Haus der fremden Erinnerungen - Eric Eaglestone - E-Book

Haus der fremden Erinnerungen E-Book

Eric Eaglestone

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Beschreibung

Haus der fremden Erinnerungen Immobilienkaufmann Mike Pitz ist geschäftlich von Kiel nach Süddeutschland unterwegs. Hinter Nürnberg verändert sich jedoch seine Wahrnehmung. Oder ist es etwa real, was er da erlebt? Wie aus dem Nichts gerät er von der Autobahn auf eine Landstraße, die scheinbar nie enden will. Er landet in einer fragwürdigen Waldpension. Dort findet er einen Zettel mit einem Hilferuf. Nach seiner Flucht erwacht Mike in einer Klinik. Paranormale Erlebnisse scheinen seinen Alltag zu bestimmen. Wo ist er nur hineingeraten? Es wirkt alles unwirklich, aber doch real. Seine Wahrnehmung – wurde sie durch ein Experiment oder Drogen beeinflusst? Was hat man mit ihm vor? Kann ihn eine Tote im Leben verfolgen? Und warum gibt es sie gleich zweimal? Gefahren und Ängste bestimmen auf einmal seinen Alltag ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Edition Paashaas Verlag

Autor: Eric Eaglestone

Originalausgabe: August 2020

Covermotiv: Hans-Josef Werker

Coverdesign: Michael Frädrich

© Edition Paashaas Verlag

www.verlag-epv.de

Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-071-0

Die Handlung ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Haus der fremden Erinnerungen

Thriller

Prolog

Es ist beklemmend, in einer regnerischen Oktobernacht mit seinem Auto irgendwo im Niemandsland unterwegs zu sein, wenn man auf der Suche nach einer Herberge ist und das Navi verrücktspielt. Kein Dorf, kein Haus, keine Wegweiser – nichts, woran man sich orientieren könnte.

Weite Felder zur linken Seite und ein dunkler Nadelwald zur Rechten, dessen Baumkronen sich im Wind biegen. Nichts verändert sich in der Landschaft. Man fährt weiter in eine schier endlos wirkende Einöde. Kilometer für Kilometer. Keine Scheinwerfer von entgegenkommenden Fahrzeugen, die in einer Schrecksekunde daran erinnern, dass die Augenlider schwerer werden.

Mike Pitz wünschte sich in diesem Moment, gelegentlich ein Lebenszeichen von irgendwas oder irgendwem zu bekommen. Ein Zeichen, das ihm mitteilt, dass er nicht allein auf dieser Welt ist. Das blieb ihm verwehrt. Lediglich die Musik aus dem CD-Spieler verhinderte, dass er am Steuer einschlief. Private Gedanken plagten ihn zusätzlich, da er seit einer Woche frisch geschieden war. Die zehn Jahre mit seiner fünf Jahre jüngeren Frau Monique konnte er nicht einfach vom Tisch wischen. Unterschiedliche Lebenseinstellungen hatten sie beide auseinandergebracht. Zudem hatte Monique zwei Jahre zuvor mit einer Freundin eine Esoterikgruppe gegründet, mit der er sich absolut nicht anfreunden konnte.

Um sich abzulenken, hatte er schon im Vorfeld beschlossen, sich beruflich mehr zu engagieren, sodass ihm letztendlich die Aufgaben eines Revisors übertragen wurden. Der vierzigjährige Marketing-Mitarbeiter eines Immobilienunternehmens war erst morgens um 10.00 Uhr von Kiel losgefahren, da er noch eine Frühbesprechung gehabt hatte. Sie beinhaltete einige Projekte, die er am Tag darauf in Süddeutschland inspizieren sollte. Er war irgendwo in der Nähe von Nürnberg um 20:00 Uhr von der A9 abgefahren, um zu tanken, und fuhr anschließend wieder auf die Autobahn, so wie sein Navi es vorgab. Dann geschah es.

Er war einige Minuten unterwegs gewesen, als sein Navi plötzlich streikte. Auf dem Display des Gerätes wurden keine Straßen mehr angezeigt. Der Kurspfeil stand auf einer dünnen gestrichelten roten Linie und bewegte sich nicht mehr. ,Unbekannte Straßeʽ, laut Anzeige. Befand er sich wirklich auf einer Landstraße, die nirgendwo verzeichnet war? Mike fuhr geradeaus weiter. Die vereinzelten Häuser, die er anfangs passierte, ignorierte er, da in ihm die Hoffnung aufkam, an eine weitere Tankstelle zu gelangen, wo man ihm weiterhelfen würde. Das geschah aber nicht, sodass er den Glauben daran nach einiger Zeit aufgab. Er wollte nach Rosenheim, um in einer kleinen Pension zu nächtigen.

Blitzten in den ersten Minuten, nachdem er die Autobahn verlassen hatte, noch Scheinwerfer von vereinzelt entgegenkommenden Fahrzeugen auf, so stellte sich der Verkehr bald gänzlich ein. So schien es ihm jedenfalls. Er konnte sich nicht erinnern, die Autobahn verlassen zu haben. Wie kam er also auf diese Landstraße?

Stoisch fuhr er in der Dunkelheit weiter. Die Müdigkeit in seinen Gliedern machte sich langsam bemerkbar. Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Windschutzscheibe und die Gegend wurde immer beängstigender. Es hätten schon längst wieder Zeichen menschlicher Zivilisation auftauchen müssen, da er schon eine geschlagene halbe Stunde nur geradeaus fuhr – abgesehen von den Kurven, die auf der Strecke lagen. Fünfzig Kilometer habe ich jetzt abgespult, aber nichts verändert sich. Was ist das? Rechts nur Wald, links nur Felder und Sumpf. Was ist hier bloß los? Wo bin ich? Plötzlich überfiel ihn die schiere Angst. Ich bin nicht mehr in der realen Welt. Ich fahre zurück.

Wegen des fehlenden Gegenverkehrs war es ihm ein Leichtes, seinen Wagen abzubremsen und zu wenden. Mike atmete auf. So, die Strecke noch mal zurück und zur Tankstelle, da werde ich mir Klarheit verschaffen. Warum nicht gleich so? Er nahm die Blues-CD aus dem Deck, legte stattdessen Bruce Springsteen auf und drehte den Lautstärkeregler fast bis zum Anschlag. Jetzt gab er Gas und seine Laune verbesserte sich. Die Musik tat ihren Teil dazu, die nebenbei auch seine Müdigkeit im Zaum hielt.

Nun befanden sich der Wald zu seiner linken und die Felder zu seiner rechten Seite. So weit Mike blicken konnte, verschmolzen die Felder mit dem dunklen Horizont und dem fast schwarzen, wolkenbehangenen Himmel übergangslos zu einer Einheit. Das Licht ferner elektrischer Entladungen warf gespenstische Schatten über dieses Szenario. Er sah auf den Tacho: Noch dreißig Kilometer, dann bin ich wieder am Ausgangspunkt.

Eine halbe Stunde verstrich, und nach einer weiteren Kontrolle seiner Kilometerleistung musste er feststellen, dass er mit seinem Wagen bereits wieder vierzig Kilometer gefahren war, ohne dass sich die Gegend veränderte.

Verfluchter Mist, ich müsste doch schon lange die Tankstelle, an der ich getankt habe, erreicht haben! Und wo sind die Häuser, die Straßenbeleuchtung und die beschissene Autobahnauffahrt? Alles weg. Typisch Mike. Er bediente sich immer einer derben Wortwahl, wenn ihm was gegen den Strich ging. Die Luft musste halt raus aus ihm. Plötzlich tauchte ein reflektierendes Hinweisschild auf: WALDPENSION ANGAR, 200 Meter. Ja, wenigstens ein Lebenszeichen menschlicher Zivilisation, dachte er zähneknirschend. Aber es war doch vorher hier alles anders. Schauen wir mal.

Kopfschüttelnd verringerte er seine Geschwindigkeit und bog nach zweihundert Metern, einem weiteren Hinweisschild folgend, nach links in die schmale Seitenstraße ab. Sie führte direkt in den Wald. Er versuchte das Geschehene zu ergründen. Die Straße hat bestimmt einen lang gezogenen Abzweig, den ich fälschlicherweise genommen habe. Die Müdigkeit, die schlechte Sicht, das scheiß Navi, ja, so wird es gewesen sein. Bleib ruhig, Mike. Er spürte, wie die Straße unebener und holperiger wurde. Der asphaltierte Teil der Strecke war zu Ende und ging in einen Waldweg über, den der Regen aufgeweicht hatte. In einer mit Wasser gefüllten Bodenmulde blieb der Wagen jetzt stecken. Alle vier Räder versanken so tief im Schlamm, dass trotz des Allradantriebs seines schwarzen Mazda-SUVs keine Chance bestand, sich aus dem Loch zu befreien. So sehr sich Mike auch bemühte, er saß fest. Die Räder drehten durch, der Schlamm spritzte zu beiden Seiten des Wagens bis an die Seitenfenster. „Jetzt hab ich die Schnauze gestrichen voll!“, schrie er wütend. „Ich stecke irgendwo in unserem schönen Land mitten in der Nacht im Regen in einem Schlammloch in irgendeinem beschissenen Wald fest. Ich bin verflucht müde, hab Hunger, Durst, und pissen muss ich auch. Meine Fresse, wie ich diesen Tag hasse.“ Mike verließ fluchend seinen Wagen, schlug die Tür zu und ignorierte den Regen, denn er hatte ein dringendes Bedürfnis. Zurück im Auto nahm er sein Smartphone in die Hand und sah aufs Display. Kein Netz, keine Internetverbindung. Game over. Scheißding. Achtlos warf er das Handy nach hinten auf die Rückbank. Mit einigen Papiertaschentüchern strich er sich durchs Haar, um es wenigstens oberflächlich zu trocknen. Dabei glitt er immer wieder über seinen blonden Zopf, der ihm bis zu den Schulterblättern reichte. Zum Schluss trocknete er sein Gesicht. Anschließend sah er in den Rucksack auf dem Beifahrersitz: Mal sehen, was wir noch so haben. Eine leichte Zufriedenheit überkam ihn, als er den Inhalt kontrollierte: Die Thermoskanne ist noch halbvoll Kaffee ... Das ist gut. Ein belegtes Brötchen ist noch da und Zigaretten habe ich auch noch genug. Okay. Gut, dass ich 'ne Standheizung habe. Erst was essen, eine rauchen, dann werde ich im Auto schlafen. Morgen sieht die Welt bei Tageslicht anders aus. Wie spät ist es eigentlich? Er beugte sich nach hinten und fischte das Smartphone von der Rückbank. Was? 20.00 Uhr? Da bin ich doch an der Tankstelle gewesen. Seit wann bleibt die Zeitangabe auf einem Smartphone stehen? Unbegreiflich! Nachdenklich schraubte Mike die Tasse von der Thermoskanne und sah dabei durch die Windschutzscheibe. Da ist doch jemand. Vor ihm tauchte der Schein einer Taschenlampe auf. Endlich ein lebendes Wesen.Das macht mit Hoffnung.

Er unterbrach seine Tätigkeit, stieg aus und ging auf die Person zu. Ein älterer Mann, um die siebzig, mittelgroß mit einem dichten, weißen Bart und faltigem Gesicht, stand nun vor ihm. In Jagdkleidung und einem Gewehr über der Schulter. Wer geht bei so einem Scheißwetter auf die Jagd? Es war genauso merkwürdig wie die stehengebliebene Zeitangabe auf seinem Smartphone.

„Guten Abend, mein Herr“, grüßte der alte Mann mit sonorer Stimme. „Was ist denn mit Ihnen passiert? Wollen Sie etwa zu Brunhild?“

„Ich weiß nicht, wer Brunhild ist“, antwortete Mike freundlich. „Ich möchte zur Waldpension Angar. Ich bin der Beschilderung nachgefahren und dann hier steckengeblieben. Ich habe mich schon darauf vorbereitet, hier im Wagen zu schlafen.“

„Das brauchen Sie nicht“, entgegnete der Jäger ruhig und gelassen. „Ich führe Sie zu Brunhild. Sie ist die Wirtin der Waldpension.“

„Danke. Ist es weit von hier? Ich nehme eben meine Sachen aus dem Auto.“

„Ja, machen Sie das. Um Ihren Wagen kümmern wir uns dann morgen. Fünfzig Meter weiter, dann links in den Weg hinein. Bald darauf kommen wir auf eine Lichtung. Da liegt das Gasthaus. Es ist gemütlich, und Brunhild wird sich freuen, mal ein neues Gesicht zu sehen.“

Mike fiel auf, dass der alte Mann ein bitteres Grinsen aufsetzte. Wie auch immer, ihm war jetzt so ziemlich alles egal. Ein warmes Bett, den Rest aus seiner Thermoskanne und eine Zigarette – mehr brauchte er jetzt nicht. Mit dem Rucksack über den Schultern und einem kleinen Reisekoffer in der Hand machte er sich auf den Weg. Es war stockdunkel. Der alte Jäger lief trotz des Regens gemächlich mit seiner Taschenlampe vor ihm her, als ob ihm die Kälte dieser Oktobernacht und der Regen nichts ausmachen würden. Glücklicherweise hatte Mike sich einen Regenponcho übergezogen, den er für alle Fälle immer im Auto dabei hatte. Dem Alten geht das Wetter am Arsch vorbei. Der hat die Ruhe weg. Verwundert trottete er durch den Matsch hinter dem Jäger her. „Wie heißt diese Gegend eigentlich, werter Herr Jägersmann“, fragte Mike etwas spöttisch.

„Angar“, antwortete der alte Mann mit tiefer Stimme.

Sie betraten die Lichtung, die so groß war wie zwei Fußballfelder. Ein gespenstisch wirkendes Gebäude war darauf zu erkennen. Als die beiden Männer auf dem aufgeweichten Trampelpfad dem Anwesen näher kamen, erkannte Mike ein ungepflegtes, altes Fachwerkhaus. Was ist denn das für 'ne Kaschemme? Aus einem Fenster im Untergeschoss drang fahles Licht nach draußen in die Dunkelheit.

„Brunhild ist noch nicht zu Bett gegangen“, stellte der Jäger fest und drehte sich zu Mike um. „Kommen Sie, junger Mann, hinein mit Ihnen ins Trockene.“

Mike schloss zu ihm auf. „Wohnen Sie auch in der Pension?“

Der alte Mann antwortete nicht, sondern betätigte jetzt dreimal den Türklopfer der klobigen Eingangspforte. Sie warteten schweigend in der Erwartung, dass sich die Tür öffnete. Mike wandte sich zu dem Alten: „Entschuldigung, ich habe mich Ihnen noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Mike Pitz.“ Er reichte dem Alten die Hand.

Der Jäger ignorierte das. Auch eine Antwort auf die höfliche Geste blieb aus. Mike kommentierte das Verhalten des betagten Weidmanns mit einem verständnislosen Kopfschütteln. Komischer Kerl.

Die Tür öffnete sich, und vor ihnen stand Brunhild, eine alte, kleine Frau mit weißem, halblangem Haar, das ziemlich ungepflegt und zerzaust aussah. Ein stechender Blick aus ihren dunklen Augen traf Mike, dem irritiert der Gedanke kam, doch lieber in seinem Auto zu nächtigen. Ihr Gesicht war zerfurcht und ließ eine Altersschätzung von circa fünfundachtzig bis neunzig Jahren zu.

„Komm rein!“, bat sie unfreundlich mit krächzender Stimme.

Mike trat ein und rümpfte die Nase. Aus ihrem schwarzen, schmutzigen Baumwollkleid drang ein penetranter Geruch. Auch innerhalb des Hauses roch es nicht gerade angenehm, sondern muffig und feucht.

„Ich geh dann mal wieder“, sagte der alte Jäger.

Mike drehte sich um und reichte ihm abermals die Hand. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Der Alte machte wortlos auf dem Absatz kehrt und entfernte sich in die Dunkelheit. Na, dann eben nicht, wollte Mike ihm hinterherrufen, aber die alte Frau hatte die Tür bereits geschlossen. Er versuchte ein Gespräch mit der Wirtin zu eröffnen: „Wohnen noch andere Gäste im Haus?“

„Nein“, antwortete Brunhild mürrisch. „Zieh deine nassen Sachen oben aus und lege sie im Zimmer über das Ofenrohr. Dann sind sie morgen trocken.“ Sie deutete auf die Wasserlache, die sich unter Mike gebildet hatte. „Das macht die Kleine gleich weg.“

„Wer ist die Kleine?“ Mike wurde neugierig. „Ihre Enkelin?“

Brunhild sah ihn böse an: „Frag nicht!“

Wieder traf ihn ihr stechender Blick. Ich verpiss mich besser in mein Auto. Die Alte macht mir Angst. Sein Blick schweifte durch den Raum. Unter ihm befand sich ein alter, staubiger Holzboden. Die Wände in dem kleinen Vorzimmer waren weiß gekälkt, falls man in Anbetracht des ungepflegten Hauses – einschließlich der alten Frau – die Wände noch als weiß bezeichnen konnte. An ihnen waren zur linken und rechten Seite jeweils vier große, gusseiserne Leuchter angebracht, in denen Kerzen brannten und fahles, unheimliches Licht verbreiteten. Auf der linken Seite befand sich eine Tür, die halb offen stand. Er warf einen flüchtigen Blick hinein, konnte aber nur einen wurmstichigen Tisch erkennen, auf dem eine Öllampe stand. Sie brannte ebenfalls. Gegenüber befand sich eine weitere Tür, die geschlossen war. Am Ende des Raumes führte eine schmale, ausgetretene Holztreppe nach oben. Es sah nicht gerade einladend aus. „Ab wann darf ich zum Frühstück kommen?“, fragte er vorsichtig.

„Wenn du ausgeschlafen hast. Jetzt gehe nach oben in dein Zimmer. Neben der Tür ist ein Lichtschalter.“

„Oh, das überrascht mich. Ich dachte, hier wäre kein Strom.“

„Doch, aber nur für Gäste. Jetzt halte die Klappe“, murrte die Alte und verschwand in ihrem Öllampenzimmer.

Die schmale Treppe knarrte unter seinen Füßen. Die Wände schienen ihn zu erdrücken. Ja, die gesamte Situation war ihm mehr als unheimlich. Mike war kein ängstlicher Typ, aber all das, was er heute erlebt hatte – einschließlich dieser fragwürdigen Herberge samt der alten Wirtin – ließen ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend aufkommen. Nach zehn Stufen stand er in einer kleinen, schmalen Diele. Das Restlicht der Kerzen im Eingangsbereich erleichterte ihm die Suche nach der einzigen Zimmertür auf der rechten Seite. Er öffnete, ging hinein und fand auch sofort den Lichtschalter. Was für eine Funzel?Bestimmt eine Zwanzig-Watt-Birne. Spärliches Licht erhellte das Zimmer. Na ja, besser als nichts. Müde schlug er das Oberbett zurück. Hoffentlich ist keine Rattenscheiße im Bett. Hier ist alles möglich. Mike machte ein verwundertes Gesicht. Alles sauber. Jetzt nahm er auch das daunengefüllte Kopfkissen in die Hand, um es ebenfalls auf Sauberkeit zu prüfen. Was ist denn das? Unter dem Kopfkissen lag ein Zettel. Er las den handschriftlichen Eintrag: HILF MIR, ICH WILL HIER WEG. RUNA.

Sein Herz begann stark zu klopfen. Die Kleine!, schoss es ihm durch den Kopf. Die alte Schachtel hat sie ja erwähnt. Hier stimmt was nicht! Gedankenversunken ließ er den Zettel auf das Bett fallen und begann sich auszuziehen. Gegenüber dem alten Bauernbett vor der Gegenwand lief das besagte Kaminrohr in Hüfthöhe von der einen Wand zur anderen. Eine behagliche Wärme ging davon aus. Mike verteilte seine nasse Kleidung über das Rohr und begann, die spärliche Einrichtung des Zimmers zu inspizieren. Ein altes Porzellanwaschbecken mit fließend kaltem Wasser befand sich direkt neben der Tür. Zu seiner weiteren Begeisterung entdeckte er jetzt die Toilettenschüssel, die offen neben dem Fenster stand. Dieses wiederum glich eher einer Dachluke. Neben dem Bett stand ein kleiner Hocker mit einer alten Nachttischlampe. Zum Glück funktionierte sie. Ach du heilige Scheiße, wo bin ich nur hingeraten? Egal, morgen bin ich so schnell wie möglich weg. Wenigstens ist das Zimmer warm und ich habe ein sauberes Bett. Für eine Nacht geht es.

Er lag grübelnd auf dem Rücken und sah auf die nackte Glühbirne, die von der Decke hing. Langsam fielen ihm die Augen zu. Morgen, bevor ich abreise, werde ich der Sache mit Runa auf den Grund gehen. Das ist ein Hilfeschrei. Den kann ich nicht so einfach ignorieren. Er warf noch einen kurzen Blick auf die Zeitangabe seines Smartphones. Immer noch 20:00 Uhr. Die Zeit ist hier stehengeblieben.

Kurz darauf fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Das Licht der Nachttischlampe brannte immer noch, als Mike die Augen öffnete. Der Schlaf hatte ihn in der Nacht übermannt, sodass er nicht mehr imstande gewesen war, sie auszuschalten. Sein Blick wanderte gemächlich zum gardinenlosen Fenster. Draußen war es noch dunkel. Er sah, wie in der Nacht zuvor, auf sein Smartphone: 20:00 Uhr. Einfach unbegreiflich. Er stieg aus dem Bett. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe. Aber egal, auf jeden Fall bin ich jetzt einigermaßen fit. Vor dem Waschbecken sah er in den Spiegel und rieb sich über die bereits etwas struppigen Bartstoppeln in seinem markanten Gesicht. Eine Rasur fand bei ihm nur einmal in der Woche statt. Dreitagebart und langes blondes Haar, das immer zu einem Zopf geflochten über seinem Rücken lag, gehörte zu seiner persönlichen Note. Nach dem Zähneputzen und einer Katzenwäsche nahm er seine jetzt trocken gewordene Kleidung vom Ofenrohr. Wegen der Dachschräge musste er sich mit seinen 1,85 Metern etwas bücken. Mike entfernte den verkrusteten Schlamm notdürftig von den Schuhen und seiner Hose und zog sich an. Ich brauche jetzt mein Frühstück, eine Zigarette, und dann nichts wie weg aus dieser Bude. Seine Lebensgeister wurden wach. Er wollte voller Optimismus in den Tag starten als plötzlich ... Scheiße, da war doch noch was! Er setzte sich auf die Bettkante. Die Erinnerungen an den vorherigen Abend schossen in ihm hoch. Die Karre steckt ja noch im Schlamm! Und der eindeutige Hilferuf von Runa.Ich packe jetzt meine Sachen zusammen und verschaffe mir unten beim Frühstück etwas Klarheit.

Fünf Minuten später verließ er das Zimmer und stieg mit seinem Gepäck die schmale Treppe hinab. Die Tür, die am Abend noch geschlossen gewesen war, stand nun weit offen. Kaffeeduft stieg ihm in die Nase. Wenn es auch ein Rattenstall ist, Kaffee können sie wohl kochen, dachte er und setzte sich an den einzigen Tisch auf einen der vier Holzstühle. Der Raum war ebenso trist und schmuddelig wie alles andere in diesem Haus. Spärliches Licht schien von der verstaubten Öllampe an der Decke. Ein flüchtiger Blick in Richtung Fenster beunruhigte ihn. Es herrschte immer noch dunkle Nacht. In diesem Moment betrat eine junge Frau den Raum. Sie hielt ein Körbchen in der Hand, in dem sich Brot, Margarine und ein Glas Marmelade befanden. Eine kleine Frau mit mittellangen, schwarzen Haaren, um die dreißig und mit durchschnittlicher Figur. Sie hatte ein blasses Gesicht und schmalen Lippen. Ihre Augen konnte Mike nicht genau erkennen, da sie ängstlich zu Boden blickte. Bekleidet in Jeans, Pulli und halbhohen Stiefeletten. Sie passte allein durch ihr Äußeres nicht in dieses Haus. Mike sah zu ihr auf. Das muss Runa sein.

„Guten Morgen“, grüßte sie etwas schüchtern und stellte den Korb vor ihm auf den Tisch.

„Guten Morgen“, erwiderte Mike. Dann mit leiser Stimme hinter vorgehaltener Hand: „Sind Sie Runa?“

„Ja“, flüsterte sie ängstlich. „Mir geht es hier nicht gut.“

Sie sah ihn an und Mike blickte in zwei rehbraune, Hilfe suchende traurige Augen.

„Warten Sie“, bat er leise. „Packen Sie Ihre Sachen. Ich nehme Sie gleich mit.“ Er räusperte sich kurz und redete in normaler Lautstärke weiter: „Warum ist es eigentlich immer noch dunkel draußen?“

„In Angar ist es immer dunkel, mein Herr.“

„Was?! Das kann doch nicht möglich sein. Ich bin immer noch in Deutschland. Außerdem heiße ich Mike, ich bin kein Herr.“ Er dämpfte seine Stimme wieder: „Machen Sie sich fertig! Unterwegs können Sie mir alles erzählen.“

Der Hauch eines Lächelns flog über ihr Gesicht. „Sie sind ein starker Mann. Jetzt habe ich auch den Mut dazu. Vorher hätte ich mich nicht getraut.“

„Runa, du faules Stück, komm her zu mir!“, drang es aus dem anderen Zimmer in den Raum. Es war Brunhild. „Warum trödelst du so rum?“

Runa zuckte zusammen und richtete einen weiteren hilfesuchenden Blick zu Mike.

„Ich spreche gleich mit der Alten“, empörte der sich mit erhobener Stimme. Runa verschwand ängstlich.

„Da bist du ja endlich. Was hast du so lange getrieben“, hörte er die Alte keifen.

So, das reicht! Mike stürzte den heißen Kaffee herunter, nahm seine Sachen und ging in Richtung des Zimmers gegenüber. Er trat die halboffene Tür mit dem Fuß weit auf. Was er zu sehen bekam, ließ seinen Atem stocken. Runa kniete auf den Boden und stützte sich mit den Händen nach vorne ab. Brunhild stand vor ihr – mit einer Reitgerte in der Hand. „Steh sofort auf!“, befahl er der jungen Frau, bewegte sich gleichzeitig auf Brunhild zu und riss ihr die Reitpeitsche aus der Hand. „Ich wusste sofort, dass in dieser Bude irgendwas nicht stimmt!“, schrie er sie an.

„Du weißt gar nichts“, pöbelte Brunhild. „Sie ist ein Taugenichts und muss bestraft werden.“

Runa hatte sich in eine Zimmerecke verzogen und zitterte am ganzen Körper. Mike baute sich vor der Alten auf. „So, ich werde jetzt aus diesem Rattenloch verschwinden und nehme die Frau mit.“

„Mach das, mach das ruhig. Ich wünsche euch eine gute Heimfahrt“, lachte Brunhild hämisch.

Mike wandte sich nun zu Runa: „Wo hast du deine Sachen? Ich helfe dir packen.“

Sie nahm zitternd seine Hand. „Ich habe keine. Nichts habe ich hier“, wimmerte sie weinend.

Mike schien verwirrt. „Keine Kleidung zum Wechseln?“

„Nein.“

Die Alte stand mit verschränkten Armen mitten im Zimmer und geiferte zynisch: „Ich wünsche euch eine gute Heimfahrt.“

Mike antwortete nicht, fasste Runa bei den Schultern und schob sie sanft aus dem Raum. Ich hatte mit Gegenwehr gerechnet, aber sie lässt uns widerstandslos ziehen. Er war immer noch schockiert. Irgendwie eigenartig. Er gab der jungen Frau Rückendeckung und ging seitlich hinter ihr her – darauf gefasst, dass Brunhild irgendwas im Schilde führt. Runa öffnete die Eingangstür und sogleich verließen beide dieses unwirtliche Haus. Von Brunhild war nichts mehr zu hören und zu sehen. Mike blickte in Richtung des Weges, der irgendwo am Ende der Lichtung im Wald verschwand. Erst mal durchatmen und den Gestank vergessen. Ein leichter Nieselregen fiel vom mondlosen Himmel lautlos in die Dunkelheit der Bäume. Mike legte schützend seinen rechten Arm über die Schultern seiner Begleiterin: „Lass uns jetzt gehen, bevor die alte Hexe wieder erscheint.“

„Ja! Ich habe immer noch schreckliche Angst.“ Sie sah zu ihm auf. „Du hast mich gerettet, aber noch sind wir mitten in diesem schrecklichen Land.“

Er nahm seine Hand von ihren Schultern, kramte eine Zigarettenschachtel hervor. „Rauchst du?“

„Ja, danke.“

Sie bediente sich und Mike gab ihr Feuer. Anschließend zündete er sich auch eine an und sog den Rauch tief ein. Im Schein seiner Handylampe machten sie sich auf den Weg in Richtung seines Autos. „Hoffentlich bekomme ich die Karre aus dem Dreck“, grübelte er laut vor sich hin.

„Du hast dich festgefahren? Dann kommen wir hier nicht weg.“

„Abwarten.“ Mike bemerkte, wie hilflos und schutzbedürftig die junge Frau war. Er fühlte sich verantwortlich für sie. Umso dringlicher sein Wunsch, sich und Runa aus dieser eigenartigen, scheinbar nicht realen Welt hinauszuführen.

Sie gelangten ans Ende der Lichtung und bogen nach rechts in Richtung seines Autos ab. Der Nieselregen und kalter Wind drangen bereits durch ihre Kleidung, obwohl sie nur wenige Minuten unterwegs waren. Mike hatte eine Menge Fragen an Runa, was Brunhild und dieses fragwürdige Gasthaus betraf. Außerdem zermarterte er seinen Kopf über die immer noch herrschende Dunkelheit in dieser Gegend. Aber zunächst musste er seinen Wagen freibekommen. Im Schein der Handylampe stapften sie über den matschigen Weg. Er hielt Ausschau nach größeren Steinen und abgebrochenen Ästen.

„Halte das mal.“ Er übergab ihr das Smartphone, um sich nach einem flachen, größeren Rindenstück zu bücken. Befriedigt hob er es auf. Als sie unmittelbar vor dem Auto standen, öffnete er eine der Hintertüren und warf seinen Rucksack mit dem Reisekoffer auf die Rückbank. Dann suchte er neben dem Weg nach weiterem brauchbarem Material und fand eine größere Menge alter Baumzweige, die er unter die Räder seines Autos legte. Runa blieb dicht bei ihm und hielt die Lampe. „Was für eine Schweinerei“, schimpfte Mike, als er die letzten Zweige unter die Hinterräder gelegt hatte. „Jetzt hilft nur noch Beten und vorsichtiges Anfahren.“ Sie stiegen ein. Er startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. Vorsichtig ließ er die Kupplung kommen und gab etwas Gas, sodass sich der Wagen glücklicherweise langsam aus dem Schlammloch bewegen konnte. Auf dem festeren Untergrund, nach hinten blickend, setzte er den Wagen zurück. Er hatte Angst, einen Wendeversuch zu unternehmen, um nicht abermals in irgendeinem Schlammloch stecken zu bleiben.

Endlich kam Asphalt unter die Räder, sodass Mike abermals aufatmen konnte.

„So, noch ein kurzes Stück, dann sind wir wieder auf der Hauptstraße. Langsam bekomme ich einen steifen Hals“, sagte er grinsend.

Nach einigen Minuten erreichte er die Straße, schlug das Lenkrad ein und setzte die Fahrt in der Richtung fort, aus der er am Abend zuvor gekommen war. Runa lehnte sich entspannt auf dem Beifahrersitz zurück und sagte: „Danke. Kannst du mir deinen Namen nennen?“

„Mike“, antwortete er knapp und sah konzentriert auf die leere, unbefahrene Straße.

„Vielen, vielen Dank, Mike. Es war die Hölle.“ Sie begann zu weinen.

„Beruhige dich erst mal. Danach kannst du mir alles erzählen“, antwortete er mit sanfter Stimme. „Im Handschuhfach sind Taschentücher. Bediene dich.“

Runa machte von seinem Angebot Gebrauch und schnäuzte sich zunächst die Nase. „Es kam so: Ich war mit meinem Mann unterwegs, in der Nähe von Hamburg. Wir wollten zu einem Anwalt, wegen unserer Scheidung. Aber das ist eine andere Geschichte.“ Sie machte eine kurze Pause und überlegte. „Das muss schon länger her sein. Ich weiß nicht, wie lange.“

„Hier muss doch bald eine lang gezogene Gabelung kommen“, brummelte Mike vor sich hin. Dann warf er einen kurzen Blick zu Runa. „Und wie ging es weiter?“

„Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, und als ich aufwachte, lag ich am Straßenrand. Ich wusste nicht, was geschehen war. Es war einfach irreal. Dunkelheit. Wind und Regen. Und das am Tage, im Sommer. So ungefähr war es. Ich stellte mich an die Straße und wartete auf ein vorbeifahrendes Auto, um es anzuhalten ... Aber es kam keins. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich gewartet habe, als plötzlich dieser Jäger auftauchte. Ich habe mich Hilfe suchend an ihn gewandt. Er führte mich dann zu dem schrecklichen Haus. Dieses alte Dreckstück von Brunhild hielt mich seitdem wie eine Gefangene. Sollte immer das Zimmer oben sauber halten für Gäste. Es kamen aber keine. Ich musste im Wald Holz sammeln, zum Heizen. Wenn irgendwas nicht schnell genug ging, verprügelte sie mich.“ Runa flennte wieder. „Ich habe ein paarmal versucht zu fliehen, aber der alte Jäger tauchte immer wieder wie aus dem Nichts auf, und brachte mich gewaltsam zurück. Und diese ständige Dunkelheit. Keine Uhr. Kein Kalender – nichts. Ich weiß nur, dass ich schon sehr lange hier bin. Wie kann das sein? Wo bin ich? Was ist das hier?“

Mike unterbrach sie: „Ich habe heute Morgen gesehen, dass sie dich verprügeln wollte. Aber wie ist das möglich? Du bist eine junge kräftige Frau. Kamst du gegen sie nicht an?“

„Nein, sie ist sehr stark. Wie ein Mann. Trotz ihres Alters.“

„Wann hast du den Zettel unter mein Kopfkissen gelegt?“, wollte er wissen.

„Ich habe das jeden Tag gemacht – in der Hoffnung, dass endlich ein Gast kommt und mich aus meiner Lage befreit.“

„Hier spielt uns irgendwas einen Streich“, warf Mike ungläubig ein. „Hat irgendeine Terrororganisation unsere Sinne mit einer chemischen Waffe vernebelt oder ist die Welt untergegangen? Das ist paradox, was wir hier erleben. So was gibt es nicht.“

„Habe ich auch gedacht. Aber du siehst es ja. Deshalb fürchte ich mich immer noch.“

„Schlaf jetzt ein wenig. Ich wecke dich, wenn wir in Sicherheit sind“, versuchte Mike ihr die Angst zu nehmen.

Da sich Runa gut aufgehoben fühlte und ihm vertraute, schloss sie ihre Augen und schlief nach kurzer Zeit ein.

Mike fuhr stur geradeaus weiter und hielt Ausschau nach einer möglichen Abbiegung. Er wurde immer nervöser. Das Zeitgefühl hatte ihn verlassen, aber seine innere Uhr sagte ihm, dass er schon seit Stunden unterwegs war. Plötzlich blitzte ein Schild im Scheinwerferlicht auf: WALDPENSION ANGAR 200 METER. Ihm brach der kalte Schweiß aus und es wurde dunkel um ihn.

Langsam erwachten seine Sinne wieder. Mike spürte die behagliche Wärme der Umgebung. Er hielt die Augen noch geschlossen und versuchte, langsam wieder ins Leben zurückzufinden. Mach die Augen auf. Er zuckte bei einer unbewussten Bewegung seines Kopfes zusammen. Irgendwas war mit seinem Genick. Mach die Augen auf, Mike, forderte er sich ein weiteres Mal auf und hob langsam seine Lider. Was er zunächst zu seiner Überraschung feststellte, war die Helligkeit des Zimmers, in welchem er sich befand. Er versuchte, die Umgebung zu fokussieren, die er wie durch eine Milchglasscheibe sah.

„Mike, Mike“, drang eine weibliche Stimme an seine Ohren. Auf seinem Arm spürte er eine Hand. Eine Hand, die zu dieser Stimme gehörte. Wer ist das? Die Stimme kenne ich doch irgendwoher. Sein Blick wurde nun schärfer, sodass er die Person erkennen konnte, die vor seinem Bett saß. Es war Monique, seine von ihm frisch geschiedene Frau. „Mike, endlich bist du wach.“

Er sah in ihr sorgenvolles Gesicht. „Wie kommst du denn hierher?“, krächzte er mit trockenem Hals.

Das Kopfteil des Bettes war etwas aufgerichtet, sodass sie problemlos ein Glas Wasser an seine Lippen führen konnte. „Trink mal was und komme erst mal zu dir“, sagte sie sanft.

Ja, ein Glas Wasser, das brauchte er jetzt. Sein Mund und seine Lippen waren völlig trocken. Er nahm einen Schluck und versuchte gierig, das Glas zu leeren. Monique unterband es, indem sie das Glas von seinem Mund nahm. „Du bekommst ja alles, aber du musst langsam trinken.“

Jetzt begutachtete er seinen Körper. Auf der nackten Brust klebten die Elektroden eines EKG-Gerätes und zu seiner linken Seite zeigte ein Monitor die Herzstromkurve. Was zum Teufel ...? Er entdeckte die Braunüle in seiner linken Hand. Der Schlauch führte zu der Infusionsflasche, die direkt neben dem Monitor hing. Jetzt registrierte er auch die weitere Umgebung und versuchte, den Kopf zu bewegen. Der sofort auftretende Schmerz in seinem Nacken brachte ihn von diesem Vorhaben ab.

Monique bemerkte das: „Bleib ruhig. Beweg dich nicht, wenn es weh tut.“

Das, was er aus den Augenwinkeln heraus erkennen konnte, waren einige medizinische Gerätschaften und die Zimmertür ihm gegenüber, die sich nun öffnete. Eine etwas korpulente, grauhaarige Dame im weißen Kittel trat ein und bewegte sich auf ihn zu.

„Er ist gerade wach geworden“, flüstere Monique zu ihr.

„Ich bin Schwester Inge. Wie fühlen Sie sich, Herr Pitz?“, fragte die Dame, während sie ihre modische Brille zurechtrückte.

„Scheiße“, antwortete er trocken. „Wo bin ich hier eigentlich und was ist passiert?“

„Du hattest einen schweren Autounfall, Mike“, antwortete Monique in ruhigem Ton anstelle der Krankenschwester. „Du bist im Krankenhaus.“

Schwester Inge nahm während dieser Erläuterung ein Handy aus der Tasche: „Herr Professor, der Patient ist jetzt wach ... In Ordnung, bis gleich.“ Sie trat wieder an Mikes Bett. „Der Chefarzt kommt sofort und erklärt Ihnen alles. Ich gehe mal kurz raus und bin auch gleich wieder da. Sie waren lange bewusstlos, Herr Pitz.“

„War ich das?“, fragte er ungläubig mit matter Stimme. „Ich kann mich entsinnen, dass ich auf einer Landstraße in Angar unterwegs war.“ Mike fühlte sich ausgelaugt und wie zerschlagen, aber die Schmerzen in seinem Nackenbereich waren auszuhalten, solange er den Kopf nicht bewegte.

„Bis gleich, Herr Pitz“, entgegnete Schwester Inge lächelnd. „Ich muss wie schon gesagt kurz raus.“

Monique entfuhr ein gequältes Lächeln. Ungläubig sah die fünfunddreißigjährige Brünette über ihren Brillenrand zu ihm hinüber. Sie rutschte näher an das Bett, beugte sich über ihn und strich eine Haarsträhne aus seinem Gesicht. „Du warst auf keiner Landstraße. Du warst vorgestern Abend auf der Autobahn. Als du kurz hinter Nürnberg getankt hattest, touchiertest du beim Wiederauffahren auf die Autobahn die Leitplanke. Dein Wagen kam ins Schleudern und überschlug sich. Kurz darauf bist du dann hier mit dem Rettungswagen eingeliefert worden.“

„Wann ... wann ... soll das passiert sein?“, stotterte Mike. „Ich weiß nur, dass ich getankt habe und dann auf eine Landstraße geraten bin, die endlos war. In einer Gegend namens Angar. Wenig später bin ich in einer unheimlichen Pension gelandet und ...“

„Das hast du geträumt, während du bewusstlos warst“, unterbrach Monique ihn mitleidig lächelnd. „Dein Unfall ereignete sich um genau 20:00 Uhr laut Zeugenaussagen bei der Polizei.“

Mike runzelte die Stirn: „20:00 Uhr? Da ist mein Handy stehen geblieben.“

„Bitte was?“ Monique verstand nicht, zog die Stirn in kleine Fältchen zusammen und sah ihn mit ernstem Gesicht an. Als Fachfrau der Esoterik sickerten Mikes Aussagen langsam in ihre Gehirnwindungen. Sie begann zu überlegen.

„Vergiss es. Was ist mit meinem Auto?“, fragte Mike, sichtlich nervös geworden.

Monique beantwortete seine Frage nicht mehr, da zwei Ärzte und Schwester Inge ins Zimmer traten. Die Krankenpflegerin hielt ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber in der Hand. Der kleinere, etwas untersetzte, mittelblonde Arzt um die fünfzig eröffnete das Gespräch: „Langer mein Name und das ist unser Stationsarzt Doktor Ehrenberg.“ Er deutete auf den schlanken vierzigjährigen Kollegen. „Er hat Sie vorgestern aufgenommen und die Untersuchungen an Ihnen durchgeführt. Jetzt möchte ich mir selbst ein Bild von Ihnen machen. Wie ich sehe, haben Sie sehr viel Glück gehabt. Keine Knochenbrüche oder innere Verletzungen. Auch nicht an Ihrem Kopf, obwohl der Verdacht eines mittelschweren Schädelhirntraumas besteht. Wie geht es Ihnen, Herr Pitz? Erzählen Sie, wie Sie sich fühlen.“

Mike sah auf das Schild über der Brusttasche des Arztes. Prof. Klaus Langer war zu lesen. „Ich war auf dem Weg nach ... Keine Ahnung, fällt mir nicht mehr ein.“ Mikes Stimme stockte.

„Trinken Sie erst mal einen Schluck“, riet der Professor.

Monique führte wieder das Glas an Mikes Lippen.

„Ich habe getankt und ...“

„Herr Pitz, ich möchte nur wissen, wie Sie sich fühlen. Nicht, was Sie gemacht haben. Das kommt später.“ Der Professor wirkte außergewöhnlich sanft und ruhig.

„Er hat Schmerzen im Nackenbereich“, mischte sich Monique ein.

„Frau Pitz, Ihr Mann kann doch selbst antworten“, entgegnete der Chefarzt freundlich.

Sie warf ihren Kopf zurück, verschränkte ihre Arme und sah wie entsetzt zur Zimmerdecke: „Ex-Mann bitte!“

Die beiden Ärzte belächelten diese Reaktion unbemerkt. Sie kannten diesen Frauentyp. Extrovertiert, arrogant, auf sich selbst bezogen und mit Pseudowissen behaftet, so schätzten sie Monique ein. Mike hätte ihnen nicht widersprochen. In der Summe war es das, was Monique und ihn auseinander gebracht hatte. Äußerlich war sie eine recht attraktive und gepflegte Frau mit einer Körpergröße von circa 1,70 Metern und normaler, durchschnittlicher Figur. Die Kurzhaarfrisur ließ ihr hübsches, aber meist streng wirkendes Gesicht gut zur Geltung kommen und die sündhaft teure Designer-Brille unterstrich diesen Eindruck noch. In schwarzer Lederhose und grauem Pulli beobachtete sie kritisch die beiden Ärzte.

„Ja, es stimmt“, pflichtete Mike ihr bei. „Ich kann meinen Kopf nur unter Schmerzen bewegen und in meinem Schädel brummt es. Aber es ist erträglich.“

„Das kommt von den Medikamenten, die in Sie hineinlaufen.“ Der Arzt deutete auf die Infusionsflasche. „Sie haben den Nacken überdehnt, aber keine weiteren Verletzungen im Halswirbelbereich. Daher kommen die Schmerzen. Das legt sich aber in einigen Tagen. Es kann auch noch zwei Wochen dauern. Ich stelle Ihnen jetzt einige Fragen.“

„Okay, machen Sie das“, antwortete Mike mit matter Stimme. „Aber wieso trage ich keine Halskrause, wenn mein Nacken überdehnt ist? Das ist doch normalerweise üblich, soweit mein schmales Wissen reicht.“

Der Arzt überging Mikes Frage. „Wie heißen Sie?“

„Mike Pitz.“

„Wann sind Sie geboren?“

„Am 3. März 1977.“

„Das klappt ja super“, lobte der Arzt. „Welchen Monat haben wir?“

„Oktober – und es ist draußen dunkel.“

„Oktober ist richtig, Herr Pitz, aber es ist Mittag und wir haben Tageslicht.“

„Wirklich?“, fragte Mike verwundert. „In Angar ist es immer dunkel.“

Der jüngere der Ärzte schob einen leeren Stuhl zu seinem Vorgesetzten. Der Professor setzte sich und sah Mike in die Augen. „Herr Pitz, scheinbar haben Sie in Ihrer Bewusstlosigkeit etwas erlebt, das nicht real ist. Das ist normal und kommt öfters vor. Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“ Mike machte sich aber Gedanken darüber, denn Angar war in seinem Bewusstsein greifbar und real. Und was ist mit Runa?

Professor Langer zückte einen kleinen, silbernen Stift aus der Tasche und leuchtete in Mikes Augen. „Pupillenreflex normal.“ Jetzt schlug er die Bettdecke zurück. „Bewegen Sie zunächst den linken und dann den rechten Fuß, anschließend die Beine.“

Mike kam der Aufforderung nach.

„Das sieht ja gut aus“, stellte der Doktor fest. „Sie haben da keine Einschränkungen. Und jetzt dasselbe mit den Händen und den Armen, bitte.“ Auch diesen Test absolvierte Mike zur Zufriedenheit des Arztes. Professor Langer wandte sich an seinen Kollegen. „Welchen GCS-Wert haben Sie festgestellt?“

„Zwölf, Herr Professor. Normalerweise hätte Herr Pitz den Wert neun, aber aufgrund der langen Bewusstlosigkeit kommt nur GCS zwölf infrage“, antwortete Doktor Ehrenberg selbstsicher.

„Das ist richtig, aber jetzt können wir ihn ruhig auf neun festlegen. Der Patient ist ja wieder bei Bewusstsein. Und was hat das CT ergeben?“

„Keine irreparablen Verletzungen“, antwortete der jüngere Kollege präzise.

„Wie wurde der IPC gemessen?“

„Nichtinvasiv. Ergebnis unauffällig.“

„Das hört sich ja alles gut an.“ Der Professor erhob sich und wandte sich wieder Mike zu: „Herr Pitz, es sieht gut aus. Sie haben wirklich Glück im Unglück gehabt. Sie haben keine Verletzungen an Ihrem Gehirn. Das hat das CT und die Messung Ihres Hirndrucks ergeben. Was mich natürlich etwas beschäftigt, ist Ihre lange Bewusstlosigkeit. Das passt nicht mit der Diagnose zusammen.“

„Das heißt?“, fragte Mike.

„Dass ich Sie noch einen Tag hier auf der Intensivstation zur Beobachtung behalte. Aber Sie brauchen sich deshalb keine Sorgen zu machen.“ Der Professor tätschelte Mike aufmunternd die Schulter. „Danach werden Sie noch einige Tage auf die normale Station verlegt. Wenn alles gut verläuft, sind Sie in einer Woche wieder ein freier Mann.“ Er hob mahnend den Zeigefinger: „Aber Sie müssen sich einige Wochen schonen und einige Termine bei Ihrem Hausarzt wahrnehmen.“

Mike versuchte, sich ein Lächeln abzuringen. „Das mache ich, aber nach meinem Empfinden war ich nicht bewusstlos. Ich hatte ein reales Erlebnis. Möchten Sie wissen, was ich ...“

„Herr Pitz, ich verstehe Sie ja, aber glauben Sie mir ...“

„Hören Sie ihm doch mal zu“, fuhr Monique energisch dazwischen. Sie war hellhörig geworden. „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wissenschaftlich nicht zu erfassen sind.“ Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Mikes Bedürfnis, seine Geschichte loszuwerden, hatte plötzlich das Interesse der selbsternannten Esoterikerin geweckt.

Der Professor ignorierte sie und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Herr Pitz, machen Sie sich bitte keine Gedanken mehr darüber. Ich kenne das. Morgen sehe ich noch mal nach Ihnen, dann können wir uns darüber unterhalten. Wenn was ist, Schwester Inge hat ständig ein Auge auf Sie.“

Die Krankenschwester bestätigte das mit einem Kopfnicken in Mikes Richtung und lächelte. Das Ärzteteam verließ das Zimmer und hinterließ eine empörte Monique: „Unverschämter ignoranter Kerl.“ Ihr Kopf war rot angelaufen. Mike musste trotz seiner Misere grinsen. Er kannte sie schließlich gut genug. „Erzähle mir jetzt bitte die Geschichte“, bat Monique, als sie sich etwas beruhigt hatte. Sie goss das Wasserglas wieder voll und führte es an Mikes Mund.

„Trink erst mal was.“

„Was ist mit meinem Auto?“, wollte er zunächst wissen.

„Totalschaden! Aber sei froh, dass du lebst, mein Lieber. Es hätte auch anders ausgehen können.“

„Und meine Sachen?“

„Die sind hier untergebracht; darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Dein Smartphone ist leider nicht gefunden worden. Weder im Auto noch in der Nähe des Unfallortes.“ Sie zuckte mit den Schultern und machte die Augen weit auf. „Es muss mit durch die Windschutzscheibe gegangen sein, als du dich überschlagen hast, und liegt irgendwo in der Botanik.“

Mike nahm es stumm zur Kenntnis. Zunächst musste er in die Realität zurückfinden. „Welches Datum haben wir heute?“

„Donnerstag, den 12. Oktober.“

„Und wie hast du es erfahren? Von dem Unfall?“

„Die Rettungskräfte fanden den Hinweis in deiner Brieftasche, dass ich bei einem Notfall zu benachrichtigen bin. Das ist übrigens lieb von dir. Indes, wir sind ja nicht zerstritten. Ich bekam von der Polizei Besuch, dann habe ich mich sofort auf den Weg gemacht.“

„Und wo bist du untergebracht?“

„In einer kleinen Pension, etwas außerhalb von Nürnberg. Morgen sehe ich noch mal kurz bei dir rein und fahre dann wieder nach Hause.“ Monique wurde etwas ungeduldig: „Jetzt erzähle schon! Was hast du während deiner Bewusstlosigkeit erlebt?“

Mike atmete tief durch. „Ich weiß noch genau, dass ich getankt habe und wieder auf die Autobahn auffahren wollte. Mein Navi spielte plötzlich verrückt und ich befand mich auf einer Landstraße ...“

Monique hörte gespannt zu. Als Mike mit seinen Ausführungen am Ende angelangt war, nahm sie aus ihrer Handtasche eine Kette, an der sich ein Anhänger in Form einer germanischen Rune befand: Thurisaz – oder auch Dorn genannt. Monique hielt die Kette samt Anhänger fest in beiden Händen und schloss die Augen. „Hier herrscht eine schlechte Aura“, sagte sie nach einigen Minuten. „Thurisaz ist blockiert.“ Monique ließ die Kette wieder in ihrer Tasche verschwinden und nahm Mikes Hand. „Wenn du wieder auf dem Damm bist, dann komme mich doch bitte mal in unseren Räumlichkeiten besuchen. Maya wird auch dort sein. Gemeinsam gehen wir dann der Sache auf den Grund.“

Mike konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Für ihn war das alles Hokuspokus.

Monique bekam das mit und wurde grantig: „Aber wenn du die Sache nicht ernst nimmst, dann hat es gar keinen Zweck. Das solltest du wissen.“

„Schon gut. Ich muss mich erst an die Vorstellung gewöhnen, dass ihr mir helfen könnt. Ich bin nämlich ein realistischer Mensch.“ Er wurde nachdenklich und streckte seine Hand zu ihr aus. „Gib mir mal bitte dein Smartphone. Ich muss unbedingt mit der Firma telefonieren.“

Sie sah in ihrer Handtasche nach. „Oh, Mist, ich habe es im Auto liegen lassen“, antwortete sie verwundert. „Aber ich habe deinen Chef schon informiert. Mach dir keine Sorgen. Er wünscht dir gute Genesung. Schlaf jetzt ein wenig. Ich fahre nun ins Hotel.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer.

Mike sah grübelnd zur Zimmerdecke, denn die Geschichte ließ ihn nicht los. Angar, Angar ... althochdeutsch, bedeutet Ackerland.Die vier Semester Germanistik waren wohl doch keine vergeudete Zeit, aber seit wann vergisst sie ihr Handy? Komisch.

Tags darauf, um die Mittagszeit, begab sich das Ärzteteam erneut zu Mike ans Bett. Der Professor ließ sich nach einer weiteren Überprüfung der Vitalfunktionen von seinem Patienten die vermeintlich im Unterbewusstsein erlebte Geschichte erzählen, die nach seinem Ermessen nichts weiter als eine Suggestion in Folge der Bewusstlosigkeit war.

Am Nachmittag wurde Mike auf ein Privatzimmer verlegt. Die Sonderbehandlung hatte seine Firma veranlasst. So wurde ihm das jedenfalls mitgeteilt. Er lag nun alleine in einem kleinen Krankenzimmer und blickte aus den Augenwinkeln zum Fenster hinaus. Die Rollos waren auf seinen Wunsch gänzlich hochgezogen worden, sodass er die Helligkeit des Tages auf sich einwirken lassen konnte. Das Einzige, was ihn störte, war der Infusionsschlauch an seiner linken Hand. Monique hatte ihn noch kurz zuvor besucht und etwas Lesestoff und eine Flasche Saft gebracht. Außerdem war sie so nett gewesen, ihm etwas Haarpflege zu gönnen, indem sie seinen blonden Zopf gelöst und sein Haar gekämmt hatte. Die schulterlange Mähne und der muskulöse Oberkörper ließen ihn wie Siegfried aus der Nibelungensage erscheinen. Ein Kriterium, das Monique schon immer beeindruckt hatte. Mike schmunzelte verschmitzt. Als sie ihn vor etlichen Jahren kennengelernt hatte, war sie sogar regelrecht dahingeschmolzen. Eine einzelne violette Orchidee stand auf seinem Nachttisch. Auch dafür hatte Monique gesorgt. Die Schmerzen im Nackenbereich waren nicht mehr so heftig wie am Tag zuvor. Das lag wohl an den Medikamenten, die er bekam. Es bereitete ihm aber immer noch Schwierigkeiten, seinen Kopf zu bewegen, sodass er nicht zur Tür sehen konnte, die sich zu seiner rechten Seite befand. Er hörte, wie sie sich öffnete.

„Guten Tag, Herr Pitz. Möchten Sie Kaffee?“, sprach die eintretende Frau und bewegte sich mit einem Tablett auf sein Bett zu. Sie stellte es auf die ausziehbare Ablage des Nachttisches ab und schob es zu ihm heran. Mike sah in ihr Gesicht und erschrak. Die Haare, die Augen und die Lippen! „Runa! Wie kommst du hierher?“

Sie schlug entsetzt beide Hände vor ihren Mund und riss die Augen weit auf. „Runa, Runa, das ist meine Schwester! Sie ist seit zwei Jahren verschwunden! Woher kennen Sie Runa?“ Ihre Stimme überschlug sich.

Mike war verwirrt. Es war doch Runa, die vor ihm stand. „Sie ... Sie sind nicht Runa?“

„Nein, Pia – Runas Zwillingsschwester.“ Sie wischte sich die auftretenden Tränen aus den Augen. Ihre Hände zitterten.

Mike ignorierte den Schmerz in seinem Nacken und richtete sich auf: „Ich habe Runa gesehen. Vor drei Tagen. Es ist wohl doch kein Traum gewesen.“

Pias Blick wurde traurig. „Wo haben Sie meine Schwester gesehen?“, schluchzte sie.

Mike verzog sein Gesicht, denn die Schmerzen in seinem Nacken wurden heftiger.

„Legen Sie sich wieder zurück“, bat Pia. Sie hatte sich etwas gefangen. „Ich helfe Ihnen mit dem Kuchen, sonst verkleckern Sie alles.“ Sie zog den Stuhl vor dem Bett zu sich, nahm darauf Platz und sah Mike erwartungsvoll an.

„In Angar. In Angar habe ich sie gesehen. Eine Welt, die nicht unsere ist“, begann er ein weiteres Mal seine Geschichte zu erzählen.

Es hatte aufgehört zu regnen. Die nasse Straße zog sich einsam durch die finstere Landschaft und trennte die endlos erscheinenden Felder vom Waldrand. Die Wipfel der Bäume bogen sich lautlos im Wind. Ein Wind, der weder zu hören noch zu spüren war. Anders als bei seinem letzten, unfreiwilligen Besuch.

Mike stand an einen Baum gelehnt und sah über die Weite der Äcker in eine dunkle Leere, die etwas Endgültiges darstellte. Ein endlos erscheinendes ewiges Nichts. Bedrohlich und kalt. Wenn ich die Straße überquere und immer geradeaus über die Felder gehe, wo komme ich dann an, wieder zur Waldpension? Diese Überlegung führte er nicht weiter, denn aus dem Wald drangen Geräusche. Er drehte sich um und sah nach kurzer Zeit drei Gestalten, die sich auf ihn zubewegten. Wie erstarrt schaute er zu ihnen hinüber und erkannte Runa, die von dem alten Jäger und Brunhild flankiert wurde. Mike musste bei ihrem Anblick schlucken. Konnte er ihr noch helfen? Hatte er sie nicht schon mal im Stich gelassen? Ja, aber unfreiwillig! Sie weinte und streckte ihre Arme nach ihm aus, sagte aber nichts. Der Jäger ließ sie vor Mikes Augen niederknien und nahm sein Gewehr von der Schulter. Brunhild grinste hämisch. Runa zitterte vor Angst und stieß einen stummen Schrei aus. Bitte rette mich!, drang es in Mikes Gehirn. Er versuchte, die wenigen Meter zwischen sich und den Dreien zu überwinden, um dem Jäger das Gewehr zu entreißen, kam aber nicht von der Stelle.

„Gut so“, sprach der Alte und warf Mike einen eiskalten Blick zu. Dann drückte er ab.

Die Szene begann, sich vor Mikes Augen in nichts aufzulösen, da er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Bitte hilf mir!, traf ihn ein weiterer Schrei. Er wollte bleiben und Runa retten, aber da war die Hand, die ihn von dem Geschehen wegzog.

„Herr Pitz, wachen Sie auf“, hörte er laut und deutlich.

„Ich, was ... was ist los?“, stammelte er und schlug die Augen auf. Keuchend und schweißgebadet richtete sich Mike trotz seiner Nackenschmerzen auf und sah Pia an seinem Bett stehen.

„Was ist mit Ihnen, Herr Pitz?“, fragte sie und nahm sein Handgelenk. „Ihr Puls rast ja. Ich habe Sie schreien gehört. Haben Sie was Schlechtes geträumt?“

Mike registrierte langsam, dass ihn die Realität wieder eingeholt hatte. „Es war grauenhaft“, keuchte er. „Runa, von Runa habe ich geträumt. Sie wurde vor meinen Augen erschossen. Danach hörte ich sie noch schreien. Bitte hilf mir!, hat sie gerufen.“ Seine Stimme überschlug sich: „Es war kein normaler Traum, es war irgendwie realistisch.“

Pia war entsetzt über das, was sie von ihm zu hören bekam, ließ sich aber dennoch nichts anmerken. Ihr Pflichtbewusstsein dem Patienten gegenüber stand für sie jetzt im Vordergrund. „Erzählen Sie mir später davon“, versuchte sie beruhigend auf ihn einzureden. „Ich komme gleich noch mal zu Ihnen.“ Sie reichte ihm ein Glas Wasser. „Trinken Sie erst mal was. Ich hole den Doktor, dass er mal nach Ihnen sieht.“

„Danke, aber einen Arzt brauche ich jetzt nicht.“

Pia setzte ein Lächeln auf und sah ihn mit ihren rehbraunen Augen mitleidig an: „Doch, es ist besser so.“

Er ließ sich langsam in sein Kissen zurückfallen. „Na gut, wenn Sie meinen.“

Sie verschwand zügig durch die Tür und ließ den beunruhigten Mike zurück, der an die Zimmerdecke starrte. Er merkte, wie heftig sein Puls schlug, und bekam Angst. Was ist das nur? Was passiert mit mir? In was werde ich hier hineingezogen? Und warum ...?

Nach einer kurzen Zeit erschien Pia wieder, mit einem Tablett in der Hand, auf dem ein Klemmbrett, ein Blutdruck-Messgerät und ein Fläschchen zu erkennen war. „Unser Arzt hat im Moment einen Notfall. Ich habe mit ihm gesprochen. Ihr Alptraum ist die Folge des Unfalls. Normalerweise legt es sich wieder.“

„Und wenn nicht, Schwester Pia?“

„Dann spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aber das wollen wir doch wohl nicht annehmen, oder?“ Sie versuchte zu lächeln, wirkte aber sehr nervös. „Ich gebe Ihnen jetzt ein paar Tropfen, damit Sie weiterschlafen können. Vorher muss ich noch Ihren Blutdruck messen.“ Sie stellte das Tablett ab, setzte sich auf die Bettkante und legte die Manschette um seinen linken Arm. „Ich bin gleich fertig, danach können Sie mir von Ihrem Traum erzählen.“

„Wenn ich Sie sehe, denke ich sofort an Runa und will sie retten. Aber Sie sind nicht Runa. Das verwirrt mich, ehrlich gesagt“, versuchte sich Mike ein wenig abzulenken.

„Hundertfünfzig zu fünfundachtzig, etwas hoch, aber durch die Tropfen wird sich Ihr Blutdruck wieder senken und schlafen können Sie dann auch wieder.“ Pia lachte kurz auf. „Das Kuddelmuddel passiert schon seit unserer Kindheit. Der einzige sichtbare Unterschied ist das.“ Sie zeigte ihm die Innenseite ihres linken Unterarms und deutete auf ein Muttermal in der Größe eines Streichholzkopfes. „Runa hat das nicht.“ Sie bekam feuchte Augen und sah ihn traurig an. „Erzähle mir bitte von deinem Traum. Ich hoffe, das Du ist okay, uns scheint auch privat etwas zu verbinden …“

„Das stimmt“, bestätigte Mike mit einem Lächeln.

Pia saß noch auf der Bettkante und weinte hemmungslos, den Kopf in ihren Händen verborgen. Mike hatte ihr alles erzählt. „Was kann man da machen? Ich glaubte dir von Anfang an diese Geschichte, weil du Runa vor deinem Unfall nicht kanntest. So was kann man nicht einfach erfinden. Aber sie ist dir begegnet, wo immer das auch war.“

Mike richtete sich auf und kniff die Augen zusammen. „Scheiß Nacken, hoffentlich wird es bald besser.“

Er sah aus wie ein Wikinger nach dem Kampf. Das blonde lange Haar lag wirr über seinen Schultern, sein Körper war verschwitzt. Die blauen Augen verrieten Entschlossenheit. Er fasste Pia an den Arm. „Schau mich an, Pia!“

„Nein.“ Sie hatte ihr Gesicht noch immer in die Hände vergraben und weinte.

„Bitte sieh mich an!“, wiederholte er eindringlich.

Diesmal kam sie seiner Bitte nach und wandte ihm ihr Gesicht zu: „Jetzt weißt du, wie scheiße ich im Moment aussehe. Genauso fühle ich mich auch.“

„Ich weiß nicht, warum ich in eine Situation hineingezogen wurde, mit der ich nichts zu tun habe, Pia, aber das muss einen Grund haben. Irgendwas in meinem Inneren sagt mir, dass ich eine Bestimmung habe – und zwar die, mich dieser Angelegenheit zu stellen.“ Er machte eine kurze Pause und holte tief Luft.

Pia kam ihm zuvor und hinderte ihn am Weiterreden: „Du willst Runa wirklich helfen? Aber wie? Wo willst du ansetzen? Sie ist wahrscheinlich tot. Oder auch nicht, was ich immer noch hoffe. Auf jeden Fall ist sie nicht in unserer Welt.“

Mike geriet ins Wanken und sein vormals kämpferischer Blick wirkte nun etwas hilflos. „Ich weiß es noch nicht, aber ich finde heraus, wie ich nach Angar und wieder zurück komme.“

„In Ordnung, wir können uns in den nächsten Tagen darüber unterhalten. Versuche jetzt weiterzuschlafen.“ Pia machte sich auf, das Zimmer zu verlassen und nahm das Tablett wieder an sich.

Mike gelang es, seinen Kopf etwas zur Seite zu bewegen, und sah, wie sie das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss. Das ist ja eigenartig. Das fällt mir erst jetzt auf. Die Tür hat von der Innenseite keine Klinke. Bin ich etwa eingeschlossen? Er ließ sich verwundert aufs Kissen zurückfallen. Was soll das alles? Langsam drehe ich durch.

Die Tropfen zeigten jedoch ihre Wirkung und zwangen ihn in den Schlaf.

Am nächsten Morgen erschien Schwester Inge im Zimmer mit dem Frühstück. „Guten Morgen, Herr Pitz“, begrüßte sie ihn gut gelaunt und stellte das Tablett an seinem Bett ab.

Mike richtete sich auf und spürte, dass die Schmerzen nachgelassen hatten. Seine Augen wanderten zum Fenster, als Inge dabei war, die hellblauen Vorhänge zurückzuziehen. Ihm fiel das Gitter auf, das von außen angebrachte war. Sie öffnete das Fenster auf Kippstellung und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

---ENDE DER LESEPROBE---