Die Spur der weißen Kreise - Eckhard Bausch - E-Book

Die Spur der weißen Kreise E-Book

Eckhard Bausch

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Beschreibung

Das Buch erzählt einen schicksalhaften Ausschnitt aus der Geschichte eines fiktiven Kontinents. Neun Eisgrafen aus dem Norden, die ihre freiheitsliebenden Länder gegen dunkle Mächte schützen,und die Priester des Wissens, Mitglieder eines unabhängigen Ordens, der wissenschaftliche Monasterien betreibt, werden durch ein Spielgeheimnis voller Antipoden in kriegerische Ereignisse verstrickt.Zwei feindliche Halbschwestern liefern sich einen erbitterten Kampf um die Unsterblichkeit. Der größenwahnsinnige Spross einer uralten Dynastie von Hochkönigen trachtet danach, mit Hilfe einer schauerlichen Kriegerkaste eine ruhmreiche Vergangenheit neu zu beleben. Sie alle ahnen nicht, dass ihre Geschicke von einem Geflecht alter Wesenheiten bestimmt werden, dessen Wurzeln weit in die Vergangenheit reichen. Spannend, überraschend und rätselhaft.

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Seitenzahl: 520

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Die Dunstein Chroniken

 

Teil 1:

Die Spur der weißen Kreise

 

(von Eckhard Bausch)

 

Deutsche Erstausgabe

 

2019

 

© Mystic Verlag

 

Umschlagskonzept: Hans-Martin Knerr

 

Umschlaggestaltung: Hans-Martin Knerr/Claudia Gornik

 

unter Verwendung von Fotos

 

Shutterstock / iStock

 

Satz: Helga Sadowski

 

Korrektur: Mystic Verlag

Druck und Bindung: Books on Demand

 

ISBN: 978-3-947721-08-5

 

 

Interessierte Leser und Autoren finden weitere Informationen auf unserer Website.

 

www.mysticverlag.de

 

Geschäftsführer: Timo Arnold

Adolf-Ludwig-Ring 69

66955 Pirmasens

 

Für Christine,

Annika und Leonard

 

 

Hinweis des Autors

 

In diesem Buch wird die Geschichte eines kleinen, fiktiven Kontinents während einer schicksalhaften Epoche beschrieben. Um jederzeit einen schnellen Überblick und den Zugriff auf Namen und Zusammenhänge zu ermöglichen, gibt es im Anhang eine Karte des Kontinents und eine als „Orientierungshilfe“ bezeichnete Kurzbeschreibung der wichtigsten Handlungsorte und Personengruppen mit den ihr jeweils zugehörigen Protagonisten.

 

Ich wünsche den Lesern viel Spaß und Spannung!

Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Die Todesloge
Kapitel 2 – Pandor Sanhs Reise zum Aralt-Gebirge
Kapitel 3 – Die Zusammenkunft der Eisgrafen
Kapitel 4 - Die „Gütige Frau von Oot“
Kapitel 5 – Der Weg durch die Höhlen
Kapitel 6 – Die Spinne und der grüne Kristall
Kapitel 7 – Die unterirdische Festung
Kapitel 8 – Der Tag der Hinrichtung
Kapitel 9 – Graue Eminenzen
Kapitel 10 – Der Hochkönig von Sindra
Kapitel 11 – Königsmord im Flammensaal
Kapitel 12 – Tödliche Kämpfe um das Elixier des Lebens
Kapitel 13 - Die Verschwörung der Unsterblichen
Kapitel 14 – Blutige Orchideen
Kapitel 15 – Die Eroberung des Quaralpalasts
Kapitel 16 – Der Antrag des Hochkönigs
Anhang: Orientierungshilfe

Prolog

Viele Jahre waren vergangen, seit Gundur zu Drinh, allein mit der Macht des Wortes, die drei Nordlande vereinigt hatte. Die Wanderpriester des Wissens, aus der Mitte des Kontinents, durchstreiften auf ihrer Suche nach einzigartigen Naturschätzen die gesamte bekannte Welt. Einer von ihnen, Qaromar, drang bis in die nördlichen Ausläufer des gewaltigen Aralt-Gebirges vor, das sich Hunderte von Meilen zwischen Mithrien und Zogh erstreckte. Schließlich entdeckte Qaromar die Höhlen von Zogh, in denen es ungewöhnliche Kristallvorkommen gab.

Danach benötigten die Priester des Wissens nur zehn Jahre, um am Fuß des Aralt-Gebirges eine befestigte Forschungsanlage zu errichten, die sie „Monasterium von Sylabit“ nannten. Die Zogh, kriegerische Menschen mit einer grauen Hautfarbe, die während Jahrtausenden des Lebens in Höhlen entstanden war, duldeten die Anlage, weil die Priester des Wissens den Einheimischen bei der Bekämpfung von Krankheiten halfen und ihnen wichtige Erkenntnisse für die Nahrungsbeschaffung vermittelten.

Knapp einhundert Jahre währte das friedliche Zusammenleben. Dann stahl einer der Priester des Wissens dem Herzog der Höhlen-Zogh einen grünen Kristall, dem man geheimnisvolle Kräfte nachsagte. Die Höhlen-Zogh riefen daraufhin Königin Usuldura zu Hilfe, die Herrscherin der wilden Zogh der Hochebenen, die das Kind des Herzogs trug. Usuldura eroberte Sylabit in einem blutigen Kampf, in dem fast alle Bewohner des Monasteriums getötet wurden. Nur dem Leiter der Forschungsanlage und seiner kleinen Tochter gelang die Flucht mit dem grünen Kristall durch einen unterirdischen Tunnel. Das geschah vor genau einhundertundfünfzig Jahren. Ihre Gestalten verschwanden in den Nebeln des Vergessens.

Als sich die Nebel lichteten, hatte bereits ein Spiel begonnen, bei dem es um keinen geringeren Einsatz als um das Schicksal einer ganzen Welt ging.

*

Nachdenklich musterte der alte Mann das versiegelte Schriftstück, das vor ihm auf der Platte seines Arbeitstisches lag. Die Taube, die es gebracht hatte, saß noch auf dem Fenstersims. Offenbar ruhte sie sich für ihren langen Rückflug in das ferne Land aus.

Die Gedanken des Mannes schweiften ab. Er sah die schreckgeweiteten blauen Augen vor sich, als der Eisgraf bemerkt hatte, dass er in eine Falle getappt war. Er hatte den weißen Kreis gesehen, aber offenkundig nicht gewusst, was dieses uralte Symbol bedeutete. Diese Unwissenheit hatte den Hüter des Größten aller Eisbäume das Leben gekostet.

Der Brief wies keinen Absender und keine Anrede auf und war auch nicht unterzeichnet. Wenn er in falsche Hände gelangt wäre, hätte sich das Fehlen dieser Angaben als wichtig erweisen können. Der alte Mann wusste ohnehin, wer das Schreiben verfasst hatte. Erneut las er die beiden Zeilen, die über das Schicksal eines Menschen entscheiden sollten:

„Die Vögel haben mir berichtet, dass der Größte aller Eisbäume einen neuen Hüter erwählt hat. Du weißt, was zu tun ist.“

Eine verschnörkelte Schrift auf braunem Pergament, versehen mit einem weißen Kreis, dem archaischen Symbol der Vergeltung. Für die Opfer sollte dieses Symbol eine Warnung darstellen. Aber der letzte Unitor hatte es in seiner Unwissenheit nicht beachtet und dem Neuen war es sicherlich ebenfalls nicht geläufig. Umständlich und voller Zweifel erhob sich der alte Mann. Anscheinend ging es längst nicht mehr um ehrenvolle Vergeltungsakte, die von ihm verlangt wurden. Die Zeremonie war inhaltsleer geworden. Er hasste dieses seelenlose Morden.

 

 

 

 

Kapitel 1 – Die Todesloge

Als Tritor zum Hinrichtungsplatz hinunterschaute, wurde ihm klar, dass ihn heute der kleinste Fehler ins Verderben führen würde. Seine Hände krallten sich so angespannt an die Balkonbrüstung, dass die blauen Adern aus seiner grauen Haut hervortraten. Selbst für einen Mann, der die Nähe des Todes gewohnt war, stellte dieser Auftrag ein außerordentliches Wagnis dar.

Stämmige Soldaten der Schildwache, mit breiten Schultern und grimmigen Gesichtern, hatten bereits mit ihren aufgepflanzten Lanzen vor der großen Holztribüne auf der rückwärtigen Seite des runden Platzes Aufstellung bezogen. Sie hatten die Aufgabe, für einen reibungslosen Ablauf des Hinrichtungsrituals zu sorgen. In ihren schweren Rüstungen hinter den rautenförmigen Eisenschilden wirkten sie wie eine undurchdringliche Mauer. Das Wappentier der Schildwache, ein Panzerkrokodil mit dolchartigen Zähnen im aufgerissenen Maul, unterstrich zusätzlich die Kampfbereitschaft und Entschlossenheit dieser Phalanx.

Kein Lufthauch regte sich innerhalb der rötlichen Dunstglocke, die über dem Platz die Strahlen der sengenden Sommersonne eingefangen zu haben schien. Die flirrende Hitze und die atemlose Stille, die auf dem Forum lasteten, waren nahezu greifbar. Die obesischen Flaggen rundherum und zu beiden Seiten des Holzpodests mit dem Richtblock hingen schlaff und unbewegt an den Masten herab. Nur der blutrote Untergrund war zu erkennen, nicht aber das schwarze Schwert. Tritor stand auf einem kleinen Balkon im sechsten Stockwerk des wuchtigen, aus braunen Quadern errichteten Bauwerks. Ein unbefangener Reisender hätte es eher für eine Kaserne als für eine Herberge gehalten. Aber hier in Modonos, der Hauptstadt Obesiens, waren fast alle Gebäude wuchtig und aus braunem Stein. Für Fremde hatte die ganze Atmosphäre in dieser Stadt etwas Bedrohliches, und dieser Eindruck hatte durchaus seine Berechtigung. Die Obesier galten von jeher als kämpferische Rasse. Aber seit Beginn der neuen Ära schien das Verhalten jedes Einzelnen, wie auch das des gesamten Volkes einem gleichförmigen Muster zu folgen. Alle Bestrebungen waren letztlich nur noch auf die Erweiterung des eigenen Lebensraums ausgerichtet. Immer wieder hatte der „Berater“ betont, dass insgeheim ein Krieg vorbereitet wurde, der epische Ausmaße anzunehmen drohte. Möglicherweise würde er nicht nur über das Schicksal der Vereinten Nordlande, sondern vielleicht sogar über das Schicksal des gesamten Kontinents entscheiden.

Der Mann unterbrach seine Betrachtungen. Er musste jetzt die notwendigen Vorbereitungen treffen. Tritor war ein Eisgraf und gehörte damit zu den Hauptakteuren jenes geheimen Krieges. Alle neun Eisgrafen sahen es als ihre Aufgabe an, zu verhindern, dass die freien Menschen der Nordlande von der drohenden Flut hinweggespült würden.

Langsam griff Tritor nach seiner dunkelroten Samtkappe, einer Kopfbedeckung, die ihn als akkreditierten ausländischen Kaufmann auswies. In diese Mütze hatten die unvergleichlich geschickten Schneider des Hüters der Flammen ein feines Gespinst aus silbernen und rotgoldenen Fäden eingewoben, welche die verstärkten Ausstrahlungen seiner Gehirnwellen vor der geheimnisvollen Wahrnehmungsgabe der Obesier verbargen. Eine Tarnkappe im doppelten Sinne, die den Feind über seine wahre Mission ebenso täuschte wie über seine besondere Gabe, den „vernichtenden Blick“. So bezeichneten die Völker des Kontinents die Fähigkeit der Eisgrafen, allein mit Hilfe ihrer Gedanken Menschen und Gegenstände zu zerstören.

Für einen Augenblick erschien Octoras Bild ganz deutlich vor Tritors innerem Auge, ihre ebenmäßigen, strengen Züge mit der Andeutung eines spöttischen Lächelns in ihren Mundwinkeln. Ihre strahlenden, grauen Augen bildeten eine perfekte Einheit mit der grauen Haut, wie sie für die Menschen in Zogh typisch war. Die Liebe seines Lebens, jetzt so weit entfernt wie die Sterne.

Tritors Blick fiel zufällig auf einen weißen Kreis. Jemand hatte ihn oberhalb der schmutzigen Abflussrinne auf die Stirnwand des Balkons gemalt, anscheinend ohne jeden Sinn. Der weiße Kreis erinnerte den Eisgrafen unwillkürlich an eine Zielscheibe. So fasste er den Entschluss, ein letztes Mal vor dem entscheidenden Einsatz seine zerstörerische Gabe genau auszurichten. Auf die beträchtliche Entfernung von dem hochgelegenen Balkon bis zum Schafott im hinteren Bereich des großen Platzes war es selbst für einen erfahrenen Eisgrafen äußerst schwierig, ein Objekt genau zu erfassen. Aber heute hing das Leben eines anderen Eisgrafen davon ab, dass ihm dies gelingen würde.

Während er seinen Blick auf der Suche nach einem geeigneten Gegenstand über das Forum schweifen ließ, entdeckte er aus den Augenwinkeln, an der Steinwand neben der Türöffnung, einen schwarzen Mon´ghal, der ihn mit seinen stumpfen Augen anzustarren schien. In den Nordlanden gab es keine Mon´ghale, vermutlich weil während der meisten Zeit des Jahres eine klirrende Kälte herrschte. Hier in Obesien jedoch, waren diese handspannengroßen, raupenähnlichen Tiere überall verbreitet. Einer ersten Eingebung folgend hatte Tritor schon mit dem Gedanken gespielt, den Mon´ghal zu erschlagen. Dann sah er eine fette Spinne mit roten Bändern an den Gelenken ihrer fast fingerdicken Beine, die stockend in Richtung des Raupenwesens kroch. Mit hämischem Grinsen beschloss Tritor, der Spinne die Mahlzeit nicht zu verderben.

Die auch im Umgang mit Tieren zur Brutalität neigenden Obesier töteten Lebewesen häufig ohne ersichtlichen Grund, insbesondere wenn es sich um natürliche Feinde der Mon´ghale handelte. Die schwarzen Raupen dagegen blieben unangetastet, obgleich deren hässliche Präsenz allgegenwärtig schien. Jedenfalls hatte Tritor noch nie gesehen, dass ein Obesier einen Mon´ghal getötet hätte. Stattdessen war ihm wiederholt aufgefallen, dass die offenbar nutzlosen Raupenwesen sogar gefüttert wurden. Allein dieses Verhalten der verhassten Obesier hatte für Tritor ausgereicht, eine ansonsten nicht erklärbare Abneigung gegen die scheinbar harmlosen Mon´ghale zu entwickeln.

Als der blecherne Klang der Fanfaren ertönte, wurde Tritor bewusst, dass der entscheidende Augenblick bevorstand. Er durfte sich jetzt nicht mehr ablenken lassen.

Mit erhöhter Aufmerksamkeit setzte er seine Suche nach einem geeigneten, unauffälligen Zielobjekt fort. Endlich wurde er fündig. Neben der Holzbühne, die eigens für das makabre Schauspiel aufgeschlagen worden war, lag ein unscheinbares Stück Stoff, womöglich ein Tuch, das einer der Zimmerleute beim Aufbau verloren oder weggeworfen hatte. Rasch zog Tritor die rote Samtkappe vom Kopf und konzentrierte sich auf den Stofflappen. Unsichtbare Schwingungen strömten von dem Eisgrafen aus. Sie hüllten das Tuch in ein waberndes Feld, das einer schillernden Luftblase im Wasser glich. Als die Blase einen Augenblick später erlosch, war von dem Gewebe nur noch ein wenig Staub übriggeblieben. Niemand hatte den Vorgang bemerkt.

Sie sind so versessen darauf, sich am Tod anderer Menschen zu berauschen, dass sie selbst ihren eigenen Tod zu spät bemerken würden, dachte Tritor in einem Anflug von Zynismus. Hastig stülpte er sich die Tarnkappe wieder über und wandte sich der Hinrichtungszeremonie zu. Er konnte nicht ahnen, dass sein eigentlich aus kühler Überlegung entsprungenes Handeln eine für ihn verhängnisvolle Wendung des Schicksals ausgelöst hatte.

Inzwischen hatte auch das dumpfe Läuten der Totenglocken eingesetzt und bildete einen atonalen Kontrast zu den blechernen Fanfaren, der jedes unverbildete Gehör beleidigte. Eine durchaus passende Klangkulisse für einen öffentlichen Mord, dachte Tritor.

*

Arakhad schwitzte unter dem ungewohnten Kettenhemd in dem kleinen Zimmer, das ihm von der Geheimen Schar im fünften Stockwerk der „Herberge zur Hohen Gastlichkeit“ zugewiesen worden war. Mitglieder der Geheimen Schar trugen normalerweise bei ihren Einsätzen nur leichte Panzerhemden aus mehrfach verleimten Leinenschichten. Heute galt eine geänderte Anweisung, weil ausnahmsweise die „Viper“ das „Krokodil“ bei der Absicherung des Hinrichtungsrituals unterstützen musste. Bei der Obesischen Viper handelte es sich um eine kleine, aber hochgiftige Schlange, die die Färbung ihrer Haut der Umgebung anpassen konnte. Wegen ihrer todbringenden Unauffälligkeit hatte die Geheime Schar sie als Wappentier auserkoren. Arakhad war als einem von vierzig in den umliegenden Gebäuden verteilten Soldaten dieser Eliteeinheit die Aufgabe zugewiesen worden, bei etwaigen Unregelmäßigkeiten während der Hinrichtungszeremonie sofort einzuschreiten. Das Kollektiv war nervös und hatte Sicherheitsvorkehrungen auf höchstem Niveau angeordnet. Es durfte kaum davon ausgegangen werden, dass die Exekution eines Eisgrafen ohne Zwischenfälle verlaufen würde.

Arakhad spielte an seinem Jadering mit dem Relief der Wappenviper herum, ohne ihn aber wirklich zu beachten. Gerade wollte er aufstehen, um auf den Balkon hinauszutreten, als er einen kurzen Impuls wahrnahm. In seinem Kopf spürte er feine Schwingungen, die sofort wieder abbrachen. Es war genau der Augenblick, in dem sich der Stofflappen neben dem Schafott unter dem „vernichtenden Blick“ Tritors auflöste. Ungestüm sprang Arakhad auf, riss sein Schwert aus der Scheide und stürzte aus dem Zimmer. Seine Schritte hallten durch den spärlich beleuchteten Steinflur, als er zu dem gegenüberliegenden Treppenaufgang hetzte. Dabei bemerkte er, wie eine schlanke Gestalt katzengleich aus dem weiter rechts gelegenen Treppenabgang zur darunter befindlichen Etage auftauchte und sich auf ihn zu bewegte. Zwei rötliche Augen hefteten sich auf ihn. Für einen Moment hielt Arakhad inne. Irgendetwas schien mit dem jungen Mann nicht zu stimmen. Einem inneren Zwang folgend ignorierte der Obesier aber dieses Gefühl und stürmte weiter die Treppe hinauf zum sechsten Stockwerk. Er hatte seine Pflicht zu erfüllen und keine Zeit, sich um einen Priester des Wissens zu kümmern, auch wenn ihm dessen Verhalten merkwürdig vorkam. Arakhad hielt sich nicht nur hier auf, um eine Hinrichtung zu überwachen. Seinen eigentlichen Auftrag hatte er vom Höchsten Priester persönlich erhalten. Und das war ein Mordauftrag.

*

Das Kollektiv, der aus sieben Mitgliedern bestehende Herrscherrat Obesiens, hatte Telimur ausgewählt, um den todgeweihten Häftling zu befragen und die „Worte des Letzten Trostes“ zu ihm zu sprechen. Dadurch wurde dem jungen Priester eine große Ehre zuteil, weil er eigentlich noch viel zu unerfahren für eine solche Aufgabe erschien. Dass er dennoch ausgewählt worden war, hatte er nicht nur einer Empfehlung aus dem „Inneren Zirkel“ des Priesterordens zu verdanken. Der eigentliche Grund bestand darin, dass die anderen Priester des Wissens wenig Interesse an derart profanen Themen wie der sogenannten „Gesprächsforschung“ hatten, die die Bezeichnung „Wissenschaft“ eigentlich gar nicht verdienten.

Telimur hatte nach anfänglichen Schwierigkeiten viele wichtige Informationen aus dem gefangenen Eisgrafen herausgepresst, ohne die ultimative Folter anwenden zu müssen. Zumindest glaubte dies das Kollektiv, nachdem es die Dokumente erhalten hatte. Der junge Priester wusste es besser.

Er ahnte, dass er die zentrale Figur eines Komplotts gegen die obesische Obrigkeit war. Aber er hatte diese Rolle bereitwillig übernommen. Tief in seinem Inneren missbilligte er schon immer die starre, einseitig auf Kriegführung ausgerichtete Ordnung in seinem Land.

Als Telimur den Delinquenten verließ, zweifelte er nicht daran, dass es zu einer Katastrophe kommen würde. Auch davon ahnte das Kollektiv nichts, weil es von dem jungen Priester im Auftrag seines höchsten Ordensherrns getäuscht worden war.

Telimur betrat die „Herberge zur Hohen Gastlichkeit“. Sein Ziel, ein unscheinbarer Balkon, befand sich im sechsten Stockwerk. Als er völlig außer Atem den Treppenabsatz des fünften Stockwerks erreicht hatte, kam ihm ein großer, breitschultriger Obesier mit gezogenem Schwert entgegen gepoltert.

„Zu spät“, zuckte es Telimur durch den Kopf. Der Mann hatte kurz innegehalten und ihn angestarrt, rannte dann aber sofort weiter auf die Treppe zu, die zum sechsten Stockwerk führte. Telimur beeilte sich, ihm unbemerkt zu folgen. Dabei glitt der Cirrha-Dolch mit der rötlich schimmernden Klinge aus den Ärmelfalten seines olivgrünen Gewands in seine Hand. Er hielt den Griff bereits fest umklammert als er den Treppenabsatz des sechsten Stockwerks erreicht hatte. Gegenüber lag die Türöffnung eines logenartigen Balkons, der vom Gemeinschaftsflur der Herberge den Blick auf den Richtplatz ermöglichte. Der Türrahmen wurde fast ausgefüllt von dem Rücken des Mannes, der vor Telimur die Treppe hochgeeilt war.

*

Ein ohrenbetäubendes Geschrei brandete auf, als die Gardisten von Modonos mit ihrem Gefangenen im Zugangstor zum „Platz der Einkehr“ erschienen. „Ein seltsamer Name für eine Hinrichtungsstätte“, dachte Tritor. Der plötzliche Lärm schien sogar die Spinne irritiert zu haben, die knapp eine halbe Armlänge vor dem Mon‘ghal wie erstarrt innehielt und ihren Weg nicht mehr fortsetzte.

Tritors Augen suchten die Menge vergeblich nach dem anderen Eisgrafen ab, der sich durch das Tragen eines olivgrünen Gewands als Priester des Wissens tarnen sollte. Tritor beneidete ihn nicht um die Aufgabe, die er freiwillig übernommen hatte. Aber da gab es noch einen dritten Eisgrafen. Der war am allerwenigsten beneidenswert.

Vier Gardisten begleiteten den Gefangenen auf seinem letzten Gang, jeweils einer vorne, hinten und zu beiden Seiten. Sie trugen über ihren schimmernden Paraderüstungen mit dem Symbol des Schwarzen Panthers dunkelbraune Umhänge, die Tritor an die Reitermäntel seiner Zogh-Krieger erinnerten. Stiftschützen der Schildwache bildeten eine breite Gasse bis zum Aufgang der aus rohen Holzbohlen für die Hinrichtung zusammengezimmerten Bühne. Die runden Mündungsrohre der Stiftlader mit den pfeilartigen Stahlbolzen, schienen die Bewegungen der kleinen Prozession mitzumachen.

Tritor konnte den Delinquenten nur von hinten sehen. Das eiserne Augenband, das die Gardisten dem Gefangenen übergezogen hatten, war jedoch unverkennbar. Es sollte ihn an der Anwendung des „vernichtenden Blicks“ hindern.

Tritor wusste, dass die Stiftschützen das größte Problem darstellten. Langsam fasste er nach seiner Tarnkappe. Er würde sie erst im allerletzten Moment vom Kopf nehmen. Ab diesem Zeitpunkt konnten in der Nähe befindliche Obesier die Verstärkung seiner Gehirnwellen spüren und ihn als Eisgrafen erkennen.

Plötzlich vernahm Tritor ein dumpfes Geräusch in seinem Rücken. Als er herumfuhr, sah er die zerschlagene Spinne, noch bevor ihn das Schwert des Obesiers durchbohrte. Um nicht aufzufallen, hatte Tritor seinen schweren Harnisch in seinem Kaufmannswagen außerhalb der Stadt zurückgelassen. Allein die metallenen Schienen an seinen Armen und Schenkeln hatten ihn gegen den Stoß in seine Brust nicht schützen können. Während der Eisgraf zurücktaumelte und langsam hinterrücks über die Brüstung kippte, schoss ihm ein letzter Gedanke durch den Kopf: „Warum hat der Obesier zuerst die Spinne getötet und dadurch wertvolle Zeit verschwendet, die ihm hätte fehlen können?“

Arakhad griff nach Tritors Bein, um den Sturz der Leiche vom Balkon zu verhindern aber dazu war es bereits zu spät. Der Obesier verfehlte das Bein des Eisgrafen und spürte gleichzeitig einen jähen Schmerz an seiner eigenen Kehle. Der Leichnam Tritors segelte an fünf Stockwerken vorbei, bevor das Schwert in seiner Brust und die stählernen Arm- und Beinschienen mit lautem Getöse auf dem Boden hinter den Zuschauerrängen auftrafen.

Da sich der Lärm zwischenzeitlich gelegt hatte, hallte das scheppernde Geräusch weit über den „Platz der Einkehr“. Unmittelbar darauf krachte es zum zweiten Mal, als ein weiterer Körper noch lauter als der erste auf das Pflaster aufschlug.

*

Telimur wusste sofort, dass er zu spät gekommen war, um die ihm vom Höchsten Priester aufgetragene Anweisung zu erledigen. Der Soldat, der ihm den Rücken zukehrte, hatte einen Schritt nach vorn gemacht und rammte gerade sein Schwert in Tritors Körper. Mit einem weiten Satz sprang Telimur von hinten an Arakhad heran und fuhr ihm mit dem Cirrha-Dolch in einer blitzschnellen Bewegung quer über die Kehle. Blut spritzte aus dem Hals des massigen Obesiers. Gurgelnd sank er auf die Knie und kippte zur Seite. Telimur fing den Körper auf, riss ihn hoch und stieß ihn über die Balkonbrüstung hinweg. Dabei fiel der wertvolle Dolch aus seiner Hand. Schnell tauchte der junge Priester weg und nahm die Waffe wieder an sich. Er würde sie benötigen, falls jemand versuchen sollte, ihn an der Flucht zu hindern.

Auf dem Richtplatz brach eine sich ständig steigernde Unruhe aus. Wenig später mischten sich Schreie in das laute Krachen einer zusammenbrechenden Holzkonstruktion. Telimur entzog sich der Versuchung, einen Blick über die Balkonbrüstung zu werfen und dabei entdeckt zu werden. Wenn er entkommen wollte, musste er so schnell wie möglich zum Platz hinuntergelangen. Mitten in der Bewegung hielt er jedoch inne. Sein Blick war auf die Überreste der zerquetschten Spinne und den Mon’ghal gefallen. Das schwarze Raupenwesen an der Wand schien ihn unentwegt anzuglotzen. Da erinnerte sich Telimur an die Worte des Höchsten Priesters. Mit der blutigen Klinge seines Cirrha-Dolches spießte er den Mon‘ghal auf. Danach rannte er durch die Türöffnung zur Treppe.

*

Wegen des Augenbandes konnte Unitor nichts sehen. Die beiden Gardisten an seinen Seiten ergriffen rüde seine Arme und zwangen ihn, stehen zu bleiben. Er war am Fuß des Hinrichtungspodests angekommen. Mitten in der Schwärze, die in diesem Augenblick seinen Geist umfing, leuchtete plötzlich eine helle Flamme auf, die aber sofort wieder verglomm. Da wusste Unitor, dass es nur noch acht Eisgrafen gab.

Sekunden später spürte er, wie sich eine allgemeine Unruhe auf der Zuschauertribüne ausbreitete. Nach und nach erfasste diese Unruhe den gesamten Platz. Vereinzelte Schreie waren zu hören.

Unitor selbst empfand nichts als die innere Leere vor der langen Nacht des Todes. Dann plötzlich durchdrang ein Bild in seinem Geist die Schwärze vor seinen Augen, das Bild einer Frau, die ihn mit stahlgrauen Augen traurig ansah. Unitors Lippen formten nur ein Wort, einen Hilferuf: „Octora!“

Wieso hatte er gerade in diesem Augenblick an die große Kriegerin aus Zogh gedacht? Lag der Grund wirklich darin, dass sie vielleicht die Einzige gewesen wäre, die ihn jetzt noch hätte retten können? Oder war es die Sehnsucht, wenigstens noch ein einziges Mal in ihre leuchtenden Augen schauen zu dürfen?

Die Frau, der die Gedanken zweier Männer unmittelbar vor ihrem bevorstehenden Tod gegolten hatten, befand sich an einem weit entfernten Ort, während auf dem „Platz der Einkehr“ ein Tumult losbrach.

Kapitel 2 – Pandor Sanhs Reise zum Aralt-Gebirge

(D r e i M o n a t e z u v o r . . .)

Einsam stand der Größte aller Eisbäume in der öden Steinwüste, die ihr weißes Wintergewand erst kürzlich abgestreift hatte. Das fahle Blau des Himmels wurde von grauen Schleiern in allen Schattierungen durchzogen, und nur ein dunstig goldener Schimmer am fernen Horizont ließ das Vorhandensein der Sonne erahnen. So sah das Dach des Nordens im Frühling aus. Die Kälte hatte sich mit letzter Anstrengung immer noch in der Luft festgeklammert und schien nicht weichen zu wollen.

Der Eisbaum reckte aber trotz der bitteren Kälte seine Äste behaglich in den trüben Himmel. Fast zweihundert Tage und Nächte war er scheinbar tot gewesen, eisverkrustet wie ein im Schnee verendetes Tier. Erst vor wenigen Tagen hatte sich seine Wesenheit zu regen begonnen und erwachte nun für eine kurze Zeitspanne zu prallem Leben. Die Äste glänzten fast schwarz, und bald würden gelbe Knospen aus ihnen hervorsprießen.

Pandor Sanh liebte diesen seltenen Baum, von dessen Art es nur neun Exemplare gab. Ihre Standorte waren über alle drei Nordlande verteilt. Der Eisbaum diente als Flaggensymbol der Vereinten Nordlande, gemeinsam mit den Flammen, die den Menschen in der Kälte das Leben erhielten. Tatsächlich bestanden die Nordlande aus drei geographisch getrennten Teilen. Der größte davon, Mithrien, war Pandor Sanhs Geburtsland. Früher hatten die meisten Bewohner Mithriens in den großen Befestigungsanlagen der alten Geschlechter auf engem Raum zusammengelebt. Obwohl diese dunklen Burgen, über alle fünf Fürstentümer Mithriens verteilt, trotzig und furchteinflößend aus einer kargen und lebensfeindlichen Landschaft emporragten, hatten sie lange Zeit keinen kriegerischen Zwecken mehr gedient. Sie boten den freien Menschen des Nordens Schutz vor Kälte und wilden Tieren. Aber irgendwann waren selbst die größten Festungen wie Tredon, Drinh und Sokut zu klein geworden, und die Mithrier mussten wie ihre Nachbarn in Gatya beginnen, Dörfer und Städte zu bauen. Später empfanden die Menschen eine derart starke Verbundenheit mit den von ihnen errichteten Ansiedlungen, dass sie ihrem eigenen Namen den Namen ihres Geburtsorts hinzufügten. Diese Verbundenheit beruhte nicht zuletzt auch darauf, dass die Bewegungsfreiheit der einfachen Landbevölkerung durch lange, kalte Winter, felsige Einöden und bittere Armut meist auf die Umgebung ihres Geburtsorts beschränkt blieb.

Auch Pandor Sanh hatte von der Welt außerhalb seines Dorfes kaum etwas gesehen, obwohl er der Sohn eines Tuchhändlers war. Daher genügte bereits der erstmalige Anblick der von Sanh nur vierzig Meilen entfernten Burg Drinh, um bei ihm einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Diese gewaltige Festungsanlage war der Stammsitz des altehrwürdigen Geschlechts der Fürsten zu Drinh, das auch Gundur, den ersten Hüter der Flammen, hervorgebracht hatte.

Nach dem frühen Tod seiner Eltern nahm Pandor Sanh seit seiner Jugend häufig den Weg von der Siedlung zum Standort des Eisbaums auf sich, um für kurze Zeit unter der mächtigen Krone dieses majestätischen Baumes Geborgenheit und Trost zu finden. Selbst an den dunkelsten Tagen in den langen Wintern des Nordens hatte er immer das Gefühl gehabt, dass der Baum vor Leben überquoll.

Die Menschen des Nordens glaubten, dass die großen Eisbäume die Seelen der Verstorbenen beherbergten. Wenn ein Mensch starb, entfloh seine Seele aus dem Körper und wurde wie ein Blitz von dem nächstgelegenen der neun Bäume angezogen. Dort wartete sie bis ein neuer Mensch geboren wurde, der bereit war, sie aufzunehmen. Jeder Eisbaum galt als Heimstatt vieler Seelen.

Zum allerersten Mal hatte Pandor Sanh an jenem Tag einen ganz bestimmten Grund gehabt, den Baum aufzusuchen. Und es war ein schrecklicher Grund, der sein bisher im Schoß des Dorfes behütetes Leben völlig verändern sollte. Am Morgen war er mit seinem selbstgeschnitzten Bogen und einem Köcher voller Pfeile losgezogen, um etwas Abwechslung auf seinen Speiseplan zu bringen. Aber an diesem Tag gelang es ihm nicht, einen Schneehasen zu erlegen. Während er verdrießlich zu seinem Dorf zurücktrottete, sah er schon von Weitem eine Gruppe Reiter, die sich von der Siedlung entfernten. Diese Beobachtung erschien ihm äußerst ungewöhnlich, weil im hohen Norden außer den Boten des Hüters der Flammen nur wenige Menschen Reittiere besaßen. Selten traf man solche Menschen gemeinsam und eigentlich nie in großen Gruppen an. In seiner lebhaften Fantasie hatte sich Pandor Sanh immer ausgemalt, dass der Hüter der Flammen eigentlich sogar über eine berittene Armee verfügen müsste. Als er dies einmal gegenüber dem Dorfältesten erwähnte, hatte der laut gelacht, den Kopf geschüttelt und gesagt: „Mein Junge, wozu sollte der Hüter der Flammen eine Armee brauchen? Im Norden gibt es keinen Krieg. Und wie sollte man so viele Männer und Pferde hier ernähren?“ Das hatte Pandor Sanh eingeleuchtet.

Aus den Erzählungen der Alten wusste er, dass es im viel weiter südlich gelegenen Obesien Reitersoldaten gab. Die Nordgrenze Obesiens war aber von der Siedlung so weit entfernt, dass man auch mit Reittieren mindestens zehn Tage benötigt hätte, um von der Grenze aus, das kleine Dorf zu erreichen. Weshalb um alles in der Welt sollte irgendjemand eine derart lange, strapaziöse Reise durch eine öde, menschenfeindliche Wildnis zu einem armseligen Ort unternehmen, dessen Bewohner nur das Allernötigste besaßen und sich mehr schlecht als recht am Leben halten konnten?

Während Pandor Sanh diesen Gedanken nachhing, hatte er sich den äußeren Hütten bis auf ein paar hundert Meter genähert. Erstaunlicherweise konnte er aber nicht das geringste Lebenszeichen erkennen, keine lärmenden Kinder und keine Geräusche aus den kleinen Handwerksbetrieben. Da waren auch nicht die vertrauten Gestalten, die sich in ihren winzigen Gärten abmühten, um dem steinigen Boden die in ihrem ständigen Kampf gegen den Hunger dringend benötigte Nahrung abzuringen.

Es herrschte völlige Stille. Die verwaschene Sonnenscheibe stand tief am Himmel. Die Hütten warfen lange Schatten auf die kargen Beete und die dazwischen verlaufenden Wege. Der gesamte Ort wirkte ausgestorben, gespenstisch leer.

Pandor Sanh betrat den östlichen Hauptweg der Siedlung. Dieser begann am Dorfrand bei Wargars Hütte. Wegen seiner zunehmenden Gebrechlichkeit hatte sich ihr Besitzer in den letzten Jahren kaum noch mehr als ein paar Meter von seiner Behausung entfernt. Die äußere Tür war nur angelehnt und klapperte in einer leichten Brise gegen den Türpfosten. Dies kam dem jungen Mithrier merkwürdig vor. Halbwegs beruhigt stellte er fest, dass keinerlei Spuren von Gewaltanwendung zu erkennen waren. Er schob die Tür auf und trat vorsichtig ein.

Niemand befand sich im Hauptraum. Die Türen zum Flammenraum und zum Wasserraum standen offen. Das Gebäude war augenscheinlich verlassen. Auf dem Tisch in einer Ecke des Wohnraums lagen noch die Reste einer Zwergmelone auf einem Teller, so als sei der Bewohner während seiner Mahlzeit aufgestanden und weggegangen. Im Übrigen wirkte aber alles unangetastet und ordentlich.

Pandor Sanh ging wieder nach draußen. Langsam bewegte er sich auf dem breiten Weg in Richtung des zentralen Dorfplatzes. Die knorrigen Felsbeersträucher, die den Weg säumten, hatten gerade ihre ersten, hellgrünen Triebe angesetzt. Sie zitterten leicht im böigen Ostwind. Vom fernen Aralt-Gebirge kommend blies er über die schier endlosen, nur von einigen Flusstälern durchzogenen Felsplateaus der mittleren Hochebene.

Auch auf dem Dorfplatz war keine Menschenseele zu sehen. Pandor Sanh hielt einen Moment inne. Mitten auf das Pflaster des Platzes hatte jemand einen großen, weißen Kreis gezeichnet. Dann wurde seine Aufmerksamkeit aber von einer anderen Veränderung angezogen. Zuerst glaubte Pandor Sanh, nur das schemenhafte Wogen des Gelben Steingrases wahrgenommen zu haben, das zwischen den Säulenkiefern ein karges Dasein fristete. Aber unwillkürlich erfasste er, dass die ruckhafte Bewegung eines flüchtigen Schattens nicht zu dem gleichförmigen Wogen der Bäume und Gräser passen wollte. Dass er sich leicht duckte als er herumfuhr, rettete ihm das Leben. Nur zwei Fingerbreit zischte ein schlanker Metallpfeil an seinem Kopf vorbei und prallte scheppernd gegen die Wand eines Hauses auf der gegenüberliegenden Seite des Weges.

Einige Schritte von Pandor Sanh entfernt stand ein breitschultriger Mann mit einem braunen Wollmantel unter einer Türöffnung. Auf dem Kopf trug er einen Halbhelm mit dem Emblem eines Raubvogels. In der Hand hielt er die Waffe, mit der er den Metallpfeil auf Pandor Sanh abgeschossen hatte. Sie war bronzefarben und hatte über dem mehr als zwei Hände breiten Pfeilspeicher eine schmale, runde Auslassöffnung, die sich gerade anschickte, den nächsten Metallpfeil auszuspucken.

Pandor Sanhs Gehirn benötigte zwei Sekunden, um dieses Szenario zu ordnen. Sein Verstand meldete ihm, dass er eigentlich schon tot sein müsste und wohl nur das Umfallen vergessen hatte. Aber da war noch etwas, das viel schneller arbeitete.

Er fühlte ein leichtes Kribbeln im Nacken, das sein Verstand für den zweiten Pfeil halten wollte, der gerade aus seinem Genick austrat. In diesem Augenblick bemerkte er zum ersten Mal diese seltsamen Schwingungen. Er sah, wie sich das Gesicht des Schützen verzerrte. Plötzlich befand es sich innerhalb einer zähen, in zarten Regenbogenfarben schimmernden Blase. Und zum ersten Mal sah Pandor Sanh, wie die Konturen eines Lebewesens schlagartig verschwammen, als die Blase sich flimmernd auflöste. Von dem eben noch vorhandenen Angreifer war praktisch nichts übriggeblieben. Eine angespannte Stille legte sich über das verlassene Dorf. Noch einige Minuten verharrte der junge Mithrier innerlich aufgerüttelt, aber bewegungslos an Ort und Stelle, festgewurzelt wie der große Eisbaum.

Und nun stand Pandor Sanh vor eben diesem Eisbaum, immer noch völlig ratlos. Wie konnte es möglich sein, dass sämtliche Bewohner einer Siedlung spurlos verschwunden waren, ohne die geringsten Anzeichen eines Kampfes? Natürlich hatte er nicht erwartet, dass der Eisbaum ihm die Lösung dieses Rätsels verraten würde. Während er noch darüber nachdachte, was er sich durch die Nähe des Baumes wirklich erhofft hatte, klärten sich langsam seine Gedanken.

Die Bewohner der Nordlande waren stets frei gewesen wie ihr offenes, raues Land. An kriegerische Auseinandersetzungen konnte sich in Pandor Sanhs Dorf kein lebender Mensch erinnern. Dennoch wussten die Völker des Nordens auch heute noch, warum die Wahl eines Hüters der Flammen unumgänglich geworden war. Vor mehr als drei Jahrhunderten hatten schwerbewaffnete Armeen der Surdyrier mehrfach die Grenzgebiete Gatyas, des westlichen Nordlandes, überfallen. Die Gatyer wurden von diesen Angriffen völlig überrascht und hatten ihnen nichts entgegenzusetzen. Viele Bewohner dieser Gegend wurden nach Surdyrien verschleppt. Deshalb gaben die Gatyer ihre Siedlungen im Grenzgebiet auf und zogen sich tiefer in die unwegsamen Gletscherlandschaften zurück.

Jahrhundertelang waren die riesigen Eis- und Felswüsten der Hochplateaus ein natürlicher Schutzschild der nordischen Völker. Nun aber folgten die Surdyrier den Gatyern auch in den Südosten ihres Landes. Surdyrien befand sich zu jener Zeit in einem verzweifelten Überlebenskampf. Das Land hatte reiche Bodenschätze und seit Menschengedenken galten die Surdyrier als Lieferanten der wichtigsten Rohstoffe für Metallerzeugnisse in der gesamten bekannten Welt. Innerhalb weniger Jahre war plötzlich ein Mangel an Minenarbeitern aufgetreten, der von einem geheimnisvollen, unerklärlichen Massensterben der Arbeiter ausgelöst worden war. Um die für Surdyrien lebenswichtige Erzförderung aufrechterhalten zu können, mussten Fremdarbeiter beschafft werden. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Menschen aus dem Norden der tödlichen Epidemie nicht zum Opfer fielen, war das benachbarte Gatya zum Ziel der Surdyrier für die Beschaffung der dringend benötigten Arbeitskräfte geworden.

Als die Surdyrier in den Südosten Gatyas einfielen, fühlten sich auch die benachbarten Mithrier bedroht. Da sie schon von jeher ein freundschaftliches Verhältnis zu ihren grünäugigen Vettern im Westen gepflegt hatten, empfanden sie es überdies als ihre Pflicht, den Nachbarn zu Hilfe zu eilen. Trotz einer weitgehend fehlenden kriegerischen Organisation der Nordländer mussten sich die Surdyrier nach einigen kleineren Scharmützeln schließlich aus den zerklüfteten Bergregionen zurückziehen. Es war abzusehen, dass sie ihren Beutezug nicht vor Einbruch des harten, nordischen Winters beenden konnten.

Gundur zu Drinh, ein weitsichtiger Fürst der Mithrier, erkannte, dass ein neues Zeitalter angebrochen war. Allein die Wildnis und die eisigen Winter reichten nicht mehr aus, um den Menschen der Nordlande auf Dauer Schutz bieten und die Freiheit erhalten zu können.

In einem großartigen Lebenswerk von mehr als fünfzig Jahren schuf er in den dünn besiedelten Weiten der Nordlande organisatorische Strukturen, die sich bis zu den Tagen Pandor Sanhs erhalten und als Bollwerk gegen äußere Feinde bewährt hatten. So wurde Gundur zu Drinh der erste Hüter der Flammen. Fürderhin nannten sich die drei vormals eigenständigen Landesteile „Vereinte Nordlande“.

Überfälle durch Surdyrier hatten seither nicht mehr stattgefunden. Gerüchten zufolge war während der wirtschaftlichen Wirren eine Armee aus dem kriegerischen Obesien in Surdyrien eingefallen. Was genau sich seither dort abspielte, wussten die einfachen Menschen des Nordens nicht.

Obwohl Pandor Sanh die Berittenen gesehen hatte, glaubte er keinen Augenblick, dass Surdyrier oder Obesier sich die Mühe machen würden, tief nach Mithrien einzudringen, um ausgerechnet seine Mitbürger aus ihrem ärmlichen Dorf zu verschleppen. Die ganze Sache war ihm ein Rätsel. Einer Eingebung folgend entschloss er sich, zum Quaralpalast zu reisen. Er ahnte, dass er – wenn überhaupt – nur dort eine Antwort auf seine Fragen und vielleicht sogar Hilfe finden konnte.

Auch der Quaralpalast gehörte zum Lebenswerk des Fürsten Gundur zu Drinh. Die gewaltige, aus Basalt und kristallinem Quaral bestehende Festungsanlage überstrahlte die Düsternis des äußersten Nordens wie ein Leuchtfeuer. Das jedenfalls hatten die Alten berichtet, die sich aber selbst nur auf Erzählungen berufen konnten. Der Quaralpalast befand sich im äußersten Nordostzipfel Mithriens, dort wo das Aralt-Gebirge zum Meer hin schroff abfällt. Er war der Sitz des jeweiligen Hüters der Flammen und seines geheimnisvollen Hofstaats. Pandor Sanh verabschiedete sich mit einem letzten Blick und Tränen in den Augen vom Größten aller Eisbäume. Dann wandte er sich nach Nordosten.

Zurück blieben die leeren Gebäude einer verlassenen Ansiedlung. In der beschaulichen Stille der kargen Gesteinsebenen Mithriens hatten die Bewohner eines abgeschiedenen Dorfes jahrhundertelang ein entbehrungsreiches aber friedliches Leben geführt. Sie wussten wenig über die Vorgänge, die sich außerhalb ihrer Dorfgrenzen abspielten und gar nichts über die Mächte, die in Verstecken und hinter Tarnungen eine Welt im Gleichgewicht zu halten suchten. Unversehens waren die Menschen von Sanh in den Brennpunkt von Ereignissen geraten, die eine Lawine auslösten und dazu führten, dass dieses sorgsam gehütete Gleichgewicht gestört wurde und eine ganze Welt im Begriff stand, aus den Fugen zu geraten.

*

Über zwei Wochen hatte es gedauert, bis Pandor Sanh Tharis erreichte. Tharis war die erste größere Stadt auf seinem Weg durch Mithrien. Unterwegs dachte er viel über den Attentäter und dessen unerklärliches Verschwinden nach. Stets überfiel ihn dabei eine Ahnung, als ob er selbst etwas damit zu tun gehabt hätte. Aber immer wieder wehrte sein nüchterner nordländischer Verstand dieses Gefühl ab und verdrängte es genauso schnell wie es gekommen war.

An diesem Tag hatte Pandor Sanh wieder einmal einen mehr als zehnstündigen Fußmarsch hinter sich. Etwa zweihundert Meter von den ersten Wohnhäusern der kleinen Stadt entfernt befand sich auf der rechten Straßenseite eines der schmucklosen, graubraunen Steingebäude, die hier im Norden das Bild der wenigen größeren Ansiedlungen prägten. Von den anderen unterschied es sich nur durch ein großes Metallschild mit einem aufgemalten Bierkrug, das leise ächzend im lauen Wind hin und her schwankte. Dieses Schild wies das Anwesen als Gasthaus aus.

Pandor Sanh betrat die Schänke durch eine schwere, aus dicken Eichenbohlen gezimmerte Tür. Als sie quietschend aufschwang, verebbten die meisten Gespräche und viele Gesichter wandten sich neugierig dem Ankömmling zu.

Pandor Sanh schritt freundlich lächelnd zu einem kleinen Stehpult, das offenbar die Empfangstheke darstellen sollte. Erst als er auf eine kupferne Schelle schlug, kam aus dem Nebenraum ein alter, gebeugter Mann herangeschlurft.

Unbewusst hatte Pandor Sanh aus den Augenwinkeln die Menschen im Gastraum beobachtet. Zwischenzeitlich hatten sie wieder ihre Gespräche aufgenommen. Die Ankunft eines freundlichen, jungen Mannes war kein Ereignis, das in einem Wirtshaus besonderes und dauerhaftes Aufsehen erregte. Nur der Mann, der ihm am nächsten saß, allein an einem kleinen, runden Tisch, musterte ihn unablässig mit seinen stahlblauen Augen. Obgleich er den Kopf gesenkt hatte und ihm seine schwarzen Haare tief ins Gesicht hingen, fiel Pandor Sanh dieser Blick auf. Seine Müdigkeit besiegte jedoch sein Interesse. Er hatte nur noch das Bedürfnis, möglichst schnell auf eine Liegestatt zu sinken und die Augen zu schließen. Da noch Zimmer frei waren, bestellte Pandor Sanh eine Karaffe Wasser und eine kleine Mahlzeit, die er dann schnell im Stehen einnahm. Er entrichtete den Preis für das Zimmer und nahm den Schlüssel entgegen. Anschließend ging er die Holztreppe hoch, wobei ihm auffiel, dass der Mann vom vordersten Tisch verschwunden war. Pandor Sanh wunderte sich, dass er ihn nicht hatte weggehen sehen, obwohl er in unmittelbarer Nähe gesessen hatte.

Mühsam stieg der junge Mithrier die steile, knarrende Treppe hoch. An der Tür des ihm zugewiesenen Zimmers angekommen, steckte er den schweren Schlüssel in das Kastenschloss und versuchte, ihn zu drehen. Nach zwei Versuchen gewann Pandor Sanh den Eindruck, dass er sich verklemmt hatte. Mit einem kräftigen Ruck zog er die Tür nach außen auf. Dabei öffnete sie sich so leicht, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und gestrauchelt wäre. Sie war unverschlossen gewesen, und Pandor Sanh lächelte im ersten Moment über seine eigene Ungeschicklichkeit. Aber dann stand er wie vom Blitz getroffen da.

Auf dem einzigen Stuhl neben dem Bett saß der Mann, der ihn in der Gaststube die ganze Zeit beobachtet hatte. Aus den Falten seines Gewandes ragte ein Schwertgriff. Pandor Sanh wurde schmerzlich bewusst, dass er selbst keine Waffe besaß. Da verspürte er ein leises Kribbeln in seinem Nacken.

Als hätte der Mann Pandor Sanhs Gedanken erraten, sagte er lächelnd: „Es wird nicht nötig sein, mich zu töten. Ich bin nur ein Bote, der eine Nachricht überbringt. Gute Nachrichten sind selten in diesen Zeiten.“

„Wer sollte mir einen Boten schicken? Ich bin viel zu unbedeutend“, entfuhr es Pandor Sanh. Dabei fiel ihm auf, dass der Mann nicht die blaue Schärpe trug, das Kennzeichen der Boten, die im Namen des Hüters der Flammen unterwegs waren. Andererseits konnte Pandor Sanh natürlich auch nicht erwarten, dass der Hüter der Flammen ihm einen Boten schickte.

„Du wirst dich damit abfinden müssen, dass du viel wichtiger bist als du gerne sein würdest“, sagte der Mann freundlich. „Was uns zu wichtigen Menschen macht, ist die Tatsache, dass wir unsere Bedeutung für die Welt letztlich völlig frei selbst bestimmen können.“

Obwohl diese Worte für Pandor Sanh ein Rätsel darstellten, überzeugten sie ihn, dass sein Besucher keine bösen Absichten hegte. Er schloss die Zimmertür und setzte sich auf das Bett: „Und welche Nachricht sollen Sie mir überbringen?“

„Mir wurde aufgetragen, dir ein Treffen mit einem Eisgrafen zu vermitteln“, offenbarte ihm der Besucher.

Pandor Sanh war zunächst völlig sprachlos. Die Legenden der Eisgrafen. Die Alten hatten sie hinter vorgehaltener Hand flüsternd mit Ehrfurcht und Schaudern erzählt. Diese Menschen mit besonderen Fähigkeiten galten als die eigentlichen Bewahrer des Nordens, die ganz auf sich allein gestellt mit bösen Mächten kämpften, um ihre Heimat zu schützen. Niemand schien zu wissen, ob es sie wirklich gab und wer sie waren.

„Gibt es wirklich Eisgrafen?“, platzte Pandor Sanh heraus, der nun keine Scheu mehr vor seinem ungebetenen Besucher empfand.

„Das wirst du schon in Kürze selbst herausfinden“, orakelte der Bote. „Du musst von hier aus nach Nordosten gehen, nach Tanaria. Am schnellsten kommst du dorthin, wenn du einen der Kaufmannskähne auf dem Tanar nimmst. In Tanaria erwartet dich ein Eisgraf, der dich durch das Vorgebirge zum Quaralpalast führen wird. Wenn er verhindert ist, wird er jemand anderen schicken, dem du auch vertrauen kannst. Du musst dich in Tanaria zum Haus der Boten begeben. Der Gesandte wird dich daran erkennen.“ Der Schwarzhaarige übergab Pandor Sanh eine Kette mit einem Amulett. Es war ein Kreis aus Metall, das einen stilisierten Würfel umschloss. „Wir werden uns sicher wiedersehen. Menschen, die sich für das Gute einsetzen, werden sich immer wiedersehen; wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten.“

Pandor Sanh bezweifelte, dass er die Macht hatte, sich wirkungsvoll für das Gute einzusetzen. Noch eine Woche zuvor wäre er sogar völlig sicher gewesen, dass er nicht über diese Macht verfügte. Bevor er weiter nachdenken oder eine Frage stellen konnte, verließ der Fremde das Zimmer.

Erst nachdem der Bote gegangen, erfasste Pandor Sanh die offensichtliche Ungereimtheit. Wieso konnte jemand wissen, dass er sich zum Quaralpalast begeben wollte? Der junge Mithrier sah aus dem Fenster hinunter auf die Straße, von der er gekommen war. Die Sonne schickte sich bereits an, hinter dem westlichen Horizont zu versinken. Kurze Zeit später galoppierte ein einzelner Reiter auf einem kleinen Bergpferd von der Herberge weg in westliche Richtung. Schwarze Haare flatterten im Wind. Pandor Sanh war sicher, dass es sich um seinen Besucher handelte. Er schien dorthin zu reiten, wo Pandor Sanh hergekommen war. Er musste es sehr eilig haben, denn er ritt in die Nacht.

*

Wenn auf den Flüssen Mithriens mit dem erwachenden Sommer das Eis zu schmelzen begann, wurden sie zu den wichtigsten Transportwegen im östlichen Landesteil hinter Tharis. Pandor Sanh hatte nach zwei weiteren Tagen Fußmarsch auf dem alten Kahn eines freundlichen Händlers angeheuert und war auf diese Weise wesentlich schneller vorangekommen. Bereits drei Tage nachdem er Tharis verlassen hatte, konnte er deutlich die Ausläufer des Aralt-Gebirges sehen, hinter denen das östliche Nordland lag, wo die Zogh lebten. Die großen, kriegerischen Zogh mit ihrer grauen Haut waren den anderen Nordländern von jeher unheimlich. Erstaunlicherweise hatten sie sich an der von Gundur zu Drinh ins Leben gerufenen Allianz beteiligt, obwohl ihr eigenes Land nicht angreifbar schien. Es war durch das mächtige Araltgebirge nach Westen und die gefährlichen Sümpfe von Lokhrit nach Süden geschützt. Im Norden und Osten endete es an den Gestaden der großen Meere. Die Erinnerung an die Beweggründe jener historischen Entscheidung hatte sich im Strudel der Zeit verloren.

Alles was Pandor Sanh jemals über dieses Volk gehört hatte, erschien ihm äußerst fremdartig. Die wilden Zogh der Hochebenen, die als die gefürchtetsten Krieger des gesamten Kontinents galten, wurden traditionell von einer Königin angeführt. Nach ihrer Wahl durch die Versammlung der Zehn Getreuen, Dryden genannt, wurde sie auf den Schild von Knoist gehoben. Meist handelte es sich um eine Tochter der bisherigen Königin. Der Königin ebenbürtig waren nur der Herzog der Aralt-Höhlen, der einer uralten Dynastie entstammte, und der Marschall von Sandammon und Sokul, der mit einer eigenen Heerschar den Süden des Landes beherrschte.

Wohl der einzige Grund, warum die anderen Nordländer die Zogh als so etwas wie ihresgleichen ansahen, bestand in der Tatsache, dass es auch in Zogh Eisbäume, die altehrwürdigen Symbole des Nordens, gab. Die graue Haut dieser Menschen war angeblich auf ihre Abstammung zurückzuführen. Ursprünglich hatten sie nämlich in den großen Höhlen des Aralt-Gebirges gelebt, ehe ein Teil des Volkes die Höhlen verließ und sich auf den östlichen Gebirgsebenen und im Süden bis zu den Sümpfen ausbreitete.

Pandor Sanh war im frühen Morgengrauen in Tanaria angekommen. Bevor die ersten Häuser am linken Ufer auftauchten, erhob sich rechts auf einem üppig bewachsenen Bergsattel das beeindruckende Kastell von Tanaria mit seinen vielen Rundtürmen und den hohen, zinnenbewehrten Mauern, an denen sich dunkelgrünes Efeu emporrankte. Die schiefergedeckten Dächer, die bunten Butzenscheiben und die mit dem Wappen der Fürsten von Tanaria bemalten Fensterläden verliehen dem Kastell ein geradezu fröhliches Aussehen.

Der Hafen von Tanaria wirkte dagegen düster und schmutzig. Niedrige, schäbige Häuser und Lagerhallen glitten an dem kleinen Flussschiff vorüber, während es träge auf dem Tanar dahindümpelte.

Die Anlegestelle befand sich am westlichen Flussufer, wo Pandor Sanh ein für ihn ungewohnter Geruch nach totem Fisch in die Nase stach. Nachdem der Kahn an einer der Molen festgemacht worden war, verabschiedete sich der junge Mithrier hastig von dem alten Kapitän und beeilte sich, das Hafenviertel zu verlassen. Das Botenhaus, wo er mit dem Eisgrafen zusammentreffen sollte, befand sich im nördlichen Bezirk der Stadt Tanaria.

Für Pandor Sanh hatten die Botenhäuser inmitten ihrer idyllischen Gärten immer etwas Faszinierendes gehabt. In kleineren Städten überragten sie oft die einfachen Gebäude. Sie durften nur von den Boten selbst sowie von hochgestellten Personen betreten werden. Hier in Tanaria war das Botenhaus aber etwas kleiner als die umliegenden Gebäude, bei denen es sich offenbar um die Häuser wohlhabender Kaufleute handelte. Allerdings stand das zweistöckige Bauwerk in einem weitläufigen Park, was den äußeren Eindruck trotz seiner Schmucklosigkeit aufwertete.

Obwohl Pandor Sanh wusste, dass ihm der Zutritt zum Haus der Boten nicht gestattet war, öffnete er die Tür und wagte einen Blick ins Innere. Er hoffte, dass der Eisgraf vielleicht hier auf ihn warten würde. In dem weitläufigen Raum verloren sich etwa fünfzehn Tische und ungefähr dreimal so viele Stühle. Pandor Sanh konnte jedoch nur vier Personen erkennen, die paarweise in Gespräche vertieft waren. Alle trugen die blauen Schärpen, die zur Arbeitskleidung der Boten gehörten. Also befand sich kein Eisgraf unter ihnen. Pandor Sanh schloss schnell wieder die Tür und sah sich außerhalb des Gebäudes um. Er fand auf der Ostseite, wenige Meter vom Haus entfernt, eine Steinbank, auf der er sich niederließ. Als er sich zurücklehnte, blinzelten seine Augen in die Sonne. Anscheinend hielt sich niemand in dem Park auf. Offenbar war der Eisgraf noch nicht eingetroffen. Pandor Sanh entspannte sich und schloss kurz die Lider. Schon Sekunden später entglitt seinem Bewusstsein die Realität. Er fand sich plötzlich auf dem Kahn des Kaufmanns wieder, den die Wellen in einem beruhigenden Rhythmus hoben und senkten. Die milde Frühlingssonne erzeugte eine behagliche Wärme auf seinem Gesicht bis sie nach einigen Minuten von einer grauen Wolke verdeckt wurde. Tatsächlich handelte es sich aber nicht um den Schatten einer Wolke, sondern um den Schatten einer hochaufragenden Gestalt, der auf Pandor Sanhs Gesicht fiel. Aber Pandor Sanh glitt in seinem Traum immer noch auf dem Schiff dahin, auf dem Weg hierher. HIERHER! Da erfasste der Mithrier auch im Unterbewusstsein, dass etwas nicht stimmte. Aber er war so schnell so tief eingeschlafen, dass er jede Orientierung verloren hatte. Beim Aufwachen wusste er nicht sogleich, wo er sich befand und wo „hierher“ war.

„Der gnädige Herr geruhen, den Hüter der Flammen warten zu lassen.“

Pandor Sanh blinzelte, und es kostete ihn viel Kraft, die schweren Augenlider zu öffnen. Zuerst sah er nur eine hellgraue Hand vor dunkelgrauen Stofffalten. Eine feingliedrige Hand, die aber keineswegs zerbrechlich wirkte. Er lehnte den Kopf zurück, um an der Gestalt hochzublicken, die bis in den Himmel zu ragen schien. Pandor Sanh war enttäuscht. Der vermeintliche Eisgraf erwies sich als eine einfache Frau, und noch dazu eine Zogh. Die für diese Rasse typisch hohen Wangenknochen verliehen ihren feinen und ebenmäßigen Gesichtszügen eine herbe Schönheit, strahlten zugleich aber auch eine gewisse Strenge und Unnahbarkeit aus. Aber er hatte ja schließlich auch nicht die Absicht, ihr zu nahe zu kommen.

Ihre grauen Augen musterten ihn abschätzig. Während er sich langsam erhob, stellte er fest, dass sie ein wenig größer war als er und vermutlich auch ein wenig älter.

Angesichts der Erwähnung des Hüters der Flammen dämmerte Pandor Sanh, dass sie wohl seine Begleiterin für den Rest der Reise sein sollte. Trotzig murrte er: „Ich hatte eigentlich einen Eisgrafen erwartet.“

„Du wirst wohl mit mir vorliebnehmen müssen. Ich bin Octora“, entgegnete die Zogh leicht verärgert.

„Wieso werde ich erwartet? Und wieso hast du mich erkannt?“, wollte Pandor Sanh wissen.

Octora zeigte auf das Amulett, das zwischen zwei Knöpfen seines Hemdes herausbaumelte.

„Viele Fragen“, brummte sie. „Es ist Sache des Beraters, deine Fragen zu beantworten.“

„Wer ist der Berater?“, fragte der junge Mithrier unbeirrt.

„Wiederum eine Frage, die dir der Berater beantworten wird“, antwortete Octora launig.

Pandor Sanh sah ein, dass er so nicht weiterkam. Die Zogh schien ihn nicht sonderlich zu mögen. Das war eigentlich nicht verwunderlich, da Mithrier ja auch die Zogh nicht mochten. Dennoch blieb er beharrlich: „Eine Frage wirst aber vielleicht selbst du mir beantworten können: Wann reisen wir ab?“

„Das liegt allein an dir“, antwortete sie ungnädig. „Sobald du ausgeschlafen hast. Wir müssen nur noch Proviant beschaffen, weil wir auf dem Weg durch das Vorgebirge kaum Nahrung finden werden.“

*

Über Jahrmillionen hatte das vom Aralt-Gebirge abfließende Wasser die Ebene von Tanaria in fruchtbares Land verwandelt, durchzogen von Flüssen. Ausgedehnte Wälder fanden hier akzeptable Lebensbedingungen, bis die Mithrier des Ostens unter Anleitung der Fürsten von Sokut dem Waldland ausgedehnte Flächen zur landwirtschaftlichen Nutzung entrissen hatten. Aber zwischenzeitlich lebten die Menschen wieder mit der Natur in Einklang. Es gab immer noch genügend größere Waldflächen, welche die Kulturlandschaften vor den trockenen, oft eiskalten Winden des Nordostens schützten.

Von Tanaria aus verlief eine breite Straße bis zum Fuß des Vorgebirges. Ihre Anfänge reichten bis in die Zeit Gundur zu Drinhs zurück. Inzwischen war sie jedoch längst fertiggestellt. Einen Tagesmarsch wanderten Pandor Sanh und Octora fast die ganze Zeit schweigend auf dieser Straße nach Osten. Wenn ihnen unterwegs gelegentlich Menschen begegneten, glaubte Pandor Sanh oft, eine gewisse Verständnislosigkeit in ihren Gesichtern ablesen zu können. Dass ein Mithrier mit einer Zogh reiste, war sicherlich kein alltäglicher Anblick. Aber bestimmt hätte Octora mit ihrer auffälligen und dennoch so fraulichen Erscheinung und ihrem schlohweißen, im Wind flatternden Haar auch in ihrer Heimat einige Aufmerksamkeit erregt. Pandor Sanh war über sich selbst verärgert als er sich bei diesen Gedanken erwischte, denen mancher Seitenblick auf seine Begleiterin vorausgegangen war.

Am späten Nachmittag waren sie an einem Flussufer angelangt, wo ein flaches Gebäude und mehrere am Ufer vertäute Boote auf einen Fährbetrieb schließen ließen. Octora erklärte Pandor Sanh, dass sie eine riesige Windung des Talawi-Flusses ausnutzen würden, um möglichst schnell zum Fuß des Vorgebirges zu gelangen. Der Talawi hatte sich, aus dem Aralt kommend, den leichten Weg nach Westen gesucht. Dann war er an harten Gesteinsformationen gescheitert und floss in einer nahezu sechzig Meilen langen Schleife in Richtung des Aralt zurück, bevor er sich schließlich mit dem Tanar vereinigte und nach Norden dem großen Ozean, seinem Bestimmungsort, entgegen strömte.

Nach einer kurzen Besprechung im Fährhaus kam Octora mit zwei kräftigen Männern zurück, die ein Boot für die Fahrt bereitmachten und dann auch selbst steuerten.

Der Talawi floss wesentlich schneller, als dies vom Ufer aus den Anschein gehabt hatte. Bereits vor Einbruch der Nacht hatten sie ein weiteres Fährhaus am Fuß des Vorgebirges erreicht. Hier konnten sie letztmals vor Erreichen ihres Zieles die Nacht in einem Gebäude verbringen.

Die trotz der Dämmerung noch gut erkennbaren Vorgebirgszüge schienen Pandor Sanh höchst beeindruckend. Drei Tage sollte der restliche Marsch zum Quaralpalast dauern. Das war eine der wenigen Informationen, die er Octora hatte entlocken können. Nachdem er sich aber in dem kleinen Zimmer auf die einfache Schlafstatt gelegt hatte, hielten ihn die Bilder der unmittelbaren Vergangenheit noch stundenlang wach: das menschenleere Dorf, der Angreifer, der sich anscheinend in Luft aufgelöst hatte, der große Eisbaum, die endlosen Fußmärsche, der schwarzhaarige Mann in Tharis, die Flussfahrten und – ja, auch Octora. Schwer wog die Enttäuschung, dass er nicht mit einem Eisgrafen zusammengetroffen war. Aber die alles überstrahlende Erwartung, dem Hüter der Flammen im berühmtesten Bauwerk des Nordens zu begegnen, würden ihn wohl dafür entschädigen. Und wieder schweiften seine Gedanken zu Octora ab. Wieso gelang es ihm nicht, mit ihr ein normales Gespräch zu führen? In Sanh war er sehr beliebt gewesen und hatte oft Missstimmungen ausgleichen können. Je länger er darüber nachgrübelte, desto mehr verdichtete sich sein Verdacht, dass diese Frau nicht nur eine Aura der Selbstsicherheit und Unnahbarkeit umgab, sondern auch ein Geheimnis.

*

Der erste Tag ihres Aufstiegs verlief ereignislos. Octora und Pandor Sanh hatten einen breiten Pfad benutzt, der durch die bewaldeten Hügel des Vorgebirges stetig auf und ab führte. Dennoch hatten sie am Abend bereits eine beträchtliche Höhe erreicht. Der Wald hatte hier ein anderes Gepräge. Er war lichter geworden, und es gab nur noch vereinzelt hohe Tannen. Knorrige Krüppelbäume und dornige Sträucher bestimmten von nun an das Landschaftbild. An vielen Stellen trat auch zwischen flachen Stauden, kleinen Gräsern, Moos und Flechten schon der nackte, graue Basalt zutage. Er war das beherrschende Gestein im nordwestlichen Aralt, dessen gigantische Höhenzüge im Hintergrund das Vorgebirge weit überragten.

Die Temperatur war für die eher kühlen Sommer im Norden außergewöhnlich mild. Octora und Pandor Sanh verzichteten darauf, ihre kleinen Zelte aufzuschlagen. Sie wickelten sich in Decken und schliefen erschöpft auf einem weichen Moospolster schnell ein.

Am nächsten Morgen brachen der Mithrier und seine Führerin in aller Frühe auf. Er konnte es kaum noch erwarten, endlich vor dem sagenhaften Quaralpalast zu stehen.

Gegen Mittag erreichten sie ein kleines Felsplateau, wo es kaum noch Vegetation gab. Pandor Sanh war froh, als Octora vorschlug, dort eine kurze Rast einzulegen. Er setzte sich mit gebührendem Abstand neben sie und lehnte sich gegen eine rückwärtige Felsstufe. Beide begannen, in ihren Proviantsäcken nach einem der aus Flussalgen und Korn zubereiteten Fladen zu kramen, die im Flussland und im Vorgebirge zum klassischen Reiseproviant gehörten.

Als Pandor Sanh wenig später zu Octora hinüberblickte, lag der Rest ihres Fladens auf dem Boden. Trotz der langen, weißen Haarsträhne, die ihr ins Gesicht hing, konnte der Mithrier sehen, dass der Blick der Zogh starr auf den hinteren Teil des Plateaus gerichtet war. Pandor Sanh folgte diesem Blick und erstarrte ebenfalls. Nicht einmal zwanzig Meter entfernt stand ein nordischer Schneetiger und sah zu ihnen herüber. In diesem Augenblick kam ihm einmal mehr schmerzlich zu Bewusstsein, dass er unbewaffnet war. Das majestätische Tier, das mindestens zweieinhalb Meter maß, bewegte sich mit zwei langsamen, geschmeidigen Schritten auf das ungleiche Paar zu. Jäh verspürte Pandor Sanh ein Kribbeln im Genick.

Fast im gleichen Augenblick fühlte er den sanften Druck von Octoras Hand an seinem Oberschenkel.

„Lass´es!“ Das unwirsche Zischen ihrer Stimme stand im krassen Gegensatz zu der Berührung, die Pandor Sanh unter anderen Umständen als äußerst angenehm empfunden hätte. Die Hand, die eben noch auf seinem Oberschenkel geruht hatte, umfasste plötzlich den Griff eines langen Schwertes mit einer schmalen Klinge, die in der Mittagssonne gefährlich funkelte. Genauso geschmeidig wie der Tiger hatte Octora sich erhoben und war zwei Schritte auf ihn zugegangen. Mensch und Tier standen sich nun bedrohlich gegenüber: Octora, zu ihrer vollen Größe aufgerichtet, völlig ruhig, mit einem Gesicht wie aus Stein gemeißelt, und auf der anderen Seite, zähnefletschend, in geduckter und sprungbereiter Haltung, der Tiger. Pandor Sanh starrte wie gebannt auf das Geschehen. Obwohl er Octora gern geholfen hätte, wusste er nicht, auf welche Weise er dies ohne Waffe bewerkstelligen sollte. Er hatte überdies den Eindruck, dass sie seine Hilfe auch nicht benötigte. Wenige Sekunden später begann der Schneetiger unvermittelt, sich rückwärts zu bewegen, immer noch in geduckter Haltung. Sobald aber der ursprüngliche Abstand wiederhergestellt war, nahm auch er eine entspannte Haltung ein. Wie ein Gast, dem das Speiseangebot nicht zusagt, drehte er sich um und trottete gemächlich davon.

Octora sah Pandor Sanh nachdenklich an: „Man tötet keine Tiere des Nordens ohne Not. Du musst noch viel lernen.“

Pandor Sanh wirkte nicht minder nachdenklich. Er ahnte, dass ihre Reaktion auf das Kribbeln in seinem Nacken kein Zufall war.

„Woher weißt du, dass ich wohl eine seltsame Fähigkeit besitze, von der ich selbst eigentlich nichts weiß?“, fragte er verunsichert.

Er befürchtete schon, dass jetzt wieder die leidige Aufforderung käme, sich an diesen ominösen Berater zu wenden. Aber stattdessen drehte sich Octora wortlos zur Seite und fixierte einen etwa kopfgroßen Stein, der einsam am Rand des Plateaus lag. Bevor Pandor Sanh die nächste Frage stellen konnte, fühlte er plötzlich eine leichte Vibration in seiner Stirnhöhle.

Dann geschah – nichts.

Und dennoch wurde ihm schlagartig klar, womit er es zu tun hatte: Sie verfügte über die gleiche, geheimnisvolle Begabung wie er. Das konnte er durch die Schwingungen in seinem Kopf spüren, wenn sie sich anschickte, davon Gebrauch zu machen. Aber offenbar konnte sie diese Fähigkeit gezielt einsetzen, was ihm nicht möglich war.

Vielleicht musste er wirklich noch viel lernen.

*

Gegen Abend des dritten Tages hatten der Mithrier und seine Begleiterin aus Zogh die Vegetationsgrenze längst hinter sich gelassen. Der schmale Weg führte Octora und Pandor Sanh zu einem Gebirgsbach, der in mehreren Kaskaden eine tiefe Schlucht in das Gestein geschnitten hatte. Der Abgrund wurde von grob behauenen Baumstämmen überspannt, auf denen höchstens zwei Personen nebeneinander Platz fanden. Auf der anderen Seite öffnete sich der Weg zu einer ovalen Fläche, die Pandor Sanh an eine Arena erinnerte.

Im Hintergrund türmten sich versetzt hohe Felsquader auf. Obwohl militärisches Denken Pandor Sanh völlig fremd war, erkannte er sofort, dass dieser Ort unter strategischen Gesichtspunkten perfekt anmutete. Der Passweg ließ sich mit einer begrenzten Anzahl von Schwertkämpfern am Boden und Bogenschützen auf den Felsbrocken gegen jede feindliche Übermacht halten. Wegen der Felswand zur Rechten und des Abgrundes zur Linken konnten etwaige Angreifer nur paarweise den steilen Pfad erklimmen und die schmale Baumbrücke überschreiten.

Octora ging sicheren Fußes und ohne zu zögern über die Stämme. Pandor Sanh brachte dem Übergang weniger Vertrauen entgegen und folgte seiner Führerin mit langsamen, vorsichtigen Schritten in großem Abstand. Als er endlich das gegenüberliegende Felsplateau erreicht hatte, erklärte Octora, dass sie die Nacht im Schutze der großen Quader verbringen würden.

Hier oben in den Bergen kühlte es in den Nächten stark ab. Deshalb waren Octora und Pandor Sanh gezwungen, ihre Zelte aufbauen. Auf dem felsigen Untergrund erwies sich dies aber als äußerst schwieriges Unterfangen und harte Arbeit. Die Metallhaken für die Spannseile mussten mühsam in schmalen Felsrissen verankert werden. Bis jeder von ihnen einen geeigneten Platz gefunden hatte, standen die Zelte fast einhundert Meter voneinander entfernt. Pandor Sanh sah zu Octora hinüber, die gerade die letzten Handgriffe verrichtete. Dann schlüpfte sie in ihr Zelt, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.

Pandor Sanh war enttäuscht. Als Frau interessierte ihn Octora natürlich nicht, auch wenn er zugeben musste, dass sie eine beeindruckende Erscheinung darstellte. Er hatte jedoch gehofft, noch einige Zeit mit ihr zusammensitzen zu können und etwas über den Quaralpalast, die Eisgrafen und den Hüter der Flammen zu erfahren. Am folgenden Tag würden sie den Palast voraussichtlich um die Mittagszeit erreichen, und eigentlich war er auf nichts vorbereitet. Unzufrieden begab auch er sich in sein Zelt, wickelte sich in seine Decke und schlief bereits nach einer kurzen Weile ein.

Am nächsten Morgen wurde Pandor Sanh durch einen gellenden Pfiff aus dem Schlaf gerissen. Vor dem dünnen Leinenstoff des Zeltes zeichnete sich in der gerade aufgehenden Morgensonne die Silhouette der hohen Gestalt Octoras ab.

Er beeilte sich, das Zelt zu verlassen, obwohl er diese Art von Weckruf eigentlich als ungehörig empfand. Als er hinaustrat erkannte er, dass Octora ihr Zelt bereits abgeschlagen hatte und abreisebereit war für den letzten Teil ihrer Wegstrecke. Wortlos baute nun auch er schnell das mühsam errichtete Zelt ab und verstaute es in seinem Sack. Dann folgte er Octora, die unterdessen schon die großen Quader im hinteren Teil der Felsarena erreicht hatte.

Nachdem Pandor Sanh ebenfalls am Rand des Plateaus angekommen war, bot sich ihm ein atemberaubender Ausblick. Zu seinen Füßen lagen die nördlichen Ausläufer des Vorgebirges, die sich wie ein Arm und eine Hand bis zum fernen Ozean erstreckten. Zum ersten Mal in seinem Leben sah Pandor Sanh das riesige, blaue Nordmeer. Zu seiner Rechten fiel das Vorgebirge sanft ab. In der Ferne ging es in die schroffen Gebirgszüge des Aralt-Massivs über, dessen glitzernd weiße Gipfel in den Wolken verschwanden. Und ganz weit draußen, fast am Meer, zwischen dem letzten „Finger“ des Vorgebirges und dem steil aufragenden Aralt, konnte Pandor Sanh eine Hochebene ausmachen. Auf ihr befand sich eine offensichtlich von Menschenhand errichtete Anlage, die aus dieser Entfernung winzig klein wirkte, in Wirklichkeit aber gewaltig groß sein musste… der Quaralpalast.

Octora war längst weiter marschiert ohne im Geringsten auf die Schönheiten der Natur zu achten. Vielleicht hatte sie sie aber auch schon oft genug gesehen.

Der Weg wurde nun plötzlich wesentlich breiter und verlief auf der, zum fernen Ozean hin, leicht abfallenden Kammlinie der Vorgebirgsauen. Es war nur zu erahnen, dass er zu der einsamen Festung führte, die das Ende der Welt zu markieren schien. Pandor Sanh verfiel in einen schnelleren Schritt, um Octora einzuholen.