Die Arne-Eriksen-Trilogie: Vaters unbekanntes Land - Kalt wie Nordlicht - Kein guter Ort - Bernhard Stäber - E-Book
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Die Arne-Eriksen-Trilogie: Vaters unbekanntes Land - Kalt wie Nordlicht - Kein guter Ort E-Book

Bernhard Stäber

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Beschreibung

Skandinavische Krimis hoch drei: Die komplette Arne-Eriksen-Trilogie in einem eBook!

Warum töten Menschen? Wie kommt man einem Mörder auf die Spur? Der Psychologe Arne Eriksen erstellt für die norwegische Polizei Täterprofile - und gerät dabei selbst immer wieder in tödliche Gefahr. Atemberaubende Spannung aus dem hohen Norden!

Vaters unbekanntes Land: Arne Eriksen ist nur knapp einem Mordanschlag entgangen und sucht nun die Abgeschiedenheit Norwegens. Doch schon bald fordert die Polizei seine Hilfe an. Der Sohn eines bekannten Verlegers wurde ermordet und verstümmelt. Um den Mörder aufzuhalten, muss sich Arne seinen Ängsten stellen und tief in die Psyche des Mörders eintauchen ...

Kalt wie Nordlicht: Arne Eriksen reist an den Polarkreis, um an einer Trauerfeier teilzunehmen. Es ist kurz vor Weihnachten, die Zeit der längsten Dunkelheit. Ein massiver Schneesturm schneidet die Trauergemeinschaft von der Außenwelt ab - und ein Mörder ist mitten unter ihnen ...

Kein guter Ort: Arne Eriksen ist nach Süd-Norwegen gezogen und arbeitet als Psychiater an einer Klinik. Als er von den mysteriösen Morden im Hotel Rabenschlucht hört, beginnt er auf eigene Faust, Nachforschungen anzustellen. Schon bald kommt er dem Täter tödlich nah ...


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Seitenzahl: 1533

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Inhalt

Über dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumVaters unbekanntes LandWidmung12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334Hinter dem VorhangKalt wie NordlichtWidmungZitat12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243Hinter dem VorhangKein guter OrtFreitag, 03. Juni 20161234567Freitag, 17. Juni 201689101112Samstag, 18. Juni 2016131415161718Sonntag, 19. Juni 2016192021222324Montag, 20. Juni 20162526272829Dienstag, 21. Juni 20163031323334353637383940414243Freitag, 29. Juli 201644Hinter dem Vorhang

Über dieses Buch

Die komplette Arne-Eriksen-Trilogie in einem eBook!

Warum töten Menschen? Wie kommt man einem Mörder auf die Spur? Der Psychologe Arne Eriksen erstellt für die norwegische Polizei Täterprofile – und gerät dabei selbst immer wieder in tödliche Gefahr. Atemberaubende Spannung aus dem hohen Norden!

Vaters unbekanntes Land: Arne Eriksen ist nur knapp einem Mordanschlag entgangen und sucht nun die Abgeschiedenheit Norwegens. Doch schon bald fordert die Polizei seine Hilfe an. Der Sohn eines bekannten Verlegers wurde ermordet und verstümmelt. Um den Mörder aufzuhalten, muss sich Arne seinen Ängsten stellen und tief in die Psyche des Mörders eintauchen …

Kalt wie Nordlicht: Arne Eriksen reist an den Polarkreis, um an einer Trauerfeier teilzunehmen. Es ist kurz vor Weihnachten, die Zeit der längsten Dunkelheit. Ein massiver Schneesturm schneidet die Trauergemeinschaft von der Außenwelt ab – und ein Mörder ist mitten unter ihnen …

Kein guter Ort: Arne Eriksen ist nach Süd-Norwegen gezogen und arbeitet als Psychiater an einer Klinik. Als er von den mysteriösen Morden im Hotel Rabenschlucht hört, beginnt er auf eigene Faust, Nachforschungen anzustellen. Schon bald kommt er dem Täter tödlich nah …

Über den Autor

© Arild Richard Janzon-Eikrem

Bernhard Stäber, geboren 1967 in München, hat unter dem Pseudonym »Robin Gates« bereits mehrere Fantasyromane veröffentlicht. »Kein guter Ort« ist sein dritter Thriller mit dem Psychologen Arne Eriksen. Bernhard Stäber lebt und arbeitet in der Provinz Telemark in Südnorwegen.

BERNHARD STÄBER

Die Arne-Eriksen-Trilogie

Vaters unbekanntes Land | Kalt wie Nordlicht | Kein guter Ort

Drei Thriller in einer eBox

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2014–2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Stefanie Zeller

Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille nach einem Entwurf von www.buerosued.de

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-6346-3

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Vaters unbekanntes Land

Thriller

Für meine Familie in Deutschland, besonders Hans, Gitta und Sylvia

1

Feuerwerkskörper schwirrten zischend in die Nacht empor, stiegen höher und höher, explodierten in einer Funkenkaskade und verglommen, um nichts als Dunkelheit zurückzulassen.

Der kalte, feuchte Betonboden drückte gegen Eivind Tverdals Wangenknochen. Es war das Erste, was seine Sinne registrierten, als er zu Bewusstsein kam. Die Finsternis um ihn herum besaß eine regelrecht physische Qualität. Sie war so umfassend, dass er sich für einen quälend langen Moment fragte, ob er womöglich seine Fähigkeit zu sehen eingebüßt hatte.

Mühsam wälzte er sich auf den Rücken, um den Druck auf sein Gesicht loszuwerden. Er blinzelte, doch seine Augen nahmen nichts anderes als tiefe Schwärze wahr.

Wo zur Hölle war er? Und wie war er hierhergekommen?

Gänsehaut überzog seine Arme und Beine. Erst jetzt bemerkte er, dass er völlig nackt war. Ruckartig setzte er sich auf. Sofort schien der Boden unter ihm zu schwanken, und er kippte zur Seite weg. Er klatschte hart auf dem unsichtbaren Boden auf. Schmerz fuhr so heiß durch seinen Kiefer, dass ihm ein Stöhnen entfuhr. Der Laut hallte dumpf in seinen Ohren wider. Wo auch immer er sich gerade befand, es war nicht im Freien. Der Raum musste groß sein. Eine Halle?

Eivind Tverdal lag auf der Seite. Ihm war zu schwindlig, um gleich noch einmal das Aufstehen zu versuchen. Sein Kopf war wie mit feuchten Wattebäuschen angefüllt. So tief er auch mit seinen verwirrten Fragen bohrte, er traf auf nichts Solides.

Er war doch … er war doch auf Lars’ Party gewesen. Er hatte mit ihm vor seinem Haus gestanden, damit sie das Feuerwerk besser sehen konnten. Babette war mit einem Tablett voller Sektgläser herumgelaufen. Er hatte zwei davon genommen, als sie an ihm vorbeigekommen war.

Ein weiteres Mal versuchte er sich aufzusetzen. Diesmal schaffte er es, trotz des Schwindelgefühls und der dumpfen Kopfschmerzen, die ihm das Denken schwer machten. In der Finsternis vor seinen Augen blühten die leuchtend gelben und roten Sterne der Raketen auf, die über der Stadtsilhouette in den spätsommerlichen Nachthimmel gestiegen waren. Zum Glück war es nicht regnerisch gewesen, etwas, das an Norwegens Westküste mehr Ausnahme als Normalität darstellte. Das Licht des Feuerwerks über Bergen hatte sich in den hoch erhobenen Gläsern gespiegelt, als sie gegeneinanderstießen. Zusammen mit diesem Bild kehrte die Erinnerung an Lars’ Lippen auf den seinen zurück, ihr fester Druck, als sie sich küssten, der leicht säuerliche Geschmack von Sekt auf seiner Zunge.

Wie lange war das her? Eivinds innerer Uhr nach nur wenige Stunden. Was war inzwischen bloß passiert?

»Hallo?«, rief er.

Hallo?, schallte es hohl zurück.

Okay, nachdenken. Er musste nachdenken, verdammt! Er war nicht so voll gewesen, dass er einen Filmriss gehabt hätte. Wieso konnte er sich dann nicht erinnern?

Das war ein ganz mieser Scherz. Jemand hatte ihm Knock-Out-Tropfen in einen seiner Drinks gekippt und ihn dann hier abgelegt, um ihm einen Schreck einzujagen. Wie hieß das Zeug noch mal? Rohypnol, Roofies?

Nur dass Eivind sich im Traum nicht vorstellen konnte, wer von seinen Freunden zu so einem geschmacklosen und gefährlichen Streich in der Lage wäre. Weder Lars noch Babette oder einem der anderen traute er so etwas zu. Wer ihn hierher verfrachtet hatte – wo auch immer dieses hierher sich befinden mochte –, musste sich große Mühe damit gegeben haben. Vielleicht war er in diesem Moment in der Nähe und beobachtete ihn.

Eivind fröstelte, und das nicht nur vor Verwirrung und Angst. Seitdem er bemerkt hatte, dass er keine Kleidung mehr trug, spürte er die kalte Luft, die ihn umgab. Sie roch abgestanden und schwach nach eingefettetem Metall, wie in einer Autowerkstatt. Vorsichtig stand Eivind auf. Sofort nahmen seine Kopfschmerzen zu. Er schwankte leicht, ging aber nicht in die Knie. Als er die Arme ausstreckte, um mit den Fingerspitzen in alle Richtungen zu tasten, griff er nur ins Leere.

»Ist da jemand?«, rief er.

Jemand, erklang das Echo seiner Stimme. Es hörte sich jämmerlich in seinen Ohren an. Im Geiste vernahm er, wie sein Vater ihn mit schneidender Stimme anherrschte: Mach schon, kneif endlich die schlaffen Arschbacken zusammen und finde raus, was hier los ist!

Er warf ihm immer vor, verweichlicht zu sein. Als Kind hatte Eivind wieder und wieder gegen ihn rebelliert. Inzwischen war er dreiundzwanzig, und er ertappte sich regelmäßig dabei, wie er sich selbst dafür verachtete, wenn er Schwäche zeigte. Irgendwann musste sein Vater sich in seinem Gehirn eingenistet haben und kritisierte nun jeden seiner Schritte.

Eivind straffte sich. Im Dunkeln ging er ein, zwei wacklige Schritte vorwärts, die Arme weiterhin nach vorne ausgestreckt, um mögliche Hindernisse zu ertasten. Früher oder später musste er doch eine Wand erreichen, und wo Wände waren, da befanden sich auch Türen.

Mit dem nächsten Schritt schoss ihm ein Stechen so unvermittelt durch die rechte Fußsohle, dass er gellend aufschrie. Instinktiv riss er das Bein hoch, schwankte und setzte es wieder ab. Sofort jagte ein neuer scharfer Schmerz durch seinen Fuß. Stöhnend humpelte er rückwärts und ließ sich auf die Knie fallen. Mit einer Hand stützte er sich auf den Boden und spürte etwas Scharfes, bevor seine Handfläche brannte. Er zuckte zurück und biss die Zähne aufeinander. Mit der unverletzten Hand befühlte er seine rechte und fühlte warme, klebrige Nässe. Auch sein Fuß blutete. Er war in etwas Scharfes getreten, das ihm noch immer im Fleisch steckte. Unbeholfen tastete er mit den Fingern der linken Hand über die Sohle seines verletzten Fußes und versuchte im Sitzen, den Fremdkörper zu finden. Da er Rechtshänder war, fiel es ihm nicht leicht, ihn herauszuziehen, doch schließlich gelang es ihm. Frischer Schmerz fuhr durch die weiche Stelle zwischen Zehen und Ballen, und die Wunde blutete stärker.

Eivind betastete den scharfkantigen Gegenstand, der fast so groß wie ein Kronkorken war.

Glas. Scheiße, was ging hier nur vor? Ob noch mehr Scherben auf dem Boden lagen? Auf allen vieren kroch er vorwärts, bis er glaubte, die Stelle erreicht zu haben, an der er in den Splitter getreten war. Als er vorsichtig über den Beton strich, fühlte er weitere Scherben, die klirrend gegeneinanderschlugen, als er mit den Fingerspitzen über sie fuhr. Er versuchte, über sie hinüberzugreifen, um festzustellen, wie weit sich die vor ihm im Dunkeln verteilten Scherben erstreckten, aber so weit er auch tastete, überall lagen Splitter. Frustriert stöhnte Eivind auf. Auf Knien robbte er Stück für Stück zur Seite, bis er das Gefühl hatte, einen Kreis um sich herum zurückgelegt zu haben.

Die Erkenntnis, dass er komplett von Glassplittern umgeben war, traf ihn wie ein Faustschlag und zerstreute seine Benommenheit. Adrenalin schoss durch seinen Körper, seine Sinne schärften sich. Da war es. Ein leises Atemgeräusch! Er war nicht allein im Raum. Stand die unbekannte Person vor ihm, vielleicht nur einen Meter von ihm entfernt im Dunkeln? Oder war sie genau hinter ihm?

Eivind fuhr herum. Die Schnittwunde in der Fußsohle pochte. Erst waren nur seine flachen, schnellen Atemzüge zu hören, doch als er angestrengt lauschte, vernahm er das leise Knirschen und Klirren von Glasscherben, verursacht von unsichtbaren Füßen, die auf sie traten und sie beiseiteschoben. Kam es von vorn oder von hinten? Eivind war sich nicht sicher. Die Geräusche schienen von überallher zu kommen. Er holte Luft, wollte denjenigen, der sich ihm näherte, anschreien, doch kein Ton entkam seiner Kehle. Was auch immer sich aus der Finsternis auf ihn zubewegte, pirschte sich so vorsichtig an wie ein Raubtier.

Zitternd hielt er den Atem an, erstickte jedes verräterische Geräusch, das von ihm ausgehen konnte. Das leise Klirren der Glasscherben auf dem Boden hatte aufgehört.

Wo war das Wesen, das sich ihm näherte, jetzt?

Ein tiefes, bedrohliches Grollen, direkt hinter ihm. Die zum Greifen dichte Dunkelheit hatte eine Stimme bekommen. Von kalter Panik gepackt kam Eivind auf die Beine. Ohne jeden weiteren Gedanken setzte er in wilden Sprüngen vorwärts in die Dunkelheit. Heiße Stiche bohrten sich in seine Fußsohlen, als er mit nach vorne ausgestreckten Armen und barfuß über die Glasscherben rannte, aber die Angst dämpfte den Schmerz. In seinem Rücken gab das Wesen, das sich mit ihm im Raum befand, ein tiefes kehliges Schnauben von sich. Es klang wie ein riesiger Keiler oder ein Stier, dem Speichel aus dem weit geöffneten Maul flog. Laut aufbrüllend stampfte es ihm hinterher.

Eivinds Hände prallten hart gegen etwas Festes. Er unterdrückte ein Keuchen und hielt abrupt an. Hektisch fuhr er mit schmerzenden Handflächen an dem Hindernis entlang. Eine Wand! Hinter ihm donnerte das monströse Etwas heran, die polternden Schritte und das wütende Schnaufen nahmen mit jeder Sekunde zu.

Ohne weiter nachzudenken hastete Eivind an der Wand nach links. Bei jedem Schritt krümmte er sich vor Schmerz und fühlte, wie ihm das Blut aus den zerschnittenen Fußsohlen strömte. Seine Handflächen streiften an der unsichtbaren Wand entlang und fanden nach wenigen Metern etwas, das sich wie ein Türrahmen anfühlte. Er umschloss mit den Fingern einen Griff, drückte ihn hinunter und zog wild daran.

Nichts. Verzweifelt stemmte er sich gegen die Tür, statt weiter an ihr zu reißen. Ein tiefes Brüllen von rechts verriet ihm, dass sein Verfolger ebenfalls die Wand erreicht hatte. Vor Eivind öffnete sich ein Spalt aus trübem gelblichem Licht. Es war kaum genug, um etwas erkennen zu können, aber nach seinem Aufenthalt in tiefster Finsternis musste er trotzdem für eine Sekunde geblendet die Augen schließen. Er taumelte durch die Öffnung, hörte, wie die Tür hinter ihm zuschlug, und sprang mit einem Riesensatz vorwärts. Als er sich blinzelnd umblickte, erkannte er, dass er sich in einem langen, schmalen Korridor befand, der so schlecht beleuchtet war, dass er kaum sein Ende sehen konnte. Von irgendwoher erklang ein dumpfes, monotones Brummen. Ein Generator?

Hinter ihm wurde die Tür aufgestoßen. Den harten Schlag, mit dem sie gegen den rohen Verputz der Wand knallte, begleitete das triumphierende Aufbrüllen seines Verfolgers.

Eivind wusste, dass er sich nicht umdrehen durfte, wenn er nicht stolpern und stürzen wollte. Doch er konnte nicht anders. Er musste einfach sehen, was hinter ihm her war.

Ohne anzuhalten blickte er ruckartig über die Schulter zurück in das trübe Dämmerlicht des Flurs. Seine Augen hatten sich noch immer nicht an das Licht gewöhnt, sodass er alles nur verschwommen sah.

Der Atem stockte ihm.

Der riesige Schatten hinter ihm lief auf zwei Beinen. Es war kein Raubtier, das ihn verfolgte, sondern ein Mensch! Und doch, dieser monströse, gehörnte Kopf wie der eines Bullen …

Mein Gott … was ist das, was ist das, was …

Um ein Haar wäre er gestrauchelt, doch er rannte wie besessen weiter den langen Korridor entlang. Er musste diesem … diesem Ding entkommen!

Scheinbar aus dem Nichts tauchte vor seinen Augen das Ende des Gangs auf. Eine schmutziggraue Metalltür stand einen Spalt offen. Eivind packte die Klinke, um die Tür weiter aufzureißen, doch die Scharniere klemmten. Knirschend bewegte sie sich nur wenige Zentimeter vor oder zurück. Eivind stieß ein verzweifeltes Wimmern aus. Im nächsten Moment sprang sein Verfolger ihn an und riss ihn von den Beinen. Eivind wurde hart gegen die Metalltür geschleudert. Der Knall, mit dem sie ins Schloss fiel, klang wie die endgültige Bekräftigung, dass seine Flucht misslungen war.

Der strenge Tiergeruch von struppigem Haar und Pisse, der von seinem Angreifer ausging, war schier überwältigend. Eivind wollte in Panik aufschreien, doch die Wucht der Attacke hatte alle Luft aus seinen Lungen herausgepresst, und nichts entkam seiner Kehle als ein heiseres Keuchen, das in dem tiefen Grollen dicht an seinem Ohr unterging. Er fühlte kein Fell, sondern glatte Haut, den Druck von Händen, die ihn fest am Boden hielten. Ein Körper, der ebenso nackt war wie er selbst, lag schwer auf ihm und verhinderte mit seinem Gewicht jede Gegenwehr.

Ein Paar Hände griffen in seine kurzgeschnittenen Haare, rissen ihm den Kopf hoch und schmetterten ihn so hart zu Boden, dass er sich tief in die Zunge biss. Ein grell leuchtender Stern flammte im Dämmerlicht auf. Sein Mund füllte sich mit Blut, das ihm warm in die Kehle rann. Er würgte und hustete, während sein Kopf erneut hochgezogen und auf den Boden geschlagen wurde.

Das Letzte, was Eivind Tverdal spürte, war der scharfe Schmerz von Zähnen, die sich um seine Halsmuskeln schlossen und hart zubissen. Sein Kopf wurde wie eine Ratte im Maul eines Terriers hin und her geschüttelt. Ein weiterer gleißender Stern entzündete sich vor seinen Augen. Er glich dem aus Fraktalen zusammengesetzten Bild im Inneren eines Kaleidoskops. Der Stern erblühte größer und immer größer, bis nichts anderes mehr vorhanden war als sein grelles Licht.

Er explodierte gelb und rot, wie das nächtliche Sommerfeuerwerk am Himmel über Bergen.

2

Ruhig. Ganz ruhig. Zähl von zehn bis eins runter.

Einatmen.

Ausatmen.

Arne Eriksen sog tief kühle Seeluft durch die Nase und wusste sofort, dass es die falsche Entscheidung gewesen war. Die Auspuffgase der auf das Autodeck fahrenden Wagen um ihn herum waren genau das, was ihn im Augenblick nicht beruhigen würde. So schwach der Geruch auch war, Arnes tiefe Atemzüge reichten aus, seine Erinnerung zu befeuern. Von einem Moment zum nächsten begann sein Herz wild zu hämmern. Die unberechenbare Springflut in seinen Eingeweiden war bereits am Horizont zu erkennen. Unaufhaltsam und dunkel rollte sie auf ihn zu.

Arne fokussierte seinen Blick und richtete ihn auf das Armaturenbrett seines VWPolos, den er eben in den Bauch der Fähre gesteuert hatte.

Die schwarzen Nummern auf der Digitalanzeige des Tachometers: 54 345.

Darunter 784, die Zahl der Kilometer, die er seit seinem Aufbruch von Berlin bereits hinter sich gebracht hatte, als er auf den Knopf daneben gedrückt und damit die Anzeige auf Null gestellt hatte.

Das schneeweiße Papier des Tickets für die Fahrt am Samstag, den dreißigsten August, um halb eins von Hirtshals nach Larvik, das aus dem Fach unter dem ausgestellten Radio herauslugte.

Die aufgerissene Tüte Fisherman’s Friend daneben. Der frische, kühle Minzgeschmack. Kühl. Ein gutes Wort, und ein gutes Gefühl. Ein besseres Wort und ein besseres Gefühl als Panik. Panik war ein Wort, das Adrenalin durch die Adern pumpte. Es hörte sich heiß und erregt an, es stank regelrecht nach bitterem Schweiß unter den Achseln. Noch vor ein paar Monaten hatte Arne gedacht, er wüsste so ziemlich alles, was es über dieses Wort zu wissen gab. Schließlich hatte er Psychologie studiert. Das schien inzwischen tausend Jahre her.

Er versuchte, mit weit geöffnetem Mund so tief wie möglich ein- und auszuatmen, während er weiter auf Tachometer und Ticket starrte. Versuchte, den Abgasgeruch, der ihn fatal an den von Benzin erinnerte, in den hintersten Bereich seines Verstandes zurückzudrängen und sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag: die Überfahrt von Dänemark nach Norwegen.

Aus den Augenwinkeln nahm er Bewegungen wahr. Andere Passagiere, die hinter ihm geparkt hatten, hasteten so eilig zu den Seitenausgängen, die zu den Decks, den Läden und dem Bordrestaurant führten, als bekämen die ersten zwanzig Besucher Rabatt. Ein älterer Mann mit einem beeindruckenden Bierbauch schob sich keuchend am linken Seitenspiegel des Polos vorbei, während er jemandem hinter sich auf Deutsch zurief, die Kamera nicht zu vergessen. Arne hörte ihn ebenso deutlich wie die Unterhaltungen, Rufe, zuschlagenden Autotüren und Schritte um sich herum. Über all diesen Geräuschen hämmerte sein Herzschlag einen dumpfen Trommelwirbel gegen seinen Brustkorb.

Fahr das Fenster hoch und beruhig dich wieder. Lass die anderen erst mal vorgehen und steig aus, wenn sie weg sind.

Die leise, kaum zu vernehmende Stimme seiner Vernunft, die beruhigende Stimme des Therapeuten, ein wenig tiefer als gewöhnlich, die er im Gespräch mit seinen Patienten so oft eingesetzt hatte. Jetzt erklang sie in seinem Verstand, sprach gegen den Lärm und die Unruhe an, die wie aufkommende Windböen die nahende Flutwelle aus Panik noch höher anwachsen ließen.

Fahr das Fenster hoch. Komm schon, sperr den Lärm und den Gestank aus, dann geht’s dir gleich besser!

Wie einfühlend sich das anhörte. Wie überlegt. Nur, dass er es einfach nicht konnte. Seine Hände hatten sich um das Lenkrad gekrampft, als wären sie mit ihm verwachsen und als wäre der Schmerz in den angespannten Fingermuskeln nicht sein eigener.

Und immer noch dieser schwache Geruch von Autoabgasen, der ihn an Benzin erinnerte.

An die kalte Flüssigkeit, die ihm schmierig und so penetrant riechend ins Gesicht klatschte, dass sie ihm schier den Atem raubte.

Die aufflackernde Flamme des Feuerzeugs.

Arnes Herz raste, sein Puls dröhnte ihm in den Ohren. Die Flutwelle schlug über ihm zusammen, wusch ihn mitsamt seinem schwarzen VW Polo, dessen Lenkrad er weiterhin umklammert hielt, als hinge sein Leben davon ab, Wochen und Wochen zurück in die Vergangenheit. Die Panikattacke war seine Zeitkapsel, und wie eine Fliege in Bernstein war er in dem Moment, der alles verändert hatte, gefangen.

In Berlin hat sich in den letzten Julitagen der nach einem verregneten Frühling sehnlichst herbeigewünschte Hochsommer ein wenig abgekühlt. Auf den Straßen sind wieder mehr und mehr Füße zu sehen, die in langen Hosen stecken. Die brütende Hitze, die noch bis weit in die Abende hinein zwischen den Häusern hing, hat abgenommen. Dieselben Leute, die noch vor Kurzem jammerten, wie ungewöhnlich kühl es dieses Jahr doch sei, und die sich zu Beginn der Hitzewelle als Erste darüber beschwerten, dass man bei diesen hohen Temperaturen kaum einen vernünftigen Gedanken zu Ende denken könne, murren bereits wieder, der Sommer sei ja wohl ein wenig kurz zu Gast gewesen.

Arne Eriksen ist es nur recht, dass es nicht mehr so heiß ist. Er ist kein Liebhaber von Hitze. Länder wie Spanien oder Griechenland sucht er allenfalls im Frühling oder im Herbst auf. Vielleicht liegt es daran, dass er die blasse Haut seines norwegischen Vaters geerbt hat. Im Gegensatz zu seiner deutschen Mutter, deren Teint im Sommer beinahe so dunkel wie ihr nussbraunes Haar ist, hat Arne helle Haut, die schnell einen Sonnenbrand bekommt, und sein kurzgeschnittenes Haar die Farbe von sommerlichem Weizen.

Heute, am Freitag, den ersten August, hat er vor, etwas früher als sonst mit der Arbeit Schluss zu machen. Seine beiden Freunde Olli und Matthias haben ihn zu einer Weinprobe in Berlin-Dahlem eingeladen. Arne war noch nie auf einer Weinprobe. Er würde sich auch nicht als Weinkenner bezeichnen. Spanischer Rioja und italienischer Chianti sind ihm am liebsten. Er ist schon damit zufrieden, die Namen dieser Anbaugebiete zu kennen. Dass seine beiden Freunde aus Studienzeiten sich plötzlich für exquisite Weinsorten interessieren, hat ihn eher überrascht. Aber seitdem Ollis neue Freundin Eva die beiden vor ein paar Wochen zu einer Weinprobe mitgenommen hat, liegen sie Arne damit in den Ohren, was für ein Spaß so ein Event sein soll und dass es alles andere als versnobt wäre. Arne ist schon gespannt darauf. Es gibt bestimmt schlechtere Starts ins Wochenende.

Aber zuvor muss er noch am Rechner das Protokoll der letzten Teamsitzung beenden und an seine Kollegen verschicken. Der Text ist fast fertig, er überfliegt ihn kurz noch einmal. Wenn er den Blick über den Flachbildschirm und den Stapel an Ordnern und losen Blättern daneben hebt, sieht er das rauchblau und weiß gefleckte Rechteck des bewölkten Mittagshimmels durch das schmale Fenster des Altbaus, in dessen erstem Stock er sitzt. Der Grüne Laden darunter hat seinen Namen von der tiefgrünen Farbe, in der das Charlottenburger Haus in der Leibnitzstraße zwischen Otto-Suhr-Allee und Bismarckstraße gestrichen ist. Der stuckverzierte Bau aus der Gründerzeit gehört dem Verein »Stufen e. V.«, der sich der Unterstützung von jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen verschrieben hat. Mehrmals in der Woche hat im Erdgeschoss der Grüne Laden mit einem Café und Räumlichkeiten für Freizeitaktivitäten und Gesprächsgruppen geöffnet. In den Stockwerken darüber befinden sich die Büroräume des Vereins und mehrere Wohngruppen.

Arne arbeitet nun schon seit drei Jahren bei »Stufen e. V.«. Der Verein hat ihn für die Einzel- und Gruppengespräche mit den Bewohnern und Besuchern des Grünen Ladens angestellt. Heute steht keine Gesprächsgruppe mehr an, nur noch ein Einzelgespräch mit Melanie Bahr aus Gruppe zwei, die jeden Augenblick an die Tür klopfen müsste. Wenn dieser Termin vorbei ist, kann er ins Wochenende gehen. Das Café unter ihm wird noch bis siebzehn Uhr geöffnet haben. Vielleicht wird er sich noch ein paar Minuten zu Petra Gellert setzen, die heute im Grünen Laden Dienst hat, und einen pechschwarzen Kaffee mit drei Stück Würfelzucker trinken.

Er lehnt sich in seinem Bürosessel zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und denkt nach. Er könnte auch jetzt schnell vor dem Gespräch mit Melanie noch mal nach unten laufen und sich einen von Petras flüssigen Fausthieben genehmigen, bei denen die Herzklappen Beifall klatschen. Starken Kaffee hat er während des Studiums schätzen gelernt, seine morgendliche Infusion, schwarz und extrem zuckerig, um für die ersten Seminare hellwach zu sein. Aber er überlegt es sich anders. Seit heute Morgen hatte er schon ein paar Tassen. So kurz vor einem Gesprächstermin will er nichts mehr trinken, sonst muss er mittendrin auf die Toilette rennen, und das möchte er nicht. Er will sich ganz auf seine Patientin konzentrieren.

Gerade als Arne das Protokoll verschickt hat, klopft es an der Tür. Er blickt auf die Uhr. Fünf Minuten zu früh, schon wieder. Trotzdem ruft er: »Ja, bitte?«

Die Tür öffnet sich, aber es ist nicht die Bewohnerin von Gruppe zwei, sondern Petra Gellert, die ihren Kopf mit dem kurzgeschnittenen leuchtend roten Haar wie eine Handpuppe in einem Kasperletheater in sein Büro steckt. Die Arbeit bei »Stufen e. V.« ist ihr erster Job als Sozialarbeiterin frisch von der Fachhochschule. Nicht jeder aus der fünfköpfigen Runde war dafür, einer Berufsanfängerin von Mitte zwanzig eine Chance zu geben. Die Arbeit in der Sozialpsychiatrie ist herausfordernd und kräftezehrend, weshalb einige seiner Kollegen lieber jemanden mit ein paar Jahren Erfahrung für die freie Stelle in der Begegnungsstätte gesehen hätten. Aber Arne Eriksen und Claudia Brunkeberg, die stellvertretende Leiterin von »Stufen e. V.«, haben sich durchgesetzt. Arne kann sich noch gut daran erinnern, wie schwierig es vor einigen Jahren für ihn selbst als Berufsanfänger war, einen Fuß die Tür zu bekommen. Und so wie es aussieht, haben sie die richtige Wahl getroffen. Petra Gellert hat nach ihrem ersten Sprung ins kalte Wasser sehr schnell ihren Platz im Team gefunden.

»Was gibt’s?«, fragt Arne sie. Ihr Gesichtsausdruck ist angespannt, nichts von ihrem sonst so fröhlichen und entspannten Wesen ist darin zu finden.

»Ich wollte dir Bescheid geben, dass Ralf Harren wieder aufgetaucht ist.«

Sie öffnet die Tür etwas weiter, tritt ins Büro und setzt sich auf einen der freien Korbstühle in der Ecke neben Arnes Schreibtisch.

»Wenn du mich fragst«, sagt sie, »dann gehört er in eine Klinik. Und zwar jetzt. Sofort. Seine Psychose blüht jeden Tag stärker, und er verweigert noch immer die Medikamente.«

Sie beugt sich vor und nimmt ein Toffee aus der braunen Keramikschale in der Mitte des kleinen, runden Tischs vor ihr. Ihre Finger nesteln nervös an dem Einwickelpapier, das sich nur schlecht von dem Karamell lösen will.

Arne pfeift lautlos durch die Lippen. Ralf. Das ewige Sorgenkind des Grünen Ladens.

Ralf Harren ist ein zweiundzwanzig Jahre alter Soziologiestudent. Er hatte eine massive psychotische Episode, während der er glaubte, von Nazis verfolgt zu werden. Auf dem Höhepunkt seiner Wahnvorstellungen war er von dem Balkon seiner damaligen Wohnung drei Stockwerke in die Tiefe gesprungen – um vor vermeintlichen gesichtslosen Gestapomännern zu fliehen, die bereits seine Tür eingetreten hatten und ihn nun in ein Vernichtungslager schleifen wollten. Zum Glück für ihn war er mit zwei hässlichen Beinbrüchen davongekommen. Nach einem längeren Klinikaufenthalt wurde er bei »Stufen e. V.« in der Wohngruppe eins aufgenommen. So hatte Arne ihn kennengelernt. Nach anderthalb Jahren war Ralf wieder ausgezogen, weil er sich in der Lage gefühlt hatte, alleine zu wohnen. Mit der Hilfe seines rechtlichen Betreuers hatte er eine Wohnung im Bezirk Wedding angemietet. Seitdem hält er immer noch Kontakt zu seinen früheren Mitbewohnern und kommt zu gelegentlichen Gesprächen mit ihnen und mit Arne ins Tagescafé. So weit, so gut. Wenn er sich nur nicht hoffnungslos in Melanie Bahr verliebt hätte.

»Ist er jetzt unten im Grünen Laden?«, fragt Arne.

Petra schüttelt den Kopf. »Nein, er ist wieder gegangen. Ich …« Sie holt tief Luft. »Ich habe ihm gegenüber ein Hausverbot ausgesprochen.«

Überrascht zieht Arne die Augenbrauen hoch. Ein Hausverbot ist zwar theoretisch laut der Regeln beider Hausgruppen möglich, aber in den drei Jahren, seitdem er bei »Stufen e. V.« arbeitet, ist das noch nicht vorgekommen. Wenn jemand wie Petra, die so ziemlich jedem Konflikt die Spitze nehmen kann, zu einer derart drastischen Maßnahme gegriffen hat, muss etwas wirklich Heftiges vorgefallen sein.

»Was ist passiert?«

Petra hat es endlich geschafft, mit nervösen Fingern das Toffee aus seiner Verpackung herauszupulen. Sie schiebt es sich in den Mund. Ihre rechte Backe beult sich aus wie die eines Hamsters, während sie auf den Tisch vor sich starrt, als würde sie das, was sie nun berichtet, von einem nur für sie sichtbaren Blatt Papier ablesen.

»Er wollte zu Melanie hoch in die Wohngruppe. Ich hab ihm gesagt, dass ich das für keine gute Idee halte. So wie er sie das letzte Mal bedrängt hat, hatten wir alle Mühe, sie wieder zu beruhigen. Ich habe versucht, das Thema darauf zu lenken, wie schlecht es ihm gerade geht, und ob es nicht besser wäre, wenn er sich für ein paar Tage eine Auszeit nehmen würde.«

Arne lacht freudlos auf. »Den Braten hat er natürlich sofort gerochen.«

Sie nickt. »Er hat gleich gesagt, dass er auf keinen Fall wieder ins Krankenhaus geht. Er ist nicht laut oder aggressiv geworden. Aber wie er mich angesehen hat …«

Sie hält inne und kaut gedankenverloren auf ihrem Toffee herum. »Er hat immer wieder darauf bestanden, Melanie zu sehen. Ich hatte das Gefühl, dass es in ihm bis zum Überlaufen kocht. Er ist wie eine geladene Waffe.«

»Wie hat er auf das Hausverbot reagiert?«

»Er hat nichts mehr weiter gesagt. Hat sich umgedreht und ist rausmarschiert. Aber irgendwie war das unheimlicher, als wenn er angefangen hätte, rumzuschreien.«

Arne ist aufgestanden und zum Schrank mit den Akten ehemaliger Bewohner der Wohngruppen gegangen, die noch bis zu zehn Jahre nach ihrem Auszug aufbewahrt werden.

Er zieht Ralf Harrens Akte heraus, einen dicken, schwarzen Leitz-Ordner, der so prall gefüllt ist, dass das Umblättern schwerfällt. Gleich auf der ersten Seite mit dem Deckblatt stehen die Adresse und Telefonnummer von Ralfs rechtlichem Betreuer. Arne entnimmt dem Ordner die Seite und reicht sie Petra.

»Hier. Ruf Herrn Droste an und erzähl ihm von dem Auftritt, den sein Klient gerade hatte.«

Sie seufzt, als sie die Hand ausstreckt. »Großartig. Natürlich passiert so was Freitagmittag. Wann sonst. Ich kann dir jetzt schon sagen, was ich von ihm zu hören bekomme. Dass er in den letzten Wochen bereits zweimal versucht hat, seinen Klienten mit ärztlichem Beschluss einweisen zu lassen. Zweimal ist ein Arzt vom Sozialpsychiatrischen Dienst bei Ralf in der Wohnung gewesen. Zweimal ist er unverrichteter Dinge wieder gegangen, weil Ralf es geschafft hat, sich ihm gegenüber so zusammenzureißen, dass keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung zu erkennen war. Dem Arzt war völlig klar, dass er jemanden vor sich hatte, dem es schlecht ging – aber eben noch nicht schlecht genug, um so einen massiven Eingriff in die Persönlichkeitsrechte zu verantworten.«

»Woher weißt du das?«, fragt Arne.

Petra lächelt gequält. »Was glaubst du, was du unten im Grünen Laden alles zu hören bekommst. Sobald du nur mal eine Weile ruhig hinter dem Tresen stehst, vergessen die meisten, dass du immer noch im Raum bist. Oder sie wollen sogar, dass du mithörst, was sie sich so erzählen.«

Es klopft. Die beiden sehen sich wortlos an.

»Ja, bitte?«, sagt Arne.

Die Tür öffnet sich. Eine dünne junge Frau mit schulterlangen blonden Haaren steht auf der Schwelle. Ihr blasses Gesicht ist eine Festung.

»Ich bin jetzt da«, murmelt sie und spricht damit das Offensichtliche aus, den Blick auf die Pinnwand hinter Arne gerichtet. Melanie Bahr fällt es schwer, anderen direkt in die Augen zu sehen.

Petra ist aufgestanden. »Ich sag dir Bescheid, wenn das Telefonat irgendwas Neues ergibt«, sagt sie mit unverbindlicher Stimme, aus der ihr besorgter Tonfall verschwunden ist. Sie geht an Melanie vorbei aus dem Zimmer, wobei sie ihr freundlich zunickt. Der Blick der Bewohnerin von Gruppe zwei flackert kurz zu ihr hinüber, und sie versucht sich an einem dünnen Lächeln.

In diesem Moment, als die Tür noch immer offen steht, fegt ein Windstoß durch den Flur und ins Büro. Wahrscheinlich ist das Fenster am anderen Ende des Gangs offen. Hinter Arnes Rechner schlägt das halb geöffnete Fenster mit einem so lauten Knall zu, dass er unwillkürlich zusammenzuckt. Das in Glas gerahmte kleine Foto von Arne und seinen Kollegen kippt von der Fensterbank und fällt scheppernd zu Boden.

»Oh, das tut mir leid«, sagt Melanie, wobei sie Arne nun direkt ansieht. Sie schließt die Tür und bückt sich, um das Bild aufzuheben.

»Schon gut, das ist doch nicht Ihre Schuld«, sagt Arne. Er nimmt das Bild, das sie ihm entgegenhält, um es wieder an seinen alten Platz zurückzustellen. Der Glasrahmen hat einen Sprung abbekommen, der genau über seinem fröhlich in die Kamera lachenden Gesicht verläuft. In diesem Moment denkt er sich nichts weiter dabei, außer, dass er wohl einen neuen Rahmen für das Foto besorgen muss. Aber jenem Arne Eriksen, der Wochen später auf einer Fähre nach Norwegen von Erinnerungen an diesen Freitag überflutet wird, geht der Anblick des Fotos mit dem Sprung, der sein Lachen überzieht, nicht mehr aus dem Kopf. Es ist wie ein böses Omen. Es ist wie ein Versprechen. Jedes Mal, wenn er an diesen Freitag vor einem Monat zurückdenkt, werden die Ereignisse so geschehen, wie sie damals passiert sind, egal, wie sehr er sich auch wünschen mag, dass er sich an einen anderen Ablauf erinnern könnte. Unaufhaltsam steuert alles auf den Moment zu, an den ihn der Benzingeruch wieder erinnert hat.

»Hallo! Ich muss Sie auffordern, auszusteigen.«

Eine heisere männliche Stimme aus der Gegenwart hallte durch die Bilder seiner Vergangenheit. Sie sprach mit Akzent, der typischen rollenden Klangmelodie eines Dänen. Das Foto mit dem Sprung im Glasrahmen verblasste, und Arne fühlte das Lenkrad unter seinen verkrampften Fingern.

»Sie dürfen sich während der Fahrt nicht auf dem Autodeck aufhalten. Hallo! Hören Sie mich?«

Eine Gestalt stand direkt neben der Fahrertür und spähte gebückt durch das Seitenfenster. Arne konnte sie am Rand seines Gesichtsfelds wahrnehmen, aber er blickte weiterhin starr geradeaus. Ihm war, als hätte er seinen Körper verlassen. Er vernahm, was der Mann neben seinem geparkten Wagen sagte, war aber nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu rühren.Die kalte Welle aus Panik war über ihm zusammengeschlagen und gab ihn nicht wieder frei.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«

»Nein!«, hätte Arne am liebsten demjenigen, der da stand, aus vollem Hals ins Gesicht gebrüllt. »Mir geht’s alles andere als gut. Es geht mir beschissen!«

Aber nicht der leiseste Ton entkam seinem Mund. Vielleicht existierte er ja gar nicht mehr, vielleicht war er an einer Herzattacke gestorben, an einem Hirnschlag oder was auch immer, und sein hämmernder Puls und die Stimme des Mannes, der ihn ansprach, waren die letzten Echos seiner sich langsam abschaltenden Sinne.

»Okay, wenn Sie nicht aussteigen und nicht mit mir reden wollen, dann muss ich jetzt eine Meldung an die Brücke machen«, fuhr die Stimme in genervtem Ton fort. »Sie verletzen die Sicherheitsbestimmungen an Bord.«

Verzweifelt versuchte Arne, die Kontrolle über seinen Körper wieder zurückzubekommen. Neue Schnappschüsse hatten die Bilder der Vergangenheit überlagert, aufgenommen in unmittelbarer Zukunft. Fährpersonal, das sich um seinen Wagen drängte, um die Tür aufzubekommen, während er reglos wie ein Crashtest-Dummy am Steuer saß. Der Spießrutenlauf entlang der verärgerten Blicke der anderen Passagiere, die warten mussten, weil die Crew erst das Sicherheitsproblem an Bord lösen musste. Vielleicht würden sie sich sogar weigern, ihn weiter zu befördern.

Das ist inzwischen aus dir geworden. Ein Sicherheitsproblem.

Nein. Die Vergangenheit konnte nicht verändert werden. Aber das hier war nicht die Vergangenheit.

Mühsam, Zentimeter für Zentimeter, als müsse er sich durch zähflüssigen Teer bewegen, wandte Arne den Kopf. Ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit zerzaustem grauen Haar, das sein ebenso aschgraues Gesicht umrahmte, starrte ihn stirnrunzelnd durch das halb offen stehende Seitenfenster an. Über seiner dunkelblauen Arbeitskleidung trug er eine Sicherheitsweste mit leuchtend gelben Reflektorstreifen. In seiner Hand hielt er ein brikettgroßes Walkie-Talkie.

»Alles … alles in Ordnung«, brachte Arne schwerfällig heraus. »Ich steige aus.«

Über das dröhnende Rauschen seines Pulsschlags hinweg hörte er seine eigene Stimme, rau und belegt. Sie hätte irgendjemandem gehören können.

»Nächstes Mal verlassen Sie gleich das Autodeck«, drang die heisere Stimme des Mannes zu ihm durch. »Wir schließen hinter Ihnen ab. Nehmen Sie den Ausgang da.« Er deutete ungehalten auf eine geschlossene Stahltür an der Wand wenige Meter von ihnen entfernt. Neben ihr war in Kopfhöhe ein rotes rechteckiges Schild befestigt, auf dem ein weißes B zu sehen war. Darunter stand, ebenfalls in weißer Farbe »Car Deck 5«.

Arne achtete kaum auf ihn. Er schlug die Tür seines Polos zu und schloss mit zitternden Fingern ab. Dann zwängte er sich an dem grauhaarigen Mann in Richtung Ausgang vorbei. Wie ein Schlafwandler taumelte er die Treppe empor, die zu den restlichen Decks führte, und steuerte Deck 7 an. In dessen Mitte hatten sich bereits die mit dunkelrotem Leder bezogenen Stühle und Bänke der Lounge mit Passagieren gefüllt, die offenbar nur darauf warteten, dass der Tax-Free-Shop und die Boutique öffneten. Arnes Augen suchten eine der Sicherheitstüren, durch die er nach draußen gelangen konnte, und fanden sie in der Nähe der Treppe und des Lifts, die zu weiteren Decks führten. Er drückte den Knopf an der Wand neben der Tür. Mit einem Zischen fuhr sie zur Seite. Arne trat hindurch und öffnete eine zweite Tür mit Klinke, durch die es ins Freie ging. Er passierte mehrere Passagiere, die versuchten, so windgeschützt wie möglich dazustehen, um sich ihre Zigaretten anzuzünden. Er selbst rauchte kaum, meistens dann, wenn er sich in Gesellschaft von Freunden befand. Im Moment wollte er keine Zigarette.

Luft. Ich brauch frische Luft!

Er bremste seinen eiligen Gang erst direkt vor der Reling. Seine Hände umschlossen die weiß gestrichene Metallstange in Brusthöhe. Er legte den Kopf zurück und atmete mit geschlossenen Augen die frische, kalte Seeluft so tief ein wie ein Taucher, der eben mit dem letzten Rest Sauerstoff in der Lunge die Wasseroberfläche durchstoßen hatte. Der Fahrtwind blies ihm ins Gesicht und vertrieb den Benzingeruch in seiner Nase.

Einatmen.

Ausatmen.

Herunterzählen.

Arne bemerkte, wie sich sein Puls langsam zu beruhigen begann. Das Gefühl, von der Panik mitgerissen zu werden, verblasste allmählich. Die Welle war so schnell wieder verschwunden, wie sie herangerollt war, und hatte nichts weiter als einen leergefegten, weiten Sandstrand zurückgelassen. Er wusste, dass sie jederzeit wiederkehren konnte. Manchmal war ihm der Auslöser schwach bewusst, wie eben auf dem Autodeck. Mindestens ebenso oft konnte er nicht sagen, was dafür sorgte, dass ihn eine Attacke heimsuchte. Er wusste, wie es angefangen hatte, aber daran wollte er jetzt nicht zurückdenken.

In seinen Ohren klangen das Dröhnen der Maschinen, von denen die Fähre angetrieben wurde, und das Rauschen der Wellen tief unter ihm. Hoch über ihm hing die Spätsommersonne an einem wolkenlosen Himmel. Seine Augen nahmen ihr Licht vor den geschlossenen Lidern als einen warmen, hell orangefarbenen Schein wahr, der selbst auf der offenen See noch immer wärmte, wenn auch nicht mehr so stark wie noch ein paar Wochen zuvor. Eigentlich hätte er sich keine dümmere Zeit für ein paar Monate Auszeit fern von Deutschland suchen können, als den Herbst und vielleicht sogar den Winter in Norwegen zu verbringen. Ob das wirklich eine so gute Idee gewesen war?

Nun, jetzt war es jedenfalls zu spät, wieder umzukehren. Die Color Line-Fähre mit dem fantasievollen Namen SuperSpeed 2 war unterwegs. In gut vier Stunden würde sie Larvik an Norwegens Südostküste erreicht haben. Dann waren es noch etwa sieben Stunden mit dem Auto bis nach Haugesund an der Westküste. Er hätte auch eine Fähre nach Stavanger nehmen können, um die Fahrt beträchtlich abzukürzen. Letztendlich aber hatte er sich dagegen entschieden. Er konnte selbst nicht einmal genau sagen, warum. Vielleicht wollte er gar nicht so schnell in Haugesund ankommen. Vielleicht gefiel ihm insgeheim der Gedanke, ein paar Stunden über Land zu fahren und sich daran zu gewöhnen, dass er nun tatsächlich in die Heimat seines verstorbenen Vaters gereist war.

Norwegen, so vertraut und so fremd wie Ingvar Eriksen ihm zeit seines Lebens gewesen war.

Jemand rannte so dicht an ihm vorbei, dass er seine Hüfte streifte. Er öffnete blinzelnd die Augen und wandte sich um. Ein etwa sechs oder sieben Jahre alter Junge mit kurzgeschnittenem weißblondem Haar hatte sich ebenfalls zu ihm umgedreht.

»Undskyld!«, nuschelte er und presste sich flink wie ein Wiesel hinter einen schlanken Stahlträger zwischen zwei Fenstern zur Lounge.

Arne verstand kaum ein Wort Dänisch, und mehr als ein paar Brocken Norwegisch hatte er nie gelernt. Zuhause hatten seine Eltern fast nur Deutsch gesprochen. Aber was der Junge ihm zugerufen hatte, war nicht schwer zu erraten, schließlich klang das norwegische Wort für »Tschuldigung« fast genauso. Er nickte ihm zu und bemühte sich sogar, so etwas wie ein Lächeln um seinen Mund spielen zu lassen. Es ging nicht so einfach. Arne kam sich vor wie das Opfer eines Schlaganfalls, das versucht, seine Gesichtsmuskeln zu trainieren. Konnte man Lächeln tatsächlich verlernen?

Offenbar war sein armseliger Versuch gut genug für den Jungen gewesen, denn er grinste zurück und führte einen Zeigefinger an die geschlossenen Lippen.

Arne hatte sofort verstanden. Er sah sich unauffällig um. Die meisten, die sich hier draußen aufhielten, waren Erwachsene oder Teenager, und fast alle von ihnen rauchten. Ein Mann Ende zwanzig stand etwas abseits im Wind, der seine dichten Locken wüst zerzauste, und brüllte etwas auf Russisch in ein ans Ohr gepresstes Mobiltelefon. Warum er nicht einen etwas windgeschützteren Ort aufsuchte, war Arne ein Rätsel. Hinter dem Mann fiel ihm ein Mädchen in Jeans und einem leuchtend roten T-Shirt auf, das etwa im gleichen Alter wie der blonde Junge war. Sie besaß dasselbe weißblonde Haar, nur fiel es ihr in einem langen Zopf über den Rücken. Mit suchendem konzentrierten Blick streifte sie über das Deck.

Arne trat ein, zwei Schritte zur Seite, sodass er nun direkt vor dem Stahlträger stand und den Jungen dahinter verdeckte. Das Mädchen schritt langsam an ihm vorbei. Es erreichte den Ausgang, sah sich dort angekommen mit der Hand auf der Klinke noch einmal kurz um und öffnete dann die Tür, um hindurchzutreten und die Sicherheitstür zur Lounge zu öffnen.

Der Junge lugte um die Ecke des Stahlträgers. Als der rote Fleck im Inneren der Lounge verschwunden war, kam er ganz aus seinem Versteck hervor. »Tak«, strahlte er Arne an. Wieder war es recht einfach, zu erraten, was er meinte.

»Gern geschehen«, erwiderte Arne auf Norwegisch. Es war dem Dänischen so verwandt, dass Norweger wie Dänen einfache Redewendungen der jeweils anderen Sprache leicht verstanden. Er deutete in die Richtung der Tür zur Lounge, durch die das Mädchen verschwunden war. »Deine Schwester? Din søster?«

Jetzt nickte der Junge eifrig. Ein Schwall dänischer Worte entkam ihm.

Arne schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich verstehe dich nicht«, sagte er auf Deutsch zu dem immer noch breit lächelnden Jungen, dem der Fahrtwind hart durch das helle Haar fegte. »Jedenfalls hast du dich gut versteckt. Ich bin gespannt, wie lange sie brauchen wird, um dich zu finden.«

Der Junge sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an, und Arne war klar, dass er kein Wort begriffen hatte. Aber das machte nichts. Sie standen sich auf dem gleißend hellen, sonnenbeschienenen Deck gegenüber, sahen sich an und mussten urplötzlich gleichzeitig auflachen wie zwei Freunde, denen gerade ein großartiger Streich gelungen war, sein Lachen das eines Erwachsenen, tief und ein wenig erschöpft, das des Jungen ein schrilles, hohes Glucksen.

Die äußere Tür zur Lounge öffnete sich, und eine Frau in Arnes Alter schritt zielstrebig auf sie zu. Ihr Haar war bei weitem nicht so hell wie das des Jungen oder seiner Schwester, dennoch erkannte Arne sofort die Ähnlichkeit zu den beiden Kindern wieder, dasselbe fast kugelrunde Gesicht mit den Sommersprossen und die wasserblauen Augen, die jetzt nervös flackerten, als sie von dem Jungen zu ihm blickten.

Sie blieb neben Arne stehen, sah zu dem Kind hinab und gab mehrere Sätze auf Dänisch von sich, die zu schnell aus ihrem Mund sprudelten, als dass Arne sich einen Reim darauf hätte machen können. Aber das war auch nicht notwendig. Er verstand auch so, dass sie ungehalten darüber war, dass der Junge sich offenbar selbstständig gemacht hatte und nun mit völlig Fremden herumscherzte. Mit einem misstrauischen Seitenblick auf den jungen Mann ergriff sie die Hand des Jungen, der wohl oder übel mit ihr mitlaufen musste, als sie sich in Bewegung setzte. Im Gehen sah sich der Kleine kurz zu Arne um, ein verschmitztes Grinsen auf dem Gesicht. Beide verschwanden in Richtung Lounge.

Arne stand noch eine Weile an der Reling und blinzelte auf den breiten Fleck flüssigen Silbers im Meer, das von der Mittagssonne beschienen wurde. Für einen kurzen Moment, während der unbekannte dänische Junge und er gleichzeitig aufgelacht hatten, war das Schreckliche verblasst, so wie sich eine Wolkenwand am Himmel unvermittelt auflösen konnte. Im Leben dieses Jungen gab es wahrscheinlich nichts Schrecklicheres als heute Abend zu früh ins Bett geschickt zu werden. Die Traumzeit der Kindheit, in der sich die vierundzwanzig Stunden eines sommerlichen Tages in einen schier zeitlos dahinströmenden Fluss verwandelten, ein goldenes Möbiusband.

Er konnte nie wieder dorthin zurück.

Trotz des Sonnenscheins war ihm kalt geworden, und er machte sich auf den Weg nach drinnen. Der Tax-Free-Shop hatte inzwischen geöffnet, war aber noch recht leer. Arne war erleichtert. Seit jenem Freitag Anfang August bewegte er sich nicht mehr gerne unter Menschen. Aber es gab Möglichkeiten, die anderen um sich herum auszublenden. Vermeide Blickkontakte. Konzentrier dich auf deine Einkäufe!

Etwas zu essen für die lange Fahrt nach Haugesund.

Zwei Flaschen Wein für später, in Norwegen selbst war Alkohol unverschämt teuer.

Eine Zeitung. Wenn er sich tatsächlich für mehr als nur ein paar Wochen eine Auszeit in Norwegen nehmen wollte, dann konnte es nicht schaden, seine Norwegischkenntnisse ein wenig aufzufrischen. Er zog die Aftenposten und das Dagbladet aus dem Ständer neben der Kasse, blätterte in ihnen herum und entschied sich schließlich für eine Ausgabe von Dagbladet.

Als Arne aus dem Laden heraus war, setzte er sich in der Lounge auf eine der langen Bänke. Neugierig blickte er sich kurz nach den beiden Kindern und ihrer Mutter um, konnte sie aber nirgends entdecken. Er nahm die Zeitung und überflog die ersten Schlagzeilen, die ihm beim Umblättern ins Auge fielen.

Ein Korruptionsskandal, der irgendeinen norwegischen Politiker betraf, von dem er noch nie etwas gehört hatte.

Der Verkauf einer Gasraffinerie nördlich von Bergen an Statoil. Sie hatte einem Konzern namens Minos Oil gehört. Deren einprägsames Logo bestand aus einem stilisierten Labyrinth in roter Farbe vor weißem Hintergrund. Berichte, die den wichtigsten Motor der norwegischen Wirtschaft betrafen, Öl und Gas aus der Nordsee, landeten in der hiesigen Presse offenbar gleich auf den ersten Seiten.

Arnes Blick blieb an einer Überschrift in dicken schwarzen Lettern hängen.

Erbe des Tverdal-Imperiums als vermisst gemeldet.

Darunter war neben dem Portraitfoto eines blonden jungen Mannes, der mit blendendem Zahnpastalächeln in die Kamera strahlte, zu lesen:

Jetzt ist es offiziell: Eivind Tverdal gilt als vermisst. Der Sohn des bekannten Zeitungsverlegers Gunnar Tverdal wurde zuletzt vor zwei Wochen auf einer privaten Feier in Bergen gesehen, von der er kurz nach Mitternacht spurlos verschwand. Sein momentaner Aufenthaltsort ist unbekannt. In den letzten Tagen kursierten in den Medien immer wieder Vermutungen, dass Eivind Tverdal einer Entführung zum Opfer gefallen sein könnte. Bisher hatte es allerdings weder vonseiten der Familie Tverdal noch der Polizei eine Bestätigung dieser Gerüchte gegeben. Wie Gunnar Tverdals Rechtsbeistand Tjorben Iversen in einer schriftlichen Stellungnahme, die dem Dagbladed vorliegt, mitteilt, wurde von Familie Tverdal bereits drei Tage nach Eivind Tverdals Verschwinden eine Vermisstenanzeige gestellt. Rechtsanwalt Iversen betonte, dass bisher nicht von einem Verbrechen ausgegangen werden könne. »Dennoch ist Gunnar Tverdal stark um das Wohlergehen seines Sohnes besorgt und hofft, dass sich diese Angelegenheit bald aufgeklärt hat.«

Arne hielt inne und rieb sich die vor Müdigkeit juckenden Augen. Wie fast immer, wenn früh am nächsten Tag eine Reise anstand, hatte er in der Nacht zuvor kaum Schlaf gefunden. Er beschloss, ein Nickerchen zu machen, zog seine Schuhe aus und legte sich mit hochgezogenen Beinen auf eine der mit rotem Kunstleder bezogenen Bänke. Er hatte schon immer schnell einschlafen können, daran hatte auch seine schlechte Verfassung in den letzten Wochen nichts geändert. Trotz des Stimmengewirrs um ihn herum war er bereits nach wenigen Minuten mit noch immer aufgeschlagener Zeitung auf der Brust eingedöst, während SuperSpeed 2 durch das Skagerrak pflügte und ihn Norwegen mit siebenundzwanzig Knoten pro Stunde näher brachte.

3

Ich packe meinen Koffer für den hohen Norden und nehme mit: mein Notebook.

Ich packe meinen Koffer für den hohen Norden und nehme mit: mein Notebook und ein Paar Gummistiefel.

Ich packe meinen Koffer für den hohen Norden und nehme mit: mein Notebook, ein Paar Gummistiefel und drei Tafeln Walters Mandler-Schokolade aus dem Tax-Free-Laden.

Arne griff mit seiner Rechten nach der aufgerissenen Tafel Schokolade mit den gesalzenen Mandeln, während er mit der linken Hand am Lenkrad den Polo durch die Dunkelheit des Vågslidtunnels steuerte. Er brach ein Stück ab, ohne die Rücklichter des Volvos vor sich aus den Augen zu verlieren, und schob es sich in den Mund. Um sich abzulenken, ging er wie in Gedanken die Aufzählung für das Kofferspiel durch. Das ständige stupide Wiederholen der Gegenstände hielt seinen Verstand beschäftigt.

Bei seinem Plan, mit dem Wagen von Larvik nach Haugesund zu fahren, hatte er nicht an die Gebirgstunnel gedacht. Er mochte das Gefühl von Eingesperrtheit nicht, das in ihm aufkam, wenn er sie durchquerte. Aber jetzt war es zu spät, sich eine andere Route zu überlegen. Ein weiteres Mal ging er mit sich selbst die Aufzählung seines Kofferspiels durch, um an etwas anderes zu denken und nicht mitten im Tunnel eine weitere Panikattacke zu bekommen.

Kurz nach halb fünf Uhr nachmittags hatte er sich in strahlendem Sonnenschein von Larvik aus auf den Weg gemacht. Nach Dänemarks flachem Norden, dessen immer gleiche Landschaft voll abgeernteter Felder zu beiden Seiten der Autobahn er in Gedanken »Copy & Paste-Country« getauft hatte, war es in Norwegen hügeliger geworden. Die Gegend erinnerte ihn trotz der typischen skandinavischen Holzhäuser an das ländliche Mitteldeutschland. Hier, in Vestfold und Telemark, wechselten sich nun bewaldete Hänge mit kleineren Seen, Pferdekoppeln und Wiesen mit grasenden Kühen und Schafen ab. Nachdem er die letzte größere Stadt, Skien, hinter sich gelassen hatte, wichen die Bauernhöfe mit ihren angrenzenden kleinen Feldern mehr und mehr steilen Hügeln und dicht neben der Straße aufragenden Felsformationen.

Die allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung für norwegische Straßen war achtzig Stundenkilometer. Allerdings war die Straße, die sein Navigationsgerät seit Seljord als »E 134« kennzeichnete, so kurvenreich, dass Arne, der die Gegend nicht kannte, es sich ohnehin kaum zugetraut hätte, schneller zu fahren. Auf seinem Weg nach Westen wurde die Landschaft allmählich immer karger und gebirgiger. Er näherte sich dem Haukeligebirgszug, der Norwegens Süden in zwei Hälften spaltete, eine östliche, die er inzwischen fast durchquert hatte, und eine westliche, mit den Küstenstädten Haugesund, Stavanger und Bergen. Die schroffen, steil aufragenden Felsen und dichten Wälder zu beiden Straßenseiten öffneten sich unter dem spätnachmittäglichen Himmel zu einer kargen Felslandschaft mit einer Vielzahl von kleinen Bergseen und Flussläufen. Sein Wagen passierte immer wieder kleinere und größere Holzhäuser, meist in dunklen Farben gestrichen. An manchen Hängen waren so viele von ihnen zu sehen, dass sie den Anschein von Dörfern erweckten.

Arne hatte sich nie besonders für das Heimatland seines verstorbenen Vaters interessiert, aber er wusste, dass es keine Wohnhäuser waren, sondern Ferienhütten. Viele Norweger zog es übers Wochenende hinaus aufs Land. Das Zauberwort hieß: Hüttentour. Entweder mietete man eine für ein paar Nächte, oder man besaß eine, wenn man gut verdiente. Und eine Menge Norweger schienen gut zu verdienen. Einige der »Hütten«, an denen er vorbeifuhr, sahen mit ihren Solarmodulen auf den Dächern, den Satellitenschüsseln und frisch gestrichenen Fassaden so edel aus, dass sie diese schnöde Bezeichnung kaum verdienten.

Dann war der Eingang zum Vågslidtunnel vor ihm aufgetaucht, dem ersten der drei großen Tunnel auf dem Weg über den Haukeligebirgszug, und Arne hatte mit seinem gedanklichen Kofferspiel-Mantra begonnen. Das Licht im Tunnel war mies, kein Vergleich zum hell beleuchteten Hamburger Elbtunnel, den er in den frühen Morgenstunden durchfahren hatte. Er setzte sich etwas aufrechter im Fahrersitz zurecht und fixierte mit angestrengt gerunzelter Stirn die Hecklichter seines Vordermanns. Sie verrieten ihm den Straßenverlauf besser als das, was er in dem schummerigen Licht von der rechten Spur erkennen konnte.

Ich packe meinen Koffer für den hohen Norden und nehme mit: mein Notebook, ein Paar Gummistiefel, drei Tafeln Walters Mandler-Schokolade aus dem Tax-Free-Laden und eine Schachtel Diazepam. Jedenfalls hoffe ich, dass ich die Tabletten eingepackt habe, sonst liegen lange Nächte vor mir.

Endlich wurde es einige hundert Meter vor ihm wieder hell, und sein Polo tauchte aus dem Tunnel auf. Die Luft, die durch das leicht geöffnete Fenster auf der Fahrerseite strömte, war kühl. So weit Arne sehen konnte, erstreckte sich um ihn herum die baumlose Gebirgsgegend des Haukelifjells unter einem Wolkenhimmel, der stündlich mehr von dem sommerlichen Blau eroberte. An einzelnen Stellen, die im Schatten von zerklüfteten Felshängen lagen, erblickte er Reste von Schnee des letzten Winters, schmutziggraue Erinnerungen an das unwirtliche Wetter hier oben, das es Heidekraut und Blaubeersträuchern nur in der kurzen Hochsommerzeit erlaubte, sich auszubreiten. So wie hier musste es vor gut zehntausend Jahren überall in Europa ausgesehen haben, nachdem sich die gewaltigen Gletscher der Eiszeit zurückgezogen hatten, bevor die ersten Wälder den Norden zurückeroberten.

Warum gefiel ihm diese zerklüftete Landschaft so sehr, dass er am liebsten alle paar hundert Meter am Straßenrand angehalten hätte, um ein Foto zu schießen? Er konnte es nicht sagen, er wusste nur, dass ihre Kargheit im völligen Gegensatz zu dem intensiven Eindruck stand, den sie bei ihm hinterließ.

Doch bevor er weiter in dem Ausblick um ihn herum eintauchen konnte, wuchs vor ihm schon der nächste Tunneleingang heran und verschluckte ihn. Das kurz vorhandene Gefühl, frei durchatmen zu können, war verschwunden. In Gedanken begann Arne erneut mit der Kofferlitanei.

Nach einigen weiteren Tunneln sah er auf der rechten Straßenseite eine Tankstelle. Ein kurzer Blick auf die Tankanzeige bestätigte ihm, dass es Zeit wurde, Benzin nachzufüllen. Er hatte mehr als die Hälfte der Wegstrecke hinter sich gebracht. Allmählich wurde er müde. Eine kurze Pause und ein starker Kaffee würden ihn wieder fit für den Rest der Fahrt machen.

Arne fuhr von der Straße hinunter und steuerte den Wagen vor eine der Zapfsäulen. Nachdem er getankt hatte, ging er zum Bezahlen in den Laden und schlenderte die Gänge entlang, um zu sehen, was es alles im Angebot gab. Er sah nur einen einzigen anderen Kunden im Raum, der an einem drehbaren Aufsteller mit CDs und DVDs neben dem Zeitschriftenständer stand. Es war ein Mann mit weizenfarbenen Haaren, die ihm glatt und fast so dünn wie Spinnweben bis weit über die Schultern hinabfielen. Er musste ungefähr in Arnes Alter sein, war aber mindestens einen Kopf kleiner. Seine Beine steckten in verwaschenen Jeans, und über seinem Kugelbauch spannte sich ein weinrotes T-Shirt, das auf der Vorderseite in breiten Lettern »Zeppelin Rules!« verkündete. Er hatte eine CD irgendeiner norwegischen Popmusikband, die Arne nicht kannte, aus dem Ständer genommen. Skeptisch begutachtete er sie aus leicht hervorstehenden Augen, bevor er sie wieder zu den anderen zurückschob, wobei er ein Gesicht zog, als hätte er eine fette, schwarze Wegschnecke anfassen müssen.

Arne trat an ihm vorbei zur Kasse. Er nannte dem blassen Mädchen mit dem gelangweilten Blick hinter dem Tresen die Nummer seiner Zapfsäule und packte noch eine Dose Red Bull und einen Kaffee mit auf die Rechnung. Ein frischer Wind blies ihm ins Gesicht, als er aus dem Tankstellenladen trat. Hier oben auf dem Pass wurde es offenbar selbst im Sommer schnell kühl.

Fröstelnd stellte er den Becher mit dem dampfenden Kaffee auf dem Dach seines Wagens ab und fummelte in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Kurz bevor er zum Tanken angehalten hatte, war ihm auf dem Navi der nahegelegene Ort Røldal aufgefallen. Bestimmt war das Mädchen aus dem Laden dort zu Hause. Wie es wohl sein musste, das ganze Jahr über auf dem Haukelihöhenzug zu leben?

»Excuse me?«

Er zuckte heftig zusammen und fuhr mit dem Schlüssel in der Hand herum. Der kleine Mann aus dem Laden blinzelte ihn bestürzt aus seinen hervorstehenden grünen Augen an. Seine langen, hellblonden Haare hingen wie zwei Vorhänge um sein pausbäckiges Gesicht mit dem fliehenden Kinn. In der Hand hielt er einen Hotdog, den er eben gekauft haben musste.

»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte er in perfektem Englisch, dem man den norwegischen Akzent kaum anhörte. Wie um seine Worte zu unterstreichen, trat er einen Schritt zurück. »Fährst du in Richtung Haugesund? Ich suche nach einer Mitfahrgelegenheit.«

Er hatte ihn mit seiner direkten Frage überrumpelt. Arne ahnte, dass es eine Masche des Langhaarigen war, einen Tankstellenkunden anzusprechen, einfacher und effektiver, als sich an den Straßenrand zu stellen und den Daumen rauszuhalten. Er wollte keinen Fremden um sich. Niemand, der ihm zu nahe kam und womöglich die Wände einriss, die er so angestrengt aufrechterhielt, seitdem er in den Abgrund geblickt hatte, seitdem es beinahe von einem Moment auf den anderen zu Ende gewesen wäre.

Trotzdem brachte er die Worte nicht heraus. Ein einfaches »Tut mir leid, ich will niemanden mitnehmen. Ich fahre nicht nach Haugesund.« Auch wenn das gelogen war. In der langen Pause, die mit der Frage des Langhaarigen entstanden war, starrte Arne seinen Gegenüber hilflos an. Er kam sich vor wie ein Fisch, der vergeblich auf dem Trockenen nach Luft schnappte.

Warum sagst du’s nicht einfach? Ist doch nicht schwer. Aber vielleicht willst du ihn ja am Ende doch mitnehmen. Und gib’s zu, ein wenig Gesellschaft könnte dir auf dieser Tunneltour nicht schaden.

»Alles okay mit dir?«, fragte der kleine blonde Mann ihn argwöhnisch.

»Alles okay«, brachte Arne endlich auf Englisch heraus. Er straffte sich und nahm einen tiefen Schluck aus dem Kaffeebecher. Der Kaffee rann ihm so heiß die Speiseröhre hinab, dass er zusammenzuckte, aber der Schmerz löste seine Versteinerung. »Ich fahre nach Haugesund. Steig ein.«

Der Blonde ließ sich das nicht zweimal sagen. Er schob seine dunkelgrüne Reisetasche auf den Rücksitz und ließ sich neben Arne auf den Fahrersitz fallen.

»Sprichst du Norwegisch?«, fragte er ihn, als dieser den Gang einlegte und anfuhr.

Arne zuckte die Achseln. »Wie man’s nimmt. Mein Vater war Norweger.«

Das blasse, pausbäckige Gesicht des Langhaarigen leuchtete freudig auf. Er wechselte sofort ins Norwegische. »Wirklich? Cool! Ich heiß übrigens Frode Bakklund.« Er streckte Arne die Hand entgegen.

»Ba-?«, fragte Arne nach, der nach einem kurzen Zögern die Hand des jungen Mannes ergriff.

»Bakklund«, wiederholte Frode, wobei er den Namen konsequent genauso nuschelte wie beim ersten Mal.

»Arne. Arne Eriksen.«

»Woher stammte er?«

»Wer?«, fragte Arne.

»Dein Vater. Wo stammte er her?«

Ach so. Bist du heute schwer von Begriff! Wird Zeit, dass du endlich in Haugesund ankommst und die Füße hochlegen kannst.

»Aus Bergen. Aber ich bin nur drei, vier Mal als kleiner Junge in Norwegen gewesen«, fügte er schnell hinzu, wie um sich zu rechtfertigen, wieso sein Englisch flüssiger als sein Norwegisch war. Arne hatte die Worte kaum über die Lippen gebracht, als er schon insgeheim den Kopf darüber schüttelte, dass er einem Wildfremden Details aus seinem Privatleben erzählte, kaum dass er ein paar Stunden in Norwegen war. So war eben das Land seines Vaters: klein und überschaubar. Irgendwie waren alle um sieben Ecken herum miteinander verwandt oder bekannt. Gerüchte kursierten mit Überschallgeschwindigkeit. Und diese familiäre Atmosphäre, in der dich mitunter ein Fremder ganz selbstverständlich mit dem Vornamen ansprach und wusste, mit wem deine Mutter die Schulbank gedrückt hatte, steckte an.

»Schade, dass du nicht öfter hier warst«, hörte er Frode neben sich sagen, während der Wagen Røldal hinter sich ließ und an einem Bergsee entlangfuhr, dessen unbewegte Oberfläche tief rauchblau schimmerte. Der junge Mann hatte eine hohe, aber nicht unangenehme Stimme. »Du kommst aus Berlin, nicht wahr? Hab dein Nummernschild gesehen.«

Arne lächelte dünn. Berlin. Die Stadt, die du hinter dir lassen willst. »Stimmt.« Er räusperte sich. Konversation zu betreiben hatte einmal unabdingbar zu seinem Handwerkszeug gehört. Das konnte er doch nicht in ein paar Wochen verlernt haben!

»Warst du schon mal in Deutschland?«

Frode nickte. »In Hamburg und in Berlin. Ich bin Musikjournalist. Und ich schreibe Bücher über Bands. Was machst du?«

»Ich … ich bin Psychotherapeut«, sagte Arne ausweichend. »Ich arbeite im Betreuten Wohnen. Assisted Living.«

Genauer gesagt, du hast da gearbeitet, schoss es ihm durch den Kopf. Du glaubst doch nicht wirklich, dass du diesen Job noch immer erledigen kannst, so fertig wie du bist.