Die Behandlung der Opfer (Leben Lernen, Bd. 240) - Klaus Ottomeyer - E-Book

Die Behandlung der Opfer (Leben Lernen, Bd. 240) E-Book

Klaus Ottomeyer

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Beschreibung

Im Umgang mit traumatisierten Menschen messen wir mit zweierlei Maß. Während Opfer von Missbrauch und Familiengewalt oder von Großschadensereignissen und Naturkatastrophen im heutigen Europa mit dem vollen therapeutischen Unterstützungsprogramm rechnen können, werden die oft schwer traumatisierten Flüchtlinge und Opfer politischer Gewalt grob vernachlässigt. Und mehr als das: Nicht selten wird diese Personengruppe durch unsere Behörden, unsere Bürokratie und durch unsere Ignoranz retraumatisiert. Auf der Basis seiner Arbeit mit Flüchtlingen und Opfern des Nazi-Regimes, deren Geschichten eindringlich erzählt werden, hat Klaus Ottomeyer Standards entwickelt, die das therapeutisch und zwischenmenschlich Nötige praxisnah formulieren. Darüber hinaus wird der gesellschaftliche Hintergrund für unseren Umgang mit den Opfern beleuchtet. ZIELGRUPPE: - Traumatherapeuten - Psychotherapeuten aller Schulen - beratende Psychologen - Sozialarbeiter - ehrenamtliche Helfer in der Flüchtlingsbetreuung

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Seitenzahl: 405

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Klaus Ottomeyer

Die Behandlung der Opfer

Über unseren Umgang mit dem Trauma der Flüchtlinge und Verfolgten

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Klett-Cotta

© 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Hemm & Mader, Stuttgart

Titelbild: August Macke: »Spiegelbild im Schaufenster«

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89107-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10206-2

|7|Vorwort

Das Anteilnehmen an extrem belastenden Erfahrungen hat in den letzten Jahren zugenommen, und das ist erfreulich. Das Bedürfnis, Schlimmes von sich fernzuhalten, um davon nicht »angesteckt« zu werden, ist ja verständlich. Denn vieles spricht inzwischen dafür, dass die meisten Menschen gar nicht anders können, als das Leiden anderer auch mitzufühlen.

In der Beschäftigung mit traumatischen Lebenserfahrungen und deren Folgen scheint es jedoch eine unbewusste Hierarchie im öffentlichen Diskurs zu geben. Zunächst stoßen Naturkatastrophen und deren Folgen auf breites öffentliches Interesse, danach kommen, zumal in letzter Zeit, die Opfer von Gewalt und sexueller Gewalt in der Familie und im familiären Umfeld, siehe im Frühjahr 2010 die Anteilnahme der Öffentlichkeit an den Folgen von Traumatisierungen von Kindern in Schulen, Heimen etc.

Doch wer weiß, auch unter Fachleuten, um das Grauen, das Menschen, die als Asylsuchende oder als hochbetagte Opfer des NS-Terrors zu uns kommen, erlitten haben? Wenn man bedenkt, dass Terrence des Prés wichtiges Buch »Der Überlebende – Anatomie der Todeslager«, das auf Englisch 1976 erschien, auf Deutsch erst im Jahr 2008 herauskam, so kommt man nicht umhin, eine Scheu und Vermeidungstendenzen im Umgang mit kollektiv zugefügtem Leid zu vermuten. Vielleicht weil die Opfer von staatlichem und politischem Terror uns an unsere Geschichte als Tätervolk erinnern?

Umso wichtiger erscheint es mir, dass Klaus Ottomeyer und sein Team bei Aspis in Klagenfurt sich der Opfer staatlicher und politischer Gewalt annehmen, so wie es einige ähnlich ausgerichtete Beratungsstellen in Deutschland ebenfalls tun. Die Zahl dieser engagierten Kolleginnen und Kollegen ist nicht groß im Vergleich mit den vielen, die sich heute um Psychotraumata kümmern. Es könnte allerdings auch ihnen widerfahren, dass ein Mensch, der Opfer von Krieg, Vertreibung und Folter ist, in die Praxis kommt. Und dann werden sie sich vor die Herausforderung gestellt sehen, dass ihr Handwerkszeug zum Umgang mit den speziellen Traumafolgen bei Weitem nicht ausreicht.

|8|Das Buch von Klaus Ottomeyer fordert uns heraus, uns mit der Geschichte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert genauer zu befassen und zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht weit entfernt von uns Menschen gequält und gefoltert werden.

Klaus Ottomeyer zeigt, wie er und sein Team mit diesen Menschen arbeiten. Es wird deutlich, dass vieles gebraucht wird, vor allem aber mitfühlende Menschlichkeit und ein weit über das übliche professionelle Engagement hinausgehender Einsatz. Die Fallgeschichten in Klaus Ottomeyers Buch werden wohl kaum jemand kalt lassen. Ich habe mich immer wieder bei der Lektüre geschämt, eine Europäerin zu sein und Teil eines Systems, das alles tut, um Menschen mit diesen und ähnlichen Geschichten nicht die notwendige Fürsorge angedeihen zu lassen.

Mit breitem psychoanalytischem Hintergrund und tiefem Verständnis für seine Patientinnen und Patienten gelingt es Klaus Ottomeyer, die Leserin und den Leser auf eine Reise in die innere und äußere Welt der Opfer mitzunehmen. Von ihm ist zu lernen, wie man den Opfern begegnen kann: als Mensch und als professionell handelnde Therapeutin.

Das Buch vermittelt sowohl tiefenhermeneutisches wie sozialpsychologisches Wissen und Verstehen und zeigt, wie man dieses Wissen praktisch und kreativ umsetzen kann.

Ich wünsche diesem Buch viele Leserinnen und Leser. Denn seine Lektüre hilft, schwer traumatisierten Menschen mit weit mehr als Technik zu begegnen.

Luise Reddemann

|9|Wozu dieses Buch?

Der Titel des vorliegenden Buches »Die Behandlung der Opfer« klingt zunächst mehrdeutig oder vielleicht auch anmaßend. Aber seine Mehrdeutigkeit ermöglicht es mir zu erklären, worum es mir geht.

Es geht erstens darum zu zeigen, dass es möglich ist, Menschen, die traumatisiert sind, die großen Schrecken und tiefe Verzweiflung erlebt haben, mit den Mitteln der Psychotherapie zu behandeln; und dass es mittlerweile erprobte Wege und handwerkliche Mittel der Traumatherapie gibt, die zu kennen und in verständlicher Form weiterzugeben, Sinn macht. Obwohl es eine empfohlene Abfolge der therapeutischen Schritte und bestimmte Techniken gibt, darf man die Patienten und Patientinnen nie schematisch behandeln, sondern muss für jeden und jede »die Therapie neu erfinden«. Deshalb erzähle ich vor allem Geschichten von Menschen. Ein therapeutischer Pessimismus in der Behandlung ist ebenso unangebracht wie die Vorstellung, allen Hilfe suchenden Patientinnen und Patienten helfen zu können oder zu müssen – der »furor sanandi«, wie Freud es nannte. Ich werde zumindest eine Geschichte erzählen, in der mein furor sanandi vorkommt und wahrscheinlich nichts Gutes bewirkt hat.

Es geht im Buch zweitens darum zu zeigen, wie die Gesellschaft (und das sind auch wir selbst) die Opfer von Gewalt und ihre Traumata behandelt: nämlich oft genug respektlos, entwertend, schikanierend und manchmal sogar sadistisch – wobei Politiker hier die Funktion von Schleusenwärtern oder Schleusenöffnern haben. Das beeinflusst natürlich die Heilung und Erholung der Trauma-Opfer – bis hin zu der Erfahrung, dass die nachträgliche schlechte Behandlung und Ignoranz gegenüber den Opfern für sie eigentlich die schlimmste Traumatisierung darstellt. Darüber hinaus beeinträchtigt die schlechte Behandlung der Opfer durch die Gesellschaft und die Politik unser aller Lebensqualität. Traumatisierung ist – worauf Luise Reddemann (2008) hingewiesen hat – vor allem ein extremer Angriff auf die menschliche Würde. Wenn wir Ignoranz und Verhöhnung gegenüber einer besonders verletzlichen und in ihrer Würde bedrohten Menschengruppe – |10|zum Beispiel gegenüber traumatisierten Flüchtlingen – zulassen, wird dies über kurz oder lang auf uns zurückschlagen. An den traumatisierten Asylsuchenden, die nicht mehr und nicht weniger als ein Menschenrecht in Anspruch nehmen, welches in allen demokratischen Gesellschaften verankert ist, wird seit geraumer Zeit die Entwertung und Beschimpfung ganzer Menschengruppen eingeübt, die als verletzlich, ökonomisch »überzählig« oder ganz einfach als faul gelten. Dabei mag die Beschimpfung der Opfer, an denen »ein Exempel statuiert wird«, gegen die Angst helfen, selbst einmal zu den Invaliden und Opfern des gesellschaftlichen Prozesses zu gehören. Es zeichnet sich ab, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise, die im Herbst 2008 begonnen hat, die Jagdbereitschaft der (noch) Integrierten weiter verstärkt. Die politischen Profiteure und Demagogen sind schon dabei, das Feuer anzufachen.

Die Traumadiskussion, die wir in den Gesundheitswissenschaften seit etwa 25 Jahren und in den westlichen Medien seit etwa 15 Jahren führen, war manchmal unscharf und mit einer inflationären Verwendung des Traumabegriffs verbunden. Sie hatte aber mit der Anerkennung von seelischem Leid, das durch gesellschaftliche Gewalt (und manchmal auch durch die Gewalt der Natur) hervorgerufen wird, einen wichtigen »civilizing influence«, der immer wieder verloren zu gehen droht. Die Tendenzen zu einem erneuten Vergessen und zur Verachtung der Opfer sind genauso stark. Es wird auch erfolgreich gesplittet: Westeuropäische Opfer des Tsunami oder von anderen »Großschadensereignissen« erhalten (zu Recht) jegliche Hilfe nach dem neuesten Stand der Trauma-Wissenschaft – und zwar ohne Wartezeiten. Gleichzeitig werden traumatisierte Menschen aus Asien oder Afrika, die dem Tode nahe waren, möglichst »ohne Ansehen der Person« gleich wieder zurückgeschickt, wenn sie zum Beispiel aus Somalia oder Darfur kommend auf Lampedusa, diesseits der europäischen Grenze, gelandet sind. Wenn sie es schaffen, sich irgendwie auf der europäischen Rettungsinsel festzukrallen, gelten sie als »Wirtschaftsflüchtlinge« oder Simulanten. Auch Millionen von Flüchtlingen aus dem Irak haben sich die – vor allem um sich selbst besorgten – Europäer erfolgreich vom Leib gehalten.

Es geht also drittens bei der Rede von der »Behandlung der Opfer« um einen wünschenswerten Umgang mit Menschen jeglicher Herkunft, der auf die Erhaltung oder Förderung von Selbstachtung und Würde |11|gerichtet ist. Man sollte Menschen immer mit Respekt behandeln. Es handelt sich hier weniger um ein trainierbares Programm als um ein Prinzip der Begegnung. Ich wähle absichtlich dieses etwas altertümliche Wort. Jeder, der mit Traumatisierten arbeitet – egal ob professionell oder ehrenamtlich –, weiß, wie sehr sich die Verletzung der Würde des Opfers auch auf der Seite des Helfers/der Helferin niederschlägt. Das kann bis zu einer dauerhaften Niedergeschlagenheit beim Helfer oder in seinem Team führen. Unsere Selbstachtung und unser Selbstbewusstsein als Individuen hängen zusammen. »Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen«, heißt es bei Hegel über die Entwicklung unseres Selbstbewusstseins. Natürlich muss man manchmal die Augen schließen, ganz woanders hinschauen und Urlaub machen. Aber dann sollte man wenigstens für einen Moment wissen, dass man wegschaut.

Raoul Hilberg hat sein zusammenfassendes Buch über seine lebenslange Holocaust-Forschung »Opfer – Täter – Zuschauer« (1992) genannt. Diese drei Gruppen bilden immer ein System, dem wir kaum entrinnen können, und zwar auf der unmittelbar-lokalen Ebene, in der wir arbeiten und leben, ebenso wie auf der globalen Ebene, wo wir als Zuschauer via TV an den neuesten Kriegen und Flüchtlingsdramen, vielleicht sogar am nächsten Genozid teilhaben können. Ich habe das zweifelhafte Glück, als Wissenschaftler und Psychotherapeut seit 27 Jahren im österreichischen Bundesland Kärnten zu arbeiten und zu leben, wo es in Bezug auf den Umgang mit den Opfern organisierter Gewalt, mit den Opfern des Nazi-Terrors und mit traumatisierten Flüchtlingen zu einer »Lockerung des moralischen Korsetts« und zu Grobheiten und Entwürdigungen gekommen ist, die für andere westliche Demokratien (noch) unüblich sind. Die politische Kultur im Nachbarland Italien ist seit 2008 allerdings dabei, auf diesem Feld rapide aufzuholen. In Frankreich zeugen Äußerungen und Abschiebungserlasse des amtierenden Präsidenten von der neuen Grobheit gegenüber Menschen, die fremd und hilfsbedürftig sind. Aber möglicherweise waren Kärnten, Österreich, Frankreich und Italien nur Vorreiter in Bezug auf eine neue, »unbefangene« politische Kultur in Europa, die es mit den Menschenrechten für Minderheiten und mit der Genfer Konvention nicht mehr so genau nimmt. Auch wenn die Aufkündigung des Schutzes für traumatisierte Menschen und Angehörige von Minderheiten zunächst nur ein paar Dutzend, ein paar Hundert oder Tausend Menschen trifft, muss man sich doch so bald wie möglich und solange |12|es noch geht, dagegenstellen. Wie gesagt, nicht nur aus Gründen der Moral, sondern auch zur Erhaltung der Lebensqualität in einem freundlichen, friedlichen Europa.

Luise Reddemann bezieht sich in ihrem Buch über die Würde in der Psychotherapie (2008) auf den Philosophen Richard Rorty (2003). Sie teilt mit ihm die Ansicht, dass eine Kultur der Menschenrechte weniger aus komplizierten moralphilosophischen Diskussionen, Wissensbeständen und Herleitungen entsteht, sondern auf relativ einfache Weise durch das »Hören trauriger und rührseliger Geschichten« (Rorty), welche an die menschliche Einfühlungsfähigkeit appellieren und sie stärken. Diese »Schule der Empfindsamkeit« wirkt der Einteilung der Menschen in verschiedene Sorten und Güteklassen entgegen. Als ich das las, wusste ich plötzlich genau, wozu ich dieses Buch schreibe und warum ich es auf diese Weise schreibe. Man müsste nur das Wort »rührselig« (wahrscheinlich die Folge einer nicht ganz richtigen Übersetzung ins Deutsche) durch das Wort »anrührend« ersetzen, denn »rührselig« wird bei uns mit Kitsch assoziiert. Ich habe versucht, Kitsch zu vermeiden.

Der Rückgriff auf erlebte Geschichten scheint mir auch sinnvoll, weil wir in der Psychotraumatologie (also der Wissenschaft vom extremen seelischen Leid, vom Schrecken, von der Verzweiflung und unseren Möglichkeiten der Linderung und Abhilfe) seit geraumer Zeit wieder einer Tendenz begegnen, die Geschichten der Betroffenen hinter Gesetzmäßigkeiten, Hirnfunktionen, Messwerten und Zahlenkolonnen (die natürlich ihren Sinn haben) verschwinden zu lassen. Die Bewegtheit (»Angerührtheit«) der ForscherInnen und TherapeutInnen angesichts des traumatischen Schreckens, für die es in unserer Fachsprache den Begriff der »Gegenübertragung« gibt, wird im öffentlichen Raum zugunsten einer quasi-medizinischen Objektivität wieder schamhaft verborgen. In der Supervision und Eigentherapie der HelferInnen wird sie freilich umso intensiver behandelt. Ohne Selbstreflexion ist im Umgang mit Trauma (wie auch mit anderen Formen seelischen Leidens) nichts zu lernen. Ich weiß, dass es riskant werden kann und der wissenschaftlichen Karriere nicht zuträglich ist, wenn man zu viel vom Zweifel an sich selbst und vom Nachdenken über sich selbst in der Öffentlichkeit zeigt. Aber als einer der letzten österreichischen Wissenschafts-Beamten, der sich langsam auf die (derzeit noch) vom Staat garantierte Pension zubewegt, riskiere ich vergleichsweise gar nichts.

|13|Ganz grob gesagt ist das Buch so aufgebaut, dass die in die reflektierten Fallgeschichten hineinspielenden gesellschaftlichen Bedingungen ein immer größeres, manchmal »störendes« Gewicht bekommen, sodass ich gegen Ende mehr als Sozialpsychologe und politischer Psychologe denn als Psychotherapeut argumentiere.

Ich habe die Fallgeschichten anonymisiert, damit die PatienInnen nicht erkennbar sind. Die Mehrheit der PatientInnen habe ich noch um ihr Einverständnis zu den aufgeschriebenen Geschichten bitten können. Andere sind verzogen oder verstorben.

Luise Reddemann hat mir noch einen Rat gegeben: Ich solle die LeserInnen darauf hinweisen, dass die Fallgeschichten teilweise belastend sind und dass es gut ist, wenn sie mit Erholungspausen dazwischen gelesen werden. Sie hat sicherlich recht. Mir war das nicht so präsent, weil für mich selbst die Verschriftlichung meiner Erfahrungen mit TraumapatientInnen aus den letzten 20 Jahren eher eine emotionale Entlastung bedeutet hat und ich beim Schreiben einen Teil der Belastung loswerde.

|14|1. Einführung: Traumatherapie unter günstigen Umständen

Am Beginn sollen zwei Geschichten stehen, welche einführend zeigen, was ein Trauma ist und wie man traumatisierte Menschen nach dem (mir zur Verfügung stehenden) Stand des Fachwissens psychotherapeutisch behandeln kann. Anders als in den meisten der später dargestellten Fallgeschichten waren hier die äußeren Umstände für die Psychotherapie eher günstig. Es gab kaum eine Einmischung und Behinderung von außen: durch Behörden und durch die fremdenfeindliche Politik im Land. Die Belastungen und der Ärger, die man als Therapeut oft empfindet, wenn Gewaltopfer von ihrer Umgebung weiterhin ungerecht behandelt werden, und die in nachfolgenden Kapiteln des Buches eine Rolle spielen, hielten sich in Grenzen. Auch die eigene lebensgeschichtliche Verstrickung des Therapeuten, die manchmal die Therapie erschweren kann, war nicht blockierend. Und es handelt sich um Traumatisierungen, die für die Patientinnen mit einer einmaligen seelischen Verletzung verbunden und/oder an zeitlich begrenzte rekonstruierbare Situationen gebunden waren. Ein Trauma dieser Art heißt in der Fachsprache »Typ-I-Trauma«. (Terr 1995) Von Typ-II-Traumata, die – wie zum Beispiel Gefängnis- und Lageraufenthalte – auf lang anhaltenden und wiederholten Traumatisierungen beruhen, wird in nachfolgenden Geschichten die Rede sein. Deswegen kann man in den ersten beiden Darstellungen von »Traumatherapie unter günstigen Umständen« sprechen. Die erste Geschichte handelt von einer afghanischen Frau, die zweite von einer aus Süddeutschland.

Faribas Geschichte

Fariba kam in unsere Traumaberatungsstelle, weil andere afghanische Frauen uns empfohlen hatten. Sie war verheiratet, etwa Anfang vierzig und wohnte mit ihrem Mann und drei Kindern in einer Flüchtlingspension. Als Übersetzerin unterstützte mich wie schon oft Shanaz, die |15|aus dem Iran stammt und weiß, was ein Flüchtlingsschicksal ist. Da Fariba Tadschikin war und die afghanische Sprache Dari sprach, gab es kaum Probleme. Das persische Farsi und das Dari sind sich sehr ähnlich. Die Afghaninnen mögen Shanaz sehr. Obwohl das eigentlich den strengen Lehrbuchregeln für die Rolle der Übersetzerin in der Psychotherapie widerspricht, kommt Shanaz mit ihrer herzlichen Art manchmal in die Rolle einer Co-Therapeutin. Ich kann mit ihr gut arbeiten.

Faribas Mann und die drei Kinder glaubten, Fariba sei in der letzten Zeit verrückt geworden. Im unmittelbaren Kontakt sehr offen und freundlich, erzählte sie mir von ihren merkwürdigen Erlebnissen und Verhaltensweisen. Auf dem Balkon des Zimmers, in dem sie zu fünft wohnten, sah sie des Öfteren Gesichter und Männer, die von draußen hereinwollten. Manchmal war die sich bewegende Wäsche der äußere Auslöser, manchmal gar nichts. Sie fürchtete, dass durch die Tür zum Flur Männer kommen könnten, und musste die Tür immer wieder versperren – was für die Kinder, die sich hinaus, und wieder hereinbewegen wollten, ein Problem war. Manchmal glaubte sie auch, dass gefährliche Verbrecher aus dem TV-Gerät kommen könnten, um ihrer Familie etwas anzutun. Am meisten verwirrt waren ihr Mann und ihre Kinder darüber, dass Fariba nicht nur schlecht einschlafen konnte, sondern des Nachts aufstand und im Zimmer schlafwandelte. Die zuerst genannten Merkwürdigkeiten konnten gut Traumasymptome sein; vom Schlafwandeln als Traumasymptom hatte ich allerdings noch nie gehört. Fariba berichtete noch von einem Konflikt, den sie kürzlich im Zusammenhang mit der geplanten Schul-Ski-Woche ihres Sohnes hatte. Obwohl die Lehrerin und andere Eltern sich bemüht hatten, dem Flüchtlingskind den Aufenthalt finanziell zu ermöglichen, und obwohl der Junge sich freute, wollte Fariba ihn nicht fahren lassen. Sie hatte furchtbare Angst, dass er in der Fremde verunglücken könnte.

Da ich von anderen Patientinnen wusste, dass eine der Schlepperrouten, auf der die Flüchtlinge aus Afghanistan hinaus und dann quer durch Asien und die ehemaligen Sowjetrepubliken nach Europa gebracht wurden, durch sehr hohe und gefährliche Gebirge führte, fragte ich Fariba vorsichtig, ob sie auf der Flucht Berge, Schnee und Eis als etwas sehr Gefährliches erlebt habe. Sie bejahte die Frage und fügte noch hinzu, dass sie den kleinen Jungen damals abwechselnd mit ihrem Mann getragen habe und dass viele Flüchtlinge auf dem Weg abgestürzt oder erfroren seien. Ich brauchte nicht mehr viel zu interpretieren. Fariba verstand fast von selbst, dass sich die schrecklichen Erinnerungen von damals in ihre Psyche und ihren Körper als (gewissermaßen »zeitlose«) Erfahrungen und Erwartungen eingeprägt oder eingebrannt hatten und dass die alte Angst in neuen Situationen, welche an die traumatische Situation auch nur vage erinnern, wieder aktiviert wird. Die Berge Kärntens sehen nicht so viel anders aus als die Berge in der Grenzregion zwischen Afghanistan und Usbekistan. Unser Traumagedächtnis hängt mit einem archaischen Automatismus der Amygdala, der »Mandelkernregion« im Gehirn, zusammen, der von den »höheren« und bewussten Gedächtnisfunktionen zunächst abgekoppelt ist (Hinckeldey und Fischer 2002). Man hat die Amygdala mit einem Rauchmelder verglichen. An dieser Stelle unseres Gesprächs konnte ich sinngemäß den Lieblingssatz aller TraumatherapeutInnen einbringen: »Sie sind nicht verrückt oder abnormal, sondern ihre Symptome sind normale Reaktionen auf eine abnormale Situation.« Obwohl schon häufig benutzt, wirkt dieser Satz immer wieder entlastend. So war es auch im Falle von Fariba. Sie konnte den Sohn auf die Ski-Woche mitfahren lassen, er hatte Spaß daran und kam zum Glück ohne Verletzung zurück. Im Kontext der lebensgefährlichen Flucht über die Berge war ein »traumakompensatorisches Schema« (Fischer und Riedesser 2009, S. 395) entstanden, aus dem Fariba in Richtung auf ein Mehr an eigener Beweglichkeit heraustreten konnte, nachdem sie es verstanden hatte. Die Wiedergewinnung von Beweglichkeit ist ein Hauptziel jeder Traumatherapie. Hier wird schon eine elementare Operation sichtbar, die TraumatherapeutInnen eigentlich ständig und manchmal fast wie nebenbei vollziehen: Das »szenische Verstehen« und Komplettieren von alltäglichen Geschichten und Begegnungen, welche die Opfer irritieren und ängstigen, weil ihnen der Zusammenhang zur ursprünglichen traumatischen Situation nicht klar ist. Der wichtigste Autor zur Methode des »szenischen Verstehens« in der Psychoanalyse und in den Kulturwissenschaften ist Alfred Lorenzer (1970, 1974). Die wenigsten wissen, dass er seine Theorie zuerst in der Arbeit mit Traumapatienten entwickelt hat (vgl. Lorenzer 1965).

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