute Nacht.“
Das Bild verschwand vom Monitor, und der Rechner fuhr herunter. Robert startete ihn wieder und ließ anschließend einen Viren-Scan laufen, der aber nichts brachte. Die Lust, an seinem Manuskript zu schreiben, war ihm vergangen. An Schlaf war auch nicht zu denken. Unruhig lief er von Zimmer zu Zimmer ziellos umher. Mit wem habe ich es hier zu tun? Soll ich das ernst nehmen? Ich muss zunächst vorsichtig sein und abwarten. Reagieren kann ich immer noch. Silvia werde ich auch nichts erzählen, bis sich die Sache aufgeklärt hat. Immer noch glaube ich, dass jemand seinen Spaß mit mir treiben will.
Um sich in den Schlaf zu zwingen, schaute Robert einige Musikvideos auf YouTube an. Dazu trank er mehrere Gläser Wodka. Die Erlebnisse dieses Abends zu verdrängen, schien ihm unmöglich. Doch irgendwann in den Morgenstunden ließ er sich betrunken auf sein Bett fallen und schlief ein.
Robert rieb sich die Augen, als er sich aufrichtete. Er setzte sich auf die Bettkante und rieb sich die Schläfen. Scheiß Wodka. Mein Schädel brummt. Was ist passiert?
Schlagartig wurde er wach. Es war plötzlich alles wieder präsent: die Begegnung in der Tiefgarage und der Besuch via Internet. Die offensichtliche Gefahr, die sich anbahnte, ließ ihn in die Höhe schnellen. Sein Kopf machte ihm dabei mit einem dumpfen Schmerz unmissverständlich klar, dass man Probleme nicht mit Alkohol beheben kann. Wie hilflos stand er im Schlafzimmer und sah sich um, versuchte sich zu sammeln. Er war völlig konfus und hatte viele Fragen. Statt Antworten fand er nur Leere und Verzweiflung. Die Dunkelheit des Zimmers verstärkte diese Gefühle. Er zog das Rollo hoch und stellte das Fenster auf Kippe, um Sauerstoff hereinzulassen. Denn frische Luft brauchte er jetzt unbedingt. Frische Luft und Kaffee.
Robert zog den verschwitzten Schlafanzug aus und machte seinen Rundgang durch die Wohnung, bevor er in das Bad ging. Währenddessen suchte er gedanklich eine Lösung, vielmehr eine Strategie, wie er mit dieser Situation umgehen sollte.
Zwanzig Minuten später saß er frisch geduscht in Jeans und Pulli in der Küche. Sein gestriger Plan, an dem Manuskript weiter zu schreiben, wurde verworfen. Es ging einfach nicht. Der starke Kaffee weckte seine Lebensgeister, die ihm Mut zusprachen. Pack es an Robert, du hast schon Schlimmeres erlebt! Morgens nach dem Aufstehen reichten zwei Scheiben Toast mit Marmelade. Heute musste er sich dazu zwingen und würgte den ersten Bissen herunter. Das Radio lief. Es kamen die Nachrichten.
„Es ist 09:00 Uhr. Guten Morgen, meine Damen und Herren, heute Morgen wurde am Hauptbahnhof Recklinghausen in der Tiefgarage die Leiche einer circa fünfzigjährigen Frau gefunden. Es wurde eindeutig Fremdeinwirkung festgestellt. Die Anlage ist videoüberwacht. Unklar ist, warum die Videoüberwachung zum Tatzeitpunkt ausgefallen ist. Die Polizei bittet daher um Ihre Mitarbeit. Wer in den gestrigen Abendstunden die Tiefgarage aufgesucht hat und sachdienliche Hinweise zur Ergreifung des Täters geben kann, sollte sich bei den örtlichen Polizeidienststellen melden ...“
Die Nachricht traf Robert wie ein Keulenschlag. Fast hätte er seine Tasse umgestoßen. Dieses Weib! Ich wusste sofort, dass es kein Spuk war, sondern tödlicher Ernst. Dann noch diese Aktion gestern auf meinem Monitor. Hängt alles miteinander zusammen? Dieser Maskenmann will sich wieder bei mir melden. Was will der nur von mir? Warum wurde diese Frau ermordet? Habe ich eventuell sogar die Mörderin gesehen? Dann müsste ich zur Polizei. Es könnte dann aber sein, dass ich mich wie die tote Frau in irgendeinem Parkhaus in einer Blutlache wiederfinde. Nein, ich gehe nicht zu den Bullen. Das ist vorerst sicherer.
Robert konnte nicht mehr ruhig sitzen und lief in die Diele, um sich seine Schuhe anzuziehen. Er musste raus aus der Wohnung. Irgendwohin, wo es ruhig war, wo er versuchen konnte, sich zu sammeln.
Er warf seine Jacke über und schlug die Wohnungstür hinter sich zu. Von außen klebte ein Zettel daran. Am Abend zuvor hatte er ihn übersehen. Es war Silvias Einkaufszettel.
. Robert öffnete den Kofferraum seines Wagens, um eine Einkaufstasche herauszuholen. Die lag immer darin. Einmal hatte er sie vergessen, so dass er es sich angewöhnt hatte, sie im Kofferraum zu deponieren. Es kam auch einmal vor, dass ihn Silvia von der Arbeit aus anrief, wenn sie noch was brauchte. Die Heckklappe des Autos ging auf. Robert wollte soeben zu der Tasche greifen, als sein Blut in den Adern gefror.
Da lag eine blutige Hand. Die linke Hand einer Frau. Die Nägel waren lackiert. An dem abgetrennten Ende hingen einige Sehnen.
In seinem Kopf tauchten Bilder auf. Bilder, die er schon längst verdrängt hatte. Ihm wurde übel.
Robert stützte sich mit den Händen an der Garagenwand ab, und atmete langsam in gleichmäßigen Zügen durch die Nase ein und aus dem Mund wieder aus. Dank dieser Atemtechnik konnte er vermeiden, sich zu übergeben. Zudem versuchte er sein Kopfkino in den Griff zu bekommen.
Robert starrte wieder auf die Hand. Sie war am Gelenk unsauber abgetrennt worden. Das war an den heraushängenden Sehnen und Blutgefäßen leicht zu erkennen. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Ich kann damit nicht zur Polizei. Ich muss die Hand loswerden, irgendwo.
Seine Nervosität steigerte sich, während er die Hygienehandschuhe aus dem Verbandskasten überzog. Die alte Plastiktüte, die schon seit Monaten im Kofferraum lag, kam wie gerufen. Als Robert den fremden Körperteil aufnahm, stutzte er. Er ließ die Tüte fallen und sah sich die Hand genauer an. Das ist keine echte Hand. Er untersuchte sie näher und war irritiert. Sie war nicht knochig und fühlte sich auch nicht kalt wie ein echtes Körperteil an. Sie war weich und bestand aus Silikon oder einem ähnlichen Kunststoff. Es war eine harmlose Filmrequisite. Er war einem makabren Scherz aufgesessen! Seine Nerven begannen, verrückt zu spielen. Wütend warf er das falsche Leichenteil in die Plastiktüte und ging neben dem Hauseingang zu den Abfalltonnen. Dort vergrub er die Tüte unter dem anderen Unrat in den Restmüll. Das ist psychologischer Terror. Man will mich gefügig machen! Robert schlug wütend den Deckel zu.
Wie am Abend zuvor schweifte sein Blick über den Garten und das Grundstück. Er sah auch sicherheitshalber hinter der Hausecke und hinter der Garage nach. Der Mut, dieser Herausforderung etwas entgegenzusetzen, verließ ihn. Es war so unwirklich. Er beschloss, sich diesem Maskenmann zu beugen. Wenigstens den Anschein zu erwecken ... Dann hätte er wahrscheinlich vorerst Ruhe. Mit dieser Angst konnte Robert nicht umgehen. Die Fähigkeit, sich in bedrohlichen Situationen zu wehren, war ihm seit etlichen Jahren abhandengekommen. Du bistein Feigling geworden, Robbi, ein Jammerlappen. Ich will weg, Menschen sehen, Menschen in Bewegung, in einem Kaufhaus oder einem Einkaufscenter. Leute, die das tägliche Leben präsentieren, die mir das Gefühl der Angst und der Einsamkeit nehmen. Einen Versuch ist es wert. Ich gehe heute nicht in den Park. Da ist es mir zu einsam.
Am späten Nachmittag war Silvias Einkauf erledigt. Die übrige Zeit war er ziellos durch die Straßen und Geschäfte der Stadt gelaufen. Aber seine Theorie war nicht aufgegangen. Robert hatte sich wie in einem Vakuum gefühlt, das von einer dunklen Wolke beherrscht wurde. Seine Depressionen hatte er einige Jahre zuvor in den Griff bekommen, aber sie schienen wieder präsenter zu werden. Etwas gleichgültig registrierte er den kleinen Peugeot neben seiner Garage. Aha, sie ist zu Hause.
Silvia war derweil emsig damit beschäftigt, das Essen für sich und Robert auf den Tisch zu bringen. Gut gelaunt sang sie vor sich hin. Sie trug eine schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Es passte gut zu ihren halblangen blonden Haaren. Statt Hausschuhe hatte sie Ballerinas an den Füßen, die mit silbrigen Fäden durchwirkt waren. Beim Kochen band sie sich immer eine schlichte weiße Schürze um. Fettflecken an der Kleidung waren ihr ein Gräuel.
In den Jahren, seitdem sie in dem Haus wohnte, hatte sich aus dem Nachbarschaftsverhältnis zu Robert eine Freundschaft entwickelt. Sie mochten sich. Jeder unterstützte den anderen, wo es ging. Silvia hatte für ihre dreiundfünfzig Jahre eine sehr gute Figur. Sie führte es auf ihren Sport zurück, den sie seit mehreren Jahrzehnten ausübte. Zwar hatte sich in ihrem Gesicht das eine und andere kleine Fältchen gebildet, das tat ihrem Aussehen aber keinen Abbruch. Sie war eine sehr gut aussehende Frau reiferen Alters. Die strahlend blauen Augen mit den natürlichen langen Wimpern erinnerten Robert manchmal an seine ehemalige Freundin, die ihm das Herz gebrochen hatte.
Die Mittfünfzigerin war topfit und hatte Robert, als sie ihm einige Kampftechniken beibringen sollte, schon ziemlich beeindruckt, nachdem er sich nach einem fingierten Angriff auf sie auf dem Teppichboden ihres Wohnzimmers wiedergefunden hatte. Natürlich waren diese Erfahrungen für ihn auch mit Schmerzen verbunden gewesen. Trotzdem mussten beide nach diesen Trainingsstunden immer wieder lachen. Silvia, da Robert ihr unterlegen war, und Robert mehr oder weniger aus Verlegenheit, weil eine Frau, um einiges älter als er, ihn immer wieder zu Boden schickte, wenn er es herausforderte.
Anders als bei Robert war Silvias Küche geschmackvoll eingerichtet, weiß und von schlichter Eleganz. Einige bunte Farbtupfer in Form kleiner Figuren und Vasen brachten zudem Wärme in den Raum. Wohlüberlegt hatte sie diesen Nippes überall platziert. Es war aber nichts übertrieben. Sie hatte ein Fingerspitzengefühl für solche Dinge. Weniger ist manchmal mehr. Nahe dem Fenster, welches zur Hauseinfahrt ausgerichtet war, stand ein moderner Tisch mit passenden Stühlen. Das brachte Gemütlichkeit. Silvia hörte kurz auf, in ihrem Topf zu rühren und schaute aus dem Fenster. Aha, der Herr ist auch schon da.
Kurz darauf schellte es, und sie eilte zur Tür.
Der seelisch angeschlagene Robert trat ein. Er rang sich ein Lächeln ab, um seine Probleme zu überspielen. „Guten Abend, Silvi.“
Sie umarmte ihn zur Begrüßung und nahm ihm die Einkaufstasche ab. „Ich muss weitermachen. Die Hähnchenpfanne mit Gnocchi steht noch auf der Herdplatte. Du magst doch Gnocchi, oder?“
„Sehr gerne sogar, Silvi.“ Robert hing seine Jacke an der Flurgarderobe auf und überlegte. Was zum Teufel sind Gnocchi? Er hatte keine Ahnung. Er sah noch in der Diele zu den Bildern an den Wänden. Es waren ältere Bilder von den Wettkämpfen, an denen sie teilgenommen hatte. Robert bewunderte diese Frau. Sie betrieb ihren Kampfsport seit 35 Jahren und hatte sich den vierten Meistergrad erworben. Die Angst, alleine im Dunkeln durch eine einsame Gasse zu laufen, hielt sich bei ihr in Grenzen. Sie war selbstbewusst und sich ihrer eigenen Fähigkeiten sicher. Das hatte in den letzten Jahren der eine oder andere zwielichtige Typ schmerzvoll erfahren müssen.
„Robbi, kommst du? Essen ist fertig.“
Der Geruch von frischen Kräutern und Tomaten zog in die Diele und kitzelte Roberts Nase, obwohl er keinen großen Appetit hatte.
Silvia wollte zum Training fahren. Deshalb verließ Robert ihre Wohnung bereits um 18:00 Uhr. Das Essen hatte vorzüglich geschmeckt, aber genossen hatte er es nicht. In seinem Kopf drehte sich alles. Unten in seiner Wohnung machte er den üblichen Kontrollgang, um sich danach an den PC zu setzen. Er wollte warten, bis sich der Maskierte wieder meldet.
Mittlerweile war es 21:00 Uhr. Eine Mischung aus Angst, Langeweile und Frust war eingetreten. Er reagierte sich an dem Monitor ab. „Komm schon, zeig dich endlich, du Bastard.“
Es geschah aber nichts.
Weitere zwei Stunden, die ihn zu zermürben schienen, vergingen. Dann plötzlich gegen Mitternacht fuhr der Computer herunter und startete neu. Roberts Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
Der Maskenmann trat ins Bild. „Guten Abend, Herr Weinbaum. Es freut mich, dass Sie vor Ihrem PC sitzen.“ Robert schluckte und registrierte das zynische Grinsen.
„Ich möchte mich zunächst in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Wir haben uns einen nicht gerade stubenreinen Scherz mit Ihnen erlaubt.“
Diese gespielte Höflichkeit widerte Robert an. Dahinter versteckte sich nichts als kalter Sadismus.
Der Maskenmann fuhr fort: „Sie haben wohl zunächst gedacht, dass dieses, sagen wir mal, unappetitliche Teil in Ihrem Wagen echt gewesen wäre? So dumm sind wir nicht. Bei einer Polizeikontrolle wären Sie ins Fadenkreuz der Ermittlungen gelangt, und das können wir beide doch am wenigsten gebrauchen. Wir wollten mit dieser Aktion nur demonstrieren, wozu wir in der Lage sind. Sie werden sehen, wir können noch Freunde werden.“ Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem zynischen Lächeln.
Robert schüttelte sich innerlich vor Abscheu, sagte aber nichts, sondern starrte wie gebannt auf dieses Etwas am Monitor.
„Nun, Herr Weinbaum, wie haben Sie entschieden? Werden ...“
„Ich denke schon“, unterbrach Robert nervös. „Ich glaube, mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Wie geht es jetzt weiter?“
„Das freut mich für Sie, Robert“, antwortete die verstellte Stimme. „Ich darf doch Robert sagen, oder?“
„Ist mir egal, wie Sie mich nennen. Wie ist Ihr Name? Kommen Sie jetzt zum Punkt.“
Die Stimme des Gegenübers wurde milder.
„Wir wollen doch nicht ungeduldig werden. Aber nur so viel: Halten Sie sich morgen um 15:00 Uhr an der alten Apotheke in der Stadt auf. Dort bekommen Sie weitere Informationen. Wir werden uns morgen um die gleiche Zeit wiedersehen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Schlafen Sie gut.“
Der Maskenmann verschwand vom Monitor.
Robert geriet ins Schwitzen. Nervosität machte sich in ihm breit. Er schämte sich wegen seiner Feigheit, aber auch, weil er nicht am Morgen die Polizei aufgesucht hatte. Dazu kam diese unsägliche Angst, die ihn seit dem vorherigen Abend beschlichen hatte. Das alles brachte ihn in eine Situation, der Robert sich vor etlichen Jahren noch gestellt hätte, der er aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gewachsen war. Er stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und begrub sein Gesicht in den Händen. Was ist bloß aus dir geworden? Mit geschlossenen Augen kamen wieder Bilder in sein Gedächtnis, die geprägt waren von Staub, Blut, Angst und Gewalt. Sein Leben hatte in den letzten Jahren einen friedlichen Verlauf genommen. Er hatte sich relativ wohl gefühlt. Mit Ausnahme der Kontrollgänge in seiner Wohnung und der zurückhaltenden Art war nichts Auffälliges an ihm. Auch die Erinnerungen an frühere Zeiten hielten sich in Grenzen. Aber diese neue Situation überforderte ihn. Vor lauter Wut wollte er mit der Faust auf den Schreibtisch einschlagen, aber selbst das brachte er nicht fertig. Er war gehemmt. Robert wechselte mit seinen Gedanken in das aktuelle Geschehen. Ich werde zunächst mitmachen. So kann ich Zeit gewinnen und überlegen, wie ich den Kerl loswerde. Mal sehen, was auf mich zukommt.
∞
Die Hauptgeschäftsstraße bot ein weniger lebhaftes Bild als zu früheren Zeiten. Wo noch Jahre zuvor reges Treiben geherrscht hatte, sah Robert zu beiden Seiten in einige leere Schaufenster. Das trockene sonnige Wetter mit einer Außentemperatur von 17 Grad machte es nicht besser. Zwei alteingesessene Geschäfte wie der Optiker zu seiner Linken und der ebenso seit etlichen Jahrzehnten bekannte Juwelier weiter oben auf der rechten Seite schienen wie Felsen in der Brandung dem Unternehmenssterben zu trotzen, das seit einigen Jahren die Innenstadt beschlichen hatte.
Die leeren Geschäfte nahm Robert wie durch einen dunklen Schleier wahr. Langsam näherte er sich der alten Apotheke, die gegenüber dem Schmuckgeschäft lag. Es handelte sich dabei um ein altes denkmalgeschütztes Patrizierhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert.
Vor dem Gebäude ging eine schmale Seitengasse ab. An der Hausecke saß auf einem Hocker ein circa 70-jähriger Mann, ein Althippie, der mit seiner Gitarre etwas Leben in die triste Innenstadt bringen wollte. Dem Aussehen nach zu urteilen, schien er aus den siebziger Jahren übriggeblieben zu sein. Das graue Haar, zu einem Zopf geflochten, lag über seinem Rücken. Mit kräftiger, klarer Stimme sang er ,The Streets of London'.
Robert erreichte die Höhe der Apotheke und sah auf die Zeitanzeige seines Smartphones. Es war 14:55 Uhr. Um 15:00 Uhr muss hier irgendein Typ auftauchen. Ich denke, er wird mich erkennen.
Die Gitarre verstummte plötzlich. „Bist du Robert?“
Robert sah überrascht in Richtung des Mannes. „Ja, der bin ich.“
Er hatte nicht erwartet, von dem Gitarrenspieler angesprochen zu werden und bekam Herzklopfen.
„Hier, das soll ich dir geben.“ Der alte Hippie hielt ihm einen kleinen Briefumschlag entgegen.
Robert nahm ihn schnell an sich. „Wer hat dir das gegeben?“
Der Alte strich sich grinsend über das verlebte Gesicht. „Keine Ahnung, irgendein Typ mit Hut und Mantel. Er hat mir ein Scheinchen für meine Hilfsbereitschaft dagelassen. Wer das war, ist mir scheißegal.“
„Okay, trotzdem danke.“
Robert machte sich auf den Rückweg.
Die Angelegenheit wurde immer merkwürdiger. Sein Gehirn arbeitete unterwegs fieberhaft. Es dauerte keine zehn Minuten, bis er den Parkplatz erreichte. Dieser lag gegenüber vom Cineworld, dem Kinokomplex der Stadt. Noch vor seinem Auto riss er den Umschlag auf und sah auf den gedruckten Inhalt.
SIEH DICH AUF DEM HOF DER ALTEN SCHULE UM.
Das ist ja gleich um die Ecke.
Von dem Parkplatz aus waren nur wenige Minuten zu laufen. Die Schule war schon vor einigen Jahren geschlossen worden. Das kleine Törchen quietschte, als Robert es öffnete und auf das Gelände trat. Erinnerungen kamen in ihm auf. Vor seinem geistigen Auge sah er lärmende Kinder. Auf den Stufen zum Eingang stand die Schulaufsicht. Es war ein warmer Sommertag. Hier spielte das Leben von Kindern und Jugendlichen, die ihre Köpfe voller Pläne für die Zukunft hatten.
Robert verwarf diesen Gedankenrückblick und sah zu dem zweistöckigen Gebäude auf, welches 1908 erbaut worden war und inzwischen vor dem Abriss stand. Blätterlose braune Ranken zogen sich bis zu den Fenstern der oberen Etage hoch und umwebten das Gebäude wie ein Gespinst. Die Scheiben einiger Fenster waren geborsten. An einigen anderen wiederum klebten noch gemalte Bilder von ehemaligen Schülern. Das Gebäude war kalt, verwahrlost und tot. Er wandte sich ab und ließ seine Augen über das Gelände schweifen. Dieses sah nicht besser aus. Überall sprossen Wildkräuter und andere Pflanzen aus dem Boden des gesprungenen Asphalts. Robert wurde nachdenklich. Aber wonach soll ich hier suchen? Warum diese Geheimniskrämerei, nur weil ich mich auf dem Hof meiner ehemaligen Schule umsehen soll? Das ergibt doch alles keinen Sinn.
Es war nichts Auffälliges festzustellen. Er kannte das Gelände und wusste, dass die Schule ein u-förmiges Gebäude war. Der Innenhof zwischen den beiden Flügeln wurde früher als Parkplatz der Lehrerbelegschaft genutzt. Irgendwo wird irgendwas zu finden sein. Vielleicht eine weitere Nachricht.
Seine Ungeduld wuchs von Sekunde zu Sekunde. Er machte sich auf und bog in den Weg, der die vordere Hoffläche mit dem hinteren Schulhof verband und schaute nach links auf den ehemaligen Lehrerparkplatz. Ein schmaler Trampelpfad war zu erkennen, der bis an das Gebäude reichte. Der Rest war mit allerlei Gestrüpp zugewuchert. Aus Roberts Angst wurde Wut. Er fühlte sich wie das Spielzeug eines Wahnsinnigen. Was ist das? Dahinten liegt etwas auf dem Boden. Er hatte circa fünf Meter weiter etwas Dunkles hinter einem Brombeergestrüpp gesichtet. Der Adrenalinspiegel seines Körpers schoss in die Höhe.
Vorsichtig näherte er sich diesem dunklen Gegenstand. Als er hinter den Strauch sah, starrten ihn die weit aufgerissenen Augen einer blonden Frau an. Blut war nicht zu sehen. Robert stand wie versteinert neben der Toten.