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Dieser alter Dachboden birgt Geheimnisse. Neben dem Tisch war auf dem Boden irgendwas in den Staub geschrieben worden. Frank bückte sich, zeichnete mit dem Finger die Konturen nach und las ein einzelnes Wort: Agash. Was hat das zu bedeuten? Er wollte sich wieder dem Koffer zuwenden, als plötzlich ein greller Blitz durch den Raum schoss, begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall und einer gleichzeitig auftretenden heißen Druckwelle, die ihn durch den Dachboden schleuderte. Doch das sollte nur der harmlose Anfang einer okkulten Geschichte sein, die innerhalb kürzester Zeit viele in Angst und Schrecken versetzen würde. Agash ist nämlich eine Dämonin mit bösem Blick und bringt Krankheit und Tod. Sie ist die Personifikation des Verderbens. Kann Liebe da stärker sein als Angst?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
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Impressum
Edition Paashaas Verlag
Autor: Eric Eaglestone
Originalausgabe: April 2021
Covermotiv: Pixabay
Coverdesign: Michael Frädrich
© Edition Paashaas Verlag
www.verlag-epv.de
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-086-4
Die Handlung ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dienerin der Angst
Prolog
Der Duft von Eiern und Speck zog durch das geöffnete Küchenfenster auf die mit Birken gesäumte Straße.
Die alten restaurierten Fachwerkhäuser mit ihren Vorgärten am Rande dieses 1500-Seelen-Dorfes wurden von der frühen Sonne an diesem kühlen Junimorgen in malerisches Licht getaucht. Die ringsum bewaldete Hügellandschaft perfektionierte dieses Bild. Es erweckte in dem ortskundigen Betrachter den Wunsch, ein Geheimnis ergründen zu wollen, welches der Wald verbarg. Meist trat dieser Wunsch in der Abenddämmerung auf, wenn die Eulen aus ihrem Schlaf erwachten.
In einem der Fachwerkhäuser am äußeren Ende der Straße wohnten Frank und Rebecca. Von dort führten geteerte Wege zu drei bäuerlichen Anwesen. Sie waren mittlerweile seit fünf Jahren verheiratet. Das Haus hatten sie von ihrem vor vier Jahren verstorbenen Großvater geerbt und gemeinsam so hergerichtet, dass es äußerlich bereits wieder in altem Glanz erstrahlte.
Zwei Garagen mit einer Hobbywerkstatt waren angebaut, der Vorgarten neu bepflanzt und eine Terrasse hinter dem Haus angelegt worden. Zudem waren im Inneren des Hauses einige Umbauten vorgenommen worden, so dass die Zimmergrößen mit dem heutigen Wohnniveau mithalten können. Die Bäder hatten sie zeitgemäß eingerichtet, aber trotzdem darauf geachtet, dass der alte Charme erhalten blieb.
Ein besonderes Augenmerk hatten sie dem Wohnzimmer gewidmet, in dem es sich die beiden des Öfteren gemütlich machten. Zwischen den alten Balken einer ehemaligen Trennwand hatte Rebecca acht Or-chideen platziert, die von ihr liebevoll gepflegt wurden. Die prächtigen, farbenreichen Blüten verliehen dem rustikalen Zimmer einen tropischen Hauch. Jeden Morgen nach dem Verlassen des Bades war ihr erster Gang zu den Blumen, die sie jedes Mal mit einem freundlichen „Guten Morgen, ihr Süßen“, begrüßte. Ein kleiner Tick einer sonst jedoch rational denkenden Karrierefrau. Aufwendig restaurierte, burgunderrote Ledermöbeln standen im Zimmer, bestehend aus einer Couch und zwei Sesseln. Den Abschluss dieses Arrangements bildete ein Eichentisch aus Urgroßvaters Zeiten. Eine alte Anrichte sowie ein Eichenschrank vollendeten dieses harmonisch eingerichtete Zimmer.
Die glattgespachtelten weißen Zimmerwände mit den vergrößerten Seitenfenstern brachten genügend Licht in die ehemals dunklen Räume. Den Abschluss der unteren Etage bildeten ein verhältnismäßig großes Bad und eine rustikal eingerichtete Küche.
Die Eheleute erwarteten Rebeccas Schwester Keren, die charakterlich ihrer Schwester absolut nicht gleichkam. Sie wollten zu dritt ein gemütliches Wochenende verbringen. Aber es sollte anders kommen.
Rebecca stand am Herd und rührte emsig in der Pfanne, in der die Eier langsam zu stocken begannen. Das lange, brünette Haar, das ihr fast bis zu den Hüften reichte, hatte sie zu einem Zopf geflochten. Mit ihren mandelförmigen braunen Augen, den leicht erhöhten Wangenknochen, dem dunklen Teint und den schön geschwungenen Lippen war sie eine recht auffällige Schönheit. Ihre Körpergröße von 1,75 Metern und die schlanke Figur rundeten diese äußerlich perfekte Frau ab. Die vierzig Lenze sah man ihr nicht an. Sie wirkte wie eine flotte Fünfunddreißigjährige.
Privat war sie eine ausgeglichene, fröhliche Frau, die überall gern wegen ihres freundlichen Wesens gesehen wurde.
Als Bezirksleiterin einer großen Drogeriekette wurde sie von ihren Mitarbeitern respektiert, von einigen aber auch gefürchtet. Durch heftigen Gebrauch ihrer Ellenbogen wurde sie zu dem, was sie heute war. Endstation? Von wegen, sie wollte weiter nach oben. Eine typische Karrierefrau. In Jeans, einem alten, labberigen, weißen T-Shirt und ihren geliebten rosafarbenen Kunstfell-Schlappen, bereitete sie wie an jedem Samstagmorgen das Frühstück. Es schellte an der Tür.
„Frank, machst du mal auf?“, rief sie ihrem Mann zu, der an diesem Morgen seit 09:00 Uhr bereits eine geschlagene Stunde im Bad verweilte und immer noch damit beschäftigt war, sich aufzuhübschen. Es klingelte wieder. Sie stellte die Pfanne beiseite und eilte zur Haustür.
„Meine Güte“, sagte sie kopfschüttelnd, als sie in der Diele an der Badezimmertür vorbeiging, „hast du das Klingeln nicht gehört?“
„Hast du was gesagt, Schatz?“, kam es dumpf von der anderen Seite der Tür zurück.
„Sieh zu, dass du endlich fertig wirst, Keren ist da.“
Rebecca wirkte etwas genervt, außerdem war das Frühstück noch nicht fertig. Sie öffnete die Haustür und vor ihr stand Keren, eine 1,60 Meter kleine, lächelnde Frau mit halblangen blonden Haaren. Aus ihrem ovalen Gesicht strahlten zwei auffallend schöne blaue Augen. Ihre Lippen waren ebenso geschwungen, wie die ihrer Schwester. Nur war sie ein anderer Typ. Nicht so exotisch aussehend wie Rebecca, sondern etwas hellhäutiger und vom Eindruck her mehr der fröhlich lustige Typ. Ihre Oberweite betreffend hatte sie einiges mehr zu bieten, welches durch ihr etwas tiefer ausgeschnittenes hellblaues T-Shirt auch deutlich sichtbar wurde. Die enge Bluejeans mit dem breiten, weißen Ledergürtel um ihre geschwungene Hüfte verliehen ihr eine anziehende Wirkung. „Hallo, Keren.“ Rebecca umarmte ihre Schwester, welche mit ihren zweiunddreißig Jahren noch immer am BWL-Masterabschluss bastelte, da sie ihren geliebten Kampfsport angeblich in den Vordergrund stellen würde.
„Guten Morgen, Becki, scheiße, jetzt hab´ ich vergessen, Brötchen zu kaufen“, grüßte sie mit einem verkniffenen Grinsen.
„Dann essen wir halt Toast“, seufzte Rebecca und schloss die Haustür. Die beiden Frauen gingen in die Küche, wo sich Rebecca wieder um die Rühreier kümmerte.
„So, fertig.“
Keren machte sich inzwischen an dem Toaster zu schaffen.
In diesem Moment betrat Frank die Küche. In Jeans, freiem Oberkörper und Hausschuhen.
Ebenso groß wie Rebecca, aber um zwei Jahre jünger. Er hatte kurzes kastanienbraunes Haar, grüne Augen und einen gepflegten Vollbart. Er wirkte wie immer ruhig und gelassen. Frank war ein gemütlicher Typ und bis auf den kleinen Bauchansatz von schlanker Statue. Als Kraftfahrzeugmeister war er stellvertretender Werkstattleiter einer Autoreparaturkette und hatte seinen Beruf zum Hobby gemacht. Derzeit schraubte er nebenbei zu Hause an einem alten Jeep.
„Oh, ist der Herr auch schon fertig?“, stichelte Rebecca.
Er umarmte Keren zur Begrüßung und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann wandte er sich seiner Frau zu. „Schatz“, sprach er mit sanfter Stimme, „wenn du morgens in der Küche stehst, hat der Raum eine besondere Strahlkraft.“ Er stand hinter ihr und küsste ihren Nacken. „Oh, ich muss mir noch was anziehen“, sagte er verschmitzt lächelnd, nachdem er bemerkt hatte, wie Keren seinen Oberkörper musterte und verließ den Raum. Keren, hatte inzwischen auf der rustikalen Eckbank Platz genommen. Sie öffnete verwundert den Mund und blickte staunend mit ihren großen blauen Augen hinter ihm her.
„Was ist denn mit dem heute los?“, grinste sie breit.
„Vielleicht hat er heute was Bestimmtes vor“, antwortete Rebecca lächelnd.
Keren lachte ordinär und rief: „Der will dich heute …“ Weiter kam sie nicht.
„Keren!“ Rebeccas Augen blitzten gefährlich. Die Situation wurde durch ein leichtes, federndes Geräusch entschärft, wodurch der Toaster zwei geröstete Weißbrotscheiben freigab.
Frank erschien im dunkelblauen Oberhemd und nahm den Frauen gegenüber auf dem verzierten Eichenstuhl Platz. Seine Frau schenkte Kaffee ein, während sie ihrer Schwester noch einmal einen scharfen Blick zuwarf.
„Habe ich hier was verpasst?“, fragte er verwundert.
„Nein, nein, alles in Ordnung“, lächelte Rebecca.
„Bekloppte Weiber“, murmelte er und griff nach seiner Tasse.
Keren stichelte weiter. „Frank“, sagte sie mit leiser sinnlicher Stimme, „gibt es von dir kein zweites Exemplar?“ Sie sah ihn an und klimperte mit ihren langen Augenwimpern. Sie wusste, wie sie ihre Schwester schnell auf die Palme bringen konnte, und das hatte sie wieder einmal vor. So war sie, manchmal provozierend, immer gerade heraus und ihr Herz auf der Zunge tragend.
Frank nahm die Tasse herunter, um zu vermeiden, den Kaffee fontänenartig über den Tisch zu pusten. „Ja, ja, ist schon gut“, grinste er. „Jetzt fang mal langsam an zu frühstücken, du Nervensäge.“
Rebecca hatte die Augen geschlossen und schüttelte verständnislos ihren Kopf. War bei der Erziehung ihrer jüngeren Schwester etwas schiefgelaufen? Sie provoziert und provoziert, dachte sie, so warte, jetzt bekommst du Kontra.
„Du hast ja noch keinen Mann gefunden. So wie du dich wieder aufführst, war deine Jagd wohl nicht von Glück gesegnet.“ Sie lachte und hatte ihr damit eine volle Breitseite verpasst.
„Das geht dich einen Scheißdreck an!“
Keren war inzwischen aufgestanden, um weiteren Toast zu produzieren. „Damit es dich beruhigt, ich werde damit keine Probleme haben. In der Hinsicht bin ich sehr wählerisch“, stellte sie mit einem arroganten Unterton klar und legte zwei warme Toastscheiben auf ihren Teller, um anschließend den Toaster weiter zu füttern.
Rebecca wurde ernster. „Was ich in den letzten Jahren bei dir festgestellt habe, ist folgendes …“
Keren nahm wieder Platz und verdrehte die Augen. „Oh, jetzt kommt natürlich deine typische Predigt.“ Sie sah zur Zimmerdecke und breitete die Arme aus, als wenn sie den Himmel anflehen wollte. „Keren, warum lässt du dein Studium so schleifen?“, imitierte sie ihre Schwester. „Sieh doch langsam zu, dass du fertig wirst und in den Beruf kommst, dann musst du nicht in Kosmetikläden und Kneipen jobben. Außerdem scheint dir der Sport wichtiger zu sein als deine Zukunft … und so weiter … bla, bla, bla.“
„So, jetzt lass mich mal reden“, unterbrach Rebecca Kerens Redeschwall.
„Einen Scheiß werde ich machen!“ Keren ließ Rebecca nicht zu Wort kommen und wurde lauter. „Ich habe es nicht so eilig, schließlich will ich auch noch nebenher mein Leben genießen. Ich bin nicht so karrieregeil wie du, die mit allen verfügbaren Mitteln Leute beruflich zerstört, um auf der Erfolgsleiter immer höher zu steigen. Rein menschlich gesehen ist das für meine Begriffe äußerst verwerflich. Und außerdem lasse ich das Studium nicht schleifen. Ich mache im Moment meinen Master. Du hast nur deinen Bachelor absolviert. Das ist der feine Unterschied. Versuche mir nicht so einen Mist einzureden.“ Sie war in Rage.
Rebecca nutzte die kurze Atempause der Schwester.
„Ich habe doch noch gar nichts gesagt …“
„Aber genau das wolltest du wieder zum Besten geben! Seit einem halben Jahr komme ich jeden zweiten Samstag hierher und immer wieder der gleiche Mist. Lass mich doch jetzt endlich damit in Ruhe. Ich mach das schon.“ Keren wandte das Gesicht von ihrer Schwester ab, um ihre auftretenden Tränen zu verbergen. Sie war recht empfindlich und ziemlich schnell gekränkt.
Frank war im Begriff, seinen dritten Toast üppig mit Ei zu belegen, ließ jedoch davon ab und rutschte neben Keren auf die Bank. Er ertrug es nicht, mit anzusehen, wie sie weinte. Tröstend nahm er sie in den Arm. „Es wird alles gut. Ältere Schwestern sind manchmal um die jüngeren in der Familie besorgt. Sie meint es doch nicht böse“, versuchte er sie zu besänftigen.
Keren hatte sich aber noch längst nicht beruhigt und sah mit einem wütenden Gesichtsausdruck zu Rebecca. „Du kannst mich am Arsch lecken.“
Rebecca lenkte lächelnd ein. „Keren, du bist mein liebes Küken, ich mache mir nur halt manchmal Gedanken über dich. Aber verzeih mir bitte, weil ich dich angegriffen habe, ich lasse dich jetzt mit meinen Belehrungen in Ruhe. Versprochen.“
„Wenn ich ein Küken bin, dann bist du ein gerupftes Huhn“, platzte es aus Keren heraus. Sie lachte und wischte sich die Tränen mit einer Serviette ab.
Auch ihre Schwester und Frank amüsierten sich. Die Situation hatte sich merklich entspannt.
Er leerte seine Kaffeetasse und sah Rebecca nachdenklich an. „Weißt du, was ich jetzt mache?“
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. „Nein, aber du wirst es mir sicher erzählen.“
„Vor vier Jahren …“, begann Frank mit einem andächtigen Gesichtsausdruck, als wenn er eine Rede halten wollte, „vor vier Jahren haben wir alles an unserem Haus renoviert, außen sowie innen, aber den Dachboden hat noch keiner von uns betreten. Es muss dort aussehen wie in einer Rumpelkammer. Außerdem könnten dort interessante Dinge herumliegen. Es fehlte uns einfach die Zeit, da aufzuräumen.“
„Und jetzt, heute Morgen, willst du damit anfangen? Ausgerechnet heute?“ Rebecca war verwundert. „Kann das nicht warten?“
„Irgendwann muss ich das ja machen, wenigstens heute schon mal nachsehen.“ Er wollte soeben die Küche verlassen, machte aber eine Kehrtwendung und ging nachdenklich auf sie zu. „Weißt du eigentlich, wann dein Opa das letzte Mal da oben war?“
Rebecca sah ins Leere und überlegte. „Nein. Ich kann mich aber an folgendes erinnern: Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, habe ich Oma und Opa mit meinen Eltern besucht. Ich wollte mit ihm auf den Dachboden, um dort zu spielen. Er wollte das aber nicht. Ich hatte ihn noch gefragt warum er das nicht wollte? Da hat er nur geantwortet, dass er nie dort oben gewesen war und auch niemals dort hinaufsteigen würde. Das war´s dann.“
Sie dachte kurz nach. „Moment … Opa ist 1926 in diesem Haus geboren. Wenn er nie auf dem Dachboden war, dann …“
„Dann ist seit neunzig Jahren niemand mehr oben gewesen. Vielleicht noch länger. Das kann ja interessant werden.“
„Ob Urgroßvater da oben herumgewuselt hat, weiß ich nicht.“
Frank stieg die hölzerne Treppe neben der Eingangstür hinauf. Oben, gegenüber dem Schlafzimmer, lag das nett eingerichtete Gästezimmer, das jederzeit für Keren reserviert war. Daneben lag das hübsche kleine Bad. Dahinter, mit einem Fenster zur Straße, das Arbeitszimmer.
An der linken Dielenwand hing ein mit Kunstblumen geschmücktes hölzernes weißes Herz und in einem schmiedeeisernen Bilderrahmen ein altes Foto von Rebeccas Großeltern. An der gegenüberliegenden Dielenwand der gleiche Bilderrahmen mit einem Bild ihrer Urgroßeltern. Urgroßvater in Feldwebel-Uniform und mit damals modischem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart. Die Urgroßmutter in typischer Hausfrauenkleidung der damaligen Zeit, mit obligatorischer Schürze.
Frank stand nun im blauen Overall unter der Klappe, die zum Dachboden führte. Bewaffnet mit einer Brechstange, Hammer, Kopflampe und einem großen Schraubendreher.
Er klappte die mitgebrachte Leiter auf, bestieg sie bis zur vorletzten Sprosse und machte sich daran, die Luke zu öffnen.
Plötzlich stand Rebecca in der Diele. „Schatz, du weißt doch, dass wir heute Abend zu Emily und Jack fahren. Versaue bitte nicht alles hier. Wer weiß, wie staubig es da oben ist.“
Frank wandte sich ein wenig genervt zu ihr hin. „Ich gehe da jetzt rauf und mache anschließend sauber. Ich will nur mal nachsehen, wie es da oben aussieht, dann mache ich auch alles wieder blitzeblank, in Ordnung?“
Er machte sich jetzt daran, die alten rostigen Schrauben frei zu kratzen, drehte sich vorher noch kurz zu ihr um. Sie war verschwunden. „Gut so“, murmelte er noch, bevor er mühevoll die alten Schrauben losdrehte.
Die Dachbodenklappe saß danach immer noch fest an ihrem Platz. „Bist du nicht willig, dann brauch ich Gewalt.“ Frank setzte die Brechstange an, um sie aufzuhebeln, da fiel sie auch schon krachend auf den gefliesten Fußboden. Begleitet von einer nicht gerade unerheblichen Staubwolke.
„Ist dir was passiert?“, rief Rebecca von unten.
„Nein, alles in Ordnung, Becki.“
„So, jetzt.“ Frank stand auf der kleinen, oberen Plattform der Leiter. Sein Kopf ragte zur Hälfte in die offene Dachluke.
Er legte seine Unterarme beidseitig auf den Boden des Dachspeichers und stemmte sich nach oben, zog die Beine nach und richtete sich sofort auf. Es roch sehr muffig. Dann schaltete er die Kopflampe ein und ließ seinen Blick kreisen. „Mal sehen, was Uropa hier alles gehortet hat.“
Es war schon ein wenig unheimlich, denn dieser Raum wurde nach zirka neunzig Jahren erstmals wieder von einem Menschen betreten; dessen war er sich bewusst. Er atmete Geschichte ein, die durch einen leichten Luftzug, der von unten durch die Bodenöffnung drang, mit dem Staub der Jahrzehnte vermischt wurde. Ein Dachfenster gab es nicht. Die ehemalige Luke zur Straßenseite war in früheren Jahren zugemauert worden, was irgendwie keinen Sinn ergab.
Der Raum mit zirka fünfzig Quadratmetern Grundfläche wirkte durch die beidseitig schräg abfallenden Dachsparren erheblich kleiner.
Frank sah sich im Schein seiner Lampe um und erblickte ganz hinten in der rechten Ecke einen verschnörkelten Sekretär, der unter einer dicken Staubschicht nur an seinen Konturen zu erkennen war. Gegenüber befand sich ein alter Küchentisch, auf dem zwei Koffer lagen, die vor fast einem Jahrhundert auf ihm abgelegt wurden. Daneben stand eine Eichentruhe, welche wohl in früheren Jahren die Aussteuer der Urgroßmutter beinhaltete.
Alles war mit einer dicken Staubschicht ummantelt, so dass er es unterließ, die Gegenstände näher zu untersuchen.
Da muss ich erst mit dem Sauger ran. Aber die Koffer da auf dem Tisch, den oberen werde ich mal öffnen. Es ist einfach zu spannend hier.
Er wischte dann aber doch mit dem Ellenbogen die Staubschicht von der Oberfläche des Koffers und versuchte, ihn zu öffnen. Mist, verschlossen. Frank setzte den mitgeführten Schraubendreher an und wollte gerade den Deckel aufhebeln, als … Was ist das? Er sah nach unten. Neben dem Tisch war auf dem Boden irgendwas in den Staub geschrieben worden. Es musste vor längerer Zeit gewesen sein, da eine weitere dünnere Staubschicht darüber lag. Er konnte es nur undeutlich erkennen. Frank bückte sich, zeichnete mit dem Finger die Konturen nach und las ein einzelnes Wort: “Agash“. Er kratzte sich nachdenklich die Stirn und richtete sich wieder auf. Was hat das zu bedeuten?
„Rebecca, hier hat jemand etwas auf den Boden geschrieben!“, rief er durch den Raum.
„Was denn, Schatz?“, drang es dünn nach oben.
„Agash!“
Er wollte sich wieder dem Koffer zuwenden, als … plötzlich ein greller Blitz durch den Raum schoss, begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall und einer gleichzeitig auftretenden heißen Druckwelle, die ihn durch den Dachboden schleuderte, so dass er sehr unsanft in der Nähe der Bodenklappe zu Fall kam. Eine dichte Staubwolke vernebelte den Raum komplett.
„Was zum Teufel … war … das?“, stammelte er hustend. „Was ist hier los?“ Völlig benommen rappelte er sich auf und wischte verstört den Staub von seiner Kleidung.
„Ich muss hier weg!“ Ein eigenartig ängstliches Gefühl ergriff ihn. Nicht wie eine Gefahr, die von außen einwirkte, nein, es war eine undefinierbare Angst. Sie kam von innen, aus seinem Körper.
Noch völlig benommen glitt er durch die Bodenöffnung leiterabwärts hinunter.
Er stand nun aufrecht vor der Leiter auf dem gefliesten Dielenboden und atmete einige Male tief durch. Sein Rücken schmerzte und ließ ihn aufstöhnen.
Sein Kopf war nach unten gerichtet, und er sah, wie der jetzt ziemlich schmutzige Boden nach und nach immer mehr rote Flecken bekam, die der Staub aufsaugte. Blut tropfte aus seiner Nase.
Frank wischte sich mit dem rechten Ärmel über die Nase. Das Bluten hörte auf.
„Verdammte Scheiße … was war das bloß?“ Er schüttelte den Kopf und konnte immer noch nicht realisieren, was er vor einigen Minuten erlebt hatte. Noch einmal nach oben, und schon war er wieder auf der Leiter.
Auf dem Dachboden war alles noch so, wie er es vor zehn Minuten vorgefunden hatte. Nur sein Werkzeug lag verstreut herum. Er sah sich nochmals um. Was war die Ursache des Blitzes, des Knalls und der Druckwelle? Er konnte nichts festzustellen.
Vielleicht ist da etwas in meinem Kopf passiert. Wiederholt spürte er die Angst in sich hochkommen. Nein, es war real.
Frank sammelte die Werkzeuge ein und machte sich erneut auf den Weg nach unten. Dort verschloss er den Dachboden wieder mit der Klappe und schraubte sie fest. Immer noch benommen, schlich er die Treppe hinunter und lehnte die Leiter an die Dielenwand neben der Küchentür.
Neugierig lugte Keren daraus hervor. „Wie siehst du denn aus?“
Sie wirkte ziemlich erschrocken.
Nun kam auch Rebecca. Entsetzt schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. „Meine Güte, du bist ja kalkweiß, und deine Nase ist blutverschmiert. Schatz, was ist passiert?“
Frank ignorierte ihre Bemerkung zunächst und setzte sich in der Küche auf seinen Stuhl. „Au, mein Rücken.“ Rebecca und Keren sahen ihn fassungslos und fragend an. „Habt ihr denn den Knall vorhin nicht gehört?“
„Welchen Knall, Frank? Nein, haben wir nicht“, antwortete Keren unwissend der Dinge, die geschehen waren.
„Nein, wirklich nicht, es war alles ruhig hier“, bestätigte Rebecca.
„Dann setzt euch mal hin, ich muss euch was erzählen.“ Er deutete auf die Bank. „Was ich dort oben erlebt habe, werdet ihr mir sowieso nicht glauben. Ich bin noch fix und fertig. Das kann einfach nicht wahr sein, aber es war real.“
Die beiden Frauen setzten sich wortlos.
„Das ist doch Spuk!“, rief Rebecca, nachdem er seine Ausführungen beendet hatte. „Hätte mir ein anderer solch eine Geschichte erzählt, den hätte ich glatt für verrückt erklärt.“ Sie schien sichtlich entsetzt. „Geh am Montag aber vorsichtshalber mit deinem Rücken zu Jack. Bei der Gelegenheit kannst du ihm die Geschichte auch erzählen. Was macht dein Kopf? Hoffentlich ist da nichts passiert. Das solltest du ebenfalls abklären lassen.“ Sie sah ihm nun sehr besorgt in die Augen.
Keren schloss sich den Ausführungen ihrer Schwester an. „Frank, tu bitte, was Becki gesagt hat.“ Auch sie hatte nun Angst um ihn.
„Ja“, stöhnte Frank, richtete sich etwas auf und hielt sich mit beiden Händen den schmerzenden Rücken „Das mache ich auf jeden Fall, und du rufe bitte Emily und Jack an, dass wir heute Abend nicht kommen. Ich werde aber am Montagmorgen um 08:00 Uhr in seiner Praxis erscheinen. Ich fühle mich wirklich nicht gut.“
„Das mache ich, Schatz. Geh` dich duschen und lege dich ein wenig hin, du siehst ja elendig aus.“
„Ich muss erst noch oben saubermachen, der Dielenboden …“
„Das mach ich schon“, unterbrach ihn Keren, stand auf und verschwand aus der Küche.
Drei Sekunden später steckte sie ihren Kopf wieder hinein. „Rebecca, hast du Salbe für seinen Rücken?“
„Ja, warum?“
„Sonst hätte ich sie aus der Apotheke besorgt. War nur `ne Frage.“
„Jetzt hau ab und mach oben sauber“, knurrte Rebecca und öffnete den Verbandsschrank neben der Küchentür.
Der weitere Tag verlief ruhig. Frank genoss die Pflege seiner beiden Damen, die ihn liebevoll umsorgten, ließ es sich aber nicht nehmen, trotz seines schmerzenden Rückens einen Rundgang um das Haus zu machen. Möglicherweise könnte er irgendwo außerhalb des Hauses die Ursache für den Vorfall auf dem Dachboden finden.
Mittlerweile war es Nacht geworden.
Frank lag auf dem Rücken in seinem Bett und hatte die Augen geschlossen. Die Angst, dieses Befremdliche, das sich nach dem Unfall auf dem Dachboden in ihm ausbreitete, kam erneut auf. Was empfand er in seinem Körper? Er spürte es deutlich. Er fühlte, dass da etwas war, was nicht zu ihm gehörte. Außerdem schmerzten seine Lendenwirbel. Es war ihm nicht möglich, einzuschlafen.
Neben ihm schlief Rebecca seit geraumer Zeit tief und fest.
Frank öffnete die Augen und wandte sich zu ihr. Was ist denn das schon wieder …? Wo ist Rebecca? Sie war verschwunden. Die ganze Zeit hatte er wach gelegen und nicht gemerkt, wie sie aus dem Schlafzimmer geschlichen war. Wie kann das sein? Das ist doch unmöglich.
Er hörte nun, wie jemand die Türklinke von außen langsam betätigte. Die Tür öffnete sich, und er war sich sicher, dass Rebecca eintreten würde.
Aber Rebecca war es nicht. Im Flur brannte helles Licht. Es war unnatürlich hell, und das konnte niemals von den LED-Leuchten stammen.
Vom dunklen Schlafzimmer aus erkannte er eine menschliche Silhouette, die um einiges kleiner war als Rebecca.
Jetzt schloss diese Person die Schlafzimmertür von innen und kam gemächlich auf das Bett zu.
Im fahlen Licht, das ins Zimmer drang, erkannte er seine Schwägerin. Sie war splitternackt. In diesem Moment fühlte er sich wie gelähmt. Wie konnte das sein?
Sie stand jetzt neben ihm und sah sinnlich lächelnd auf ihn herunter. Keren hatte ihren Mund geöffnet und ließ ihre Zungenspitze über ihre Lippen kreisen. „Nimm mich“, hauchte sie.
„Was ist hier los? Was willst du?“, stammelte Frank völlig irritiert.
Er bekam keine Antwort.
Jetzt klopfte es an der Tür. „Könnt ihr auch nicht schlafen?“, drang eine helle Stimme in den Raum.
Die nackte Keren löste sich schlagartig in Luft auf, und Rebecca lag wieder neben ihm, tief und fest schlafend. Es geschah in Nullzeit.
Frank zweifelte an seinem Verstand. Was passiert hier? Was um Himmels willen war das denn wieder? Werde ich langsam verrückt?
Benommen und schweißgebadet stieg er aus dem Bett, schlich zur Tür und öffnete. Keren stand bekleidet vor ihm. Er wusste im Moment nicht, was er glauben sollte. „Keren … du warst doch eben …“, er deutete mit der rechten Hand auf sein Bett.
„Was war ich?“ Sie grinste verwundert und tippte mit dem rechten Zeigefinger auf ihre Stirn.
„Nein, nein, alles in Ordnung. Ich bin halt etwas durcheinander. Ich versuche jetzt zu schlafen.“ Er hatte jetzt keine Lust mehr, sich weiter zu erklären. „Was möchtest du denn?“
„Würde noch einer von euch mit mir fernsehen? Ich bin so alleine da unten im Wohnzimmer.“ Bei der Frage formte sie ihre Lippen zu einem kleinen Schmollmund.
Er schüttelte den Kopf: „Sorry, heute nicht mehr.“
„Entschuldigung, bin schon weg.“
Sie ging zügig in Richtung Treppe, nicht ohne eine ihrer typischen Bemerkungen loszulassen: „Wenn mich jetzt die bösen Geister holen, seid ihr schuld.“
Frank blieb noch einen Augenblick im Türrahmen stehen und versuchte, das Geschehene zu analysieren.
Gerade noch lag sie nackt neben mir und versuchte, mich zu verführen. Parallel dazu klopft sie in voller Bekleidung an die Tür, dann … nackte Keren weg … Rebecca wieder da und schläft. Wie kann das sein?
Dann die Sache heute Morgen auf dem Dachboden … Das hängt doch irgendwie alles miteinander zusammen … Das ist doch alles Paranormal, schoss es ihm durch den Kopf.
Der Sonntagmorgen begann ungewöhnlich still und verlief im weiteren Tagesablauf mit gedrückter Stimmung aller Bewohner. Die beiden Frauen waren immer noch beunruhigt. Frank vermied es, den beiden von dem sonderbaren Geschehen in der Nacht zu erzählen. Es war definitiv eine Halluzination. Was aber, wenn es real gewesen wäre? Hätte er sich Kerens Annäherungsversuch erwehren können? Diese Frage stellte er sich, ließ aber die Antwort offen. Noch völlig perplex kam jetzt auch das schlechte Gewissen hinzu. Hätte er sich tatsächlich verführen lassen, wäre es denn keine Illusion, sondern real gewesen? Ob er den geringsten Versuch unternommen hätte, sich dieser reizvollen Gelegenheit zu entziehen? Ihn plagten Schuldgefühle, Schuldgefühle, die er sich selbst suggerierte.
Um sein Gewissen zu erleichtern, beschloss er, Rebecca am nächsten Tag von dem nächtlichen Vorfall zu berichten, denn er war ja nur einer Halluzination erlegen.
∞
Am Montagmorgen hatte sich Keren schon früh von Rebecca und Frank verabschiedet. Sie wollte pünktlich in der Uni sein. Eine wichtige Vorlesung stand auf dem Plan, die sie keinesfalls verpassen wollte.
Mittlerweile war es 08:00 Uhr. Rebecca stand vom Frühstückstisch auf und ging zu dem alten Küchenschrank, der noch aus Urgroßmutters Zeiten stammte. Frank hatte ihn vor einigen Jahren in mühevoller Kleinarbeit restauriert. Der massive Eichenschrank gehörte einfach zum Haus; davon konnten sich beide nicht trennen.
Rebecca holte ihre Autoschlüssel aus der Schublade und wandte sich ihrem Mann zu.
„Frank“, sagte sie mit säuerlicher Miene, „was du mir da gerade erzählt hast, glaubst du doch wohl selbst nicht wirklich. Du willst mich wohl veralbern.“ Sie hatte ein hochrot angelaufenes Gesicht und ihre Stimme wurde lauter. „Keren nackt neben dir und will mit dir schlafen? Ich glaube, das ist wohl ein heimlicher Wunsch von dir – oder?“ Sie stand mit verschränkten Armen vor ihm.
Frank saß auf seinem Stuhl und sah wie ein geprügelter Hund zu ihr hoch. „Schatz, ich kann doch nichts dafür, das war eine Illusion, die mit dem Geschehen auf dem Dachboden zusammenhängen muss …“
Rebecca blieb unbeeindruckt.
„Ja, mein Lieber, deine Illusion, dein heimlicher Wunsch mit Keren … ach, lassen wir das!“ Ihre Augen funkelten einem gefährlichen Feuer gleich. Dieses italienische Temperament, das sie von ihrer Großmutter mütterlicherseits geerbt hatte, konnte sie nicht verleugnen.
Auch Frank wurde jetzt lauter, denn er war doch nur ein unschuldiges Opfer von irgendwelchen unerklärlichen Einflüssen. „Schatz, da ist nichts dran an deiner Behauptung. Das spinnst du dir zusammen. Warum sollte ich dir so etwas erzählen, wenn das mein heimlicher Wunsch wäre? Da müsste ich ja blöd sein. Keren ist meine Schwägerin und beste Freundin zugleich, nichts weiter. Ich hatte überhaupt keinen Einfluss auf das, was passiert ist.“
Rebecca stand an der Küchentür, bereit zum Gehen.
„Und? Wie sah sie aus, nackt wie sie war?“, fragte sie noch schnippisch.
Er raufte sich verzweifelt die Haare. „Rebecca, ich sagte dir doch bereits, es war nur eine Illusion.“
„Tschüss“, verabschiedete sie sich kühl, wandte ihren Kopf ruckartig von ihm ab, so dass ihr langer Zopf herumschwenkte und auf ihrer Brust zu liegen kam. Sie verschwand schnellen Schrittes die Diele hindurch nach draußen. Sie wollte jetzt endlich ins Büro. Denn wie üblich, hatte sie einen stressigen Tag vor sich.
Frank saß noch einen Moment wie ein Häufchen Elend vor seiner leeren Kaffeetasse. Ich werde jetzt in der Firma anrufen und mich krankmelden. Die innere Angst ist auch wieder da, sie kommt stoßweise, keine Ahnung was das ist, und mein Rücken bringt mich um. Zudem macht mir Rebecca auch noch eine Szene für eine Sache, die mir nur vorgespielt wurde, von was oder wem auch immer ... Moment, was ist das? Er hielt inne und ging in die Diele.
Frank hörte eine Stimme. Sie kam aus der oberen Etage. Er schlich vorsichtig die Treppe hoch und blieb auf der letzten Stufe stehen, blickte in Richtung Dachboden.
Ein leises, drohendes Flüstern erfüllte den Raum: „Agash … Aibinatu, … Agash … Aibinatu.“
Das war alles, was er aus einer fremdartigen Sprache heraushören konnte. „Wer bist du? Was willst du von mir?!“, rief er.
Dann – Stille, absolute Stille. Das Flüstern verstummte.
Sein Herz pochte bis zum Hals. Er hatte allen Mut aufbringen müssen, was immer es auch war, ansprechen zu können.
„Verschwinde von hier“, rief er verzweifelt, bevor er die Treppe wieder hinabstieg.
Doktor Jakob Taylor war ein britischer Arzt und Internist, der sich nach seinem Studium in Heidelberg mit anschließender praktischer Ausbildung in der Berliner Charité als Landarzt in dem kleinen Dorf niedergelassen hatte. Ihm ging es damals nicht um berufliche Karriere, obwohl sie steil nach oben hätte führen können, sondern schlicht um die Hilfe am Menschen. Ein Arzt mit phänomenalem Wissen, der seine Patienten wie ein guter Freund begegnete. Er war eben jedermanns persönlicher Doc. Jack, wie Rebecca und Frank ihn nannten, lernte Rebecca während ihres Betriebswirtschaftsstudiums kennen. Sie wurden beide gute Freunde. Obwohl er in seiner Studentenzeit ein Auge auf Rebecca geworfen hatte, hielt sie Frank für die bessere Wahl. Er entsprach einfach voll und ganz ihrem Typ.
Jack war fünfundvierzig Jahre alt und spielte gelegentlich Tennis, wenn es seine knappe Freizeit zuließ. Er war 1,90 Meter groß und sehr schlank. Seine Frau Emily, ebenfalls Britin, managte den Praxisbetrieb mit zwei Sprechstundenhilfen, zwei nette Mädels aus dem Dorf.
Die beiden Söhne, Morris und Benny, fünfzehn und dreizehn Jahre alt, gingen in der Nachbarstadt zum Gymnasium und hatten das Ziel, beruflich in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Aber auf dem Dorf? Niemals.
Sobald Dr. Taylor den weißen Kittel am Abend auszog, war er für jeden Dorfbewohner der Kumpel von nebenan, der auch mal mit den Bauern und Jägern aus dem Ort abends in der Kneipe am Tresen stand und sich ein Bier gönnte. Seine Praxis lag in der unteren Etage eines Neubaus mit Fachwerkoptik an der Hauptstraße, die durch das Dorf führte. Er bewohnte mit der Familie die großzügig geschnittene Wohnung in der oberen Etage. Ein idealer Ausgangspunkt für einen Wirkungskreis von fünfzehn Kilometern, der vier weitere Dörfer mit einbezog.
Frank saß seit einer viertel Stunde in dem vollen Wartezimmer und beschäftigte sich mit dem Durchblättern einer Autozeitschrift, um sich die Zeit zu verkürzen. Ohne Termin bitte Wartezeit mitbringen, hieß es. Da er mit Doktor Jack Taylor privat befreundet war, ging es natürlich schneller, bis er an die Reihe war.
„Herr Frank Miller, bitte.“
Frank schaute auf. Die Dame, die ihn soeben aufgerufen hatte, wirkte überrascht, als sie ihn sah. Er stand auf und ließ sich von ihr zu einer Bank vor dem Sprechzimmer führen, auf der schon zwei andere Patienten saßen. Er setzte sich, während sie ihn anlächelte.
Die kenne ich doch. Vor zirka zwanzig Jahren, da war doch so eine Szenekneipe “9 bis 9“, da war ich fast jeden Tag. Sie verkehrte auch dort. Ich kann mich flüchtig an sie erinnern.
Nicht größer als Keren, aber sehr zierlich war sie. So wie ich gerade erkennen konnte, hat sie leicht zugenommen, wirkt aber immer noch schlank. Wie klein die Welt doch ist.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als die Sprechzimmertür aufging und Doktor Taylor hervortrat.
„Guten Morgen, Frank, dann komm mal rein zum Onkel Doktor“, scherzte er.
„Wie sieht es aus Jack?“ Frank lag im Ultraschallraum auf der Seite und wartete darauf, sich wieder ankleiden zu dürfen. Er hatte immer noch dieses glitschige Zeug auf dem Rücken.
Der Arzt schaltete das Gerät ab. „Deine Wirbelsäule hat Gott sei Dank nichts abbekommen. Es ist eine Prellung. Die Schwellung drückt auf den Nerv, daher kommen deine Schmerzen. Du bekommst in den nächsten drei Tagen jeweils eine Injektion und Bestrahlung. In einer Woche, denke ich, bist du wieder fit. Geh jetzt erst mal in den Nebenraum, da bekommst du die Spritze und die Bestrahlung. Ich rufe dich dann wieder zu mir herein. Wir müssen noch über deinen Kopf reden. Die Geschichte, die du mir erzählt hast, ist ja schier unglaublich. Die könnte was damit zu tun haben.“
Dr. Taylor wusch sich die Hände, während Frank seinen Rücken so gut es ging mit einigen Papiertüchern abwischte.
Neben dem Ultraschallraum befand sich ein weiteres Behandlungszimmer. Dort nahm er vor dem Bestrahlungsgerät Platz. So etwas wie eine kleine Anrichte war neben der Tür zu sehen, über der ein Medikamentenschrank hing. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Verbandsschrank neben einem kleinen Schreibtisch, auf dem ein Monitor mit dem Ultraschallbild seines Rückens zu sehen war.
Die Tür ging auf.
„Hallo“, die kleine dunkelhaarige Frau lächelte, als sie den Raum betrat. Sie war ihm schon im Wartezimmer begegnet.
Frank musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie hatte ein schmales, gleichförmiges, hübsches Gesicht, halblanges, gut frisiertes, brünettes Haar, volle Lippen und dunkle Augen. Sie war dezent geschminkt und wirkte sehr gepflegt.
„Hallo“, lächelte er zurück und sah ihr direkt in die dunkelbraunen Augen. Sie muss wohl zwei bis drei Jahre jünger sein als ich.
Sie errötete und wandte sich augenblicklich zu der kleinen Anrichte, um die Spritze für ihn vorzubereiten.
Frank war aufgefallen, dass ihre schmalen Hände ein wenig zitterten.
„Sind wir uns schon mal begegnet?“, fragte er vorsichtig.
„Das kann schon sein.“ Sie stand noch mit dem Rücken zu ihm.
Mit der aufgezogenen Spritze in der Hand drehte sie sich um. „So, einmal umdrehen und ein bisschen freimachen.“
Frank folgte brav ihrer Aufforderung, spürte einen kleinen Pieks am Hinterteil und zog die Hose anschließend wieder hoch.
Ja, die Szenekneipe “9 bis 9“, daher kennen wir uns. Wir haben aber nie miteinander gesprochen“, setzte die Dame das begonnene Gespräch fort.
Frank lächelte verschmitzt. „Siezen oder duzen wir uns?“ Er war ein wenig unsicher.
„Ich bin Dana.“ Sie lächelte wieder. „Setz dich, du bekommst noch die Bestrahlung.“
Frank nahm Platz und blieb neugierig. „Arbeitest du hier schon länger?“
„Seit drei Wochen, aber nur als Vertretung wegen Krankheit. Morgen mache ich die letzte Schicht. Mein Chef und Doktor Taylor helfen sich da gegenseitig aus. Die sind wohl befreundet“, antwortete Dana während sie das Bestrahlungsgerät einschaltete. „Viel zu tun heute, ist ja auch Montag. Bis gleich.“ Dana verschwand durch die Tür.
Gedankenversunken schloss Frank die Augen und ließ die Bestrahlung auf sich einwirken.
Eine tolle Frau. Wieso ist sie mir damals nicht aufgefallen? Ich weiß wohl, dass sie einmal hinter dem Tresen gesessen hat und mich sehr lange fixierte, warum weiß ich auch nicht, aber irgendwas war da noch … keine Ahnung, das ist zu lange her.
Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als das Gerät nach einer gewissen Zeit klingelte.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und Dana trat ein.
„Na, gut geschlafen?“, scherzte sie, während sie das Bestrahlungsgerät von ihm wegschob.
„Aber immer.“ Frank grinste und ging in die Senkrechte. „Wo arbeitest du denn normalerweise?“
„In der Stadt. Ich muss jetzt wieder, heute ist die Hölle los. Morgen sehen wir uns ja nochmal, tschüss bis morgen.“
Du kleiner Wirbelwind, dachte Frank, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. So, jetzt noch zu Jack rein und dann nach Hause.
Seit seiner Begegnung mit Dana hatte er für kurze Zeit die Vorgänge in seinem Haus verdrängen können. Jetzt aber kroch die Angst wieder in ihm hoch.
Doktor Taylor sah seinen Patienten nachdenklich an. „Dein Erlebnis auf dem Dachboden, das du als sehr real empfunden hast, kann durch neurologische Störungen in deinem Gehirn ausgelöst worden sein. Es kann, muss aber nicht sein“, fügte er ergänzend hinzu. „Und dann abends im Bett, die angebliche Sache mit deiner Schwägerin, würde ich als Halluzination bezeichnen. Was anderes kommt aus medizinischer Sicht nicht in Frage, ebenso das Geflüster heute Morgen in der Diele bei dir zu Hause. Du hast alles real erlebt und ich nehme das auch so zur Kenntnis, deshalb …“ Der Arzt hielt inne und überlegte kurz, dann sah er Frank mit ruhigem Blick ins Gesicht. „Ich möchte, dass wir gewisse Sachen ausschließen können, außerdem wirkst du sehr beunruhigt aufgrund dieser Vorkommnisse. Ich schicke dich in die Stadt zum Kreis-Hospital zu einem guten Kollegen, einem Neurologen. Ich werde ihn jetzt anrufen, so dass er dich möglichst heute noch dazwischen nimmt. Normalerweise muss man zwei bis drei Wochen auf einen Termin warten, aber ich mache das schon. Er soll ein MRT und ein EEG von deinem Kopf machen, dann erfahren wir mehr.“
„Was ist das nochmal genau, Jack? Erkläre mir das doch bitte mal.“ Frank wurde sichtlich nervös.
„Ja sicher“, lächelte der Arzt, „ich lasse dich doch nicht im Ungewissen.
Ein MRT oder auch Kernspintomographie ist ein spezielles Verfahren, das Schichtaufnahmen von deinem Kopf und deinem Gehirn macht. Darauf kann man jede Anomalität erkennen. Ein EEG wiederum ist eine Messung der Gehirnströme und kann zur Stützung der Befunde dienen, die sich aus einer MRT-Untersuchung ergeben.“
„Das habe ich verstanden.“ Frank nickte, während der Arzt sein Handy in die Hand nahm.
Zehn Sekunden später: „Guten Morgen, Karl, hier ist Jack, ich habe hier einen Patienten, einen persönlichen Freund. Ich möchte ihn heute noch zu dir schicken … Ja … MRT und EEG … Nein, nicht privat … Kasse … Geht schlecht? … Dann behandle ihn als Notfall, dann müssen sich die Privaten eben gedulden … Du lachst ja, so gefällst du mir … Ja, danke, ich schicke ihn gleich zu dir, könnte aber eine Stunde dauern, bis er bei dir ist … Ja, okay, nochmals danke. Wir sollten auch mal wieder `ne Runde Tennis zusammen spielen … Ja, genau … Du meldest dich? … Bis dann, tschüss.“
Er legte das Telefon beiseite, erhob sich und gab seinem Freund die Hand.
„Es wird schon.“ Beruhigend klopfte er Frank auf die Schulter. „Vorne kannst du dir die Überweisung und deinen Krankenschein abholen, dann sehen wir uns morgen wieder.“
„Dann bis morgen, Jack“, verabschiedete sich Frank mit einem verkniffenen Gesicht.
Am Eingangsbereich nahm ihn Emily freundlich in Empfang. Eine blonde Vierzigjährige mit rundlichem Gesicht. Sie hatte grüne Augen und ein sehr nettes, freundliches Wesen. Ihre naturroten Haare band sie immer zu einem Pferdeschwanz zusammen und fixierte ihn mit einer silbernen Spange. Sie war etwas kleiner als Rebecca, dezent geschminkt und mit einer hellblauen Jeans bekleidet. Den Abschluss zierte ein breiter schwarzer Ledergürtel mit einer prächtigen silbernen Gürtelschnalle, die mit Türkisen besetzt war. Eine weiße, mit Rüschen besetzte Bluse, die eine Türkis-Halskette zierte, bildete den Abschluss dieses schönen Western-Outfits.
Sie reichte Frank die Hand und übergab ihm Überweisungsbeleg und Krankenschein. Ihr Mann hatte ihm für die nächsten zwei Wochen Ruhe verordnet.
„Dann bis morgen“, sagte sie lächelnd, „sei am besten gleich um 08:00 Uhr hier.“
„Ja, bin ich, Emily.“
Bevor Frank die Praxis verließ und sich zum Ausgang bewegte, winkte er nochmal Dana zu, die im hinteren Bereich der Anmeldung in irgendwelchen Unterlagen blätterte und zu ihm aufsah. Sie winkte zurück, vertiefte sich jedoch sofort wieder in ihre Tätigkeit.
Draußen auf der Hauptstraße donnerten lautstark mehrere Lastkraftwagen vorbei, im Wechsel mit Personenwagen und einigen Motorrädern. Er sah auf die Uhr. 10:45 Uhr.
Die Sonne hatte das Dorf und die umliegende Landschaft bereits erwärmt. Frank schaute zum Himmel. Ein paar Wölkchen, weiter nichts. Wenn doch alles im Moment so schön wäre. Die Fußgängerampel sprang auf grün. Frank überquerte die Straße zu der gegenüberliegenden Freifläche, die allgemein als Parkplatz benutzt wurde, stieg in seinen zehn Jahre alten Audi A4 und fuhr los.
Hier sollte mal eine Umgehungsstraße gebaut werden. Das ist ja schon bald wie in einer Großstadt.
Die Spritze, die Dana ihm verabreicht hatte, zeigte Wirkung. Außer einem leichten Zwicken, machte sein Rücken im Augenblick keine Probleme.
Nach fünfhundert Metern ließ er das Dorf hinter sich und war zu beiden Seiten nur noch von der gebirgigen bewaldeten Landschaft umgeben, in der sich auch der Grafensee befand, der immer wieder Angler und Ausflügler anlockte.
Normalerweise genieße ich das hier immer, wenn nur im Moment diese verdammte Angst nicht wäre. Frank erstarrte plötzlich. Was ist das denn schon wieder? Irgendwas verfolgt mich, aber was? Er sah in den Rückspiegel. Es war nichts zu sehen. Kein Fahrzeug war hinter ihm. Trotzdem wurde er verfolgt. Der Druck, der jetzt immer stärker wurde, als würde sich ein schwerer Kampfpanzer von hinten auf ihn zubewegen, um ihn in seinem Auto zermalmen zu wollen, nahm stetig zu.
Er trat das Gaspedal weiter durch und versuchte, das Unbekannte, nicht sichtbar Existierende, abzuschütteln. Ohne Erfolg. Die Angst wurde unbeschreiblich. Ja, er hatte Todesangst. Ihm brach kalter Schweiß aus. Das Mysterium, das ihn verfolgte, schien immer näher zu kommen.
In einer langgezogenen Kurve kam er schließlich ins Schleudern, konnte seinen Wagen aber gerade noch abfangen, um nicht mit hoher Geschwindigkeit die rechte Leitplanke zu touchieren. Er wäre sonst möglicherweise über sie hinweggeschleudert worden, um anschließend mit seinem Wagen unten in den See zu stürzen.
Er hielt mit einer Vollbremsung am Straßenrand an. Ich halte das nicht mehr aus, will es mich umbringen? Ich werde noch wahnsinnig. Frank schlug seinen Kopf verzweifelt mehrmals gegen das Lenkrad, bis es wehtat.
Ähnlich wie die Druckwelle am Samstag auf dem Dachboden erreichte das verfolgende Etwas ihn im Bruchteil einer Sekunde und fegte durch den Innenraum seines Wagens.
Dann war es vorbei. Stille.
Nun löste sich auch die aufgestaute Angst in seinem Inneren. So, als wenn irgendwas seinen Körper verlassen hatte. Aber eine andere Art der Angst machte sich in ihm breit: eine Furcht vor einem Etwas, dem er nicht gewachsen war, weil diese Art der sonderbaren Vorfälle jeder logischen und naturwissenschaftlichen Erklärung entbehrte.
Frank blieb noch eine Weile stehen, um sich zu beruhigen, bevor er sich entschloss weiterzufahren.
Nach zehn Minuten erreichte er das nächste Dorf und hielt am Straßenrand neben einem Kiosk an, stieg aus dem Auto, ging in den Laden und kam mit einer Schachtel Zigaretten und einem Feuerzeug wieder heraus. Er öffnete hastig die Schachtel, nahm einen Glimmstängel heraus, zündete ihn an und nahm einen tiefen Zug. Den ersten – nach vier Jahren Abstinenz.
Wie nicht anders zu erwarten, bekam er nach dem ersten Zug einen schrecklichen Hustenanfall. Beim zweiten und dritten wurde es besser, und nach dem vierten Zug genoss er die Zigarette. Dabei überkam ihn ein angenehmes, leichtes Schwindelgefühl. Frank musste über seinen Rückfall grinsen. Na, sind wir wieder mit dem Rauchen angefangen?
Nachdem er die Zigarettenkippe weggeworfen hatte, stieg er wieder in seinen Wagen.
Eine halbe Stunde später erreichte Frank die Stadt, bog an der ersten Kreuzung von der Hauptstraße links ab und fuhr weiter geradeaus. Die zu beiden Seiten liegenden alten ehemaligen herrschaftlichen Villen, die vor Jahrzehnten in luxuriöse Eigentumswohnungen aufgeteilt worden waren, hatten vor einigen Jahren auch Rebeccas Interesse geweckt. Sie und Frank planten, sich dort niederzulassen. Eine der Wohnungen wurde zum Verkauf angeboten.
Plötzlich verstarb Rebeccas Großvater. Sie disponierten um und zogen ins Dorf, in Großvaters Haus. Es war eine andere Wohnqualität als in der Stadt. Diese Entscheidung hatten sie bisher keine Sekunde bereut.
Nun aber überkamen Frank starke Zweifel, ob es damals die richtige Entscheidung gewesen war.
Er sah im Vorbeifahren auf das Haus, in der sie die freie Wohnung besichtigt hatten. Wenn wir die Wohnung gekauft hätten, dann würde es mir heute bestimmt besser gehen. Dann wären einige Dinge mit Sicherheit nicht geschehen, und ich müsste mich nicht untersuchen lassen, ob ich eventuell bekloppt geworden bin. Frank schlug wütend mit der rechten Hand auf das Lenkrad, bevor er auf den Parkplatz des Krankenhauses einbog.
Nach einigen Minuten fand er einen freien Platz, stellte seinen Wagen ab und machte sich auf den Weg zu dem großen alten Backsteingebäude, das im Zentrum des Anwesens stand. Vor dem Haupteingang lag der große Parkplatz, der von einer hohen Buchsbaumhecke umgeben war. Hinter dem Hauptgebäude lag der Park mit gepflegtem Rasen und einem mittig gelegenen modernen Zierbrunnen. Einige hundertjährige Buchen und etliche Rhododendronbüsche mit Blüten in sämtlichen Farben luden zum Spazierengehen ein. Hiervon machten nicht bettlägerige Patienten mit ihren Besuchern an schönen Tagen auch rege Gebrauch. Der Park wurde von zwei kleineren Backsteingebäuden flankiert, in denen Pathologie und Verwaltung untergebracht waren.
Frank erreichte den Haupteingang und stand vor dem pompös wirkenden Vorbau, dessen Dach von vier Sandsteinsäulen getragen wurde. Die Giebelfront zierte ein Sandsteinrelief mit Figuren aus einem Gleichnis der Bibel –– der barmherzige Samariter.
Er betrat die große helle Eingangshalle des Krankenhauses und sah zunächst die digitale Zeitanzeige an der gegenüberliegenden Wand. Es war 11:40 Uhr. Frank sah sich um. Information, Anmeldung, ach, da vorne ist die Info. Zielstrebig bewegte er sich auf die große verglaste Kabine in der Mitte der Halle zu und stellte sich vor den Schalter.
Eine etwas mürrisch wirkende ältere Dame mit grauem, zurückgekämmtem Haar saß hinter dem Schalter und blickte hinter ihrer Brille zu ihm auf. „Sie wünschen?“, fragte sie und versuchte sich ein Lächeln abzugewinnen.
„Ich möchte zur Anmeldung.“
„Sehen Sie dort drüben die Sitzreihe? Da müssen Sie hin.“ Die Dame zeigte in die entsprechende Richtung, und Frank entdeckte die Stuhlreihe am Ende der Halle.
Er bedankte sich freundlich und nahm kurz darauf auf einem der Stühle Platz. Er musste noch etwas warten, denn es waren noch vier Leute vor ihm an der Reihe.
Nach zwanzig Minuten betrat er die Anmeldung. Dann ging alles ganz schnell. Der hagere junge Mann am Schreibtisch griff zum Telefon: „Ein Patient für den Chefarzt, Herr Frank Miller … Doktor Hetkins weiß Bescheid? … Ja, ich schicke ihn gleich hoch.“ Er sah zu Frank auf. „Dritter Stock, Station 3A, Zimmer 302.“
Dieser bedankte sich und verließ die Anmeldung. Vor dem Fahrstuhl warteten bereits etliche Personen. Ich nehme lieber die Treppe, geht schneller, dachte er, bog einmal um die Ecke und war schon im Treppenhaus.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, lief Frank zügig die Treppen hinauf, bis er in der dritten Etage angekommen war.
Völlig außer Atem befand er sich nun in der kleinen Vorhalle zu den Stationen.
Links Station 3A, rechts Station 3B.
Ziel erreicht, bringen wir es hinter uns. Sein Herz pochte bis zum Hals. Frank blieb einige Minuten stehen, um den Puls runterzufahren, bevor er die Station betrat.
302 Anmeldung Neurologie. Er klopfte an und trat ein.
„Guten Morgen, Miller mein Name ich …“
„Guten Morgen, Herr Miller“, unterbrach ihn eine ältere, weiß gekleidete freundliche Nonne. „Setzen Sie sich.“
Sie bot ihm an, auf einem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. „Sie werden sofort zur Untersuchung abgeholt.“
„Danke.“ Er setzte sich, immer noch ein wenig außer Atem. „Ich bin die Treppe hochgelaufen und deshalb etwas außer Puste.“
Die freundliche Ordensfrau sah ihn über den Brillenrand an. „Das ist gesund, man sollte öfter Treppen steigen. Möchten Sie ein Glas Wasser?“
„Gerne.“
Kurz darauf bekam er ein Glas mit kühlem Mineralwasser überreicht und leerte es in einem Zuge.
Es klopfte an der Tür. Eine kleine rothaarige Frau im weißen Kittel trat ein und forderte ihn auf, ihr zu folgen.
„Herr Miller, kommen Sie bitte.“
In seinem Magen rumorte es.
Sie begleitete Frank zur MRT-Untersuchung in einen fensterlosen Raum am Ende des Ganges. Dort musste er seine Armbanduhr und alle metallischen Gegenstände, die er bei sich trug, ablegen, die Schuhe ausziehen und sich nach Bitten der Dame auf die Liege vor dem großen, bedrohlich wirkenden Gerät hinlegen.
Die Dame drückte ihm einen kleinen Schalter in die Hand.
„Wenn Sie es nicht mehr aushalten können, sollte es Ihnen zu eng werden, dann drücken Sie einfach hier den Knopf.“
Sodann übergab sie ihm einen Kopfhörer.
„Es wird laut in der Röhre, damit können Sie ein wenig Musik hören, dann nervt es nicht so. Wie bereits gesagt, wird es ein wenig eng in der Röhre, aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin sofort bei Ihnen, sollten Sie Platzangst bekommen und daraufhin den Knopf betätigen. Ansonsten dauert es etwa zwanzig Minuten, dann werden Sie erlöst.“
„Alles klar.“ Frank atmete tief durch.
Jetzt bewegte sich die Liege mit seinem Kopf voran in die Öffnung des MRT-Gerätes.
So muss es im Sarg sein, dachte er, als die Liege ihre Endposition erreichte. Er schloss seine Augen und war in Gedanken trotz Unbehagens bei Dana. Warum eigentlich?
Es schepperte, es rappelte und klopfte. Das bekam er trotz geschlossener Augen und Kopfhörermusik mit.
Irgendwann hörte es auf, und die Liege bewegte sich wieder aus dem Gerät. Dort nahm ihn die rothaarige Assistentin in Empfang.
„Nehmen Sie nun Ihre Sachen und gehen bitte in den Nebenraum.“ Sie zeigte auf eine Verbindungstür links von ihm. „Da wird dann eine Kollegin die EEG-Untersuchung machen.“
Frank zog seine Schuhe an, zupfte das weiße T-Shirt zurecht und nahm Armbanduhr, Schlüssel und Geldbörse wieder an sich und ging in den Nebenraum.
Eine schwarzhaarige Frau mit Stachelfrisur begrüßte ihn. „Guten Tag, Herr Miller, Schneider, mein Name.“ Sie reichte ihm die Hand. „Setzen Sie sich bitte, Sie werden jetzt verkabelt.“
Er sah auf das Schild an ihrem Kittel – Dr. Schneider – konnte er im Vorbeigehen erkennen.
Frank nahm in dem Sessel Platz und bekam von der Ärztin eine mit etlichen Kabeln versehene Haube auf den Kopf gestülpt.
„Ich mache es Ihnen jetzt ein wenig bequemer“, sagte sie und betätigte einen Knopf an ihrem Pult, auf dem ein Monitor stand.
Er lag nun bequem wie in einem Fernsehsessel.
Die Ärztin setzte sich neben ihn und schaltete den Monitor ein.
„Es dauert nun eine halbe Stunde, schließen Sie jetzt bitte Ihre Augen. Ich sage Ihnen dann, wenn es vorbei ist.“
„Ein bisschen Ruhe kann ich schon gebrauchen“, meinte er lächelnd zu der Ärztin.
Sie lachte kurz auf. „Ja, so kann man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Jetzt fangen wir an. Bitte die Augen geschlossen halten!“
Seine Gedanken waren wieder bei Dana. Warum muss ich ausgerechnet jetzt wieder an sie denken? Ich war einfach überrascht, vielleicht deshalb?
„So, fertig, Sie können Ihre Augen jetzt wieder öffnen“, kam das Kommando von der Ärztin. Frank war kurz eingenickt.
Sie befreite ihn von der Haube und schaute anschließend ungläubig auf den Monitor. „Warten Sie einen Moment.“
„Ist was“, fragte er ängstlich aber auch ein wenig neugierig.
„Nein, nein, nichts Besonderes, ist aber ungewöhnlich.“
Sie erhob sich aus ihrem Stuhl. „Setzen Sie sich bitte vor das gegenüberliegende Zimmer. Doktor Hetkins wird Sie dann aufrufen.“
Frank verabschiedete sich, verließ das Zimmer und wartete stehend vor der Tür des Chefarztes.
Es ging überraschend schnell.
Nach wenigen Minuten öffnete sich die Tür und ein mittelgroßer, etwa fünfzigjähriger Mann mit Brille und Glatze trat vor und streckte ihm die Hand entgegen. „Treten Sie ein, Herr Miller. Machen Sie es sich bequem. Sie kommen also von Jack, unserem gemeinsamen Freund.“
„Guten Tag, Herr Doktor.“ Frank war nervös geworden, denn irgendwas schien mit ihm nicht zu stimmen.
„Setzen Sie sich doch.“ Der Arzt setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Frank nahm davor seinen Platz ein.
„Jetzt sehen wir uns erst einmal Ihre Untersuchungsergebnisse an“, eröffnete Doktor Hetkins das Gespräch. „Ich kann Sie beruhigen, die Aufnahmen vom MRT sind alle ohne Befund.“ Er drehte den Monitor in Franks Richtung. „Sehen Sie, Herr Miller, das ist Ihr Kopf von innen; so sieht ein normales gesundes Gehirn aus. Nicht die geringste Auffälligkeit.“
Frank atmete auf, blieb aber wegen der unnatürlichen Erlebnisse dennoch beunruhigt.