Die Badereise - Ell Wendt - E-Book

Die Badereise E-Book

Ell Wendt

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Beschreibung

Ein heiterer Unterhaltungsroman aus den 1940er Jahren: Die humorvolle und etwas leichtsinnige Barbara heiratet mit nur neunzehn Jahren den gutaussehenden Olaf Ritter, der sich jedoch schnell als Spieler entpuppt und sie mit der Tochter Brigitte allein lässt. Als Ehemann Nummer zwei plötzlich stirbt, lebt sie allein mit Brigitte. Als diese Jahre später ihrer Mutter verkündet, sie werde heiraten, braucht Barbara eine Auszeit. Auf dieser "Badereise" trifft sie auf den jungen Hanns Fichte, der sich, trotz des Altersunterschieds, hoffnungslos in sie verliebt...-

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Ell Wendt

Die Badereise

 

Saga

Die BadereiseCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1941, 2020 Ell Wendt und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711592830

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Mit neunzehn heiratete Barbara Olaf Ritter, einen hübschen jungen Windhund ohne hervorstechende Eigenschaften ausser einer verhängnisvollen Neigung zum Glücksspiel. Damals sah sie wie sechzehn aus und war ein Backfisch an Leib und Seele. Ihr kleiner braunhaariger Kopf war vollgestopft mit Illusionen; sie schwärmte für lyrische Gedichte und machte Kalendersprüche zur Richtschnur ihrer Tage.

Als sie Olaf heiratete, glaubte sie, den Himmel auf Erden gefunden zu haben. Leider erwies sich das als ein betrüblicher Irrtum, aus dem sie nach knapp zwei Jahren, geschieden und um den grössten Teil ihres Vermögens gebracht, erwachte. Aber auf der Plusseite ihres Lebens stand eine kleine Tochter, während Olaf mit leeren Händen in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten entwich und aus Barbaras Leben so vollständig verschwand, als habe er nie die Rolle des ersten Geliebten darin gespielt.

Noch mit dreissig, in ihrer zweiten Ehe mit Karl Theodor Huth, sah sie wie ein Mädchen aus. Diesmal hatte sie sich von Vernunftgründen leiten lassen. Olafs Leichtsinn hatte die Sehnsucht nach Zuverlässigkeit in ihr geweckt. Karl Theodor war ein Muster an Zuverlässigkeit; er besass alle Eigenschaften, die den Erfolg einer Ehe zu gewährleisten schienen.

Barbara vermied es sorgfältig, Worte wie „Kleinlichkeit“ und „Pedanterie“ mit Karl Theodor in Zusammenhang zu bringen. Er meinte es so gut mit ihr und der kleinen Brigitte. Zumindest betonte er es täglich, und manchmal ertappte sich Barbara auf dem Wunsch, er möge es weniger gut mit ihnen meinen. Sein Gutmeinen erinnerte sie an ihre Schulzeit, in der alle Unannehmlichkeiten mit der Behauptung, man habe ihr Bestes im Auge, gerechtfertigt worden waren.

Vor allem hatte Karl Theodor es auf die Erziehung der kleinen Brigitte abgesehen; er erklärte wiederholt, dass er ihr auf keinen Fall gestatten werde, in die Fusstapfen ihres Vaters zu treten. Dabei zeigte die kleine Brigitte nicht die geringste Anlage zum Leichtsinn. Die Ähnlichkeit mit Olaf war rein äusserlich. Was ihren Charakter betraf, so hätte Brigitte Karl Theodors Tochter sein können. Sie war eint gutartiges Kind mit einem ausgeprägten Sinn für Ordnung.

Während der Ehe mit Karl Theodor wusste Barbara ihr Leben in fester Hand. Was verschlugen diesem Vorzug gegenüber ein paar Äusserlichkeiten, an die sie sich gewöhnen musste? An Karl Theodors Vorliebe für dunkelgestreifte Anzüge auch im Sommer zum Beispiel oder daran, dass über seinem Schreibtisch die „Toteninsel“ von Böcklin hing, gegen die Barbara von jeher eine Abneigung gehabt hatte. Auch den muskelstrotzenden „Diskuswerfer“ auf dem Bücherschrank mochte sie nicht sonderlich; aber es hätte keinen Sinn gehabt, Karl Theodor darauf aufmerksam zu machen. Bestenfalls hätte er ihren mangelnden Kunstsinn mit milden Worten gerügt.

Er liebte sie mit einer wohlabgewogenen, beinah väterlichen Zärtlichkeit. Alles an ihm war wohlabgewogen und temperiert. Stimmungen und Gefühlsausbrüchen gegenüber verhielt er sich wie die Auster zum eindringenden Meerwasser; er verschloss sich dagegen, fest und unwiderruflich.

Alles in allem fühlte Barbara sich wie ein Kind behandelt, aber sie unterdrückte aufrührerische Anwandlungen und Vergleiche zwischen Karl Theodor und Olaf, die zugunsten des letzteren hätten ausfallen können, mit dem Hinweis auf Karl Theodors zahlreiche positive Eigenschaften.

Kurz bevor sie dazu kam, den unerträglichen Pedanten in ihm zu sehen, der er tatsächlich war, raffte eine doppelseitige Lungenentzündung ihn innerhalb weniger Tage hinweg. Barbara betrauerte ihn aufrichtig. Trotzdem sagte eine Stimme ganz tief in ihr, dass sie noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen sei. Nach einer schicklichen Frist verbannte sie „Toteninsel“ und „Diskuswerfer“ als die äusseren Attribute von Karl Theodors Anwesenheit in ihrem Leben auf den Boden. Danach fühlte sie sich ungefähr so, als sei ihr das Leben neu geschenkt worden.

Sie widmete sich mit zärtlichem Eifer der Erziehung der heranwachsenden Brigitte; ausserdem zwang die Tatsache, dass Karl Theodor, der im Anfang einer vielversprechenden Beamtenlaufbahn gestanden hatte, ihr ausser einer bescheidenen Monatsrente nichts an irdischen Gütern hatte hinterlassen können, sie dazu, sich nach einer Tätigkeit umzusehen. Sie besann sich auf ihr Talent im Zeichnen, illustrierte auf eigne Faust ein Märchenbuch und hatte das Glück, mit ihrer Arbeit einem Verleger zu gefallen, der ihr von nun an Aufträge erteilte.

Schon als Kind hatte es Barbara Vergnügen gemacht, die Träume, an denen ihr reger Geist so reich gewesen war, in Bilder zu verwandeln. Später hatte sie Unterricht genommen; aber weder die Ehe mit Olaf noch gar die mit Karl Theodor waren dazu angetan gewesen, eigene Fähigkeiten in ihr reifen zu lassen. Nun jedoch erwachte sie zu sich selbst: zu einer Barbara, der einige Lichter über das Leben aufgegangen waren.

Vom Heiraten hatte sie für alle Zeiten genug. Die Schatten des leichtfertigen Olaf und des allzu gewissenhaften Karl Theodor schoben sich vor jeden Mann, der in ihrem Gesichtskreis erschien. Sie hatte ihre Arbeit, die sie befriedigte; sie hatte vor allem Brigitte.

Manchmal fragte sie sich, womit sie eine so wohlgeratene Tochter verdient habe. Olafs Freude an irgendeiner vernünftigen Beschäftigung war äusserst gering gewesen. Brigitte hingegen war fleissig und strebsam. Sie gab Barbara bis zu ihrem achtzehnten Jahr keinerlei Rätsel auf. Dann aber ein grosses und schwer zu lösendes, indem sie eines Tages vor ihre Mutter hintrat und ihr eröffnete, sie werde einen jungen Mann namens Winfried Sommer heiraten.

Barbara fiel aus allen Wolken. Sie hatte von der Existenz eines jungen Mannes in Brigittes Leben keine Ahnung gehabt. Brigitte war ein kleines Mädchen, ein ungewöhnlich braves kleines Mädchen, in dessen Herz sie zu lesen glaubte wie in einem offenen Buch. Nun musste Barbara erfahren, dass Herzen keine offenen Bücher sind, am wenigsten die von Kindern ihren Eltern gegenüber.

Sie versuchte, sich ihrer eigenen Jugend zu erinnern. Hatte sie nicht Olaf ihren Eltern verheimlicht, solange es ging, aus der berechtigten Angst heraus, er werde ihnen missfallen? Vielleicht hegte Brigitte ähnliche Befürchtungen? Mit schwacher Stimme bat sie die Tochter, ihr Herrn Winfried Sommer zu bringen.

Er kam, und Barbara teilte wiederum das Schicksal der meisten Mütter, indem sie sich fragte, was in aller Welt ihrer Tochter ausgerechnet an diesem Manne gefalle. Gewiss, er sah nett aus, aber so durchschnittlich wie nur möglich. Ein junger Mann wie hundert junge Männer: blond, mittelgross und ein bisschen spiessig. Dass er Ingenieur in einer aussichtsreichen Stellung war, mochte für eine Neunzehnjährige kein hinlänglicher Grund sein, sich in ihn zu verlieben. Aber vielleicht gefiel Brigitte sein Hang zur Feierlichkeit, der Barbara Gänsehäute über den Rücken jagte. Die Art, wie er in aller Form um Brigittes Hand bat, erinnerte sie an Theaterstücke aus ihrer Jugend. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein junger Mann von heute, der einem durchaus sachlichen Beruf oblag, soviel Wert auf eine literarische Ausdrucksweise legte.

Wie dem auch sei — er schien Brigitte zärtlich zu lieben. Seine Augen leuchteten, sooft er sie ansah; und die ihren leuchteten, sooft sie ihn ansah. Was wollte man mehr! Es stand nur zu hoffen, dass sie niemals aufhören würden zu leuchten. Konnte man es Barbara verdenken, wenn sie in diesem Punkte ein wenig skeptisch war?

Aber Brigitte war so anders, als sie selbst gewesen war. Niemals würde sie auf einen Mann von Olafs Art hereinfallen und später eine falsche Nutzanwendung in Gestalt eines Karl Theodor ziehen. Sie wusste sehr genau, was sie wollte, und so durfte man vermuten, dass Winfried Sommer der Richtige war und bleiben würde. Barbara sah keinen vernünftigen Grund, sich der Heirat zu widersetzen; denn der zärtliche Egoismus ihres Herzens, das sich dagegen sträubte, die Tochter so früh herzugeben, fiel natürlich nicht ins Gewicht.

An Brigittes Hochzeitstag war Barbara vierzig Jahre alt, aber sie fühlte sich wie sechzig, während sie sich von Brigitte umarmen und von ihrem Schwiegersohn auf die Wange küssen liess. „Ich danke dir, Mutter!“ sagte Winfried feierlicher denn je, und Barbara lächelte höflich. Am liebsten hätte sie geweint, weil ein wildfremder junger Mann sie Mutter nennen und ihr das Liebste nehmen durfte, das sie besass. Es ist der Lauf der Welt! tröstete sie sich; aber sie konnte es nicht hindern, dass der Lauf der Welt ihr sehr bitter vorkam.

Nachdem Brigitte und Winfried, von der Hochzeitsreise zurückgekehrt, ihre kleine Wohnung am andern Ende der Stadt bezogen hatten, schien es Barbara, als habe das Leben allen Sinn verloren. Sie hatte Brigitte ausgestattet mit Hilfe der Summe, die von Barbaras Eltern in weiser Voraussicht schon bei Brigittes Geburt für diesen Zweck sichergestellt worden war. Sie hatte beim Einrichten der Wohnung geholfen, soweit die Tochter, die eine ausgeprägte eigene Meinung über Möbel, Tapeten und Gardinen hatte, es zuliess. Nun war alles fertig, und man konnte nichts mehr tun, als das junge Paar sich selbst überlassen.

Nie zuvor hatte Barbara sich so verloren gefühlt. Ihr kleiner Haushalt freute sie nicht mehr, seitdem sie ihn für sich allein führen musste; sie bekam es satt, Kinderbücher mit weissbärtigen Zwergen, holdseligen Elfen und luftigen Tieren zu versehen. Zum Überfluss erkrankte sie zwei Monate nach Brigittes Heirat an einer schmerzhaften Entzündung der Gallenblase.

Erkrankungen dieser Art machen zu pessimistischen Betrachtungen geneigt. Barbara hatte nicht gewusst, dass ein Organ, von dessen Vorhandensein man nur theoretisch Kenntnis hatte, sich praktisch auf eine so aufdringliche und schmerzhafte Weise bemerkbar machen könne. Nachdem sie zwei elende Wochen mit heissen Breiumschlägen im Bett verbracht hatte, kehrte sie entkräftet und freudlos ins Dasein zurück. Bei einsamen Mahlzeiten, die aus Haferschleim und Kartoffelbrei bestanden, kam sie zu der Erkenntnis, das Leben sei nicht wert, gelebt zu werden. Ihr Optimismus, der bisher allen Wechselfällen siegreich getrotzt hatte, streckte vor der Hinfälligkeit des Körpers die Waffen.

Der Arzt riet zu einer Badekur. „Fahren Sie nach Karlsbad oder nach Kissingen!“ sagte er. ,,Sie werden sich wie neugeboren fühlen . . . Schliesslich haben Sie ja auch allerlei Schweres hinter sich“, fügte er hinzu. Und Barbara musste sich besinnen, bevor sie darauf kam, dass dies eine taktvolle Anspielung auf Karl Theodors Tod vor drei Jahren gewesen sein mochte.

Tatsächlich hatte sie sich seither kaum eine Erholung gegönnt. Was im übrigen die alljährliche Urlaubsreise mit Karl Theodor betraf, so haftete sie als eine Zeit tödlicher Langeweile in ihrem Gedächtnis. Genau besehen waren es die härtesten Wochen ihres Ehelebens gewesen, denn da hatte sie ihn den ganzen Tag um sich haben müssen, während er daheim immerhin acht Stunden täglich in seinem Büro gewesen war.

Mit einem letzten Willensaufwand beschloss Barbara, dem Rat des Arztes zu folgen. Sie wählte Kissingen und nicht Karlsbad aus der nur halb eingestandenen Erwägung heraus, Brigitte dort um einige Reisestunden näher zu sein.

„Stell dir deine Mutter mit einem Brunnenglas auf der Kurpromenade vor!“ sagte sie trübselig zu ihr, die mit Winfried und einem Blumenstrauss gekommen war, sie zu besuchen.

„Mach dir nichts daraus!“ sagte Brigitte fröhlich. ,,In deinem Alter muss man anfangen, etwas für seine Gesundheit zu tun.“

In deinem Alter? Barbara lächelte ergeben.

Ein paar Tage später packte sie ihre Koffer und reiste ab.

*

Schon im Zug fühlte sie sich ein wenig besser.

Die letzten Tage waren eine schreckliche Hetze gewesen. Sie hatte in ihre Kasse „Für Besonderes“ greifen und sich ein paar Kleider kaufen müssen, mit denen sie sich auf der Kurpromenade sehen lassen konnte. Auftauchende Gewissensbisse beschwichtigte sie mit dem Hinweis auf die grosse Sparsamkeit, deren sie sich seit Jahren befleissigte. Sie war ein Genie im Sparen geworden, nachdem die Ehe mit Olaf sie belehrt hatte, wohin unmässiges Geldausgeben führte.

Vielleicht ist doch alles zu etwas gut gewesen! dachte sie mit einem Anflug ihres alten Optimismus, während sie den Mantel aus kamelhaarfarbenem Flausch fester um ihre Schultern zog. Es war warm im Abteil, aber sie hatte von jeher die Neigung gehabt zu frieren — eine Neigung, die sich seit ihrer Krankheit verstärkt hatte.

Draussen flog eine freundliche Landschaft im hellblauen Licht des Septembertags vorbei. Auf den Feldern banden Frauen in bunten Kopftüchern die Ernte zu Garben; Dahlien und Astern blühten in vielfarbiger Fülle in den Gärtchen der Bahnwärterhäuser, trauliche kleine Dörfer, von denen man immer die Vorstellung hatte, in ihnen müsse eitel Frieden und Eintracht herrschen, schmiegten sich mit spitzgiebligen Schindeldächern aneinander.

Barbaras Augen nahmen alles durstig in sich auf. Sie war so wenig gereist. Karl Theodor hatte grundsätzlich nur Orte aufgesucht, die man von München aus in zwei bis drei Stunden erreichen konnte, und mit Olaf war sie zwar einmal im Süden gewesen, aber die Freude an Sonne, Palmen und leuchtenden Farben war durch das Vorhandensein eines Spielsaals stark beeinträchtigt worden . . . Barbara lehnte sich aufatmend zurück. Wie gut, dass man wenigstens von dieser Angst befreit war!

Ihr gegenüber hob eine beleibte Dame mit liebevoller Behutsamkeit einen Picknickkorb aus dem Netz. Auf dem Klapptischchen breitete sich alsbald eine Mahlzeit aus belegten Brötchen, hartgekochten Eiern und Obst aus. Die Augen der beleibten Dame glänzten im Vorgefühl lukullischer Genüsse, während sie geschickt aus einer Feldflasche Rotwein in einen Aluminiumbecher jonglierte.

Dabei fiel Barbara ein, dass sie seit einer Tasse Tee am Morgen nichts zu sich genommen hatte. Sie entnahm ihrer Handtasche einen Zwieback und knabberte daran herum. Die Wohlbeleibte verfolgte ihr Tun mit lebhaftem Interesse, und Barbara fühlte unausweichlich den Augenblick nahen, wo das Interesse dem Drang, sich in Worten kundzutun, nicht länger widerstehn würde. Sie schaute angestrengt aus dem Fenster, ohne jedoch den Lauf der Dinge aufhalten zu können.

„Darf ich Ihnen ein Gläschen Rotwein anbieten?“ sagte eine freundliche Stimme. „Sie sehen angegriffen aus.“

„Danke“, murmelte Barbara, „ich möchte lieber nicht . . . Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen!“

„O bitte, bitte!“ machte die Wohlbeleibte und befreite geschäftig ein Ei von seiner Schale. „Wahrscheinlich werden Sie mich für gefrässig halten; aber wenn man zu einer Hungerkur nach Kissingen fährt, darf man vorher noch einmal sündigen.“ Sie lachte fröhlich wie ein Kind über einen geglückten Streich. Ob Barbara auch nach Kissingen fahre, fragte sie, froh, ein Gespräch in Gang gebracht zu haben.

„Ja“, sagte Barbara einsilbig.

„Zu Doktor Kohlbauer?“ wollte die Wohlbeleibte wissen.

,,Nein“, sagte Barbara und nannte widerwillig den Namen des Arztes, dem ihr Hausarzt sie anempfohlen hatte.

Die Wohlbeleibte war mit dem ersten Ei auf eine summarische Weise fertig geworden; nun begab sie sich an die Erledigung des zweiten. „Sie sollten sich in Doktor Kohlbauers Behandlung begeben“, sagte sie, „seine Kuren sind weltberühmt. Im vorigen Jahr habe ich bei ihm zehn Pfund abgenommen. Aber Sie haben es ja nicht nötig abzunehmen. Im Gegenteil . . .“ Ihr Blick streifte mitleidig Barbaras zarte Gestalt. ,,Wo fehlt es denn, wenn ich fragen darf?“

Barbara seufzte. Sie war müde und hätte gern ein bisschen geschlafen. Trotzdem gab sie Auskunft, was zur Folge hatte, dass die Wohlbeleibte sich des längeren über eine Bekannte erging, die es ebenfalls „an der Galle“ gehabt habe und von Kissingen vollständig geheilt und um Jahre verjüngt zurückgekehrt sei. „Der Rakoczy-Sprudel ist ein Wunderbrunnen“, sagte sie, „Sie werden es am eigenen Leibe erfahren!“

Rakoczy? War das nicht ein mittelalterlicher ungarischer Fürst gewesen, nach dem dann später ein Marsch benannt worden war? Nun erfuhr Barbara, dass Kissingens berühmtester Sprudel in irgendeinem dunklen Zusammenhang mit Fürst und Marsch stand.

„Aber Sie dürfen sich nicht durch den Roller beirren lassen!“ Die Wohlbeleibte lachte wieder ihr kindliches Lachen.

Barbara sah sie fragend an. Sie ahnte, dass sie, was das Badeleben betraf, noch viel zu lernen haben werde. Dass es schon hier im Zuge zwischen Nürnberg und Bamberg begann, konnte ihr nur von Nutzen sein.

Auf der Rückreise werde ich mir den Bamberger Dom ansehen! nahm sie sich vor, während sie mit halbem Ohr den Erläuterungen der Wohlbeleibten über den Rakoczy-Koller folgte. Demzufolge geriet man über kurz oder lang in den Zustand eines Selbstmörders kurz vor der Tat. Die Wohlbeleibte schilderte, wie man an sich und der Welt verzweifle und der festen Überzeugung sei, alles, was man bisher zur Wiederherstellung seiner Gesundheit unternommen habe und noch unternehmen werde, sei für die Katz. „Für die Katz!“ äusserte sie mit Nachdruck. ,,Es gibt Menschen, die die Flinte ins Korn werfen und abreisen. Aber das darf man auf keinen Fall tun; denn nach dem Koller beginnt erst der Aufstieg. Sie werden sich wie neugeboren fühlen!“

Schon wieder jemand, der Barbara sagte, sie werde sich wie neugeboren fühlen! Hoffentlich stimmte es! Es musste ein herrliches Gefühl sein.

So, wie ihr jetzt zumute war, schien das Leben nur aus Kummer, Mühsal und Enttäuschung zu bestehen. Daheim auf ihrem Krankenlager hatte sie sich gesagt, dass sie alles von Grund auf falsch angefangen habe. Warum hatte sie nicht wie andere Frauen einen Mann heiraten und mit ihm glücklich werden können? Dann stünde sie heute nicht mit leeren Händen da.

Es muss an mir liegen! dachte sie. Olaf lief mir davon, weil ich nicht die Kraft hatte, ihn am Spielen zu hindern; und ich wäre Karl Theodor davongelaufen, wenn er nicht gestorben wäre.

Nur Brigitte ist ein voller Erfolg. Aber der Lauf der Welt hatte es gewollt, dass irgend jemand dahergekommen war, um die Früchte zu ernten, die sie gesät hatte.

Die Wohlbeleibte war nach ihren Ausführungen über den Rakoczy-Koller sanft entschlummert. Ihr wohlonduliertes Haupt ruhte auf einem Taschentuch, das sie sorgfältig über das grüne Plüschpolster gebreitet hatte.

Auch Barbara schloss die Augen. Das gleichmässige Rattern des Zuges war wie ein Schlummerlied. Sie schlief und hatte sogar einen Traum. Karl Theodor kam in seinem dunkelgestreiften Anzug auf sie zu und sagte streng: „Mach dich fertig! Wir sind gleich da!“

Erschrocken riss Barbara die Augen auf.

Gott sei Dank, sie war allein! Nur die Wohlbeleibte sass ihr in Hut und Mantel, umgeben von Handgepäck, gegenüber.

Draussen schoben sich bewaldete Höhen kulissenartig ineinander, verstreute Villen tauchten auf — ein Sportplatz, eine Fabrik. Am Hang formten grosse weisse Buchstaben das Wort ,,Belvedere“.

Barbara hob ihren Koffer aus dem Netz; sie setzte den weichen braunen Filzhut auf und zog die Handschuhe an. Der Zug holperte über Weichen, fuhr langsam in den Bahnhof und hielt.

„Bad Kissingen!“ rief der Schaffner. „Alles aussteigen!“

*

Barbara erwachte vom Klirren eines Glases auf dem Nachttisch. Kurz darauf wurde etwas Heisses unter ihre Bettdecke geschoben.

Sie blinzelte verschlafen. Der Kissinger Tag begann. Ein Sonnenstrahl tastete sich durch die Ritzen des herabgelassenen Fensterladens und erklomm über den weissen Tisch in der Mitte des Zimmers hinweg die ebenfalls weisse, mit bunten Blumensträusschen verzierte Wand.

Alles im Zimmer war weiss ausser einem kleinen altmodischen Sofa, das mit einem türkisch gemusterten Plüschbezug prunkte.

Ein Jungmädchenzimmer, war Barbaras erster Eindruck gewesen; sie hatte es beruhigend empfunden, von soviel Weiss umgeben zu sein.

Während sie, die heisse Moorpackung auf dem Magen, zum Brunnenglas griff, lauschte sie den Klängen des Chorals, die feierlich und getragen vom Kurgarten herüberdrangen.

Halb acht! Daheim hatte ihr Tag um diese Stunde noch nicht begonnen. Sie liebte es nicht, früh aufzustehen, und es war eine der schwärzesten Erinnerungen aus ihrer Ehe mit Karl Theodor, dass er sie gezwungen hatte, in grauer Morgenstunde am Frühstückstisch zu erscheinen, während er, vollauf mit Zeitungslesen beschäftigt, keinerlei Notiz von ihrer Anwesenheit nahm.

Barbara trank in kleinen Schlucken. Sie hatte sich schnell an den salzig-bitteren Geschmack des Rakoczy-Brunnens gewöhnt. Teewarm, wie er ihr verordnet war, sollte er sogar eine Delikatesse sein; wenigstens behaupteten das diejenigen, die ihn kalt zu sich nehmen mussten.

In den Gängen des Sanatoriums erwachte das Leben. Klingeln ertönten, Türen wurden zugeschlagen. Die Kurgäste, die ihren Brunnen an Ort und Stelle tranken, machten sich auf den Weg.

Im Kurgarten spielten sie jetzt ein Potpourri aus einer verschollenen Oper . . . Barbara legte sich zurück. Es war herrlich, nun noch eine Stunde in der wohligen Wärme der Moorpackung zu ruhen!

Herr Silberschmidt nannte die Packung seine „Moorbraut“. Wenn es sich um einen weiblichen Kurgast handelte, sprach er vom „Moorbräutigam“. „Schlafen Sie gut mit Ihrem Moorbräutigam!“ rief er der molligen kleinen Frau Komarek jeden Mittag zu und wurde es niemals müde, seinen Witz schallend zu belachen.

Herr Silberschmidt weilte schon zum zehnten Male in Kissingen. Er war Dr. Brinks ältester Patient und rühmte sich grosser Erfahrung im Kurleben. So verstand er es ausgezeichnet, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, indem er sich tagsüber eines durchaus kurgemässen Lebenswandels befleissigte, am Abend jedoch seine Schritte zu Almstedt oder in den Schlosskeller lenkte, um ein oder auch zwei kurwidrige Viertel Frankenwein zu sich zu nehmen.

Ähnlich stand es um Birlingers; nur, dass sie noch ein übriges taten und ihre karge Diät auf eigene Faust aufbesserten. Böse Zungen behaupteten, es sei unter diesen Umständen kein Wunder, wenn sie allen Entfettungsmassnahmen hartnäckig trotzten. Birlingers wogen zusammen etwa vier Zentner. Sie stammten aus Wien und waren Bollwerke gepolsterter Behaglichkeit. Frau Birlinger, fünfzigjährig, hellblond und rosa, nannte ihren Mann „Banzi“, während sie, ungeachtet ihres Nettogewichts von einhundertundneunzig Pfund, sein „Haserl“ war.

„Sie tun, als seien sie auf der Hochzeitsreise“, hatte Frau Hopf, Barbaras Tischgenossin, ihr erzählt und missbilligend hinzugefügt, sie finde es unanständig, wenn Menschen gesetzten Alters sich so benähmen.

Barbara ihrerseits fand nichts Anstössiges in der Birlingerschen Zärtlichkeit. Es schien ihr vielmehr, als sei Frau Hopfs moralische Entrüstung nichts weiter als unterbewusster Neid. Frau Hopf nämlich sah nicht so aus, als sei sie jemals mit Zärtlichkeit verwöhnt worden, obwohl sie behauptete, in überaus glücklicher Ehe mit ihrem Gatten zu leben, der in einer mitteldeutschen Kleinstadt eine Apotheke besass. Aber ihr kleines, säuerliches Gesicht mit den hervorquellenden Augen, das fahle dunkelblonde Haar unter dem Haarnetz, die ganze magere, unerblühte Gestalt erweckten nicht den Eindruck, als habe der Apotheker es verstanden, das in ihr zu wecken, was nur ein in der Liebe bewanderter Mann in einer Frau zu wecken vermag.

Zwar waren auch Barbaras Erfahrungen auf diesem Gebiet gering. Sie neigte der Ansicht zu, dass die wenigsten Männer eine Frau so liebten, wie sie es sich wünschte. Karl Theodor zum Beispiel hatte keine Ahnung von Zärtlichkeit gehabt. Olaf schon eher; aber dafür hatte er in keiner Hinsicht sonst etwas getaugt. Seither fürchtete Barbara, Bewandertheit im Umgang mit Frauen gehe meist auf Kosten von Rechtschaffenheit und sonstigen schätzenswerten Eigenschaften. Es war bedauerlich; aber man konnte eben nicht alles auf einmal haben.

Als sie zum Frühstück im Speisesaal erschien, sass Frau Hopf schon an ihrem gemeinsamen Tisch. Auch Birlingers waren vorhanden, und Herrn Silberschmidts runder Kahlkopf tauchte hin und wieder hinter der Zeitung auf. In ihrer Ecke löffelte die kleine Frau Komarek tapfer Haferbrei.

Der Speisesaal war ein freundlicher, hell getünchter Raum mit blumigen Vorhängen. Die Sonne schien herein und verstärkte den Eindruck von Frische und blitzender Sauberkeit.

Neben Barbaras Tasse lag ein Brief mit Brigittes klaren Schriftzügen. Der erste seit acht Tagen! ,,Von meiner Tochter“, beantwortete sie freudig Frau Hopfs fragenden Blick und nahm zur Kenntnis, dass auch Frau Hopf einen Brief von ihrem Gatten, dem Apotheker, erhalten habe.

„Er schreibt, ich solle mich recht gründlich erholen“, sagte Frau Hopf.

„Tun Sie das!“ antwortete Barbara zerstreut. Ihre Gedanken waren bei Brigittes Brief; sie würde ihn später lesen, ohne Frau Hopfs neugierige Augen.

Inzwischen beklagte sich Frau Hopf, sie habe eine schlaflose. Nacht hinter sich. Schuld daran sei einzig und allein Herr Przybilski. ,,Stellen Sie sich vor, Sie müssten neben einem schnarchenden Menschen schlafen!“ sagte Frau Hopf, und ihre hervorquellenden Augen sahen Barbara vorwurfsvoll an.

Barbara musste lachen. „Nun, wenigstens schläft er nicht in Ihrem Zimmer“, sagte sie.

„I, Gott behüte!“ Die Vorstellung, ein anderer Mann als der Apotheker könne an ihrer Seite ruhen, benahm Frau Hopf schier den Atem. Sie gab Einzelheiten aus ihrer Ehe, den geräuschlosen Schlummer des Apothekers betreffend, zum besten und meinte, nicht jede Frau könne sich eines in jeder Hinsicht so vortrefflichen Mannes rühmen.

„Nein“, gab Barbara bereitwillig zu.

Frau Hopf zögerte. Sie hatte etwas von Barbaras beiden Ehen läuten hören; es lüstete sie schon lange, sich Gewissheit über diesen Punkt zu verschaffen. „Es muss schmerzlich für Sie sein, in verhältnismässig jungen Jahren als Witwe dazustehen“, begann sie teilnahmsvoll.

Barbara machte „Mm“ und tat damit die Absicht kund, nicht näher auf das Thema einzugehen.

Aber Frau Hopf, einmal auf der Spur, liess nicht locker. ,,Besonders, wenn es nicht zum erstenmal ist“, sagte sie.

„Wieso?“ fragte Barbara verwundert.

„Ich — ich meine: Waren Sie nicht zweimal verheiratet?“

„Doch. Aber mein erster Mann lebt noch — soviel ich weiss“, setzte Barbara vorsichtig hinzu.

„Soviel Sie wissen?“

Frau Hopfs Augen wurden rund vor Staunen, was ihr Ähnlichkeit mit einem Karpfen verlieh.

„Er ist verschollen“, sagte Barbara unbedacht und fand, der Teufel sollte alle neugierigen Menschen holen.

Gott sei Dank forschte Frau Hopf nicht weiter. Der verschollene Olaf hatte ihr fürs erste den Rest gegeben.

Neben ihnen stritten Birlingers, ob Banzi Honig essen dürfe. Haserl, als der vernünftigere Teil, war dagegen. Banzi gab zu bedenken, dass der Honig auf dem Tisch stehe, um gegessen zu werden. Wahrscheinlich sei es ein Versehen von Fräulein Franziska, meinte Haserl und schickte sich an, Fräulein Franziska herbeizurufen. Aber Banzi legte ihr die Hand auf den Mund. „Essen wir halt beide ein bisserl von dem Honig!“ Haserl verstummte. Sie hatte getan, was sie konnte. Wer durfte ihr verübeln, wenn nun auch sie der Versuchung erlag?

Barbara hatte ihr Frühstück beendet. Brigittes Brief in der Hand, stieg sie die Treppe hinauf. Im ersten Stock stiess sie auf Konstantin Przybilski.

Noch nie, so schien es Barbara, hatte es eine so vollständige Übereinstimmung zwischen einem Namen und seinem Träger gegeben. Nur ein Mann vom verwegenen Aussehen eines Opernintriganten durfte so viele Konsonanten auf seine Person vereinigen. Für einen Pelzhändler wirkte Herr Przybilski in der Tat ungewöhnlich dämonisch mit dem glänzend schwarzen Haar, den feurigen Augen und dem koketten Schnurrbärtchen über den sehr roten Lippen. Seine Haut war quittengelb. Es hiess, sein Leberleiden sei daran schuld; aber Frau Hopf schob Herrn Przybilskis interessanten Teint auf seine balkanische Abkunft. Für Frau Hopf begann der Balkan dort, wo Wien aufhörte; sie äusserte sich sehr missbilligend über ihn ünd stand nicht an, ihn in Bausch und Bogen eine gottverlassene Gegend zu nennen, die von Räubern und Wanzen bevölkert sei. Dabei stammte Herr Przybilski gar nicht vom Balkan, sondern aus Berlin, und seine Wiege hatte irgendwo an der böhmischen Grenze gestanden.

„Einen schönen guten Morgen, Gnädigste!“ rief Konstantin Przybilski im Vorübereilen.

Das war auch eine Eigenart von ihm; er sprach nicht, er rief. Seine Stimme war ebenso raumfüllend wie seine Person. Wo er erschien, war er Herr der Szene. Zu einem beigefarbenen Anzug mit grünen Karos trug er eine gestreifte Krawatte und braune Schuhe mit weissem Einsatz. Ein durchdringender Duft von Eau de Cologne russe umschwebte ihn auf Schritt und Tritt.

Der Duft von Eau de Cologne russe begleitete Barbara in ihr Zimmer. Auf dem Bettrand sitzend, las sie endlich Brigittes Brief.

„Liebste Mutter! Schnell ein paar Zeilen, um Dir zu sagen, dass wir sehr an Dich denken!“

Barbara lächelte. Es wäre kühn gewesen anzunehmen, dass auch Winfried an seine Schwiegermutter dachte.

„Hoffentlich gefällt es Dir in Kissingen, und Du fühlst Dich schon ein bisschen besser. Winfried und ich meinen, Du solltest auf jeden Fall vier Wochen Kur machen, damit Du Dich gründlich auskurierst . . .“

Sie sind froh, mich los zu sein! dachte Barbara ohne Bitterkeit und erfuhr aus dem nächsten Satz, dass Winfrieds Vater von einem ähnlichen Leiden durch eine Kur völlig geheilt worden sei.

„Winfried sagt — —“

Barbara liess den Brief sinken. „Winfried sagt“ — „Winfried meint“ —. Für Brigitte war Winfrieds Meinung so etwa das Salz des Lebens. Natürlich vergass sie, dass sie für ihre Mutter nicht dasselbe bedeutete.