Die Artefakte der Macht - Eckhard Bausch - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Artefakte der Macht E-Book

Eckhard Bausch

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Zentrum des fiktiven Kontinents beginnt ein Aufstand gegen die geistige Versklavung. Im Norden stellt sich ein Eisgraf an die Seite seiner Todfeindin, um ihr gegen den Meuchelmörder ihres Vaters beizustehen. Im Süden tauchen aus dem Dunkel der Geschichte vier furchteinflößende Gestalten auf, die vorgeblich eine Gruft, in Wahrheit jedoch eine goldene Pforte bewachen. All diese Geschehnisse werden von den Ereignissen an einem völlig unscheinbaren Ort überschattet, dessen historische Bedeutung aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden ist. In Rabenstein haben zwei Priester des Wissens eine verfallene Festung zu einer Schule umgebaut und versuchen, Die Artefakte der Macht dort zusammenzutragen. Mit Hilfe dieser Artefakte wollen sie Rabenstein und den gesamten Kontinent gegen eine schreckliche Gefahr verteidigen. Sie droht von den Gründern eines Geheimbundes, die aus ihren Gefängnissen entronnen und nun auf der Jagd nach dem Stein des Grauens sind, dem eine unsäglich vernichtende Kraft innewohnt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 434

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

Die Dunstein Chroniken

 

Teil 3:

Die Artefakte der Macht

 

(von Eckhard Bausch)

 

 

Deutsche Erstausgabe

2019

 

© Mystic Verlag

 

Text: Eckhard Bausch

Umschlagskonzept: Hans-Martin Knerr

 

Umschlaggestaltung:

Hans-Martin Knerr

Claudia Gornik

 

unter Verwendung von Fotos

 

Shutterstock / iStock

 

Satz: Helga Sadowski

 

Korrektur: Annika Bausch

Druck und Bindung: Books on Demand

 

ISBN: 978-3-947721-17-7

 

Interessierte Leser und Autoren finden weitere Informationen auf unserer Website.

 

www.mysticverlag.de

 

Geschäftsführer: Timo Arnold

Lemberger Straße 298

66955 Pirmasens

Für Christine,

Annika und Leonard

 

Hinweis des Autors

 

Dieses Buch ist die Fortsetzung der in den Episoden 1 und 2 der Dunstein Chroniken („Die Spur der weißen Kreise“ und „Das versteinerte Grauen“) begonnenen Geschichte eines kleinen, fiktiven Kontinents während einer schicksalhaften Epoche. Um jederzeit einen schnellen Überblick und den Zugriff auf Namen und Zusammenhänge zu ermöglichen, gibt es im Anhang eine Karte des Kontinents und eine als „Orientierungshilfe“ bezeichnete Kurzbeschreibung der wichtigsten Handlungsorte und Personengruppen mit den ihr jeweils zugehörigen Protagonisten.

 

Ich wünsche den Lesern viel Spaß und Spannung!

 

Prolog

Kapitel 1 – Die ewige Gefangene

Kapitel 2 – Die Auswahl der Gesandten

Kapitel 3 – Schatten der Vergangenheit

Kapitel 4 – Sonnenstrahlen und dunkle Wolken

Kapitel 5 – Beginn einer Rebellion

Kapitel 6 – Begegnungen auf verschlungenen Wegen

Kapitel 7 – Das leere Verlies

Kapitel 8 – Bruderkriege und das kurze Leben eines Toten

Kapitel 9 – Täuschungen und Enttäuschungen

Anhang: Orientierungshilfe

Prolog

 

Tinsdal, der greise Herrscher der Sterzen des Ostens, saß zusammengesunken auf seinem steinernen Thron. Seine wachsamen Augen, denen selbst im hohen Alter noch die Sehschärfe eines Gebirgsadlers erhalten geblieben war, hatten in der Ferne ein unregelmäßiges Blinken am Himmel wahrgenommen. Mit Hilfe seines Zeichendeuters schleppte sich der Herrscher zu dem kleinen Fenster in der dicken Granitwand. Auf einer Felsplatte des mächtigen Kijanduk-Massivs, gewissermaßen auf dem Dach der Welt, hatten Tinsdals Ahnen eine uneinnehmbare Festung errichtet. Einen Augenblick lang glaubte der Sterzenkönig, eine silberne Kugel auf seine wuchtige Burg zurasen zu sehen. Bereits einen Lidschlag später war die Silberkugel von einem Flammenschweif eingehüllt und flog weit am Aralt-Gebirge vorbei in Richtung Westen, dorthin wo die Dun ein gewaltiges Reich errichtet hatten.

Früher gab es auch kleinere Stämme der Dun in diesem Hochgebirge, das von ihnen „Zok“ genannt wurde. Mit dem Laufe der Zeit waren sie jedoch ausgestorben, weil Tinsdals Vorfahren, die Einwanderer aus dem westlichen Teil der nördlichen Hochebenen, besser mit den eisigen Temperaturen der langen Winter zurechtkamen.

Tinsdal sah der Feuerwalze nach bis sie verschwand.

„Ein Zeichen“, murmelte der Zeichendeuter. „Wir sollen das Gebirge verlassen und dem Feuer folgen.“

In den mündlichen Überlieferungen der Sterzen gab es keine Berichte, wonach jemals ein Zeichendeuter geirrt hatte. Daher verließen sie das Aralt-Gebirge und zogen weiter in den Süden. Zurück blieben die Kinder, die sie mit den Dun gezeugt hatten. Es handelte sich um Menschen, die von den Dun die hohe Statur und von den Sterzen die ebenmäßigen Gesichtszüge und weißen Haare geerbt hatten. Sie überlebten in den Höhlen des Aralt und verbreiteten sich Jahrtausende später über die Hochebenen bis zum Ostmeer.

 

*

 

Daruk weilte in Derfat Timbris als die riesige Feuerwalze am Abendhimmel erschien und schließlich am Horizont tief im Süden erlosch. Dem König der Dun brachte sie eine Erleuchtung, die ungezählte Generationen überdauerte.

Vor der Zeit seines Großvaters hatte es zuletzt nur noch in der Mitte des Kontinents einige versprengte Stämme der Dun gegeben, die eine völlig unvorhergesehene Fügung des Schicksals davor bewahrte, zwischen den kriegerischen Sterzen des hohen Nordens und den riesenhaften Ureinwohnern aufgerieben zu werden. Mit Ausnahme der kalten Nordlande besiedelten die Ureinwohner, die sowohl den Dun als auch den Sterzen an Kraft und Intelligenz überlegen waren, die gesamte Festlandsfläche des Kontinents. Eines Tages suchte ein Stammesführer der Ureinwohner, der sich „Thefur dorsu nal ransi“ nannte, Daruks Großvater auf. Er zeigte ihm einen unscheinbaren grauen Stein mit glitzernden, kleinen Einschlüssen und behauptete, dass dieser Stein eine Botschaft der Sterne beinhalte. Danach seien die Dun dazu ausersehen, die Herrschaft über den gesamten Kontinent zu übernehmen. Er selbst habe die Aufgabe, sie dabei zu unterstützen. Um zu beweisen, dass er die Wahrheit sprach, überfiel er mit seinem Stamm einen anderen Stamm seines eigenen Volkes und vernichtete ihn. Taril, dem Großvater Daruks, gelang es daraufhin mit Hilfe seines ungewöhnlichen Verbündeten, die Stämme der Dun zu vereinen. Gemeinsam bekämpften sie die Ureinwohner überall auf dem Kontinent und trieben sie immer weiter zurück zum Ort ihrer Herkunft, den Regenwäldern jenseits des Lumbur-Stroms. Aus allen Teilen des Kontinents schlossen sich Dun-Stämme Taril an, der schließlich über das gewaltigste Heer befahl, das der Kontinent jemals gesehen hatte.

Dann erfuhr Taril, was der Name des mit ihm verbündeten Ureinwohners in seiner eigenen Sprache bedeutete: „Der Sternenbote, der mit dem Stein tötet.“ Von da an keimte bei dem Anführer der Dun die Furcht auf, dass ein Mann, der danach strebte, sein eigenes Volk zu vernichten, sich auch gegen ihn wenden könnte. Also gab er seinen Vertrauten den Befehl, Thefur und seine engsten Gefolgsleute zu töten. Sie wurden einige Nächte später im Schlaf erschlagen.

Noch im Tod hielt Thefur den grauen Stein umklammert. Taril ließ ihm die Hand abhacken und nach Charak Dun bringen. Dort wurde sie mit dem eingeschlossenen Stein jahrtausendelang als Heiligtum aufbewahrt, gleichsam als Symbol für die Errettung und den Aufstieg der Dun.

Tarils Enkel ahnte, dass der gewaltige Flammenschweif am Himmel etwas Wichtiges zu bedeuten hatte. Er durfte genauso wenig in Vergessenheit geraten wie die Taten seines Großvaters, der das Riesenreich der Dun begründet hatte. Deshalb beauftragte Daruk den königlichen Schreiber, die Ereignisse aufzuzeichnen.

Der Chronist begab sich zu der Festung Charak Dun, die der Großvater des Königs mit Hilfe der Ureinwohner den Sterzen entrissen hatte. Dort ritzte er die Geschichte der Eroberung des Kontinents durch die Dun und die Botschaft von der Erscheinung der riesigen Feuerwalze in die Wand eines Kellergewölbes. Tausende von Jahren später wurde sie in ein Buch übertragen, in dem sich bereits andere Aufzeichnungen befanden. Eigentlich hätte der Bericht des königlichen Schreibers am Anfang dieses Werkes stehen müssen, das als das „Buch der Vorzeit“ bekannt wurde. Lange blieb es verschollen, ehe einige wenige Gelehrte seinen wahren Wert erkannten.

Unter anderem enthielt der Bericht des Schreibers auch die erste Erwähnung des Dunsteins, der das Schicksal einer todgeweihten Welt verkörperte.

 

 

 

Kapitel 1 – Die ewige Gefangene

 

Obwohl Crandin beschlossen hatte, den Nachlass seines Urgroßvaters nicht anzunehmen, strahlte das unscheinbare Zimmer im Monasterium von Dunculbur eine geradezu magische Anziehungskraft auf den jungen Priester des Wissens aus. Immer wieder kam er hierher zurück und holte die seltsame Hinterlassenschaft des letzten Wanderpriesters aus ihrem Versteck. Aber weder der angeblich so geheimnisvolle wie gefährliche Dunstein noch die Karte mit allen bekannten Ilumit-Vorkommen des Kontinents übten diese unerklärliche Faszination auf ihn aus, sondern das Bildnis einer jungen, blonden Frau. Der kühle, berechnende Crandin hatte sich tatsächlich in die uralte Zeichnung einer Frau verliebt. Wenn man den Briefen Qaromars Glauben schenken durfte, war diese Frau seit mehr als zweihundert Jahren in einer Höhle eingesperrt und konnte nicht sterben.

Nur wenige Tage nachdem Roxolay dem Erben des letzten Wanderpriesters, den viele Jahre für ihn aufbewahrten Schlüssel ausgehändigt hatte, legte er sein Amt als Rektor des Monasteriums nieder und verließ Dunculbur mit unbekanntem Ziel. Er verabschiedete sich nur kurz von Crandin, offenbarte ihm dabei aber die Beweggründe seines Handelns. Das Monasterium von Dunculbur genoss bei der obesischen Obrigkeit höchstes Ansehen. Im Orden selbst war es jedoch äußerst umstritten, weil sich die Priester des Wissens dort ausschließlich mit der Erforschung militärisch nutzbarer Dinge befassten. Für einen Zeremonienmeister des Todes erfüllte ein derartiger Ort in idealer Weise alle Voraussetzungen zur Ausübung seines Amtes, einschließlich der notwendigen Tarnung. Für einen geläuterten Zeremonienmeister stellte er dagegen nur noch eine schwere seelische Belastung dar.

Nachdem mit Roxolay der einzige Mensch weggegangen war, den Crandin an diesem Ort schätzen gelernt hatte, beschloss auch er, das Monasterium zu verlassen. Ein letztes Mal betrachtete er den unheimlichen Dunstein, wobei er sich sorgsam davor hütete, ihn zu berühren. Allein vom Anblick her hatte dieser Stein nichts Bedrohliches; er wirkte sogar überaus unscheinbar, wie ein abgeschliffener, flacher Kieselstein. Nur die winzigen Einschlüsse, die jedoch fast die gleiche hellgraue Farbe hatten wie die restliche Oberfläche, unterschieden ihn von anderen Kieselsteinen. Einmal hatte Crandin auch festgestellt, dass sie im Dunkeln leuchteten. Er ließ den gefährlichen Stein wieder in den Beutel zurückgleiten und verstaute ihn in seinem Versteck. Dann entnahm er der kleinen Kassette die vier Zeichnungen, die die mutmaßlichen Mitbegründer des Geheimen Ordens von Dunculbur darstellten. Er steckte sie zusammen mit der Karte in die Außentasche seines Reisemantels. Die Eintragungen der Ilumit-Minen interessierten ihn dabei nicht, wohl aber das ebenfalls eingezeichnete Gefängnis der blonden Frau. Es musste sich im äußersten Süden von Zogh befinden, irgendwo im Hügelland in unmittelbarer Nähe der Sümpfe und der Grenze von Lokhrit. Obgleich Qaromar ihn in seinen Briefen dringend vor der tödlichen Gefahr gewarnt hatte, die mit einem Besuch der Gründer verbunden war, konnte der Erbe des letzten Wanderpriesters der Verlockung nicht widerstehen. Er musste die blonde Frau aufsuchen.

Crandin benutzte die alte Heeresstraße nach Bogogrant, die ziemlich verlassen wirkte. Das Kollektiv von Obesien hielt sich in letzter Zeit mit kriegerischen Unternehmungen zurück. Dieser aus sieben Mitgliedern bestehende Regierungsrat des Landes wusste, dass die neue Königin von Zogh nur auf eine Gelegenheit wartete, um für die Ermordung ihrer Mutter durch die Garde von Modonos Vergeltung zu üben. Inzwischen hatten die Obesier einsehen müssen, dass sie den Heeren des Nordens unterlegen waren.

Kurz hinter Bogogrant überquerte Crandin die Grenze nach Lokhrit und folgte anschließend dem Mittelgebirge, das im Süden entlang der Sümpfe verlief. Drei Tagesritte später erreichte er Zogh. Auch wenn er zunächst keinen der gefürchteten Krieger zu Gesicht bekam, wusste Crandin, dass er beobachtet wurde. Seit die Mutter der jetzigen Königin getötet worden war, ließ ihr Vater Par.Agdandall, der Herrscher des Südens, der die Bezeichnung „Marschall von Sandammon und Sokul“ trug, die Grenzen zu Lokhrit noch schärfer bewachen. Zogh und Lokhrit verband zwar traditionell eine enge Freundschaft; da es sich bei den Lokhritern aber um äußerst friedliebende Menschen handelte, hatte sich der vernachlässigte Norden ihres Territoriums zu einem Sammelbecken für Räuber, Wegelagerer und allerlei zwielichtiges Volk entwickelt. So kam es, dass immer häufiger Krieger des Marschalls die Grenze überschritten, um das auch für Reisende gefährliche Gesindel in Schach zu halten. Die Lokhriter betrachteten das nicht als Grenzverletzung, sondern bekundeten sogar offen ihre Wertschätzung für diese Hilfeleistung.

 

Auf der letzten Etappe vor seinem Ziel musste Crandin einen schmalen Pass überwinden. An einer der Engstellen geschah das, was er schon die ganze Zeit erwartet hatte: Er sah sich plötzlich zwei großgewachsenen, grauhäutigen Männern gegenüber, die auf ihren kleinen Bergpferden noch wuchtiger und furchterregender wirkten als zu Fuß. Crandin brauchte sich gar nicht erst umzusehen, um zu wissen, dass ihm auch der Rückweg versperrt war.

„Mein Name ist Crandin“, kam er einer entsprechenden Aufforderung der Zogh zuvor. „Ich bin ein Freund des Eisgrafen Unitor. Auch den Marschall von Sandammon und Sokul kenne ich gut. Er hat mir erlaubt, jederzeit sein Land zu betreten.“

Einer der beiden Krieger, offenbar der Anführer der Patrouille, gab den Männern, die Crandin den Rückweg versperrten, einen Wink. Unmittelbar darauf erklang das unverkennbare Geräusch sich entfernenden Hufschlags.

„Ich werde Ihre Aussage überprüfen. Hrodolkar wird Sie begleiten, bis ich die Bestätigung des Marschalls habe“, erklärte der mutmaßliche Anführer, wendete sein Pferd und ritt davon, während sich der andere Mann Crandin anschloss.

Anfänglich überlegte Crandin, wie er seinen Begleiter loswerden könnte. Er verwarf diesen Gedanken aber schließlich wieder, weil er wohl ohnehin von versteckten Spähern überwacht wurde. Außerdem war sein Vorhaben dermaßen gefährlich, dass es nicht schaden konnte, einen kampferprobten Zogh in der Nähe zu haben. Jetzt musste er nur noch einen Weg finden, seine Absicht unbeobachtet in die Tat umzusetzen. Unbeirrt ritt er weiter seinem Bestimmungsort entgegen, einer der größten Erhebungen in diesem von gelben Dunstschleiern aus den Sümpfen durchzogenen Mittelgebirge.

 

Als Crandin sein Ziel erreichte, schickte sich die Sonne gerade an, hinter den Hügeln zu verschwinden. Das von den Nebelschwaden gedämpfte Licht reichte gerade noch aus, um einen schmalen Felsspalt in halber Höhe der nächstgelegenen Erhebung wahrnehmen zu können.

„Wir sollten uns hier irgendwo ein Lager suchen“, meinte der rothaarige Priester beiläufig. „Der letzte Teil meines Weges wird mich morgen nach Sokul führen.“ Er trieb sein Pferd zwischen einige niedrige Sträucher, scheinbar auf der Suche nach einem geeigneten Nachtlager. Dann sah er vermeintlich zufällig nochmals zu der Felswand hoch und deutete auf die Spalte, die er bereits längst zuvor entdeckt hatte.

„Ich werde dort hochgehen“, sagte er zu Hrodolkar. „Ich glaube, hinter dem Riss befindet sich eine Höhle. Das erscheint mir sicherer als hier draußen. Sie können gerne mitkommen.“

Der Zogh erkannte sofort, dass der Felsspalt nicht breit genug für ihn war, wohl aber für Crandin. „Ich werde hierbleiben und auf die Pferde aufpassen“, bestimmte er.

„Wie Sie meinen.“ Crandin zuckte die Achseln, drehte sich um und begann, den Felshang hinaufzusteigen. Hrodolkar sah ihm nach, bis sich der Priester des Wissens schließlich durch den engen Höhleneingang gezwängt hatte. Wenig später erhellte der Schein eines Feuers den dunklen Spalt. Der Zogh band die Pferde fest und legte sich beruhigt auf einen kleinen Teppich aus verdorrten Gräsern. Ohne Pferd würde Crandin bei einem etwaigen Fluchtversuch nicht weit kommen. Außerdem gab es noch einige weitere Beobachtungsposten der Zogh in dieser Gegend.

Crandin verspürte jedoch nicht im Geringsten die Absicht, sich davonzustehlen. Nachdem er eine Fackel entzündet hatte, schichtete er trockenes Holz auf und setzte es in Brand. Im Schein des Feuers erkannte er die dunklen, unregelmäßigen Wände der Höhle, die auf den ersten Blick keine Besonderheiten aufzuweisen schienen. Erst bei näherer Betrachtung fiel ihm ein etwas mehr als hüfthoher Geröllhaufen an der rückwärtigen Wand auf. Er ahnte, dass er sein Ziel erreicht hatte und räumte das Gestein beiseite. Der Geröllhaufen verbarg ein etwa gleich großes, mit Steinbrocken zugemauertes Loch. Die unscheinbaren Mörtelfugen des getarnten Gemäuers konnten nur von jemand bemerkt werden, der genau danach suchte. Ein unbefangener Betrachter hätte wohl angenommen, dass die Steine durch einen natürlichen Felskamin herabgefallen waren und sich am Boden der Höhle aufgetürmt hatten. Crandin wusste es besser. Er musste aber gleichzeitig einsehen, dass er ohne Werkzeug nicht in der Lage sein würde, die künstliche Barriere zu beseitigen. Somit traf es sich gut, dass er seinem unfreiwilligen Begleiter Sokul, die zweitgrößte Stadt im Süden von Zogh, als sein Reiseziel genannt hatte. Crandin streckte sich auf dem bemoosten Boden der Höhle aus und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen kletterte der Priester des Wissens beim ersten Tageslicht den Felshang hinab. Der aufmerksame Hrodolkar hatte bereits beide Pferde gesattelt. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach Sokul. Die Stadt lag hinter den Ausläufern des neben den Sümpfen verlaufenden Hügellandes. Auf den Sümpfen lastete unverändert der gleiche, diesige Schleier wie am Vortag. Er rührte von den Wasser- und Schwefeldämpfen der vulkanischen Tätigkeit her, die in diesem Bereich immer noch herrschte. Die ausgedehnte Ebene hinter Sokul, durch die sich ein kleiner Nebenfluss des Drulh schlängelte, konnte man dagegen auf etliche Meilen bis zum Horizont überblicken. Über Sokul selbst hing eine ähnlich rauchgeschwängerte Luft wie über den Sümpfen. Die Stadt war das Zentrum der Metallverarbeitung in Zogh. Dort saßen die besten Schmiede, Wagner, Blechner und Harnischmacher des Nordens.

An der Bergflanke führte ein gewundener Pfad ins Tal, dem Crandin und Hrodolkar folgten. Auch auf dem steilen und geröllübersäten Abstieg fanden die trittsicheren Bergpferde mit erstaunlicher Gelassenheit ihren Weg. Crandin und Hrodolkar vermieden jede Art von Einwirkung, um die Tiere nicht in ihrem gleichmäßigen Schritt zu stören. Dennoch überkam Crandin, der im Gegensatz zu dem Zogh nicht mit Pferden aufgewachsen war, in jeder der scharfen Windungen ein mulmiges Gefühl. Noch bevor sie die Talsohle erreicht hatten, sahen sie einen Reiter, der ihnen auf der weiten Ebene in schnellem Galopp entgegenkam. Er trug einen Lederpanzer und einen wehenden Mantel mit einem eingestickten weißen Ross, dem Emblem des Marschalls. Crandin und Hrodolkar erwarteten ihn am Fuß der Berge. Als er sich ihnen bis auf wenige Meter genähert hatte, winkte er dem Priester des Wissens freundlich zu.

„Nach der Beschreibung müssen Sie Crandin sein“, sagte er. Crandin nahm an, dass wohl sein unverkennbar feuerroter Haarschopf das eigentliche Erkennungszeichen darstellte, was er auch sofort indirekt bestätigt bekam: „Aber beantworten Sie mir dennoch eine Frage: Waren Sie schon einmal in Zogh?“

„Vor einiger Zeit besuchte ich mit Eisgraf Unitor das „Areal der Allianz“ in Sandammon“, gab Crandin bereitwillig Auskunft, wobei er zurückdachte an das riesige, getarnte Heerlager der ehemaligen Armee der Vereinten Nordlande. „Der Marschall hat mich ...“

Der Ankömmling winkte ab: „Ich bitte Sie, die Unannehmlichkeiten zu verzeihen, die wir Ihnen bereitet haben. Sie können sich ab sofort völlig frei in Zogh bewegen. Der Marschall wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und würde sich freuen, wenn Sie die Zeit fänden, ihn in der Festung von Trebazinth zu besuchen.“

„Vielleicht wird dies schon bald der Fall sein“, entgegnete Crandin höflich. Aber wenngleich ihm der freundliche Herrscher des südlichen Zoghgebiets äußerst sympathisch war, hatte er nicht die Absicht, ihn auf seiner jetzigen Reise aufzusuchen. Die blonde Frau auf der Zeichnung hatte vollständig Besitz von seinen Gedanken ergriffen. Aber der Grund bestand nicht nur in dem Bildnis. Mit seinen besonderen Fähigkeiten als Spiritant stand Crandin im Begriff, einen kleinen Zipfel des Tuches zu lüften, das furchterregende Zusammenhänge verbarg: Zusammenhänge, die einfache Menschen in eine Starre des Schreckens versetzten. Die blonde Frau war nicht nur eine unwirkliche Schönheit; sie bewahrte den Schlüssel des Verstehens, das tief in die Vergangenheit des Kontinents reichte.

Während die beiden Zogh-Krieger zurück in das Hügelland ritten, trabte Crandin auf dem schmalen Weg durch die Ebene geradewegs nach Sokul. Er hatte kaum die Stadt betreten, da fand er auch schon einen Händler, der genau die Metallgerätschaften verkaufte, die er suchte: einen schweren Hammer, Meißel, eine Spitzhacke und eine massive Brechstange. Mit diesem Werkzeug ausgerüstet kehrte der Priester des Wissens noch am gleichen Tag zu der Höhle zurück, in der er die vorausgegangene Nacht verbracht hatte.

Crandin hatte nun nicht mehr das Gefühl, dass er beobachtet wurde. Einmal begegneten ihm zwei Zogh-Krieger mit dem Wappen des Marschalls auf seinem Weg. Sie nickten ihm jedoch nur kurz und freundlich zu und setzten anschließend ihren Weg zielstrebig fort.

Danach traf er auf keinen Menschen mehr bis er schließlich den Berg mit der geheimnisvollen Höhle erreicht hatte. Er führte sein Pferd durch das Gebüsch bis zum Fuß des steilen Hanges, wo die Sträucher in einer kleinen Mulde wesentlich dichter standen. Dort konnte man das Tier vom Pfad aus nicht mehr sehen. Crandin nahm ihm den Sattel ab und band es neben einem kleinen Wasserloch fest. Dann machte er sich daran, das in Sokul erworbene Werkzeug in die Höhle zu schaffen. Zweimal musste er den anstrengenden Aufstieg bewältigen bis er die gesamte Ausrüstung in die Felsgrotte transportiert hatte. Als er mit seiner Arbeit begann, begann es draußen zu dämmern. Im schwachen Widerschein des allmählich verblassenden Tageslichts schlug Crandin auf den künstlich errichteten Steinhaufen ein. Da der Mörtel bröselte, kam er schnell voran.

Offenbar war es Qaromar, der mutmaßlich dieses Hindernis errichtet hatte, eher um eine gute Tarnung als um die Festigkeit gegangen. Den Grund hierfür erkannte Crandin, als er die Steinanhäufung endlich durchbrochen hatte und auf dem Boden durch die von ihm geschaffene Öffnung kroch. Das Loch erweiterte sich zu einem mannshohen Gang, der aber nach wenigen Metern durch eine Wand aus Ziegelsteinen versperrt wurde. Die Mauer bestand aus mehreren Schichten. Crandin musste den Rest des Tages und die ganze Nacht schuften bis er am nächsten Morgen endlich bis zur letzten Schicht durchgedrungen war. Eigentlich hatte er eine Pause einlegen wollen. Plötzlich vernahm er jedoch, dass sich der Klang der Hammerschläge veränderte. Daraufhin arbeitete er wie besessen weiter. Endlich stürzte die letzte Ziegellage in sich zusammen und gab den Blick in die Fortsetzung des dunklen Ganges frei.

Crandin ergriff seine Fackel. Während der Arbeit hatte er sie in einen Metallring gesteckt, der wohl im Zuge des Mauerbaus angebracht worden war. Vorsichtig tastete er sich durch den finsteren Felskorridor. Hinter einer scharfen Biegung sah er sich plötzlich einem aus armdicken Metallstäben bestehenden Gitter gegenüber. Aber nicht dieses Gitter schockierte ihn, sondern der Anblick der dahinter kauernden Gestalt.

„Nicht ganz das was du erwartet hast“, erklang eine jugendliche Stimme. Sie stand jedoch in grausigem Gegensatz zu dem Geschöpf, das die Worte gesprochen hatte. Die faltige Haut klebte an einem Totenschädel und ließ nicht einmal die Bestimmung des Geschlechts zu. Aus dem eingefallenen Gesicht der Mumie starrten zwei unheimliche, tief in den Höhlen liegende Augen Crandin an. Sie waren fast so hell wie die schneeweiße Haut. Die Iris hob sich nur durch einen schwachen Gelbschimmer von der weißen Hornhaut ab. Der bis auf die Knochen ausgemergelte Körper wurde von einem völlig zerschlissenen, schmutzigen Umhang nur unvollständig bedeckt. Lediglich einige goldgelbe Haarsträhnen, die von dem ansonsten kahlen Schädel herabhingen, nährten Crandins Verdacht, dass es sich tatsächlich um die Frau auf dem Bild handeln konnte.

Zunächst unfähig, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen, stellte er sich selbst die Frage: Was habe ich eigentlich erwartet? Schließlich stammelte er: „Wer – wer seid Ihr?“ Die Antwort kam sofort, mit messerscharfer Logik: „Du weißt doch, wer ich bin. Du bist nicht zufällig hier, sondern hast nach mir gesucht.“

Crandin versuchte, sich zu rechtfertigen: „Ich habe diesen Ort auf einer Karte entdeckt. Aber ich weiß nicht wirklich, wer Ihr seid.“

Das ausgezehrte Geschöpf, das an eine lebende Leiche erinnerte, gab sich damit nicht zufrieden: „Woher hast du diese Karte?“

„Von meinem Urgroßvater“, antwortete der Priester des Wissens wahrheitsgemäß.

„Dann bist du der Urenkel Qaromars“, stellte das Wesen sachlich fest. „Lebt er noch?“

Crandin setzte sich auf den Boden: „Nein. Ich habe ihn nie kennengelernt. Die Karte stammt aus seinem Nachlass, den er in Dunculbur versteckt hatte.“

Die mumienhafte Gestalt jenseits des Eisengitters setzte sich mit Mühe nun ebenfalls auf. Dann sprach sie mit ihrer wohlklingenden Stimme: „Mein Name ist Siridindar. Ich habe zusammen mit deinem Urgroßvater und drei weiteren Personen einen geheimen Bund gegründet, dessen Aufgabe es sein sollte, das uralte Wissen einer längst untergegangenen Zivilisation neu zu beleben. Dieses Wissen ist jedoch so mächtig, dass es den Geist sterblicher Menschen sprengt.“

„Hat es auch Euren Geist gesprengt?“, stellte Crandin die Frage, die ihn bereits zuvor wochenlang beschäftigt hatte.

Siridindar lachte kurz auf. Es war ein wissendes, humorloses Lachen. „So also lautete Qaromars Erklärung, warum er mich hier eingesperrt hat“, folgerte sie ohne die Andeutung einer Emotion. „Ich habe ihn immer davor gewarnt, den Dunstein zu berühren. Aber er hat es wohl doch getan. Urteile selbst: Ich lebe hier seit über zweihundert Jahren. Qaromar ist tot. Ich werde auch am Ende der Zeiten noch hier leben, wenngleich das nicht wirklich ein Leben ist, wie du es kennst. Aber ich lebe in einem schier unendlichen Wissen. Das genügt mir. Meine Körperlichkeit ist ziemlich bedeutungslos. Wirke ich auf dich als sei ich geistesgestört?“

„Nein“, musste Crandin zugeben. „Aber Ihr seid in den zweihundert Jahren gealtert. Wie soll das mit Eurem Körper weitergehen?“

Siridindar lachte erneut: „Du hast die Zeichnungen Qaromars gesehen. Der Körper ist nur eine Hülle und hat mit der Unsterblichkeit nichts zu tun. Die Alterung verläuft am Anfang schnell und dann immer langsamer. Wenn es in dieser Höhle Elith gäbe, würde ich immer noch aussehen wie auf dem Bild, das du gesehen hast.“

„Elith?“, fragte Crandin.

„Heutzutage nennen sie es Ilumit. Es hemmt den Alterungsprozess der Hülle. Auch bei dir würde es vielleicht wirken. Aber es verleiht keine Unsterblichkeit, nur Wohlbefinden.“ Crandin fand, dass es an der Zeit war, eine weitere Frage zu stellen, die ihn schon seit dem ersten Brief seines Urgroßvaters nicht mehr losließ und sein weiteres Handeln bestimmen würde: „Was würdet Ihr tun, wenn ich Euch befreite?“

Die Antwort kam für Crandin völlig unerwartet: „Nichts. Ich würde hierbleiben.“

„Aber wieso?“, wollte er wissen.

„Sieh mich an!“, forderte ihn Siridindar auf. „Würdest du so unter Menschen gehen wollen? Ich bin zwar unsterblich, aber eben eine unsterbliche Frau, falls du verstehst, was ich damit meine.“

Crandin kaute auf seiner Lippe herum. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen: „Kann ich Euch irgendwie helfen? Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass mein Urgroßvater Euch Unrecht angetan hat. Der Mann, der ihn tötete, sagte, dass er am Ende wahnsinnig war. Ich möchte dieses Unrecht wiedergutmachen.“

„Bring mir eine Handvoll Ilumit!“, verlangte Siridindar.

„Was bewirkt das?“, fragte Crandin unsicher. „Ihr sagtet, es hemme den Alterungsprozess, der bei Euch sowieso keine Rolle mehr spielt.“

„Ja“, bestätigte Siridindar. „Es verhindert bei vielen Lebewesen die Alterung. Aber bei Unsterblichen kehrt es den Alterungsprozess um bis zu dem Stadium, in welchem dem Körper das Elith entzogen wurde.“

Ein kurzes Zögern und ein unmerkliches Zucken seiner Mundwinkel genügte Siridindar, um Crandin zu durchschauen: „Qaromar hat dir gesagt, dass ich gefährlich sei und dass du mich nicht befreien darfst. Womit wurde er getötet?“

Beide standen auf. Während Crandin sich dem Gitter näherte, zog er den Dolch, den Telimur ihm gegeben hatte, aus seinem Gürtel. Er hielt ihn hoch, sodass Siridindar ihn sehen konnte. Selbst hier im Halbdunkel der Höhle war das rötliche Glitzern des Cirrha-Stahls noch zu erkennen.

„Torr-barakt“, murmelte die Unsterbliche wissend. „Hol das Werkzeug, mit dem du die Mauer eingerissen hast!“ Crandin steckte den Dolch wieder weg und ging gehorsam zu der zerstörten Ziegelwand zurück, wo die Werkzeuge lagen. Mit dem Hammer aus Sokul kehrte er zurück. Siridindar hatte ihre skeletthafte, weiße Hand um einen Gitterstab gelegt.

„Schlag mit dem Hammer auf meine Hand!“, befahl sie Crandin. Aber der zögerte: „Nein, das kann ich nicht tun.“

„Tu es mir zuliebe“, bat Siridindar.

Nach längerer Überlegung klopfte Crandin vorsichtig mit dem Hammer auf die knochige Hand. Er erwartete einen Schmerzensschrei, aber Siridindar lachte nur und forderte ihn auf: „Schlag gefälligst richtig zu! Du bist doch ein Mann, oder?“

Dass sie den ersten Schlag verkraftet hatte, ermutigte Crandin, und er schlug etwas fester zu. Wiederum erfolgte keine Reaktion, außer dass die mumienhafte Frau ihm ärgerlich vorhielt: „Nein, so geht das nicht. Das, was ich dir zeigen will, geht nur, wenn du mit voller Kraft zuschlägst.“

Entschlossen schlug Crandin nun heftig mit dem Hammer auf die weiße Hand. Siridindar zuckte erneut nicht im Geringsten, und ihre Hand blieb völlig unversehrt. Während der Priester des Wissens noch staunte, wies ihn Siridindar an: „Und jetzt den Dolch, aber bitte sehr vorsichtig!“

Zögernd näherte sich Crandin mit dem Cirrha-Messer.

„Ritz meinen Finger an!“, forderte Siridindar ihn auf. Als Crandin ihre Weisung behutsam befolgte, trat sofort ein Blutstropfen aus der winzigen Wunde aus. Schnell zog er den Dolch zurück.

Siridindars kaum zu erkennenden Lippen verzogen sich zu einem unmerklichen Lächeln: „Wie du siehst, bist du keineswegs wehrlos gegen mich, solange du gut auf deine Torr-barakt-Klinge aufpasst.“

„Ich werde Euch das Ilumit so schnell wie möglich beschaffen“, versprach Crandin. Nachdem er in die Grotte hinter dem Felsspalt zurückgekehrt war, entfaltete er Qaromars Karte, um zu sehen, wo sich das nächstgelegene Ilumitvorkommen befand. Er brauchte nicht lange zu suchen. Offenbar gab es in dem Mittelgebirge südlich der Sümpfe gleich mehrere kleinere Erzadern. Die nächste befand sich seiner Schätzung nach nicht einmal vier Wegstunden entfernt.

 

*

 

Nachdem Hrodolkar Crandin verlassen hatte, ritt er auf dem verschlungenen Pfad zurück zu dem Mittelgebirge bei Sokul, das bei den Zogh die Bezeichnung „Togaloides“ trug, was wortgetreu übersetzt „Dunstkuppeln“ bedeutete. Samajedes, der Gesandte des Marschalls von Sandammon und Sokul, begleitete ihn.

„Ich glaube, dass der Priester des Wissens hierher zurückkehrt“, meinte Hrodolkar nach einer Weile.

„Der Marschall hält dies auch für möglich“, stimmte Samajedes zu. „Er hat angeordnet, dass wir ihn zu seinem eigenen Schutz im Auge behalten sollen. Er darf es aber auf keinen Fall bemerken und denken, der Marschall misstraue ihm.“

Die beiden Zogh hatten nun einen hochgelegenen Bergrücken erreicht, von dem aus sie die Ebene überblicken konnten. Crandin war nur noch als winziger Punkt in der Ferne erkennbar, der schon fast die Außenbezirke von Sokul erreicht hatte.

Samajedes schaute sich um: „Wir sollten uns hier ein Versteck suchen.“

Hrodolkar schüttelte den Kopf: „Wenn wir ihm später folgen, ist die Entdeckungsgefahr zu groß. Ich habe einen besseren Vorschlag. Es gibt da einen Ort, den er meiner Meinung nach wieder aufsuchen wird. Dort in der Nähe können wir uns verbergen und in aller Ruhe abwarten.“ Samajedes wusste, dass der Marschall für die Grenzpatrouillen nur Krieger mit einer besonderen Beobachtungsgabe ausgesucht hatte. Obgleich er gegenüber Hrodolkar weisungsbefugt war, akzeptierte er daher sofort dessen Vorschlag. Gemeinsam begaben sie sich auf den Pfad, der von Ost nach West quer durch die Dunstkuppeln führte.

Vor einer der höheren Erhebungen auf der linken Seite des Weges hielt Hrodolkar sein Pferd an und deutete auf eine Felsspalte in halber Höhe des Berghangs. „Dort hat er übernachtet“, berichtete er. „Er hat so getan, als habe er die Höhle rein zufällig entdeckt. Aber er hatte zuvor schon nach ihr Ausschau gehalten. Wenn er in die Togaloides zurückkehrt, wird er diesen Ort wieder aufsuchen.“

Hrodolkar behielt Recht. Nur wenige Stunden nachdem sich die beiden Krieger etwa zweihundert Meter von dem Berg entfernt in einer Senke verborgen hatten, kehrte Crandin zurück und schleppte seine Gerätschaften in die Höhle. Geduldig harrten die Zogh den Rest des Tages und die gesamte darauffolgende Nacht aus, bis der Priester am späten Vormittag des anschließenden Tages die Höhle wieder verließ.

„Sollen wir ihm beide folgen?“, fragte Hrodolkar.

„Nein“, erwiderte Samajedes. „Da er das Werkzeug hiergelassen hat, wird er wohl auf jeden Fall zurückkommen. Du behälst ihn im Auge und ich sehe nach, was es mit dieser Höhle auf sich hat.“

Crandin bestieg sein Pferd und ritt davon. Hrodolkar folgte ihm unauffällig in gebührendem Abstand. Samajedes ging zu dem Berg und erklomm den Hang bis zu der Felsspalte. Zuerst glaubte er, dass er nicht hindurch passen würde. Für Hrodolkar wäre es unmöglich gewesen, sich hineinzuzwängen. Obgleich Samajedes schlanker war als sein Begleiter, benötigte er mehrere Minuten bis es ihm endlich gelang, durch den Riss zu schlüpfen. Sein Blick fiel sofort auf das Loch im Hintergrund der Höhle. Auch dort gelang es ihm nur mit äußerster Mühe, hindurchzukriechen. Anschließend musste er sich liegend über die zerschlagenen Ziegelsteine schieben, die Crandin im Gang verteilt hatte. Nach Überwindung des Steinhaufens konnte er endlich wieder aufstehen. Gebückt tastete er sich um die Biegung des Ganges bis er schließlich an dem Stahlgitter angelangt war. Zuerst erschrak er, aber dann übermannte ihn die Enttäuschung: Auf dem Boden jenseits des Gitters lag bewegungslos eine mumifizierte Leiche. Samajedes versuchte, an den Gitterstäben zu rütteln, aber sie gaben nicht nach. Auch einen Öffnungsmechanismus konnte er nirgendwo erkennen. Hier vermochte er nichts mehr auszurichten. Also beschloss er, sich zurückzuziehen. Dass der Priester des Wissens hier eine Leiche bergen wollte, erschien ihm zwar merkwürdig, aber alles andere als bedeutungsvoll. Er konnte nicht ahnen, dass das gleich in mehrfacher Hinsicht einen tödlichen Irrtum darstellte.

Wiederum benötigte Samajedes geraume Zeit bis er den gleichen Weg zurückgelegt hatte, den er gekommen war und sich erneut durch den Höhleneingang gezwängt hatte. Das Licht über den Dunstkuppeln wurde zusehends trüber. Graue Wolken zogen auf, und die Kraft der Sonne begann allmählich nachzulassen.

Der Tag neigte sich langsam seinem Ende zu. Samajedes begab sich zurück in das Versteck auf der anderen Seite des Pfades und wartete auf Hrodolkar. Er wartete zugleich auf seine letzte Nacht in dieser Welt.

 

*

 

Mit dem Cirrha-Dolch war es für Crandin ein Leichtes gewesen, aus einer in der Wand der Höhle verlaufenden Ilumit-Ader das graue Erz herauszukratzen und ein mehr als handgroßes Leinensäckchen zu füllen.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichte er den Felshang mit Siridindars Höhle. Unablässig zogen die trüben Dunstschleier von den Sümpfen kommend über die Togaloides hinweg.

Behände kletterte Crandin im verblassenden Licht des zu Ende gehenden Tages den Felshang empor. Er schob sich durch den Riss in der Bergwand hindurch und stieg über die angehäuften Bruchsteine hinweg. Dann sah er sich erneut der lebenden Mumie gegenüber, die hinter dem Gitter saß und ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen erwartungsvoll anblickte.

Triumphierend schwenkte Crandin das Leinensäckchen mit dem Ilumit.

„Du bist mein Retter“, erklang die wohltönende weibliche Stimme aus den nur noch als dünne Linien erkennbaren Lippen des Totenschädels. „Du wirst es nicht bereuen.“

Crandin schob das Säckchen zwischen den Gitterstäben hindurch. Danach zog er seinen Mantel aus und schubste ihn ebenfalls wortlos in das Verlies. Siridindars Gesicht verzog sich zu einem grimassenhaften Lächeln.

Dann sagte sie: „Würde es dir etwas ausmachen, in der Höhle zu warten bis ich dich rufe?“

„Nein, nein“, versicherte Crandin verlegen und beeilte sich, den Gang zu verlassen.

Nur wenige Minuten später ertönte bereits der von dem Priester des Wissens sehnsüchtig erwartete Ruf. Zum Gitter zurückgekehrt erstarrte Crandin. Vor ihm stand eine wunderschöne junge Frau mit blütenweißer, straffer Haut, vollen Lippen und goldblonden Haaren, die ihr in engelsgleichen Locken bis auf die Schultern fielen. Allein ihre blassgelben Augen hatten sich nicht verändert. Nun war auch ihr spöttisches Lächeln deutlich erkennbar:

„Als du mich zum ersten Mal gesehen hast, warst du weniger entsetzt als jetzt.“

„Es tut mir leid, dass ich mich so unbeholfen verhalte“, beeilte sich Crandin zu entschuldigen. „Aber Eure Schönheit hat mich sprachlos gemacht. Ihr seid noch viel schöner als auf der Zeichnung.“

Er griff in die Seitentasche seiner Jacke und zog die beiden Schlüssel hervor. Dann trat er zu der Gittertür und suchte die beiden Aussparungen, in die die Schlüsselgriffe passen sollten. Er fand sie auf der rechten Seite in halber Höhe des Gitterrahmens, aber sogleich muteten sie ihn zu flach an. Und als er die Griffe in die Ritzen schieben wollte, gelang ihm dies nicht.

„Qaromar hat die Schlösser versiegelt, nicht wahr?“, Siridindars Frage war eher eine Feststellung. „Gehe ein paar Schritte zurück!“ Zögernd gehorchte Crandin. Siridindar packte das tonnenschwere Stahlgitter mit beiden Händen, riss es mit einem einzigen Ruck aus der Verankerung und lehnte es gegen die Wand des Ganges als handele es sich um ein dünnes Holzbrett.

Crandin erstarrte als habe ihn ein Blitzschlag getroffen. Siridindar sah ihn mitleidig an.

„Was du gerade gesehen hast, hat vor allem mit Wissen zu tun, weniger mit Kraft“, erklärte sie. „Und du hast nun hoffentlich auch bemerkt, dass du nicht das Tor zur Hölle geöffnet hast, wie Qaromar dich glauben machen wollte. Komm jetzt!“ Sie legte ihm sanft den Arm um die Schulter und begleitete ihn in den vorderen Höhlenraum. Dort sah sie sich kurz um.

„Bitte häufe die Steine wieder vor dem Loch auf!“, bat sie Crandin. „Während du das tust, werde ich kurz hinausgehen, um mich wieder an die Freiheit und die Luft zu gewöhnen. In einer halben Stunde werde ich zurück sein.“

„Es ist Nacht!“, wandte Crandin ein.

„Ich sehe auch in der Nacht“, entgegnete Siridindar. Und nun wurde ihm zum ersten Mal richtig bewusst, dass sich in ihrer schwach gelblich leuchtenden Iris keine runden Pupillen, sondern schmale, schwarze Sehschlitze befanden, die ihn an die Augen einer Katze erinnerten. Für Crandin, der schon immer der Faszination anderer Lebewesen erlag, machte dies Siridindar nur noch attraktiver und begehrenswerter. Abrupt wandte er sich ab und begab sich an die Arbeit. Siridindar schlüpfte durch den schmalen Spalt ins Freie und spürte zum ersten Mal seit mehr als zweihundert Jahren wieder einen frischen Wind auf ihrem Gesicht.

 

*

 

Nachdem Crandin erneut durch die Spalte in der Bergwand verschwunden war, kehrte Hrodolkar in das Versteck der beiden Zogh zurück.

Samajedes berichtete ihm flüsternd, was er in der Höhle vorgefunden hatte.

„Eine Mumie?“, fragte Hrodolkar verständnislos. „Was will er damit? Er ist übrigens zu einer weiteren Höhle geritten und hineingegangen. Nachdem er sie verlassen hatte, habe ich mich dort umgesehen. Aber da war nichts Besonderes.“

Samajedes dachte nach und sagte schließlich: „Vielleicht sucht er nach Grabbeigaben. Das Gitter in der Höhle sollte vermutlich als Schutz gegen Grabräuber dienen. Dennoch ist es merkwürdig, dass die Mumie einfach auf dem Boden lag und nicht in einem Sarkophag.“

Hrodolkar schüttelte den Kopf: „Er ist ein Priester des Wissens. Er sucht sicherlich nicht nach Reichtümern, eher nach irgendeinem Artefakt.“

Samajedes sah den Späher überrascht an: „Natürlich. Das ist wohl die Lösung!“ Er überlegte kurz und eröffnete dann Hrodolkar seinen Plan: „Wir werden hier bleiben bis der Priester die Höhle verlässt. Dann wirst du ihm folgen, während ich nach Sokul zurückreite und dem Marschall Bericht erstatte. Ich glaube zwar nicht, dass Crandin schon heute in der Nacht aufbrechen wird, aber dennoch werden wir abwechselnd wachen.“

Samajedes übernahm die erste Wache. Er lehnte sich gegen einen Felsbrocken und sah hinüber zu dem Spalt in der Bergwand. Hrodolkar legte seinen Reitermantel ab, wickelte sich in seine Decke und streckte sich auf dem Boden aus. Immer noch sinnierte er darüber nach, was der Priester des Wissens wohl genau in der Höhle gesucht haben mochte und ob er es wohl gefunden habe. Im fahlen Licht des bleichen Mondes war die Umgebung auch für das geübte Auge des Kundschafters nur noch verschwommen erkennbar. Plötzlich erklang eine weibliche Stimme unmittelbar hinter den beiden Zogh: „Bitte, Sie müssen mir helfen!“

Die beiden Krieger fuhren herum und rissen instinktiv ihre Schwerter aus den Gürteln. Aber dann steckten sie sie wortlos wieder weg. Nur wenige Meter entfernt stand eine völlig unbekleidete und unbewaffnete junge Frau mit schneeweißer Haut und langen, goldblonden Locken. Ungläubig gingen die beiden Zogh-Krieger zwei Schritte auf die Frau zu, die sich ihnen ebenfalls zögernd näherte. Doch dann machte sie plötzlich eine schnelle, katzengleiche Bewegung, erreichte blitzschnell die beiden Männer, ergriff ihre Köpfe und schlug sie mit einer derartigen Wucht gegeneinander, dass die Schädelknochen mit einem hässlichen Geräusch barsten.

 

*

 

Crandin war mit seiner Arbeit gerade fertig geworden, als Siridindar durch den Felsspalt hereingeschlüpft kam. Sie hatte seinen viel zu weiten Mantel in der Taille mit einem Pferdestrick zusammengebunden.

„Was hast du nun vor?“, fragte sie Crandin.

Er setzte sich auf den Boden und versuchte, die Frage zu beantworten, obgleich er sich selbst noch nicht recht schlüssig war: „Der Innere Zirkel hat Saradur zum Höchsten Priester des Wissens bestimmt, nachdem auch mein Großvater dem Vernehmen nach getötet wurde. Ich halte das für fatal. Saradur ist ein Mann der Zwietracht, der den Kontinent erneut in Kriege stürzen könnte. Er verfolgt nur eigennützige Ziele. Aber allein kann ich ihm nicht die Stirn bieten. Deshalb habe ich mit dem Gedanken gespielt, einen eigenen Orden zu gründen, der ausschließlich den ursprünglichen Zielen der Priester des Wissens verpflichtet ist.“

„Der Geheime Bund von Dunculbur war eine solche Bewegung“, entgegnete Siridindar. „Der äußere Unterschied zu einem reinen Priesterorden bestand darin, dass auch Menschen anderer Herkunft Mitglieder werden konnten. Du solltest das Erbe Qaromars antreten. Dass er gescheitert ist, weil er einen falschen Weg eingeschlagen hat, solltest du nur als Warnung, nicht als Hindernis begreifen.“

„Was ist mit den anderen Gründern?“, wollte Crandin wissen.

Siridindar begann, nachdenklich an ihren Fingernägeln herumzukauen, eine Geste, die sie wie ein kleines Mädchen erscheinen ließ. Schließlich sagte sie mit einem Ton von Bitterkeit in der Stimme: „Man sollte sie zumindest vorläufig auf keinen Fall befreien. Es könnte durchaus möglich sein, dass Qaromar auch sie nur weggesperrt hat, weil er befürchtete, sie könnten ihn entlarven. Aber wenn er Recht hatte, und auch nur einer der anderen den Dunstein berührt hat, könnte ihre Befreiung zu einer Katastrophe führen. Das müssten wir zuerst herausfinden, denn der Dunstein verkörpert etwas unendlich Böses. Und dieses Böse kann offenbar durch bloße Berührung übertragen werden.“ Da hielt sie inne und runzelte die Stirn: „Jetzt rede ich schon von „wir“. Dabei weiß ich nicht einmal, ob du überhaupt willst, dass ich dich begleite.“

„Ich würde mir nichts sehnlicher wünschen“, platzte Crandin heraus, um gleich erklärend hinzuzufügen: „Ich selbst habe ja keinerlei Kenntnisse über den Geheimen Bund.“

„Gut“, lächelte Siridindar. „Aber wenn ich dich begleiten soll, müsstest du mir zunächst einmal ordentliche Kleidung beschaffen. Damit…“ Sie zeigte auf seinen Mantel, den sie trug: „…kann ich nur nachts die Höhle verlassen.“

„Selbstverständlich“, stimmte Crandin beflissen zu. „Aber wohin werden wir dann gehen? Und was sind die Ziele des Geheimen Bundes?“

„Viele Fragen“, seufzte Siridindar und setzte sich nun ebenfalls auf den Boden. „In der Tradition der Priester des Wissens hatte der Geheime Bund von Dunculbur einen Äußeren Stützpunkt gegründet, wo seine Mitglieder ungestört Forschungen betreiben konnten. Dies geschah an einem völlig abgelegenen Ort auf der Insel Rukumor. Dort befindet sich auf dem Berg Zwobulak, dem zweithöchsten Berg der Insel, eine alte Felsenburg. Der Geheime Bund hat sie wiederhergerichtet und ausgebaut. Rukumor erschien uns als ein ideales Refugium, nicht nur, weil es eine wunderschöne Insel ist, sondern auch, weil sie zu Lokhrit gehört und es dort kein obrigkeitliches Staatsgefüge gibt. In der Hauptstadt Kumor lebte ein Taubenzüchter. Mit der Hilfe seiner Vögel konnte man die anderen Ordensmitglieder überall auf dem Kontinent verständigen. Unsere Ziele waren eigentlich sehr einfach, aber dennoch unendlich schwer zu erreichen: Wir wollten Frieden und Wohlstand in allen Ländern schaffen. Aber um das zu erreichen, muss man einen unmittelbaren Einfluss auf jeden bekommen, der große Macht ausübt.“

Nun erschien dem Priester des Wissens die Zeit reif für die Fragen, derentwegen er nächtelang nicht schlafen konnte, und die ihm bisher niemand zu beantworten vermocht hatte: „Woher kommt der Dunstein und was passiert, wenn man ihn berührt?“

Siridindar stützte ihren Kopf mit der Hand. Ihr war klar, dass sie Crandin enttäuschen würde: „Das weiß ich nicht, weil ich ihn nicht berührt habe. Aber dennoch glaube ich, die Antwort zu kennen: Der Dunstein stammt nicht von dieser Welt. Niemand weiß, wie er hierhergekommen ist. Er trägt eine Krankheit in sich, die die Menschen befällt, die ihn berühren. Bei den Sterblichen löst er den Drang zur Vernichtung aus. Genau betrachtet geht es aber nur darum, die Zeitspanne bis zu einem ohnehin unausweichlichen Schicksal, nämlich dem Tod, zu verkürzen. Wer den Dunstein berührt tötet aber nicht einfach andere Menschen. Er arbeitet vielmehr einen Plan aus, ganze Völker zu vernichten. Deshalb kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass er nicht von einem Einzelnen geschaffen wurde, sondern von einer ganzen Rasse, und zwar wohl als Waffe, die gegen andere Rassen eingesetzt werden kann. Oder besser gesagt: als Waffe, die andere Rassen gegen sich selbst einsetzen. Ich glaube nicht, dass der Dunstein hier auf dem Kontinent gezielt benutzt werden sollte. Er ist wohl eher zufällig hierher gelangt. Aber allein der Umstand, dass er sich hier befindet und unzerstörbar ist, dürfte aus der Sicht der Sterblichen eine große Gefahr darstellen, wenngleich er letztlich nur ihre Lebensdauer verkürzt. Aber gerade dadurch, dass er dazu bestimmt ist, massenhaft die Lebensdauer Einzelner zu verkürzen, löscht er ganze Völker aus.“

Crandin starrte lange auf den staubigen Höhlenboden vor seinen Füßen, ohne ihn aber wirklich wahrzunehmen. Er musste daran denken, was Roxolay ihm einst über den Dunstein erzählt hatte. Siridindars brillante Schlussfolgerungen hatten ihm weitere Erkenntnisse gebracht, aber dadurch war ihm der Stein nur noch viel unheimlicher geworden. Schließlich stand er auf und sagte in einem Ton, der zwischen euphorischer Freude und abgrundtiefer Furcht schwankte: „Ich werde dir angemessene Kleidung besorgen. Dann gehen wir nach Rukumor.“

Seine Freude galt der Tatsache, dass er eine ebenso bildschöne wie überirdisch starke und kluge Frau, die angeblich auch noch unsterblich war, als Begleiterin gewonnen hatte; seine Furcht galt der Tatsache, dass er dazu verdammt schien, einen unscheinbaren Stein zu besitzen, dem eine unfassbare Vernichtungskraft innewohnte.

 

*

 

Im Morgengrauen ritt Crandin nach Sokul, um Kleidung für Siridindar zu besorgen. Am Rand der Dunstkuppeln hielt er sein Pferd an einem abgestorbenen Baum an, der seine kahlen, bleichen Äste hilflos ausgestreckt hatte, als wolle er nach den letzten Tropfen des Lebens greifen. Von der Ebene stieg ein leichter Nebel auf, so dass Crandin nicht bis nach Sokul sehen konnte. Aber sein Blick war ohnehin nicht auf das scheinbar endlose Tal gerichtet, sondern nach oben. Er schaute zu einem von wabernden Dunstbändern durchzogenen Himmel auf, die der nahe Vulkansumpf freigesetzt hatte. Noch während Crandin das Firmament absuchte, vernahm er neben sich in dem abgestorbenen Baum ein flatterndes Geräusch.

„Guten Morgen, Crandin.“ Der graue Papagei mit dem weißen Ring auf der Brust war nur fünf Meter von ihm entfernt gelandet.

„Hallo, mein Freund“, begrüßte Crandin den Vogel. „Wie sieht es im Norden aus?“

„Unitor lässt dir ausrichten, dass er etwas äußerst Wichtiges mit dir zu besprechen hat“, berichtete der Papagei. „Er fragt, wo er sich mit dir treffen kann.“

Crandin überlegte kurz. Wenn der Eisgraf die eigentliche Botschaft nicht durch den Papagei übermitteln wollte, musste es sich tatsächlich um eine sehr wichtige Angelegenheit handeln.

„Sage ihm, er soll zur Insel Rukumor kommen!“, wies er den grauen Vogel an. „Er wird mich dort in einer ehemaligen Felsenburg auf dem Berg Zwobulak finden. Sage ihm auch, dass es vielleicht besser ist, wenn er sich unterwegs und auf Rukumor nicht als der Fürst zu Drinh zu erkennen gibt. Auch ich habe wichtige Nachrichten für ihn.“

Der Papagei schlug mit den Flügeln: „Ich werde am besten gleich losfliegen.“

„Warte!“, hielt ihn Crandin zurück. „Da wäre noch etwas: Unitor soll unbedingt das Schwert von Umbursk tragen. Und vielleicht kannst du ihn ja auch begleiten.“

Auf dem Kontinent gab es nur noch zwei Schwerter, die aus dem alles durchdringenden Cirrha-Stahl geschmiedet waren. Eines davon hatte Arthania, die ermordete Königin von Zogh, dem Eisgrafen Unitor geschenkt. Das andere befand sich im Besitz der Eisgräfin Octora, der Tochter der Königin, die inzwischen die Nachfolge ihrer Mutter angetreten hatte.

Nachdenklich sah Crandin dem grauen Papagei nach, als er sich in die Lüfte erhob und in Richtung der Sümpfe davonflog.

 

*

 

Warum er bei der Wahl des Hüters der Flammen nicht wahlberechtigt war, hatte Jorgal zu Kerdaris nie hinterfragt. Er hatte diese Tatsache auch nie als Makel empfunden. Nun gereichte es ihm zum Verdienst, die Geschicke seines Nachbarlandes Gatya in einer für die Nordlande entscheidenden Epoche maßgeblich beeinflusst zu haben. Dort saß jetzt dank seiner Mithilfe eine zierliche, fast zerbrechlich wirkende Frau auf dem Thron, die als die Mächtigste des Kontinents galt. Seit die Eisgräfin Octora den Hochkönig Gylbax XII. von Sindra bei seinem Versuch, Mithrien zu erobern, getötet und seine Schattenarmee vernichtet hatte, gab es außerhalb von Yacudac nur noch wenige, versprengte Pylax auf dem Kontinent. Und auf direktem oder indirektem Wege verfügte die kindliche, hübsche Königin von Gatya über fast alle diese legendären Krieger, die wegen ihrer Schnelligkeit als nahezu unbesiegbar galten. Damit war Duotora noch weitaus mächtiger als die Königinnen der beiden anderen Nordlande zusammen, Quintora von Mithrien und Octora, die Gebieterin der kriegerischen Zogh. Wenn indes Macht der Herrscherin von Gatya etwas bedeutet hätte, wäre sie längst nach Sindra zurückgekehrt und hätte dort als designierte Hochkönigin das Erbe ihres getöteten Ehemannes Gylbax angetreten. Auf diese Weise hätte sie auch über Yacudac gebieten können, die Heimat der Pylax. Vor allem aber hätte sie das brüchige Machtvakuum beenden können, das nunmehr dort herrschte. Yxistradojn, der Vetter des letzten Hochkönigs, war formaler Regent von Duotoras Gnaden, hatte jedoch mit dieser Stellung im Verhältnis zu den Pylax noch nicht den historischen Anspruch, die bedingungslose Treue des Königlichen Verwesers von Yacudac einfordern zu können.

Für die Feinde des Nordens war es fatal, dass Duotora sich für Gatya entschieden hatte. Die drei Eisgräfinnen hatten als Königinnen ein Bündnis geschmiedet, das weitaus schlagkräftiger und unangreifbarer erschien als die von Gundur zu Drinh dreihundert Jahre zuvor ins Leben gerufene Vereinigung der drei Nordlande, die sein Nachfahre, der Eisgraf Unitor, unter Mithilfe der Fürsten von Mithrien und des Vaters der jetzigen Königin von Gatya beendet hatte.

Jorgal zu Kerdaris gab sich indessen keinen Illusionen hin. Als Inkarnation der Vorsicht und der Wachsamkeit ging er davon aus, dass die Feinde des Nordens insgeheim bereits an Plänen arbeiteten, diese Eintracht zu zerstören. Aber selbst für ihn überschritt es die Grenzen der Vorstellungskraft, dass Menschen mit den besten Absichten die tödlichste Gefahr darstellen konnten. So kannte er beispielsweise auch nicht die Rolle, die die treuen Begleiter Königin Arthanias unbewusst bei ihrer Ermordung gespielt hatten.

Fürst Jorgal war der Besitzer der außergewöhnlichsten Burg im Norden. Sie bestand aus einem Konglomerat unterschiedlich hoher Rundtürme mit überdachten Verbindungsbrücken, deren Anblick geradezu verstörend auf den Betrachter wirkte. Jorgal selbst sah die Burg nur als Leihgabe an. Er stand damit in der Tradition seiner Vorfahren, die einen guten Grund hatte. Vor unendlich langer Zeit war die Burg ein Tempel gewesen. Jorgal ahnte das, ohne es wirklich zu wissen. Aber seit kurzem wusste er, dass die Burg einen Schatz barg, von dessen Bedeutung er zunächst keine Vorstellung hatte. Es handelte sich um ein Kleidungsstück aus einem mäßig dehnbaren, fremdartigen Material, dessen hellgrau irisierende Farbe nahezu durchsichtig wirkte. Mit diesem sonderbaren Umhang konnte man den gesamten Körper bedecken. Jorgal hatte es durch Zufall in einem abgelegenen, verschlossenen Raum des Turmes gefunden, in dem die Kleidungs- und Waffenvorräte aufbewahrt wurden. Das merkwürdige Gewand hing an einem Holzkreuz mitten in dem ansonsten leeren, kleinen Zimmer.

Gemeinhin pflegte Jorgal zu Kerdaris das Abendmahl gemeinsam mit seinem Burgvogt und dem Pylax Kwoxit u Dengo einzunehmen. Dieses Mitglied der legendären Kriegerkaste aus Sindra war auf allerlei seltsamen Umwegen in die Burg des Fürsten gelangt. Jorgal hatte nicht die geringste Vorstellung von dem wahren Alter des Pylax, der bereits über dreitausend Jahre zählte und nach einer Wiedererweckung gerade sein zweites Leben lebte. Dennoch hatte der Fürst instinktiv die unglaubliche Weisheit hinter der jugendlichen Fassade seines Gastes durchschaut. Darin lag auch der Grund, weshalb Jorgal an diesem Abend nach dem Weggang des Burgvogts entschied, den Pylax in sein Geheimnis einzuweihen und ihm das unlängst entdeckte Kleidungsstück zu zeigen.

Jorgal hatte sich inzwischen an die scheinbar völlig ausdruckslose Mimik des Mannes mit der gelblichen Hautfarbe, der auffällig gebogenen Nase und den fast schwarzen Augen gewöhnt. Daher erschrak er regelrecht angesichts der Reaktion, die der Anblick des Kleidungsstücks bei dem Pylax auslöste. Dessen dunklen Augen waren wie sein Mund weit aufgerissen und seine Arme ausgestreckt, als sei das Gewand ein böser Geist, der ihn heimsuchte. Schließlich stammelte Kwoxit u Dengo: „Das Eidgewand von Yacudac.“

„Was hat es damit auf sich?“, fragte der Fürst atemlos.

Kwoxit u Dengo näherte sich bedächtig und mit staunender Ehrfurcht dem irisierenden Kleidungsstück, nachdem er sich wieder gefasst hatte.

Dann begann er zu erzählen: „Die Frauen meines Volkes stellen ein Gewebe her, für das unter anderem die Spinnfäden der Grauen Riesenspinne verwendet werden. Man nennt es die „Rüstung der Pylax“, und es hält jedem Angriff stand, sogar den Metallpfeilen der Obesier und den Zähnen der gefährlichsten Tiere, nur nicht Cirrha-Stahl. Dieses Gewand hier wurde aber zu einer Zeit gewoben, an die sich selbst die ältesten Pylax nicht mehr erinnern können. Es ist das einzige, das auch von Cirrha-Stahl nicht durchdrungen werden kann. Aber es birgt noch ein weiteres Geheimnis: Als sich die Pylax mit Sindra verbündeten, hat der letzte König von Yacudac dem damaligen Hochkönig von Sindra, Cedephrastes II., zum Zeichen der Treue dieses Gewand übergeben. Als weiteres Zeichen der Unterwerfung legte er die Königswürde nieder und nannte sich fürderhin nur noch Königlicher Verweser von Yacudac im Dienste des Hochkönigs. Aber auch Cedephrastes hat einen Eid geschworen, nämlich die Pylax vor ihren Nachbarn, den Lumburiern, zu beschützen. Das ist jedoch noch nicht alles. Cedephrastes bekräftigte, dass das Eidgewand von Yacudac auch beide Seiten wieder von ihrem Schwur entbinden könne, wenn dies dem Willen eines späteren Hochkönigs oder des Königlichen Verwesers von Yacudac entspräche. Dieses Gewand ist also ein mächtiges Artefakt, das nicht nur den Körper des Trägers, sondern auch zwei Völker schützt. Würde der Pakt widerrufen, käme es wohl unweigerlich zum Krieg zwischen Sindra und Yacudac. Außerdem würden beide Völker ihren Schutz gegen ihre äußeren Feinde verlieren.“

„Und wie ist das Gewand hierhergekommen?“, wunderte sich Jorgal zu Kerdaris, wobei er davon ausging, dass der Pylax ihm diese Frage nicht würde beantworten können.