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Ein geheimnisvoller Flötenspieler erinnert John an eine Prophezeiung seiner Urgroßmutter, die sie ihm als kleinen Jungen auf ihrem Sterbebett mit auf seinen Lebensweg gegeben hat. Er folgt dem Rat des Musikanten. Mystische Erlebnisse führen ihn zu Alvina, eine am Waldrand lebende naturverbundene Frau. Was sie zu berichten hat, lässt ihn erschaudern: Nicht nur die Erde, sondern auch Asgard, die Welt der Götter, ist bedroht. Welche Macht hat dieser schwarze Engel, der seit Jahrhunderten verborgen auf der Erde weilt? Ein packender Kampf beginnt!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
PROLOG
John
Alvina
Die Eltern
Im Wahnsinn getrieben
Ungebetener Besuch
Dubiose Gastfreundschaft
Verwirrungen
Zusammenbruch
Mutter der Götter
Verwunderung
Die Höhle
Rätsel der Vergangenheit
Eine schreckliche Entdeckung
Martin Katzbach
Dunkle Vorzeichen
Falsche Freunde
Das Sterben der Magierin
Alvinas Gabe
Im Quartier des Bösen
Hoher Besuch
Am nächsten Tag
Drei Seelen, ein Mann
Thula
Schrecklicher Verlust
Wolfsnächte
Thula
Abschied
Epilog
Über den Autor
Impressum
Edition Paashaas VerlagAutor: Eric Eaglestone
Originalausgabe: Oktober 2023
Covermotiv: Jaana Redflower
Covermodel: Jaana Redflower
Coverdesign: Michael Frädrich
© Edition Paashaas Verlag
www.verlag-epv.de
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-132-8
Die Handlung ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Hilfe aus Asgard
Eric Eaglestone
Der elfjährige John lag noch gemütlich im Bett, als eine aufgeregte Stimme aus dem Hausflur seine Ohren erreichte. Seine Mutter Renate telefonierte besorgt mit seinem Vater, der an diesem Morgen bei Charlotte nach dem Rechten sah. Sie war Johns Urgroßmutter.
Die Tür zu seinem Zimmer ging auf. Die Mutter wollte ihn sanft wecken, aber der Junge war bereits wach und richtete sich auf. Ein beklemmendes Gefühl ließ ihn nicht los. „Ist was mit Oma?“
Die Mutter nickte. „Papa holt mich gleich ab. Oma ist heute Morgen nicht mehr wach geworden.“
John schluckte und starrte sie an. „Ich wusste, dass Oma bald sterben wird. Sie hat es mir schon lange vorhergesagt.“ Er ließ sich in die Kissen zurückfallen und weinte. „Ich will aber mit zu Oma, sie noch einmal sehen“, brachte er noch hervor.
Renate streichelte seinen Kopf. „Das sollst du auch. Schließlich seid ihr beiden ein Herz und eine Seele gewesen.“
Als sie das Zimmer verließ, erinnerte sich John an Charlottes Worte. Er brauche nicht traurig zu sein, wenn sie mal tot sei. Das solle er ihr versprechen. Es sei nun mal der Lauf des Lebens, dass man, wenn man alt ist, auch irgendwann sterben werde.
Eine halbe Stunde später stand John mit seinen Eltern am Totenbett der Urgroßmutter.
„Sie ist friedlich im Schlaf von uns gegangen“, sagte der Vater mit leiser Stimme.
John hatte sich gefasst und trat nahe an das Bett heran. Charlotte lag dort mit geschlossenen Augen. Ihre Hände waren wie zum Gebet über die Brust gefaltet. Die Gesichtszüge waren entspannt, da sämtliche Körpermuskeln in Folge des Todes erschlafft waren. John glaubte, den Hauch eines Lächelns in ihrem Gesicht zu erkennen.
„Der Arzt kommt gleich. Er muss den Totenschein ausfüllen“, hörte er wie aus der Ferne.
Mein kleiner John, schön, dass du mich noch einmal besuchen kommst.
Das war doch Omas Stimme, die er in seinen Gedanken gehört hatte. John war sich sicher, dass sie zu ihm sprach.
Erschrick nicht, ja, ich bin es, Oma.
John presste die Lippen zusammen. Nun war er endgültig überzeugt. „Willst du mir was sagen, Oma Charlotte?“
Der Vater legte die Hand auf die Schulter seines Sohnes. Oma kann dir nicht mehr antworten, wollte er sagen, doch der Blick seiner Frau reichte, um es zu unterlassen.
Sie fasste ihn an den Arm, hielt ihre Augen geschlossen und schüttelte mit dem Kopf. „Lass ihn“, flüsterte sie.
John hatte von all dem nichts mitbekommen. Er befand sich auf einer anderen Ebene.
Ich habe nicht mehr viel Zeit und bin schon auf dem Weg zu Gott. Ich sehe ein Leuchten. Wenn du erwachsen bist, dann wird sich irgendwann ein Tor für dich öffnen, durch das du gehen musst. Du wirst erkennen, wann es so weit ist. Lass dich hineinfallen. Dann musst du das Böse von dem Guten unterscheiden und das Böse bekämpfen, dass es kein Unheil mehr …, du musst die Menschheit … bewahren, sonst …
„Oma?“
Charlottes Geist hatte endgültig ihren Körper verlassen. John stand vor einem Rätsel. Die Urgroßmutter hatte ihm, während sie noch gelebt hatte, nicht den Kern der alten Geschichte eröffnen können, sondern nur einige Anhaltspunkte geben, auf was er sich vorbereiten solle. Das Alter hatte in ihrem Gedächtnis Spuren hinterlassen gehabt. Bei der Suche nach weiteren Erinnerungen war ihr der Tod zuvorgekommen.
Es vergingen Jahrzehnte.
John wurde ein erwachsener Mann. Die Erinnerung an Charlottes Botschaft verblasste bei dem Heranwachsenden nicht. Eines Tages trat sie wieder vollkommen klar in Erscheinung. Er geriet in einen Strudel zwischen den Welten.
34 Jahre später
John Von-Bergen war 1,76 Meter groß, trug einen kurzen Vollbart, rötlich braunes, etwas längeres Haar und war von schlanker Gestalt. Er war freiberuflich in der Computerbranche tätig und konnte sich seine Zeit einteilen. Ihm blieb genügend Freiraum, sich nebenher einem Gebiet zu widmen, welches mit digitaler Technik absolut nichts zu tun hatte. Er beschäftigte sich seit langen Jahren intensiv mit dem Okkulten, forschte nach der Existenz einer übersinnlichen und paranormalen Ebene, um den Einstieg in eine fremde Dimension aus eigenen Kräften herbei zu führen. Ihn hatte die Prophezeiung seiner Urgroßmutter sein ganzes Leben nicht losgelassen.
Vor fünfzehn Jahren hatte er ein einschlägiges wissenschaftliches Buch gelesen, das solche irrealen Dinge widerlegte, aber nicht zu hundert Prozent ausschloss. Er liebte das Mysteriöse und Unerklärliche, das mit menschlicher Logik nicht zu erfassen war.
Sehr zum Leidwesen seiner ehemaligen Ehefrau Gabi. Sie hasste dieses Thema, weshalb die Ehe auch nach fünf Jahren in die Brüche gegangen war. Vielmehr war dies letztendlich der Aufhänger gewesen, weshalb seine Frau die Scheidung eingereicht hatte. Obwohl sie gleich nach Anbeginn ihrer Ehe auch eigene Interessen gepflegt hatte – berufsbedingt nannte sie das.
John hatte ihr dann öfter den alten Schlager “Dann heirat’ doch dein Büro“ von Katja Ebstein vorgesungen, wenn sie spätabends oder nach einem Seminar endlich mal wieder zu Hause erschienen war.
John war ein Gemütsmensch. Statt sie zur Rede zu stellen, warum das Geschäft wichtiger sei als ihre Ehe, hatte er sich lieber seiner Leidenschaft gewidmet. So hatten sie sich schließlich auseinandergelebt.
Er gab sich seit der Scheidung von Gabi nur kurzweiligen Vergnügungen mit Frauen hin.
So schnell wollte er sich auch nicht wieder binden. Die Scheidung vor zwei Jahren hatte er immer noch negativ im Gedächtnis.
Parallel dazu war John wegen Totschlags angeklagt gewesen. Eines Abends war er auf dem Heimweg von zwei maskierten, jungen Männern überfallen worden. Als er auf deren Verlangen sein Smartphone und die Brieftasche nicht hatte herausrücken wollte, hatte einer der beiden zugestochen. John hatte zur Seite springen können, war aber durch einen Stich in die Schulter verletzt worden. Noch bevor sich der Schmerz bemerkbar gemacht hatte, hatte er seine Faust in dem Gesicht des Angreifers landen können. Der junge Mann war daraufhin rückwärts gestrauchelt und mit dem Hinterkopf auf die Bordsteinkante gefallen. Er hatte sich das Genick gebrochen und war augenblicklich tot gewesen. Zu dieser Tragödie war noch hinzugekommen, dass der junge Mann der Sohn von Gabis neuem Partner gewesen war, Ralf Zabert, einem Manager aus der Pharmabranche, dessen Sekretärin sie war. Er hatte sich von seinem auf die schiefe Bahn geratenen Sohn losgesagt. Aber dennoch hatte er dessen plötzlichen Tod betrauert.
Als John nach der letzten Gerichtsverhandlung wegen Notwehr freigesprochen worden war, war ihm im Blick von Ralf Zabert kalter und teuflischer Hass entgegengeschlagen. Gabi hatte dabei betreten zu Boden geschaut.
Es hatte eine Weile gebraucht, bis John die Mordanklage und die Scheidung von Gabi verdaut hatte. Seit einiger Zeit konnte er sich jedoch wieder auf seine persönlichen Forschungen konzentrieren.
Leider fand sich niemand in seinem Bekanntenkreis, der sein Interesse teilte, außer einer bestimmten Facebook-Gruppe, zu der er regen Kontakt hielt. Zu einer Person hatte er ein besonderes Verhältnis, weil die Chemie zwischen ihnen passte. Es war Martin Katzbach, Doktor der Physik, Parapsychologe und Philosoph. Sie kannten sich aber noch nicht persönlich.
∞
John hatte vor einigen Tagen einen Wink von einem Straßenmusiker bekommen. Auf dessen Fingerzeig hin hatte er eine kleine Pension in Südhessen aufgesucht.
Er lag in seinem Zimmer auf dem Bett mit einem Buch in den Händen und schüttelte den Kopf. „So ein Bullshit.“ Er klappte es wieder zu und legte es beiseite. Dieser Roman über die Karriere eines jungen spanischen Stierkämpfers interessierte ihn absolut nicht. Es sollte sich eine versteckte Nachricht darin befinden, die ihm beim Anlesen allerdings noch verschlossen geblieben war.
Der alte Schinken hatte etwas angestaubt in der altmodischen Nachtkonsole gelegen. Er war in rotem Leinen gebunden, mit verwitterten goldfarbenen Lettern auf dem Einband. Das Buch musste schon bessere Tage gesehen haben, denn es war am Rücken und an den Ecken zerfleddert. Es handelte sich um die Erstausgabe des deutschen Schriftstellers und Spanien-Liebhabers Oskar Sinter von 1935. Verlegt vom Staub Verlag, Berlin.
Er legte den alten Schmöker auf den Nachttisch, ließ sich wieder auf das Bett zurückfallen und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf, um nachzudenken. Zunächst musste er die Botschaft finden, nur wie? Er spürte, dass die Zeit gekommen war, eine existierende andere Welt zu betreten: die Schattenwelt, eine übersinnliche Ebene oder eine andere Dimension. Die Vorhersage seiner Urgroßmutter schien sich zu bewahrheiten. Es war der Flötenspieler, der ihm die Tür geöffnet hatte.
Der Fünfundvierzigjährige dachte über die Begegnung mit dem Musiker nach, der eine Woche zuvor in der Hauptgeschäftsstraße an der Ecke der alten Apotheke gestanden hatte.
Alles lief wie ein Film in seinem Kopf ab und wurde wieder präsent:
John hat es ein wenig eilig an diesem Sommertag. Er will ein neues Netzkabel für seinen PC besorgen und hat nur ein Ziel, den großen Elektroladen im Einkaufcenter. Doch das Spiel eines Straßenmusikers bremst ihn aus. Auf der Hauptgeschäftsstraße steht an der Ecke der alten Apotheke ein Mann, der die vorbeiziehenden Menschen mit seiner Querflöte im Stil von Ian Anderson, dem Frontmann von Jethro Tull, beschallt – eine Band, die in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts ihre größten Erfolge gefeiert hatte. John will schon an ihm vorbeilaufen.
Aber der Mann an der Ecke bremst ihn. „Entschuldigung, hätten Sie ein Minütchen Zeit für mich? Es ist wichtig.“
John verdreht die Augen. Was will dieser Bettler von mir? Geld?
„Nein, ich will kein Geld“, antwortet der Flötenspieler, als ob er Johns Gedanken gelesen hätte.
Verblüfft bleibt dieser stehen und sieht in das bärtige Gesicht des Musikers. Irgendwie kommt ihm der Mann bekannt vor.
Er lächelt John an. „Ich habe eine Botschaft für dich. Komm doch einen Schritt näher.“ Der Flötenspieler trägt ein Piratentuch um seinen Kopf und ist eine schlanke Erscheinung. Die etwas zu groß geratene Kleidung aus einem roten Flanellhemd, schwarzer Lederweste und abgetragenen Jeans lassen ihn wie einen alten Hippie erscheinen.
„Okay, dann schieß los“, antwortet John und geht auf den Mann zu. Aus dessen markantem Gesicht blitzen zwei wache Augen. Er zieht die Brauen hoch: „Erkennst du die Botschaft in dem Buch, wirst du beenden können den Fluch.“ Daraufhin starrt er John mit großen Augen an. „Vertraue der Person an deiner Seite, wenn du hinausziehst ins Feld, zum Streite.“
John ist über diesen Spruch verwirrt und lacht laut auf. „Hast du was geraucht?“
Der Flötenspieler antwortet nicht, sondern übergibt ihm ein Kärtchen mit den Worten: „Buche da ein Zimmer. Dort wirst du fündig werden.“
Ein kurzer Blick darauf verrät, dass es die Visitenkarte einer kleinen Pension in einer ländlichen Gegend der Republik ist. John versteht nicht und sieht den Musiker an, um diesem eine Frage zu stellen. Der ist indes leider nicht mehr da. Einfach verschwunden, innerhalb weniger Sekunden. Er hat sich scheinbar in Luft aufgelöst.
Das Wetter trägt zu Johns weiteren Verwirrung bei. Schlagartig zieht sich der Himmel an diesem Sommertag zu, und es beginnt zu donnern. Deshalb flüchtet er vor dem aufkommenden Gewitter in ein nahegelegenes Café.
John muss das Erlebte verarbeiten und vergisst, weshalb er die Innenstadt aufgesucht hat. Irgendwie kommt mir der Kerl bekannt vor, aber woher? Ein Gefühl überkommt ihn, als zögen sich dünne, heiße Drähte durch sein Gehirn. Erinnerungen an seine Urgroßmutter Charlotte kommen wieder auf. Er hat alles klar vor Augen. Als kleiner Junge im Alter von elf Jahren hat er sie oft besucht und leckere Blaubeerpfannkuchen in ihrer Küche gegessen. Eines Tages hat sie ihm prophezeit, dass er als erwachsener Mann, wenn die Zeit gekommen ist, eine andere Welt betreten werde. Charlotte hatte ihn nicht geschont und ihm mitgeteilt, dass er sich darauf einlassen solle, wenn es so weit sei und versuchen müsse, seine Gedanken dabei zu ordnen, sonst könne passieren, dass etwas sehr Schlimmes geschehe. Er müsse dieses Geheimnis aber für sich behalten.
John kehrte aus seiner Gedankenwelt zurück und nahm wieder das Buch zur Hand, welches ihm Rätsel aufgab. Zuvor hatte er nach einem Zettel gesucht, der irgendwo zwischen den Seiten versteckt gewesen sein könnte. Aber da war nichts. John überlegte weiter. Als er diese Pension kontaktiert hatte, hatte die Dame am Telefon den Anruf schon erwartet. Sie hatte auch seinen Namen gewusst. Für ihn stellte sich die Frage: Woher? Könnte es nicht für alles bisher Geschehene eine natürliche Erklärung geben?
Er bereitete sich auf eine lange Nacht vor, denn er wollte diesem literarischen Werk zu Leibe rücken.
Die Waldpension “Zur Mühle“, in der John ein Zimmer gebucht hatte, lag weit außerhalb des Dorfes. Der Eigentümer hatte vernachlässigt, die Räume renovieren zu lassen. Es wirkte alles altbacken. Im Treppenhaus lag ein modriger Geruch in der Luft, und die Einrichtung in Johns Unterkunft in der oberen Etage war alles andere als nach heutigem Standard.
Die Möbel schienen noch aus den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts zu stammen. Außer dem Bett, einer Nachtkonsole mit nostalgischer Lampe und einem wackeligen alten Kleiderschrank hatte das Zimmer nicht viel zu bieten. Ein kleiner Schreibtisch mit einem Holzstuhl davor war praktischerweise vor dem Fenster platziert.
John sprang vom Bett und machte sich auf den Weg nach unten zum Gastraum, um sich eine Kanne Tee zu besorgen, falls das an diesen späten Abendstunden noch möglich war. Als er das Zimmer verließ, vernahm er einige Männer, die sich unten am Tresen leise unterhielten. Die Holztreppe mit den ausgetretenen Stufen knarrte unter seinen Füßen. Er musste grinsen. Was eine Bude. Gut, dass ich morgen wieder verschwinde.
In der Gaststube saßen drei Männer an der Theke und unterhielten sich. Zwei Lampenschirme an der Decke warfen schummriges Licht in den Raum. Ein weiterer Gast hatte soeben seine Zeche bezahlt und drehte sich in Johns Richtung. Dieser zuckte zusammen und blieb wie angewurzelt stehen. Es war der Flötenspieler, der ihm die Visitenkarte dieser Pension übergeben hatte.
„Hallo“, rief er dem Musiker zu.
Der Mann hörte nicht, sondern ging durch die Eingangstür und war verschwunden. John stürzte nach draußen, lief hinter ihm her und stand auf dem Hof – nichts, der Mann war weg, innerhalb weniger Augenblicke. Er hätte logischerweise nur einige Meter entfernt sein müssen.
Die große gepflasterte Fläche war leer. Eine alte Laterne stand weiter abseits, wo ein asphaltierter Weg zurück auf die Hauptstraße führte und trübes Licht über den Hof ausbreitete.
John sah nur sein Auto am äußeren Rand des Platzes und einige Kaninchen, die weiter hinten im Halbdunkel auf der Wiese gemütlich ihr Nachtmahl zu sich nahmen. Dahinter begann der Wald.
Ein weiteres Rätsel hatte sich aufgetan. Nachdenklich betrat er wieder die Wirtsstube.
Die Wirtin, eine etwas korpulente sechzigjährige Frau, stand hinter dem Tresen und war damit beschäftigt, die Bierkrüge wieder nachzufüllen. Sie schaute kurz zu ihm auf. „Ist was mit dem Mann?“
„Nein, nein“, antwortete John kopfschüttelnd. „Der Mann kam mir nur bekannt vor.“
„Er war schon hier, bevor Sie heute Mittag angereist sind, Herr Von-Bergen. Er kam vom Amt, hat sich ausgewiesen und die Räumlichkeiten inspiziert. Ja, so ist es eben im Gastgewerbe. Ständig ist man unter Kontrolle der Ämter.“ Sie lachte und strich sich eine graue Haarsträhne aus dem rundlichen Gesicht. „Er kam vorhin wieder, um was zu trinken. Als er sich aufmachte zu gehen, erschienen Sie im selben Moment.“
„Mach noch mal vier Kurze fertig, Jutta“, unterbrach einer der Herren am Tresen, ein kleiner älterer Mann im blauen Arbeitsanzug. Er wandte sich zu John „Du trinkst doch einen mit, oder?“
„Ja, gerne.“ John wollte nicht unhöflich sein.
Auf die Frage nach einer Kanne Tee nickte Jutta freundlich lächelnd. „Natürlich, warten Sie einen Moment.“ Daraufhin verschwand sie in die Küche.
John wechselte noch einige Worte mit den Männern am Tresen und wartete, bis die Wirtin mit dem Gewünschten erschien. Bevor er sich nach oben in sein Zimmer aufmachte, bestellte er noch eine Runde für die Gäste und verabschiedete sich.
Eine innere Unruhe trieb ihn an. Er musste herausfinden, welche Botschaft in dem alten Buch verborgen war.
Irgendwie fühlte er sich unwohl in dem Haus, obwohl die Wirtin und auch die wenigen Gäste in der Wirtsstube sehr nett waren. Das Haus hat eine schlechte Aura, überlegte John und achtete auf den Weg nach oben, damit er nicht auf den ausgetretenen Treppenstufen ausrutschte.
Oben setzte er das Tablett auf dem Boden ab und schloss die Zimmertür auf. Sie knarrte in den Angeln, als er sie öffnete.
John wurde von dem Gefühl ergriffen, dass alles, was er erlebte, nur ein Traum war und er in Wirklichkeit einen Autounfall gehabt hatte, in irgendeinem Krankenhaus liege und an Schläuchen hänge. Es war alles so bizarr.
Gelbliches, spärliches Licht schien im Treppenhaus. In seinem Zimmer war es auch nicht besser. Es wirkte alles so bedrückend. Auch ein Gefühl der Einsamkeit bedrängte ihn.
Bis auf die ungewöhnliche Begegnung mit dem Flötenspieler vor einer Woche war alles in seinem Alltag bisher normal verlaufen. Auch die Fahrt zu dieser Herberge hatte sich ruhig und entspannt gestaltet.
John stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab und fragte sich, was es mit dem Flötenspieler auf sich habe. Dieser Kerl ist nicht echt, wie vieles andere hier auch nicht. Die feinen Antennen seiner Sinne schlugen an. Das konnte er nicht ignorieren.
Er musste sich dieser Situation stellen. Nach Hause zu fahren und die Botschaft des Flötenspielers einfach zu ignorieren, kam für ihn nicht infrage.
Es sprach alles dafür, dass er auf dem Weg war, den ihn seine Urgroßmutter vor vielen Jahren prophezeit hatte. Aber er hatte absolut keine Ahnung, worum es sich handelte.
John legte das Buch mit dem Titel “Tod im roten Sand“ auf den Schreibtisch und setzte sich. Um seine Vorgehensweise zu dokumentieren, nahm er den bereitliegenden Schreibblock und den Kugelschreiber zur Hand. Mit seinem Smartphone fotografierte er zunächst das Cover mit der Titelseite. Wort für Wort prüfte er den Prolog, den er zuvor bereits gelesen hatte. Nur war ihm nichts Ungewöhnliches daran aufgefallen.
Als er im ersten Kapitel an einem Wort hängen blieb, erhellten sich seine Gesichtszüge. Das Buch war, wie zu alten Zeiten üblich, in Frakturschrift gedruckt worden. Das Wort, das ihm auffiel, hatte eine andere, modernere Schriftform. „Sieht aus wie Cambria“, flüsterte er nachdenklich und notierte das Wort auf den Schreibblock: “fahre.“
John war im Computerwesen zu Hause, in Office Word kannte er sich demzufolge auch bestens aus. Auch in den Schriftarten. Der Ehrgeiz packte ihn. Aber was war das? Oberhalb am Ende des Satzes stand eine Zahl. John überlegte. 23, ein Hinweis auf die nächste Seite? Hastig blätterte er weiter, bis er die Seite vor sich hatte. Er schaute zunächst an den Satzenden nach einer weiteren Zahl. Das erleichterte ihm die Suche – ah, ich habe sie. Weiter links muss ein Wort in Cambria stehen … “der.“ John notierte auch dieses Wort auf den Zettel, füllte anschließend seine Tasse und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte das System entschlüsselt. Von nun an ging es zügig voran, bis er am Ende des Buches angekommen war und das letzte Wort auf seinen Zettel schrieb. Nebenher hatte er einundachtzig Seiten fotografiert, auf denen sich die versteckten Hinweise befanden. John vervollständigte den Text mit Satzzeichen und las, was er niedergeschrieben hatte:
Fahre dem Norden entgegen, bis sich mittags die Sonne wird sich erheben. Dann bist du im Waldecker Land. Dort wird dir ein Zeichen gesandt. Es wird dir eine Frau begegnen. Nimm sie bei der Hand. Fahre hinaus, wenn du bist bereit, sonst droht der Menschheit sehr viel Leid. Nur du kannst gewinnen, denn du hast den Mut. Gott steht dir bei, denn deine Seele ist gut.
John fragte sich, ob er im Mittelalter gelandet sei und ließ den Kugelschreiber achtlos auf den Tisch fallen. Er schaltete die Schreibtischlampe aus und schaute durch das Fenster in die Dunkelheit. So konnte er besser nachdenken.
Als sich seine Augen vom künstlichen Licht entwöhnt hatten, erblickte er den Sternenhimmel in einer Vielfalt, die man sonst selten zu Gesicht bekam. Keine störenden Einflüsse behinderten die Sicht, da die Herberge weit ab künstlicher Lichtquellen lag.
John bestaunte die unendliche Tiefe des Sternenhimmels und zog genüsslich an seiner Zigarette. Er war erstaunt und verwundert zugleich über diese Botschaft, die von der Ausdrucksweise her einem früheren Jahrhundert zuzuordnen war. Er erahnte, er werde von einer Tragödie vereinnahmt, die sich vor langer Zeit zugetragen haben musste, aber keinen glücklichen Ausgang gefunden hatte. Was auch immer damals irgendwo irgendwelchen Menschen geschehen war, musste etwas Furchtbares gewesen sein, oder die Katastrophe käme noch auf sie zu. Diesen Menschen war prophezeit worden, dass eine gewisse Person aus einer fernen Zukunft sie retten werde. Er, John Von-Bergen, war die Prophezeiung – bei diesen Gedanken wallte das Blut in ihm auf. Das ist alles spekulativ, versuchte er sich zu beruhigen, um wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Dieses Gedicht wirkte wie ein Abenteuer aus einem Kindermärchen. Aber andererseits schien es eine ernste Sache zu sein. Dann war da noch der nicht greifbare Flötenspieler.
Diese Botschaft hatte er verstanden. Am nächsten Morgen sollte er ins Waldecker Land fahren, welches im Norden Hessens lag. Die poetische Ausdrucksweise wirkte mystisch und beängstigend zugleich. Ich zieh‘ hinaus in den Kampf. Wogegen denn? Ich kann gewinnen, weil ich eine gute Seele habe. Okay, ich habe niemanden umgebracht, niemanden betrogen. Eine Frau wird mir begegnen, die ich an die Hand nehmen soll. Hört sich gut an, aber es hat mit Sicherheit nichts mit einem Date zu tun. Keine Ahnung, was das bedeutet. Und warum war diese Botschaft ausgerechnet in einem Buch, in dem der Stierkampf glorifiziert wird?
John wurde müde. Er zog sich aus und ließ sich ins Bett fallen. Seine Gedanken ließen sich aber nicht abschalten. Daher dauerte es eine Zeitlang bis er eingeschlafen war.
Im Traum tanzte der Flötenspieler um ihn herum, ständig wilde Melodien spielend. Er war in der Tracht eines mittelalterlichen Spielmanns gekleidet. Wenn er sein Instrument absetzte, nickte er John mit dem Kopf zu, um sogleich die Querflöte wieder an den Mund zu führen. John hörte deutlich, was er spielte. Es waren abstrakte, bizarre Melodien, die harmonisch und zum Teil verstörend klangen. Sie waren von Leid geprägt.
Irgendwann verflüchtigte sich dieser Traum, und John fiel in eine selig ruhige Leere, bis sich ein dunkler Schleier wieder auftat. Vor ihm lag eine Landschaft, die er mit eigenen Kräften überflog. Nichts als endlos erscheinende Felder im Wechsel mit riesigen Waldbeständen. Eine Stimme aus dem Nichts trieb ihn an. „Reite, kühner Rittersmann, der Sonne entgegen, wohlan, wohlan.“ In diesem Moment verlor er seine Flugkräfte und stürzte in eine tiefe Schlucht.
Diese Schrecksekunde ließ seinen Körper reagieren. Er riss sich selbst aus diesem Traum. John saß senkrecht im Bett und versuchte sich zu sammeln, um nach kurzer Zeit festzustellen, dass diese wilden Träume nur eine geistige Spiegelung des bisher Erlebten waren, wenn auch in übertriebener Form.
Verschlafen warf er einen Blick zum Fenster. Tageslicht strömte durch die Schlitze des Rollos. Auf der Bettkante sitzend starrte er auf die Nachtkonsole. Wo war dieses Buch? Er hatte es doch genau dort abgelegt. Stattdessen blickte er auf ein altes Telefonbuch. Er zog die Schublade der Konsole auf, auch da lag der alte Schmöker nicht.
Mit einem Satz sprang John aus dem Bett und ging nervös im Zimmer auf und ab. Als ich eingeschlafen war, hatte jemand das Buch an sich genommen, schlussfolgerte er. Jetzt liegt da ein Telefonbuch.Wo kommt das den her? Den alten Schinken wollte ich mitnehmen als Beweis. Wer weiß, wozu das noch gut gewesen wäre. Aber Moment … Sein Smartphone lag noch auf dem Schreibtisch. Er nahm es auf und sah in der Bilddatei nach. Alle Aufnahmen, die er gemacht hatte, waren vorhanden. Das beruhigte ihn.
Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es Zeit wurde, aufzubrechen. Die Sonne schien ins Zimmer, und John verschwand ins Bad.
Nach fünfzehn Minuten saß er frisch geduscht am Tisch und versuchte, mit seinem Smartphone an weitere Informationen heranzukommen.
WLAN gab es im Haus nicht, aber über LTE kam er ins Internet. Mal sehen, ob ich fündig werde – Oskar Sinter, Staub Verlag Berlin. Wie erwartet fand John dort keine Einträge. Auch die Eingabe des Buchtitels gab keine weiteren Hinweise. Er zog sich ein frisches T-Shirt an, steckte das Handy in die Gesäßtasche seiner Jeans, schnappte sich die Reisetasche und verließ das Zimmer.
In der Diele erstarrte John. Er begriff nicht, was geschehen war. Es traf ihn wie einen Schlag mit Thors Hammer.
Das Innere des Hauses wirkte, als wenn es schon lange nicht mehr bewohnt gewesen sei. Auf dem Boden lag eine dicke Staubschicht. Spinnweben tanzten an der Decke. War dieses alte Ambiente noch am Abend zuvor in tadellosem Zustand gewesen, so war das, was ihm an diesem Morgen entgegenschlug, das schiere Grauen. Es roch muffig, wie ein alter verlassener Ort eben riecht, vermischt mit Verwesungsgeruch, der von einigen toten Ratten im Haus stammen musste oder etwas anderem, das irgendwann einmal geatmet hatte.
War es eine Halluzination, hervorgerufen durch eine Droge, oder die nackte Realität? John bekam Angst, denn er war nicht mehr Herr seiner Sinne.
„Hallo, ist da jemand?“, rief er in der Hoffnung, Antwort von einem lebendigen Menschen zu bekommen. Es blieb aber still. Nur ein süßlich eklig riechender Windzug strömte ihm wie ein Gruß des Todes entgegen.
Der Weg nach unten bot den gleichen Anblick wie derjenige oben in der Diele. Die alten Tapeten hingen in losen Fetzen an den Wänden, die Deckenlampe war mit einer dicken Schicht Spinnweben umsponnen, in dem sich einige übergroße schwarze Spinnen bewegten. Überall breitete sich der Staub aus. Staub, Spinnweben und Gestank.
Er war unten angekommen und spürte etwas, das seine rechte Hand kitzelte. Es war eine dieser großen schwarzen Spinnen, die sich auf ihm niedergelassen hatte.
„Bäh“, rief John erschrocken und schlug sie reflexartig von sich. Angewidert und voller Ekel sah er, wie sie auf dem Boden lag und sich anschickte, auf seinen Schuh zu krabbeln, um in sein Hosenbein zu kriechen. Ein beherzter Tritt beendete das. Unter seinem Schuh knackte es, sodass die Innereien dieser übergroßen Spinne unter der Sohle hervorquollen. Eine grüngelblich klebrige Masse, aus der wieder etliche kleine Spinnen hervorkrabbelten und nach allen Seiten auseinanderstoben. Vier weitere Tiere seilten sich an ihren Fäden nach unten. John schaffte gerade noch, die Tür zum ehemaligen Gastraum mit einem quietschenden Geräusch aufzustoßen. Schließen konnte er sie nicht mehr. Die Tür hing schräg in den alten, verrosteten Angeln.
Der Raum sah anders aus als am Abend zuvor. Die Theke war nicht mehr vorhanden. Es musste einst ein Wohnzimmer gewesen sein. Das erkannte er an der Sofagarnitur und dem großen Esstisch in der Mitte des Zimmers. Es bot sich ein Bild des Schreckens, als hätte seit einem Jahrhundert niemand mehr den Raum betreten oder gar geputzt.
Eine Ratte huschte aufgeschreckt über den Boden, gefolgt von einer zweiten. Andere achtbeinige kleine Wesen bewegten sich in den Ecken, groß wie eine Männerhand mit schwarzen behaarten Beinen. Eine Spinnenart, die in unseren Breitengraden nicht zu Hause ist und die es wahrscheinlich auch nirgendwo anders auf dieser Welt gibt.
John wollte nur noch raus aus dieser Bruchbude. So schnell es ging.
Die Tür zum Hof klemmte. Ein beherzter Stoß mit der Schulter reichte, um sie einen Spaltbreit zu öffnen, sodass er hindurchschlüpfen konnte. Der erste Blick galt seinem Auto. Es stand noch da, wo er es am Tag zuvor abgestellt hatte. Nur war sein Wagen mittlerweile von Gestrüpp überwuchert. Den Platz, der gestern noch frei von jeglichen Gewächsen gewesen war, hatte sich die Natur über Nacht zurückerobert. Eine Brachlandschaft tat sich auf mit den verschiedensten Wildpflanzen und Kräutern. Bienen summten und holten sich den Nektar von den Blüten an diesem warmen Sommermorgen. Der Weg, der hinaus zu der Landstraße führte, schien frei zu sein. Nur die Laterne am Ende des Hofes war verschwunden. Vogelgezwitscher vermittelte Frieden und Ruhe.
John betrachtete aus einigen Metern Abstand die gespenstisch wirkende Ruine. Die Fensterscheiben waren gesprungen, die Glasreste in den Rahmen schmutzig und trüb. Grüne Farbreste an der Fassade erinnerten an die ehemalige Farbgebung dieser Herberge, an der der Putz an vielen Stellen großflächig abgefallen war. John wollte auf seinen Mazda zugehen, als er hinter sich eine Stimme vernahm. Aufgeschreckt drehte er sich um.
„Hier wohnt seit über hundert Jahren niemand mehr. Was ist denn so interessant an dieser alten Kaschemme?“, fragte ein zirka sechzigjähriger Mann. Er hatte ein Gewehr über der Schulter und einen Kurzhaardackel an der Leine. „Sie sind wohl nicht von hier?“
John rang nach einer plausiblen Antwort.
„Nein, ich komme aus Recklinghausen, einer Stadt im Ruhrgebiet. Ich habe noch einige Kilometer vor mir und wollte mich nur mal ein wenig entspannen. Deshalb bin ich in den Wald gefahren. Dann sah ich dieses Haus.“
Der Mann warf John einen ungläubigen Blick zu. „Warum sind Sie denn in das Gestrüpp hineingefahren? Sie hätten doch auf dem Weg parken können.“
John suchte nach einer Erklärung. „Na ja, ich hatte etwas zu viel Gas gegeben. Da bin ich eben in die Botanik gelandet. Eigene Dummheit.“
Der ältere Mann stand etwas weiter auf dem Weg am Rand der Brachfläche.
John war völlig konfus, ließ sich aber nichts anmerken. „Wissen Sie was über dieses Haus? Ich habe es vorhin entdeckt und habe mich gefragt, was es ehemals gewesen sein könnte.“
Der Mann kratzte sich nachdenklich an den grauen Bartstoppeln. „Soviel ich weiß, war das die Sommerresidenz eines Freiherrn von Wi…, Wi…, keine Ahnung. Irgendein unbekannter Baron. Die Stadtverwaltung kann da nähere Auskunft geben. Er kam mit seiner Familie jedes Wochenende hierher. Irgendwann, vor dem Ersten Weltkrieg, war Ruhe. Sie kamen nicht mehr und wurden nie wieder gesehen – waren einfach aus der Welt verschwunden. Das Haus sollte schon längst abgerissen werden, aber die Verwaltung streitet um die Zuständigkeiten und wer die Kosten übernehmen soll. Abgesehen davon stört es niemanden –, aber wissen Sie was? …“
John wurde neugierig. „Erzählen Sie weiter.“
„Es existiert noch eine andere Geschichte über dieses Haus.“ Der Mann lächelte verschmitzt. „Man erzählt sich, dass an einem Abend im Jahre 1912 ein wandernder Mönch dieses Haus aufgesucht hat. Er hatte sich angeblich verirrt. Das ist natürlich Humbug. Ich weiß nicht, wer diese Geschichte im Umlauf gebracht hat.“
John platzte fast vor Neugier. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn.
„Der Freiherr …, jetzt fällt es mir wieder ein. Der Freiherr, Baron von Wimmersbach, war bekannt für seine Gastfreundschaft und lud ihn ein, über Nacht zu bleiben, – das hätte er besser lassen sollen.“ Der Jäger machte große Augen. „Dieser Mönch soll den Baron im Schlaf erstochen haben. Dann ist er über die Frau hergefallen und hat sie mehrmals vergewaltigt. Als er von ihr ließ, erstach er sie auch. Aber das war nicht alles. Die Leute hatten zwei kleine Töchter, fünf und sieben Jahre alt. Sie konnten wohl in den Wald fliehen, während dieser Kerl ihre Mutter quälte. Die Kleinen wurden nie gefunden, obwohl wochenlang nach ihnen gesucht wurde. Dieser Mönch hatte in der besagten Nacht die Toten ausgeweidet und deren Innereien im gesamten Haus verteilt. Es sollte ein Racheakt für irgendeine Untat aus früherer Zeit gewesen sein. Man erzählt sich, dass dieser Mönch einem mächtigen Herrn diente oder selbst derjenige war, der immer nach Menschen Ausschau hielt, die sich von ihm abgewendet hatten.“ Der Jäger fing an zu lachen und schlug John mit einem leichten Klaps auf die Schulter. „Tolle Geschichte, nicht wahr? Aber muss ich weiter. Einen schönen Tag wünsche ich noch. Komm, Bodo.“ Der kleine Hund an seiner Seite freute sich schwanzwedelnd, dass es endlich weiterging.
John hatte sich der Magen umgedreht, denn er war überzeugt, dass diese Geschichte kein pures Märchen war, sondern einen Wahrheitsgehalt in sich barg, der möglicherweise mit ihm und seiner Mission zu tun haben könne. Er ließ seinen Plan, nach Norden zu fahren, fallen und wollte nur noch nach Hause. Zu bizarr und furchteinflößend hatte sich dieser Morgen gestaltet. Er sehnte sich danach, sich in seiner Wohnung zu verstecken und alles vorerst ruhen zu lassen. Über paranormale Dinge zu lesen oder zu hören war etwas ganz anderes, als sie selbst zu erleben.
Einige Minuten später quälte sich sein alter Mazda rückwärts aus dem Bewuchs, bis die Räder auf asphaltiertem Untergrund griffen.
∞
John war seit zwei Tagen wieder zu Hause. Die Bilder mit der Botschaft auf seinem Smartphone hatte er sich nicht mehr angesehen. Den Zettel mit dem Spruch versuchte er auch zu vergessen. Er wollte vorerst alles verdrängen, um sich später mit einem kühlen Kopf der Sache wieder anzunehmen. Doch an diesem Morgen packte ihn die Neugier. Er nahm seine Brieftasche und holte die Visitenkarte von der Pension hervor, die ihm der Flötenspieler übergeben hatte. Was ist das denn? Ich habe ihn doch ins hintere Fach gesteckt. Der Zettel mit dem Spruch war nicht mehr da. John wusste ganz genau, dass er ihn in seine Brieftasche geschoben hatte. Wieder ein Phänomen abseits jeglicher Logik. Nervös schaute er in den Fotospeicher seines Smartphones. Alle Bilder waren restlos weg. John zweifelte an seinem Verstand. Er sah auf die Telefonnummer der Visitenkarte und tippte sie in sein Handy ein. Es kam nur die Durchsage: „Diese Nummer ist leider nicht vergeben.“
Von der Haustür kam ein klapperndes Geräusch und machte ihn auf die Post aufmerksam. John eilte durch die Diele und nahm einen Brief aus dem Kasten. Der Absender war die Pension “Zur Mühle.“ Hastig riss er den Umschlag noch in der Diele auf und las die handgeschriebene Nachricht:
Sehr verehrter Herr Von-Bergen,
am oben angegebenen Datum haben Sie in unserem Haus genächtigt und sich bewirten lassen. Es ist mir völlig unverständlich, weshalb Sie am frühen Morgen des Folgetages überstürzt unser Haus verlassen haben, ohne die ausstehende Rechnung in Höhe von 45,00 Euro zu zahlen. Ich bitte Sie höflichst, diese Summe in den nächsten Tagen in unserem Haus zu begleichen. Ansonsten muss ich diesen Vorfall leider zur Anzeige bringen.
Mit freundlichen Grüßen
Jutta Springe.
John ließ fassungslos das Schreiben fallen. „Das kann doch nicht … wahr sein.“
Er stand wie zur Salzsäule erstarrt im Hausflur. Der Brief lag noch vor ihm auf dem Boden. Verbarg dieses Schreiben einen Hinweis, dem er nicht nachgegangen war? Warumist keine Kontonummer angegeben, damit ich diesen Betrag überweisen kann? John überlegte weiter. Verdammt, ja, das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ihn hatte die pure Angst befallen, als sich diese angebliche Pension als Lost Place entpuppt hatte und war nach Hause gefahren. Die Geschichte des Jägers hatte ihn zusätzlich verunsichert. Er hätte aber unverzüglich in Richtung Norden, ins Waldecker Land, weiterfahren müssen. So, wie es der Spruch aus dem alten Buch vorgegeben hatte.
Mit dem Brief in der Hand marschierte er ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen. Strahlendes Sonnenlicht strömte durch die große Fensterfront ins Zimmer, welches geschmackvoll mit zeitlosen Möbeln bestückt war.
Die Ereignisse mussten erst verdaut und werden. Er fühlte sich wie ein Darsteller in einem Horrorfilm.
John erinnerte sich an Oma Charlottes Worte. Aufgeben wollte er nicht. Er musste dieser Angelegenheit weiter nachgehen.
Das Handy läutete. Auf dem Display stand: “Unbekannte Nummer.“
John drückte verwundert auf den grünen Knopf. „Hallo, wer da?“
„Guten Tag, Herr Von-Bergen, Jutta Springe hier. Haben Sie meine Post erhalten?“
John war überrascht über diesen Anruf und räusperte sich. Ein weiterer Wink?
„Guten Tag, ja, den Brief habe ich bekommen. Entschuldigen Sie bitte, dass ich auf diese unangenehme Art und Weise Ihr Haus verlassen habe. Ich bekam plötzlich Panik. Das liegt an meinem Gesundheitszustand“, log er. „Ich komme morgen gegen Nachmittag persönlich zu Ihnen und werde meine Schulden begleichen. Ich bleibe dann über Nacht, zahle auch im Voraus.“ Er war neugierig geworden und wollte der Angelegenheit auf den Grund gehen.
„Das freut mich zu hören“, antwortete sie freundlich. „Bis morgen dann. Ich richte Ihr Zimmer heute noch her.“
„Ich danke Ihnen. Einen schönen Abend noch.“ John legte auf.
Am Mittag des nächsten Tages fuhr John auf den Zubringer zur A2, Richtung Hannover. Es würde einige Zeit dauern bis zu der Waldpension “Zur Mühle.“
Als er den Beschleunigungsstreifen verließ und auf die Bahn fuhr, schaltete er das Radio an und ließ klassische, beruhigende Musik auf sich einwirken.
John war auf alle unvorhergesehenen Ereignisse vorbereitet. Leider hatte er sich niemandem anvertrauen können. Er war ein einsamer, umherirrender Wolf geworden.
Die bewaldeten Anhöhen zu beiden Seiten der Autobahn reichten bis zum Horizont und wurden von einigen landwirtschaftlichen Flächen unterbrochen. Er war fast am Ziel.
John bekam ein mulmiges Gefühl im Magen. Was würde er vorfinden? Wieder dieses heruntergekommene Haus, in dem sich Ratten und Spinnen tummelten?
Die Skepsis verging, als er auf den sauber gefegten Hof der Pension fuhr. Aber dennoch schaute er verwundert zu dem Gebäude auf, als er aus seinem Wagen stieg. Das Haus war vollkommen intakt. Die sauberen Fenster reflektierten die Sonnenstrahlen. Aus der Gaststube drangen Geräusche von Menschen, die sich unterhielten. John fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, schnappte seine Reisetasche aus dem Auto und betrat das Haus.
„Guten Tag, Herr Von-Bergen“, begrüßte ihn Jutta Springe. Sie kam hinter dem Tresen hervor, lächelte und gab ihm die Hand. Sie trug eine weiße Bluse und einen kniefreien schwarzen Rock. „Ich freue mich ja so, dass Sie erschienen sind. Geht es Ihnen gut?“
John wunderte sich über diese überschwängliche Freundlichkeit. Es war ihm peinlich, als Zechpreller zu gelten. Was er auch immer zu seiner Entschuldigung gedachte vorzubringen, würde sie ihm Glauben schenken? „Ich hatte ja gestern am Telefon schon gesagt, dass ich …“
„Ist schon gut, Herr Von-Bergen. Haben Sie Hunger? Ich habe Wildschweingulasch im Ofen.“
John nahm dankend an und setzte sich an einen Tisch am Ende der Gaststube. Zwei Tische weiter saßen vier Männer und spielten Karten. Die Einrichtung war auch die gleiche wie bei seinem letzten Aufenthalt.
Nach dem Essen setzte sich John an die Theke und bestellte ein Bier.
Er überlegte, ob die Wirtin etwas mit all den rätselhaften Dingen zu tun hätte. Er wollte es vorsichtig angehen.
„Frau Springe, ich …“
„Sag einfach Jutta. Wir duzen uns hier alle“, unterbrach sie ihn und kniff ihm ein Auge zu, während sie die Theke abwischte.
„Okay, ich heiße John. Es gibt eine alte Geschichte, was dieses Haus betrifft. Es liegt schon lange zurück.“
Jutta zeigte sich unwissend und schaute zu ihm auf. „Was meinst du damit?“
„War dieses Gebäude vor über hundert Jahren nicht das Wochenendhaus einer Adelsfamilie? Diese war plötzlich sang- und klanglos verschwunden. Eine andere Geschichte besagt, dass sie an einem Abend Besuch von einem Mönch bekommen hatte. Es war schlechtes Wetter, und er hatte eine Unterkunft gesucht …“
„Ach ja, diese alten Geschichten“, unterbrach sie ihn und lachte auf. „Alles Quatsch. Richtig ist, dass dieser Baron Schulden hatte. Das Haus wurde gepfändet. Mein Urgroßvater hat es dann gekauft, um einen Gasthof daraus zu machen. Ich bin hier in dritter Generation. Mein Mann hat mich vor fünf Jahren verlassen, seitdem lebe ich hier alleine. Ist auch gut so. Ich habe Freunde genug im Dorf.“
John sah, dass sie grinste und ihren Blick von ihm abwandte.
Es herrschte eine kurze Zeit des Schweigens, bis sie verwundert zu ihm aufschaute. „Wer hat dir diese Märchengeschichte erzählt?“
„Ach, ich habe sie beiläufig mitbekommen“, winkte er ab.
Jutta überhörte das. „Übrigens, wann reist du morgen ab?“
Gutes Ablenkungsmanöver, dachte John und unterließ es, weitere Fragen zu stellen. Er war überzeugt, dass sie log. „Um acht Uhr.“
John lag in seinem Bett und schaltete die Nachttischlampe aus. Hoffentlich erlebe ich morgen keine böse Überraschung, wenn ich aufstehe.
Unten in der Gaststube war Ruhe eingekehrt. Von draußen hörte er nur den Ruf eines Waldkauzes. Seine Gedanken irrten zwischen Traum und Wirklichkeit hin und her.
Irgendwann wurde er jäh aus dem Schlaf gerissen. Verdammt noch mal, was ist das? Er rappelte sich auf und lauschte. Unten aus der Gaststube drang Flötenmusik bis in die obere Etage hinauf. Zusätzlich waren stampfende Geräusche zu hören, als wenn mehrere Leute Polka tanzten. John kroch verwirrt aus dem Bett, zog schnell seine Jeans über und schlich aus dem Zimmer, vermied aber, im Treppenhaus das Licht einzuschalten. Stattdessen benutzte er seine Handylampe. Er blieb einen Moment vor der Zimmertür stehen, um sich zu überzeugen, ob er nicht nur geträumt hätte. Ja, es war deutlich zu hören. Als wenn unten eine Party zugange wäre.
Langsam schlich John die Treppe hinunter. Das Licht der Handylampe fing dabei beängstigende Schatten ein, die an den Wänden ein Eigenleben führten und sich logisch nicht erklären ließen. Vor der Tür zur Wirtsstube horchte er noch einmal auf, drückte die Klinke hinunter und öffnete sie mit einem Ruck. Im gleichen Moment riss die Musik ab. John starrte in einen leeren, dunklen Raum.
Kopfschüttelnd schloss er die Tür, schlich leise nach oben und legte sich wieder ins Bett. Würde sich über Nacht dieses Haus wieder in eine Ruine verwandeln? Es dauerte einige Zeit, bis er einschlief.
Erleichtert betrat John am nächsten Morgen den Gastraum. Über Nacht hatte sich im Haus nichts verändert. Er zahlte seine Rechnung und wollte umgehend den Gasthof verlassen, als Jutta hinter dem Tresen hervorkam und näher an ihn herantrat. Mit leiser, aber eindringlicher Stimme sagte sie: „Nutze diese zweite Chance, eine weitere wirst du nicht bekommen. Mehr kann ich dir nicht sagen. Dieser Ort ist verflucht.“
John erschrak. Ihm lief es kalt den Rücken hinunter. „Wer bist du?“
Jutta antwortete nicht, sondern verschwand wortlos.
„Er kommt.“ Alvina stand auf einem Hügel am angrenzenden Wald und schaute lächelnd in den blauen Himmel, in dem zwitschernd einige Vögel vorbeiflogen.
Sie fühlte sich mit einem Mann verbunden, den sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Er war derjenige, mit dem sie gemeinsam gegen ein mächtiges Etwas jenseits aller Vorstellungen vorzugehen gedachte.
Sie strich sich über das tannengrüne Haar, das nach frischem Nadelholz duftete und breitete ihre Arme aus. Leise sprach sie: „Stehe uns in diesem Kampf bei, Herrscher des Universums. Lasse uns die Brut, die selbst Baal und der Herr der Hölle fürchtet, vernichten bis zum Ende aller Zeiten. Ihr Götter des Wassers, des Feuers, des Windes und der Erde, unterstützt uns dabei, bis wir am Ziel sind. Danke, geliebter Odin, dass du Frija sandtest, um meine Vorfahrin und ihre Schwester zu retten, sodass sie unter ihrem Schutz aufwachsen konnten, ehe sie wieder gefahrlos unter die Menschen durften. Ohne dich und ohne sie wäre ich nicht auf dieser Welt.“
Alvina senkte den Kopf und verharrte einige Minuten in andächtiger Stille. Dann nahm sie ihren Stab und den Spankorb vom Boden auf und machte sich auf den Weg.
∞
Nach zwei Stunden Autofahrt näherte sich John seinem Ziel. Diesmal sollte nichts dazwischenkommen. „Es wird dir ein Zeichen gesandt …“, wiederholte er den Satz aus der Botschaft. Es war schwül, und der Himmel zog sich langsam zu. Alles deutete auf ein Gewitter hin. Die Strecke war relativ kurvenreich. Es donnerte bereits, als irgendetwas seinen Kopf durchzuckte wie ein leichter Stromschlag. John erschrak und dachte, darin das Zeichen zu erkennen, welches ihm vorhergesagt worden war. Er bremste den Wagen ab und sah sich um. Einige Meter vor ihm führte ein Weg durch ein weites Maisfeld, das an der Waldgrenze endete. Das ist es. Hier bin ich richtig. Der Weg war relativ schmal, aber gut befahrbar. Nach einigen hundert Metern machte er einen Bogen und führte in den Buchenbestand des Waldes. Der Weg wurde erheblich schmaler und war von Sträuchern gesäumt. Mit dem Auto gab es kein Durchkommen mehr.
John fuhr seitlich auf ein freies Stück Feld, stieg aus und ging zu Fuß weiter in den Wald hinein. Es war nichts Außergewöhnliches zu sehen, nur der von Sträuchern gesäumte Weg, der tiefer in den Wald führte. Die Buchenbestände wurden von Tannen abgelöst. Sie standen sehr dicht und schluckten einen Großteil des Tageslichts.
John hielt inne. Da hatte sich doch etwas zwischen den Bäumen bewegt. Geräusche waren nicht zu hören. Ein Reh? Es mochte zwanzig Meter von ihm entfernt sein. Er blieb stehen und wartete ab.
Dann schälten sich die Konturen eines Wesens aus dem Wald, welches auf den Weg trat und in seine Richtung sah. Es war eine junge Frau.
John staunte über ihre Erscheinung. Wer ist das denn? Warum sind ihre Haare so grün?
„Wo kommst du denn her?“, fragte er verwundert.
Die junge Frau lächelte. „Ich bin schon lange hier.“
Die Frau, die John auf Mitte dreißig schätzte, hatte tannengrünes, leicht gelocktes Haar, das weit über ihre Schultern fiel. Bekleidet war sie mit einem langen dunkelbraunen Leinenmantel. Von der Farbgebung her war die junge Frau perfekt auf die Umgebung abgestimmt. In der rechten Hand hielt sie einen Spankorb und in der Linken einen langen Wanderstab. John hatte den Eindruck, als wäre sie einem Märchen entsprungen: eine Hexe, eine gute Fee oder eine arme Kräuterfrau. Er erinnerte sich an einen Satz aus der Botschaft. Es wird dir eine Frau begegnen, nimm sie bei der Hand.
John trat an sie heran. „Du bist schon lange hier?“
„Ja, ich heiße Alvina.“
Sie war hübsch und hatte freundliche, blaue Augen.
„Ich heiße John und bin einem Zeichen gefolgt, das mich in diesen Wald geführt hat.“ Er strich sich über das Gesicht und erwartete eine Antwort. Das ist sie. Diese Frau sollte ich treffen. Er bekam Herzklopfen. Die Botschaft aus dem Buch hatte sich bis zu diesem Punkt bewahrheitet.
Sie betrachtete ihn lächelnd. „Auch ich habe ein Zeichen bekommen, dass ich einem Mann begegnen werde.“
„Die Prophezeiung“, flüsterte John.
„Richtig, es kommt was auf uns zu. Wir müssen uns darüber näher unterhalten. Das machen wir bei mir zu Hause. Ich wohne in Tweiste, vier Kilometer weiter. Mein Haus liegt etwas außerhalb am Waldrand. Frage im Dorf nach Alvina und lass‘ dir den Weg zu mir beschreiben. Mich kennen alle. Ich muss aber jetzt los, meine Tiere füttern. Bis später.“
John winkte ab. „Ich habe mein Auto vorne auf dem Weg stehen. Du kannst mit mir …“
„Ist nicht nötig“, unterbrach sie ihn und nahm ein Fahrrad aus dem Gebüsch auf. „Ich fahre über die Felder. Also, bis gleich dann.“
John sah ihr noch eine Weile nach, wie sie davonradelte.
Sein Handy machte sich bemerkbar. „Warum muss ausgerechnet jetzt jemand anrufen?“, knurrte er und sah auf den Eintrag. „Mama?“
„Ja, ich bin es, mein Junge. Wieso hast du seit Wochen nichts von dir hören lassen?“
„Entschuldige bitte, ich war sehr beschäftigt“, log er, denn eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. „Ist alles in Ordnung bei euch?“
„Ja, John, das Wetter ist schön, und die Vöglein singen“, lachte sie ins Telefon.