Die stolze Nymphe - Ell Wendt - E-Book

Die stolze Nymphe E-Book

Ell Wendt

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Beschreibung

Ein heiterer Roman über die Liebe und ihre Tücken: Christel ist mit dem bisher erfolglosen Erfinder Klaus verlobt. Als sie eine Stelle als Haushaltshilfe bei dem verschrobenen alten Maler Sommerhoff annimmt und abends immer länger auf sich warten lässt, wird Klaus jedoch ungeduldig. Er trifft sich schließlich mit der hübschen Lilian, was Christel eifersüchtig und traurig macht. Als Sommerhoff Christels Liebeskummer mitbekommt, wird klar, dass auch der Alte in einer komplizierten Ehe steckt und mehr über die Liebe weiß als gedacht!-

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Ell Wendt

Die stolze Nymphe

 

Saga

Die stolze NympheCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1942, 2020 Ell Wendt und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726629279

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1

Pünktlich um sechs Uhr dreißig rasselte der Wecker. Christine krauste im Schlaf die Stirn. Sie ging gerade mit Klaus über eine blühende Sommerwiese, Schwalben schossen durch den blauen Himmel, die Luft war erfüllt vom Zirpen der Grillen. „Sieh nur, wie schön!“ sagte die träumende Christine zu Klaus, aber das Zirpen der Grillen wurde stärker und stärker, es schwoll zu einem ohrenbetäubenden Geräusch an. Christine riß entsetzt die Augen auf; sie konnte sich nicht länger der Erkenntnis verschließen, daß sie sich nicht auf einer blühenden Wiese, sondern in ihrem Bett in der Dirrmoserschen Wohnung befand und zwar in der einzigen Gesellschaft eines Weckers, von dem sie nicht begriff, daß seine mißtönende Stimme sie auch nur einen Augenblick an das Zirpen von Grillen hatte denken lassen. Sie streckte die Hand aus, um den Wecker zum Schweigen zu bringen, aber tückisch, wie Dinge zuweilen sind, verstummte er mit einem letzten röchelnden Laut von selbst.

Christine legte sich zurück, ein wenig ärgerlich, weil sie aus Gewohnheit am Abend zuvor den Wecker auf sechs Uhr dreißig gestellt hatte, obwohl es nicht mehr so eilte mit dem Aufstehen, seitdem sie den vertretungsweise übernommenen Posten in der Leihbücherei wieder an ihre Freundin Mimi abgegeben hatte. Die Arme hinter dem Köpf verschränkt, versuchte sie geschlossenen Auges zur Sommerwiese zurückzufinden, aber nun machte ein auf der Straße vorbeidröhnender Lastwagen die Scheiben erklirren, während sich im Nebenzimmer das Erwachen der Eheleute Dirrmoser unter mannigfachen Geräuschen vollzog. Da die Wände im Hause dünn waren, wurde Christine zur unfreiwilligen Zeugin des Dirrmoserschen Ehelebens, das zu einem erheblichen Teil aus langen vorwurfsvollen Ansprachen bestand, die Frau Dirrmoser an ihren wortkargen Gatten richtete. Den Rest bildeten die allnächtlichen Schnarchduette, ein akustischer Wettbewerb, aus dem Herr Dirrmoser als unbestrittener Sieger hervorging.

Tagsüber war er mit einem schmucken Taxi, dessen Besitzer er war, am Odeonsplatz zu finden. Rechtschaffenheit und Biedersinn standen ihm im Gesicht geschrieben; er sei durch nichts „aus dem Häusl zu bringen“, wie seine Frau behauptete, eine Eigenschaft, die seinem verantwortungsvollen Beruf nur zum Vorteil gereichen konnte. Unbegreiflicherweise fand Frau Dirrmoser hierin einen Grund zur Klage; sie beantwortete Christines Einwand, es müsse doch angenehmer sein, einen ruhigen Mann zu haben als einen, der die Wohnung mit den Ausbrüchen eines überschäumenden Temperaments erfülle, mit einem „O mei, Fräulein!“, das tiefes Mitleid mit Christines Unbewandertheit in ehelichen Dingen verriet.

Christine hatte das Zimmer bei Dirrmosers, das in der Zeitung als „Couchzimmer mit modernem Komfort“ angepriesen worden war, gemietet, weil es den Vorzug der Billigkeit mit einem Ausblick auf unbebaute Grünflächen verband, auf denen zu Christines Entzücken manchmal eine Schafherde weidete. Was den Komfort betraf, so verstand Frau Dirrmoser darunter wohl den alten Rohrsessel mit dem kreuzstichbestickten Polster sowie ein Bärenfell, das sie auf einer Auktion ersteigert hatte, ohne zu ahnen, daß Motten darin hausten. Der Ärger über diese Entdeckung hatte sie veranlaßt, den Bären von seinem Platz vor dem Sofa in der Wohnstube fort in Christines Zimmer zu verbannen, wo er sich, quer über das Linoleum gebreitet, sehr wohlhabend ausnahm. Über der Couch hing ein schwarz gerahmter Stahlstich: „Napoleon auf der Flucht über die Beresina“. Er zeigte den großen Korsen, wie er im Schlitten eine verschneite und äußerst unwirtliche Landschaft durcheilte. Zu seinen Häupten kreisten einige Raben, wodurch wohl symbolisch der nahende Untergang angedeutet werden sollte.

„Schauderhaft!“ hatte Klaus beeindruckt ausgerufen, als er Christine zum erstenmal in ihrem Domizil besuchte. Aber Christine ließ sich nicht entmutigen. Sie fand, daß Männer sehr leicht dem Schein erliegen, und begab sich tapfer daran, den Dirrmoserschen Scheußlichkeiten mit Decken, Kissen und Büchern aus eigenem Besitz zu Leibe zu gehen. Als Klaus das nächste Mal gekommen war, hatte er die Augen aufgerissen und etwas von Feenhänden gemurmelt. Im Gedanken daran lächelte Christine. Es war so komisch, wenn Klaus versuchte, sich poetisch auszudrücken. Nicht etwa, als mangle es ihm an Phantasie, aber seine Phantasie äußerte sich weniger auf geistigem als auf praktischem Gebiet.

Klaus, Elektroingenieur von Beruf, war in erster Linie und mit Leib und Seele Erfinder. Zwar ging es ihm nicht um weltbewegende Neuerungen wie Raketenflugzeuge oder Unterseetunnels; er fühlte nur den unbezwinglichen Drang, die Welt im kleinen zu verbessern, indem er Dinge erfand, die der Erleichterung des täglichen Lebens dienen sollten. Im Anfang ihrer Bekanntschaft hatte er Christine erzählt, wie es ihn als halbwüchsigen Jungen beeindruckt habe, seine Mutter morgens, mittags und abends Berge von Geschirr abwaschen zu sehen. Nicht mit Unrecht vermutete Christine, daß dieser Eindruck weniger stark gewesen wäre, wenn Klaus nicht zur Hilfeleistung beim Geschirrabwaschen und sonstigen Aufgaben in dem kinderreichen Haushalt befohlen worden wäre. Offenbar hatte seine Tätigkeit als Tellerwäscher den Wunsch in ihm reifen lassen, menschliche Hände durch Maschinen ersetzt zu sehen. Schon als Vierzehnjähriger hatte er an einem Apparat gebastelt, der Geschirr selbsttätig reinigen sollte. Damals war er ausgelacht und mit Ohrfeigen in die Wirklichkeit der mütterlichen Küche zurückgetrieben worden. Aber das hinderte ihn nicht, den Plan später wieder aufzunehmen. Er verbrachte seine ganze Freizeit und die halben Nächte mit der Konstruktion eines Apparates, der, elektrisch betrieben, die Hausfrau davor bewahren würde, kostbare Stunden ihres Lebens mit Geschirrabwaschen zu verlieren. Als er damit fertig war, mußte er zu seinem Leidwesen erfahren, daß schon andere Tellerwäscher auf denselben Gedanken gekommen waren. Hotels und Krankenhäuser bedienten sich dieser Erfindung, während sie sich für den heimischen Herd als zu kostspielig erwies. Klaus jedoch, von echtem Erfindergeist beseelt, warf die Flinte nicht ins Korn.

„Die Zeit schreit nach Fortschritt!“ eröffnete er Christine auf ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang, und später, als sie schon vertrauter miteinander waren: „Ich will nicht, daß meine Frau einmal den ganzen Tag im Haushalt wurschtelt!“

Es war dies ein Idealismus, den Christine schön und löblich fand, aber inzwischen hatte Klaus ein Patentbügeleisen und einen elektrischen Stopfapparat erfunden, ohne daß beides ihm etwas eingebracht hätte außer der Erkenntnis, daß es offenbar nichts auf der Welt gab, was es nicht schon gegeben hätte, und Christine begann zu hoffen, Klaus möge aus dieser Erkenntnis Nutzen ziehen und sein Sinnen und Trachten auf erreichbare Ziele richten. Nur sagen durfte sie ihm das nicht. Klaus war sehr empfindlich in diesem Punkt und würde sogleich behauptet haben, Christine glaube nicht an ihn. Womit er ihr bitter unrecht getan hätte, denn Christine glaubte mit der ganzen Kraft ihres einundzwanzigjährigen verliebten Herzens an Klaus. Sie bewunderte seine unleugbaren Fähigkeiten ebenso wie seinen zähen Fleiß, und wenn sie etwas wünschte, so war es höchstens, daß er beides stärker in den Dienst der Firma Kienagl & Eisenmann, Elektrische Artikel en gros, stellen möge, anstatt alles von seinen Erfindungen zu erwarten.

Im Nebenzimmer war es still geworden. Frau Dirrmoser hantierte jetzt geräuschvoll in der Küche, und der Duft von Malzkaffee stahl sich unverkennbar durch alle Ritzen.

Christine stand auf. Ein paar Freiübungen am offenen Fenster bewirkten, daß ihre Gedanken von Klaus und dem Sommerwiesentraum fort zu den Gegebenheiten des Tages gelenkt wurden. Eine davon war die Notwendigkeit, sich nach einer neuen Stellung umzusehen, da es sich bei dem Posten in der Leihbücherei ja um ein Provisorium gehandelt hatte. Christine hing an ihrem Beruf. Sie hatte ihn aus freien Stücken erwählt und die Wahl noch nie bereut. Aber nun, da es wieder einmal auf den Sommer zuging, graute ihr ein wenig vor einer Tätigkeit, die sie tagaus, tagein an einen dumpfen Raum fesselte. Auf dem Lande aufgewachsen, hatte sie ein starkes Bedürfnis nach frischer Luft und körperlicher Bewegung. Es geschah bisweilen, daß während der Arbeit eine fast unbezwingliche Sehnsucht nach dem Duft der Erde im Frühjahr sie überfiel, nach der lieblichen Vorgebirgslandschaft, in die das väterliche Gut gebettet war, nach Haus und Hof und allem, was darin lebte. Wenn sie daheim wüßten, daß sie dieses Zimmer gemietet hatte, um ein Stück unbebautes Land und ab und zu eine Schafherde zu sehen!

Christine, in ihrem dünnen Hemdchen am offenen Fenster, war nahe daran, Mitleid mit sich selbst zu bekommen. Grundstücke als Ersatz für blumenbestickte Wiesen und grünende Felder! Aber dann rief sie sich zur Vernunft. Niemand würde sie hindern, eine Zeitlang nach Hause zu fahren, falls sie sich entschließen könnte, von Klaus getrennt zu sein. Das aber konnte sie keinesfalls. Wenn sie auch als vernünftiges, jedem Überschwang abgeneigtes Mädchen niemals zugegeben haben würde, daß die Welt ohne Klaus eine Wüste, mit ihm jedoch ein Paradies sei, so war es doch genau das, was sie im Grunde ihres Herzens empfand.

Sie schloß das Fenster, zog ihr Hemdchen über den Kopf und wusch sich tapfer von Kopf bis Fuß mit kaltem Wasser. Dann schlüpfte sie in ihren Morgenrock und begab sich in die Küche, wo das Ehepaar Dirrmoser beim Frühstück saß. Der Taxibesitzer blinzelte ihr über seiner Kaffeetasse wohlwollend zu, während seine Gattin, fünfzigjährig, mit beträchtlichen Rundungen unter der Kittelschürze, sie mit einem Wortschwall empfing. Ihm war zu entnehmen, daß Frau Dirrmoser von einem Traum heimgesucht worden war, in dem eine schwarze Katze die Hauptrolle gespielt hatte.

„Ausgerechnet a schwarze!“ klagte Frau Dirrmoser. Sie hatte im Traumbuch geblättert und herausgefunden, daß schwarze Katzen Trennung und Verlust bedeuteten.

„Schau nur, daß di net derrennst!“ sagte sie drohend zu ihrem Gatten, eine Mahnung, die Herrn Dirrmoser zu einem zweiten Blinzeln an Christines Adresse und dem Stoßseufzer „O mei, die Weiber“ veranlaßte.

„I bring Eahna glei Ihren Kaffee!“ verhieß Frau Dirrmoser. Sie rannte in der Küche umher und schuf Lärm und Aufruhr, wo vorher warme kaffeeduftende Behaglichkeit gewesen war.

„Danke schön“, sagte Christine. „Und wenn ich einen Blick in die Morgenzeitung tun darf, nachdem Herr Dirrmoser sie gelesen hat!“

„Hot scho!“ sagte Herr Dirrmoser gutmütig und schob die Zeitung über den Küchentisch Christine zu. „Vertiefens Eahna nur in den Roman, Fräulein.“

„Es is ja gar nicht zwegn den Roman“, verwies ihm seine Frau, „a neue Stellung sucht das Fräulein Christel, gelt?“

„Ja“, sagte Christine, die Zeitung unter den Arm geklemmt.

„Und was is nacha mit’n Herrn Inschenieer?“ erkundigte sich Frau Dirrmoser boshaft.

„Wieso?“ fragte Christine, obwohl sie genau wußte, wohin Frau Dirrmosers Frage zielte. Die Gattin des Taxibesitzers standKlaus und seinen Erfindungen durchaus skeptisch gegenüber. Sie war überzeugt, daß Klaus „nie nicht“ auf einen grünen Zweig gelangen würde, und versäumte nicht, Christine bei jeder Gelegenheit darauf aufmerksam zu machen.

„I moan, hot er no immer nix erfunden, auf das hin er Sie heiraten kennt?“ beharrte sie unerbittlich. Doch nun griff Herr Dirrmoser ein.

„A Schloß sollt er derfinden, daß die Weiber’s Maul halten“, kam er Christine zu Hilfe, und sie lächelte ihm dankbar zu. Dann nahm sie das Tablett mit dem Frühstück und trug es in ihr Zimmer hinüber. Sie rückte den Rohrsessel vor den Tisch und kauerte sich mit hochgezogenen Knien hinein. Während sie eine Semmel mit Butter bestrich, überflogen ihre Augen den Anzeigenteil der Zeitung. Buchhalterin gesucht! Sekretärin, perfekt in Kurz- und Maschinenschrift! Direktrice für führende Modenwerkstatt! Schon wieder eine Sekretärin, diesmal mit Sprachkenntnissen! ,Lauter Stubenberufe‘, dachte Christine enttäuscht.

Was wollte sie eigentlich? Sie liebte doch den Umgang mit Büchern. Sie setzte ihren Stolz darein, und es machte ihr Freude, das richtige Buch an den richtigen Menschen zu bringen. Der Einwand, daß es ihr im Winter mehr Freude mache als im Sommer, hatte natürlich nicht den geringsten Anspruch darauf, ernst genommen zu werden.

,Ich werde nachher bei Schellhorn hineinschauen‘, beschloß sie. Schellhorn war eine der größten Buchhandlungen der Stadt, und Mimi glaubte zu wissen, daß dort der Posten einer Gehilfin frei wurde.

Christine faltete die Zeitung zusammen, dabei fiel ihr Blick auf eine Anzeige in Sperrdruck rechts unten in der Ecke:

Junge selbständige Person, ge -

scheit und tierliebend, zur Füh -

rung eines frauenlosen Haus -

halts tagsüber gesucht. Vorzu -

stellen bei Sommerhoff, Waldham

bei München, Alpenstraße 4.

Christine las die Anzeige einmal, zweimal, Wort für Wort. Sie mußte lachen. Dies war die sonderbarste Anzeige, die ihr jemals vorgekommen war! Ein Mensch, der an Stelle von Ehrlichkeit, Fleiß, Erfahrung im Kochen und sonstigen Eigenschaften, die man gemeinhin von einer Haushälterin erwartet, Gescheitheit und Tierliebe verlangte, reizte ihre Neugier. Wer war Sommerhoff? Vielleicht ein Silberfuchszüchter oder ein Forschungsreisender, der sich Affen und allerlei exotisches Getier aus fernen Ländern mitgebracht hatte. Auf jeden Fall aber jemand, der auf dem Lande wohnte und vom Herkömmlichen abweichende. Wünsche hatte. Man könnte hingehen und sich ihn und seine Menagerie einmal ansehen, dachte Christine übermütig. Ansehen verpflichtete zu nichts. Aber während sie ihr Frühstück beendete, dachte sie darüber nach, wie weit sich die in der Anzeige geforderten Eigenschaften auf ihre Person beziehen ließen. Jung? Das war sie zweifellos. Selbständig? Nun, bisher hatte sie immer ganz ordentlich ihren Mann gestanden, wenn auch der Haushalt nicht gerade zum Tummelplatz ihrer Fähigkeiten geworden war. Immerhin hatte sie daheim während einer Krankheit der Mutter einmal eine Zeitlang gekocht, und niemand war dabei verhungert! Gescheit? Was das betraf, so kam es darauf an, was man darunter verstand. Klaus hatte sie neulich kurzerhand für dumm erklärt, weil sie sich nicht in den Punischen Kriegen auskannte. Aber es war nicht anzunehmen, daß ein Forschungsreisender ausgerechnet auf Geschichtskenntnisse erpicht war. Und tierliebend? Ja, ja und nochmals ja! Es wurde ihr ja schon warm ums Herz, wenn sie die Schafe auf dem Bauplatz weiden sah! Sie war mit Tieren aufgewachsen und liebte sie alle, die braunweißen Kühe und die schweren Ackerpferde, die Schweine, Enten und Hühner, Muschi die Katze, und Wackerl den Hofhund! Sie würde auch Herrn Sommerhoffs Tiere lieben, mochte es sich um Silberfüchse, Affen oder was sonst immer handeln! Ein Sommer auf dem Lande, und doch nicht so weit von der Stadt entfernt, daß es eine Trennung von Klaus bedeutet hätte! Der Gedanke gewann immer mehr an Reiz!

Natürlich mußte sie mit Klaus darüber sprechen, aber ihm konnte es ja nur recht sein, wenn sie sich im Haushalt vervollkommnete. Am besten rief sie ihn gleich an und fuhr dann nachmittags nach Waldham hinaus. Dieser Entschluß bewirkte, daß sie sich mit dem Anziehen beeilte. Im Hinblick auf den Nachmittag wählte sie ihr Kostüm und eine weiße Hemdbluse. Nichts erweckt so überzeugend den Eindruck anspruchsloser Gediegenheit wie Hemdblusen. Christine fand diesen Eindruck bestätigt, als sie zum Ausgehen fertig ihr Bild ein letztes Mal im Spiegel überprüfte. Übrigens war es ein Kreuz mit dem Spiegel. Er besaß die Eigenschaft, alles, was er spiegelte, ungebührlich in die Länge zu ziehen. Vielleicht hatte gerade dieser Umstand Frau Dirrmoser zum Kauf gereizt, denn der Spiegel ließ ihre ausladenden Rundungen oval erscheinen, was ihr das Recht gab, sich vollschlank zu nennen. Christine hingegen verlieh er etwas Präraffaelitisches. Klaus, dem künstlerische Vergleiche fernlagen, behauptete, sie sehe aus wie jemand, der an Auszehrung leide.

Wie dem auch sein mochte, Christine fand sich an diesem Morgen sogar im Dirrmoserschen Spiegel ganz in Ordnung, gut ausgeschlafen mit rosigen Wangen und blanken Augen, mit einem frischen Mund, der noch keinen Lippenstift brauchte, und mit dem hellblonden Gelock, das dicht und weich unter dem blauen Filzhut hervorquoll.

„Auf Wiedersehen, Frau Dirrmoser!“ rief sie ins Nebenzimmer, wo ihre Wirtin die Ehebetten mit stickereibesetzten Paradekissen versah.

„No, habns was gefunden, Fräulein Christel?“ Die Gattin des Taxibesitzers trat in die Tür, zu längerem Gedankenaustausch bereit. Aber Christine hatte schon die Korridortür geöffnet.

„Vielleicht!“ rief sie fröhlich. Die Korridortür fiel ins Schloß und Frau Dirrmoser kehrte in einem Zustand qualvoller Ungewißheit zu ihren Paradekissen zurück.

2

Schon von der Plattform der Straßenbahn aus sah Christine Klaus, wie er neben der Normaluhr am Odeonsplatz stand, groß und breitschultrig in seinem Sportanzug, den er zu allen Jahreszeiten unter großzügiger Außerachtlassung städtischer Sitten und Gebräuche trug. Er war ein gut aussehender Bursche mit widerspenstigem braunem Haar und blitzblauen Augen. Dieser Gegensatz von Braun und Blau, verbunden mit einem heiteren und gewinnenden Wesen, verhalf ihm zu großer Beliebtheit bei Frauen aller Altersstufen, und manches Mädchen hätte darin zweifellos einen Grund zu eifersüchtiger Unruhe gefunden. Christine aber wußte sich frei von Regungen dieser Art. Sie lachte ihre Freundin Mimi aus, die behauptete, man dürfe keinem Mann auf der Welt trauen, und sei er noch so treuherzig und blauäugig. Mimis Pessimismus in bezug auf Männer entstammte einem Zerwürfnis mit ihrem Freunde Georg, der seine Aufmerksamkeit vorübergehend einer hübschen kleinen Platzanweiserin in den Gloria-Lichtspielen geschenkt hatte. Es war zwar keine ernste Angelegenheit gewesen, aber sie hatte einen Stachel in Mimis Seele hinterlassen, und sie empfahl seither den Kunden der Leihbücherei mit Vorliebe Bücher, in denen der Mann in seiner ganzen Unzuverlässigkeit gebrandmarkt wurde.

Christine pirschte sich vorsichtig an Klaus heran und freute sich über sein verdutztes Gesicht, als sie wie aus dem Erdboden gewachsen vor ihm stand.

„Servus!“ sagte sie und streckte ihm kameradschaftlich die Hand entgegen.

„Servus, Christel!“ Klaus’ Gesicht erstrahlte in einem breiten Lachen. Er schob seinen Arm durch den ihren und zog sie mit sich fort. „Was ist denn in dich gefahren, daß du mich mitten aus der Arbeit hierhergesprengt hast? Ich habe Kienagl etwas vom Zahnarzt vorgeschwindelt. Er sah mich an wie einen armen Irren, aber bevor er loslegen konnte, war ich draußen. Also sag, was —“

„Langsam, langsam!“ sagte Christine. „Zuerst möchte ich, daß du dich freust, weil ich da bin.“

Er drückte ihren Arm an sich. „Natürlich freue ich mich, das weißt du doch! Willst du spazieren gehen, oder trinken wir einen Frühschoppen irgendwo?“

„Gehen wir ein wenig in den Englischen Garten“, entschied Christine.

Die Sonne strahlte hell an einem blanken Himmel, es war April und noch ziemlich kalt, aber über den weiten wintergrauen Rasenflächen lag schon ein Schimmer von Grün, die Forsythien standen in golden flammender Blüte, und hie und da am Wegrand gab es Büschel dunkler Veilchen. Sie fanden eine sonnenwarme Bank im Schutz des Monopteroshügels. Den Kopf an Klaus’ Schulter gelehnt, überließ sich Christine dem Zauber des erwachenden Frühlings. Klaus hingegen, in dem die Erinnerung an Kienagls saures Gesicht keine reine Freude an Sonnenglanz und jungem Grün aufkommen ließ, begehrte nun ernstlich zu wissen, was es mit diesem unprogrammäßigen Spaziergang auf sich habe.

„Willst du mir nicht endlich sagen —“, begann er, und Christine beeilte sich, ihre Handtasche zu öffnen und zwischen Geldbörse, Taschentuch und allerlei Krimskrams den Zeitungsausschnitt hervorzuangeln!

„Lies!“ sagte sie.

Klaus las gehorsam; er drehte den Ausschnitt hin und her und sah nach, ob sich auf der Rückseite etwas Lesenswertes befinde.

„Na — und?“ fragte er verständnislos.

„Wie gefällt dir die Anzeige?“ fragte Christine.

„Wie mir die Anzeige gefällt?“ Klaus warf einen mißtrauischen Blick auf das Fetzchen Papier in seiner Hand. „Warum sollte mir die Anzeige gefallen?“

„Weil ich mich um den Posten bewerben möchte“, sagte Christine freundlich.

„Du? Du möchtest dich —“ es war ein beleidigendes Gelächter, das Klaus von sich gab — „sag mal, wie kommst du auf diesen gottverlassenen Gedanken?“

Christine versuchte, sich des Zeitungsausschnitts wieder zu bemächtigen, was ihr mißlang. „Da gibt es nichts zu lachen“, sagte sie ärgerlich, „und von gottverlassen kann gar keine Rede sein. Ich habe einfach keine Lust, wieder den ganzen Sommer in einem muffigen Laden zu sitzen, und außerdem“, setzte sie entschlossen hinzu, „glaube ich die Eigenschaften zu haben, die in der Anzeige gewünscht werden“.

„Was für Eigenschaften? Laß sehen!“ Klaus las mit erhobener Stimme vor: „Jung — stimmt! Selbständig? Wenn das soviel bedeutet wie eigenwillig, dann bist du auch das. Gescheit?“ Er grinste.

„Fang nur nicht wieder von den Punischen Kriegen an“, sagte Christine erbittert.

„Tierliebend?“ fuhr Klaus unbeirrt fort. „Mir scheint, hier liegt der Hund begraben. Du willst einen muffigen Laden mit einem stinkenden Kaninchenstall vertauschen.“

„Wer sagt dir, daß es sich um Kaninchen handelt?“ fragte Christine gereizt, weil sie Kaninchen nicht in den Kreis ihrer Erwägungen einbezogen hatte. Warum eigentlich nicht? Angorakaninchen waren große Mode.

„Es können auch Meerschweinchen sein“, sagte Klaus. „Auf jeden Fall handelt es sich um einen frauenlosen Haushalt, und in einen frauenlosen Haushalt gehst du mir nicht.“

„Warum nicht?“ Christine hob den Kopf und sah Klaus aus funkelnden Augen an. „Willst du es mir etwa verbieten?“

„Christel!“ bat Klaus, „nimm doch Vernunft an! Alleinstehende Männer, die eine junge Stütze für ihr Hauswesen suchen, haben meist irgendwelche dunklen Hintergedanken dabei, und —“

„Erlaube mal!“ unterbrach Christine und wies mit spitzem Finger auf die Anzeige. „Du hast übersehen, was hier steht. Hier steht: Junge selbständige Person!“

„Ja — und?“ verwunderte sich Klaus.

„Jemand, der Person schreibt, hat keine dunklen Hintergedanken. Person klingt so — so —“ sie suchte nach einem Wort und verkündete triumphierend: „neutral! Außerdem wird die junge Person nur tagsüber gesucht.“

„Und du glaubst, gewisse dunkle Hintergedanken ließen sich nur bei Nacht verwirklichen?“ erkundigte sich Klaus.

„Klaus!“ rief Christine empört. Dieser Zynismus ging entschieden zu weit. „Du solltest dich schämen, immer gleich das Schlechte anzunehmen. Sicher ist es ein einsamer alter Herr —“

„Mit einer Kaninchenzucht“, schaltete Klaus ein.

Christine hob einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn zornig fort. Es hatte keinen Sinn, mit Klaus über eine Sache zu reden, wenn er nicht vernünftig darüber reden wollte. Noch nie hatten lächerliche Einwände einen Menschen von einem Vorhaben zurückgehalten. Im Gegenteil, wenn irgendetwas, so waren sie dazu angetan, ihn zu bestärken. Auch Christine fühlte sich bestärkt. Sie setzte ihren Hut wieder auf, den sie abgelegt hatte, um ihren Kopf an Klaus’ Schulter ruhen zu lassen, und zog ihre Handschuhe an.

„Gehen wir!“ sagte sie kühl.

Klaus sah sie betreten an. Eine innere Stimme sagte ihm, daß er zu weit gegangen sei.

„Christel —“ begann er bittend, aber sie hatte schon ein paar Schritte von ihm fortgetan, und es blieb ihm nichts übrig als ihr zu folgen. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Sonne lockte einen Duft von feuchter Erde hervor, in den noch kahlen Bäumen lärmten die Spatzen wie toll, ein Eichhörnchen lief gerade vor ihnen einen Stamm hinauf.

Klaus schob seine Hand unter Christines Arm. Er brannte darauf, ihr mitzuteilen, daß er gestern seine neueste Erfindung zum Patent angemeldet hatte. Es handelte sich um einen Apparat, der die lästige und zeitraubende Arbeit des Schuhputzens zu einem Vergnügen machen sollte, und Klaus war überzeugt, diesmal so etwas wie das Ei des Columbus erfunden zu haben. Auch Christine stand dieser neuen Erfindung weniger skeptisch gegenüber als dem Stopfapparat und dem Bügeleisen. Sie fand Schuheputzen so schauderhaft, daß sie glaubte, jeder müsse froh sein, wenn er seine Schuhe fortan nur noch mit ein paar elektrisch betriebenen Bürsten in Verbindung zu setzen brauche, um sie in kürzester Zeit blank und glänzend zu sehen. Der Apparat bedeutete wirklich eine nicht zu unterschätzende Leistung auf dem Gebiet der Erleichterung des Alltags, und das Wunderbare war, daß diesmal niemand Klaus zuvorgekommen zu sein schien. Er hatte zahlreiche Konferenzen mit seinem Patentanwalt gehabt, wochenlang war er mit rauchendem Kopf umhergegangen — denn auch hier hatte die Schwierigkeit hauptsächlich darin bestanden, den Apparat zu einer erschwinglichen Anschaffung für jedermann zu machen — und manchen Abend hatten er und Christine damit zugebracht, einen schlagkräftigen Namen für die Erfindung zu ersinnen. Er müsse kurz wie ein Flintenschuß sein, fand Klaus, und vor allem müsse er einen deutlichen Hinweis auf die Schnelligkeit des Verfahrens enthalten. Christine hatte Hurtig, Prompt und Quick vorgeschlagen. Klaus jedoch wünschte das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, indem er Schlagkraft mit Wohlklang paarte. Er hatte sich „Rapid“ in den Kopf gesetzt, obwohl Christine ihn darauf aufmerksam machte, daß „Rapid“ weder originell noch besonders wohltönend sei.

„Wenn du schon durchaus dabei bleiben willst, so nenne ihn wenigstens ,Rapido‘“, hatte sie schließlich gemeint, und Klaus war begeistert gewesen. „Rapido“ klang zwar nicht wie ein Flintenschuß, aber dafür war es einprägsam, verheißungsvoll und melodiös. An jenem Abend hatte er ein Werbeblatt entworfen:

Achtung!

Befreien Sie sich von unnötigem Ballast!

Seien Sie auf eine rationelle Lebensweise be-

dacht! Schonen Sie Ihre Kräfte, indem Sie

Klaus Martens’ Schuhputzapparat „Rapido“

benutzen! „Rapido“ erhöht Ihr Lebens-

gefühl, indem er Ihnen Arbeit erspart.

Äußerst sparsam im Stromverbrauch!

Darum: Kein Haushalt ohne

„Rapido“!

„Du hättest Reklamechef werden sollen“, hatte Christine beeindruckt gesagt.

Die Hauptsache war natürlich, einen Produzenten für den „Rapido“ zu finden, aber mit der Anmeldung zum Patent war doch schon ein allererster Schritt getan. Klaus warf Christine einen Seitenblick zu und begegnete ihren Augen in dem Augenblick, als sie die seinen suchten. Die Folge davon war, daß sie beide lachen mußten.

„Christel“, sagte Klaus, „was sind wir für Idioten! Da streiten wir herum, und dabei habe ich eine Überraschung für dich!“

„Eine Überraschung?“ Christines Augen hefteten sich blank und erwartungsvoll auf sein Gesicht.

„Gestern habe ich den ,Rapido‘ zum Patent angemeldet“, verkündete Klaus.

„Ach so —“ machte Christine. Es klang ein wenig gedehnt. Eine Sekunde lang hatte sie gedacht, Klaus habe vielleicht eine besser bezahlte Stellung in Aussicht, oder es sei ihm gar ein Gewinn in der Lotterie zugefallen.

„Freust du dich denn gar nicht?“ fragte ihr Verlobter vorwurfsvoll.

,Natürlich freue ich mich‘, wollte Christine sagen, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen. Während er sie im Sturmschritt mit sich fortzog — wenn er in Erregung geriet, mußte er rennen — entwarf er ihr zum hundertsten Male ein starkfarbiges Bild der Möglichkeiten, die sich aus dem Erfolg des „Rapido“ ergeben würden. Er sprach von der gesicherten Grundlage für ihr Glück, von Wohlstand, Ansehen und Sorglosigkeit. Seihe Rede war eindringlich wie ein Werbefilm; zum Schluß verstieg er sich zu der Behauptung, Christine habe es überhaupt nicht mehr nötig, sich nach einer Stellung umzusehen, da ihrer Heirat nun nicht mehr die geringsten Schwierigkeiten im Wege stünden.

„Du tätest besser daran, an deiner Aussteuer zu nähen“, rief er erzürnt, „anstatt einem Kaninchenzüchter in Waldham die Wirtschaft führen zu wollen!“

„Hör auf!“ bat Christine erschüttert. Sie war ein fleißiges Mädchen, das keine Arbeit scheute, aber Handarbeiten waren ihr von jeher ein Greuel gewesen. Die Vorstellung von sich selbst, wie sie dasaß und Kissenbezüge und Laken mit endlosen Hohlsäumen versah, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Klaus, der Erfinderische, vom Fortschritt Besessene, bekam zuweilen atavistische Anwandlungen!

Sie bogen in die Ludwigstraße ein; von der Theatinerkirche schlug es ein Uhr.

„Um Himmelswillen!“ rief Klaus. „Höchste Zeit fürs Geschäft! Kienagl wird mich fressen. Christel, versprich mir —“ er blieb im Strom des mittäglichen Verkehrs stehen und sah sie durchbohrend an — „Versprich mir, daß du den Posten beim Kaninchenzüchter nicht annehmen wirst, wenn er aussieht wie einer, der Hintergedanken hat.“

Christine mußte lachen. „Wie soll er denn deiner Meinung nach aussehen?“ fragte sie.

Klaus sah sich genötigt, seine Stimme zu erheben, um den Lärm der Straßenbahn, die heftig klingelnd einen Lastwagen zum Ausweichen veranlaßte, zu übertönen.

„Alt wie Methusalem!“ schrie er. „Am besten mit einem Vollbart oder einer Glatze, oder beidem! Hallo, da kommt mein Sechsundzwanziger! Servus Christel, um sechs bin ich bei dir!“

„Halt!“ rief Christine unter Hinweis auf die Verkehrsampel, die gerade von Gelb zu Rot wechselte, aber Klaus war schon drüben und schwang sich behende auf die überfüllte Plattform. Über die Köpfe der Fahrgäste hinweg winkte er Christine zu. Da stand sie, schlank und schön gewachsen wie ein junger Baum. Sie legte die Hände trichterförmig an den Mund. „Hallo!“ schrie sie, so laut sie konnte, „möchtest du etwa auch noch, daß er schielt?“

3

Nach Tisch setzte sie sich auf ihr Rad und fuhr nach Waldham hinaus. Wenn der Morgen mit Sonnenschein und Frühlingsduft verfrühte Hoffnungen hatte keimen lassen, rief der Nachmittag die Tatsache, daß man April schrieb, unbarmherzig ins Gedächtnis zurück. Ein frischer Westwind trieb bedrohliche Wolken vor sich her, es sah aus, als könne es jeden Augenblick beginnen zu regnen, und Christine, in Cape und Kapuze aus mohnrotem Ölstoff, kämpfte sich tapfer gegen die Unbilden der Witterung vorwärts.

Obwohl sie schon zwei Jahre in München lebte, war sie sich der Ausdehnung dieser schönen Stadt noch nie so bewußt geworden wie an diesem Tage, wo sie sie von einem Ende zum änderen durchqueren mußte, um endlich in eine Gegend zu gelangen, in der die langen eintönigen Straßenzeilen in Grünflächen übergingen. Hier gab es nur noch kleine Siedlungshäuser, reihenweise ins Grüne hineingestellt und umgeben von Gärtchen, in denen es zaghaft zu sprießen begann. Hinter ihnen stand wie eine schwarze Kulisse der Wald.

Christine freute sich, als sie die letzten Stätten menschlichen Siedlungswillens hinter sich hatte und auf einem moosigen Weg zwischen hochstämmigen Tannen dahinradelte. Leider begann es nun auf eine stille und beharrliche Weise zu regnen, eine Tatsache, die, verbunden mit der Aussicht, diese Entfernung nun womöglich täglich überwinden zu müssen, Christine ein wenig nachdenklich stimmte. Aber ging es nicht auf den Sommer zu, und waren nicht Luft und Bewegung gerade das, wonach sie sich gesehnt hatte? Beides würde sie nun reichlich bekommen. Und wenn wirklich einmal ein Hundewetter war, so konnte sie mit der Bahn herausfahren. Der Vorortverkehr bewältigte die Strecke in einer Viertelstunde. Nein, in diesem Punkt lag keine Schwierigkeit, vorausgesetzt, daß überhaupt etwas aus der Sache wurde. Wenn Christine auch Klaus’ Furcht vor Hintergedanken keineswegs teilte, so konnte es sich bei dem Marin mit der sonderbaren Anzeige doch um einen unangenehmen alten Knaben handeln, dessen Haushalt zu führen nichts Verlockendes hatte.

Christine entschloß sich, keine Erwägungen theoretischer Natur über etwas anzustellen, von dem sie sich in Kürze praktisch überzeugen konnte. Aber sie verspürte eine gewisse Spannung, als sie nun Waldham vor sich sah. Ihre wachsamen Augen stellten fest, daß es sich um einen hübschen geräumigen Ort handle, halb Dorf, halb Siedlung mit netten kleinen Häusern, die alle aussahen, als seien sie von Rentnern bewohnt. Die einschlägigen Geschäfte, Metzgerei, Bäckerei und Gemischtwarenhandlung, lagen an der Hauptstraße. Christine vermerkte es mit Befriedigung, als gehe es sie schon etwas an. Aber nachdem sie die Hauptstraße durchfahren hätte, sah sie sich genötigt, abzusteigen und nach der Alpenstraße zu fragen. Eine Frau erteilte bereitwillig Auskunft.

„Da müssens durch die Bahnunterführung durch“, erläuterte sie, „und dann gleich rechts. Zu wem wollens denn?“