Die Berechnung der Sterne - Mary Robinette Kowal - E-Book

Die Berechnung der Sterne E-Book

Mary Robinette Kowal

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Beschreibung

»Frauen gehören in die Küche, nicht in den Weltraum« – eine weit verbreitete Meinung in den USA der 1950er Jahre. Die junge Physikerin Dr. Elma York, die als menschlicher »Computer« täglich die Flugbahnen von Raketen berechnet, lässt sich davon jedoch nicht abhalten. Schließlich steht die Menschheit vor ihrer größten Herausforderung: Ein gigantischer Meteoriteneinschlag hat das Klima für immer verändert, sodass die Eroberung des Alls sehr viel dringlicher geworden ist. Die Widerstände sind zahlreich, doch als erste Astronautin in den Weltraum zu fliegen, ist Elmas größter Traum – und niemand wird sie daran hindern! Ausgezeichnet mit dem Hugo-, Nebula- und Locus-Award

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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Judith C. Vogt

© 2018 by Mary Robinette Kowal

Titel der Originalausgabe:

»The Calculating Stars« bei Tor Books, New York, 2018

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: Guter Punkt, München | Anke Koopmann, unter Verwendung einer Vorlage von Jamie Stafford-Hill

Coverabbildung: Gregory Manchess (Silhouetten)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Teil I

Eins

Zwei

Drei

Vier

Für meine Nichte Emily Harrison, die der Mars-Generation angehört.

Man glaubt den König tot, wir warten nicht.

Die Lorbeerbäum’ im Lande sind verdorrt,

Und Meteore drohn den festen Sternen,

Der blasse Mond scheint blutig auf die Erde,

Hohläugig flüstern Seher furchtbar’n Wechsel;

Der Reiche bangt, Gesindel tanzt und springt:

Der, in der Furcht, was er genießt, zu missen,

Dies, zu genießen durch Gewalt und Krieg.

Tod oder Fall von Kön’gen deutet das.

William Shakespeare: König Richard II.

Teil I

Eins

Präsident Dewey gratuliert NACA zum Satellitenstart

3. März 1952 (AP) – Das National Advisory Committee for Aeronautics hat seinen dritten Satelliten in den Orbit gebracht. Dieser ist mit der Fähigkeit ausgestattet, Radiosignale zur Erde zu senden und Strahlung im All zu messen. Der Präsident betont, dass der Satellit der wissenschaftlichen Forschung und keinerlei militärischen Zwecken dient.

Erinnerst du dich daran, wo du warst, als der Meteor eingeschlagen hat? Ich habe nie verstanden, warum Leute diesen Satz als Frage formulieren, denn natürlich weiß man das noch. Ich war mit Nathaniel in den Bergen. Er hatte diese Hütte von seinem Vater geerbt, und wir fuhren manchmal hin, um die Sterne zu beobachten. Und damit meine ich Sex. Ach, jetzt tu doch nicht so, als wärst du schockiert! Nathaniel und ich waren ein gesundes, junges, verheiratetes Paar, also blitzten die meisten Sterne, die ich sah, auf der Innenseite meiner Augenlider auf.

Wenn ich gewusst hätte, wie lange sich die Sterne unseren Blicken entziehen würden, hätte ich sehr viel mehr Zeit mit dem Teleskop im Freien verbracht.

Wir lagen im Bett inmitten der zu Knäuel verdrehten Decken. Das Morgenlicht wurde von silbernem Schneefall gefiltert und wärmte den Raum nicht auf. Wir waren bereits seit Stunden wach, doch aus offensichtlichen Gründen nicht aufgestanden. Nathaniel hatte ein Bein über mich gelegt und schmiegte sich an meine Seite, während er im Takt der Musik aus unserem kleinen batteriebetriebenen Transistorradio mit dem Finger über mein Schlüsselbein fuhr.

Ich rekelte mich unter seinen Zärtlichkeiten und tätschelte seine Schulter. »Du bist mein ganz persönlicher ›Sixty-Minute-Man‹.«

Er schnaubte, sein warmer Atem kitzelte an meinem Hals. »Heißt das, ich kriege Küsse für weitere fünfzehn Minuten?«

»Nur, wenn du Feuer machst.«

»Ich dachte, das hätte ich schon.« Doch er stemmte sich auf die Ellbogen und stand auf.

Wir gönnten uns eine bitter nötige Pause nach einer heißen Phase, in der wir daran mitgearbeitet hatten, das National Advisory Committee for Aeronautics ans Laufen zu kriegen. Wäre ich nicht auch im Rechenzentrum des NACA beschäftigt gewesen, hätte ich Nathaniel in den letzten zwei Monaten wohl kaum in wachem Zustand zu Gesicht bekommen.

Ich wickelte mich in die Decke ein und drehte mich auf die Seite, um ihm zuzusehen. Er war schlank, und nur seine Zeit in der Army im Zweiten Weltkrieg hatte ihn davor bewahrt, als schmächtig durchzugehen. Ich liebte es, dem Spiel der Muskeln unter seiner Haut zuzusehen, während er ein Scheit vom Stapel unter dem großen Aussichtsfenster nahm. Der Schnee rahmte ihn dekorativ ein, das silberne Licht fing sich gerade so in den Strähnen seines blonden Haars.

Und dann wurde die Welt da draußen hell.

Wer sich am 3. März 1952 um 9:53 Uhr irgendwo in einem Radius von achthundert Kilometern um Washington, D. C. befunden und durch ein Fenster geschaut hat, der erinnert sich an dieses Licht. Kurz war es rot und dann so grausam weiß, dass es sogar die Schatten auslöschte. Nathaniel fuhr auf, das Holzscheit immer noch in den Händen.

»Elma! Mach die Augen zu!«

Und das tat ich. Dieses Licht – das musste eine Atombombe sein! Die Russen waren nicht besonders glücklich mit uns, seit Präsident Dewey die Wahl gewonnen hatte. Mein Gott, die Bombe musste in D. C. eingeschlagen haben. Wie viel Zeit hatten wir noch, bis sie uns traf? Wir waren beide bereits bei Atombombentests in Trinity dabei gewesen, aber ich konnte mich an keine einzige Zahl erinnern. D. C. war so weit weg, dass die Hitze uns nicht erreichen würde, aber die Bombe würde den Krieg auslösen, vor dem wir uns alle fürchteten.

Während ich mit fest zusammengekniffenen Augen dasaß, verblasste das Licht.

Nichts geschah. Die Musik im Radio spielte weiter, also hatte es offenbar keinen elektromagnetischen Impuls gegeben. Ich öffnete die Augen. »Also.« Ich zeigte mit dem Daumen aufs Radio. »Offenbar keine Atombombe.«

Nathaniel hatte sich weggedreht, um nicht im Fensterrahmen zu stehen, doch er hielt immer noch das Scheit. Er drehte es in den Händen hin und her und warf einen Blick nach draußen. »Es ist noch nichts zu hören. Wie lange ist es her?«

Das Radio spielte weiter, und es lief immer noch »Sixty Minute Man«. Was hatte das Licht zu bedeuten? »Ich habe nicht mitgezählt. Etwas mehr als eine Minute?« Ich zitterte, während ich die Schallgeschwindigkeit berechnete. »Dreihundertdreißig Meter pro Sekunde. Also ist das Zentrum mindestens dreißig Kilometer entfernt?«

Nathaniel war gerade dabei, sich einen Pullover zu nehmen, und hielt inne, während die Sekunden weitertickten. Vierzig Kilometer. Fünfzig. Sechzig. »Das … das muss eine heftige Explosion gewesen sein, wenn sie so hell war.«

Ich atmete tief ein und schüttelte den Kopf, eher aus dem Bedürfnis heraus, es zu leugnen, als aus Überzeugung. »Das war keine Atombombe.«

»Hast du eine Gegenthese?« Er zog sich den Pullover über, woraufhin sich seine Haare in einen elektrisch aufgeladenen Heuhaufen verwandelten.

Aus dem Radio erklang nun »Some Enchanted Evening«. Ich stand auf und griff nach dem BH und der Hose, die ich am Vortag ausgezogen hatte. Draußen wirbelte der Schnee am Fenster vorbei. »Nun … Sie haben die Sendung nicht unterbrochen, also war es wohl etwas Harmloseres oder zumindest örtlich Begrenztes. Es könnte eine der Munitionsfabriken gewesen sein.«

»Vielleicht war’s ein Meteor.«

»Oha!« Einiges sprach dafür, und es erklärte auch, warum die Sendung noch nicht unterbrochen worden war: Das Phänomen war örtlich begrenzt. Ich atmete erleichtert aus. »Er hat direkt über uns seine Bahn gezogen. Deshalb gab es auch keine Explosion, weil wir nur gesehen haben, wie er in der Atmosphäre verglüht ist. Nur Klang und Wut, das nichts bedeutet.«

Nathaniels Finger berührten meine, und er nahm mir die Enden des BHs aus der Hand. Er hakte sie ineinander und fuhr mit den Händen über meine Schulterblätter bis zu meinen Oberarmen. Seine Hände waren heiß auf meiner Haut. Ich lehnte mich in seine Berührung, konnte jedoch nicht aufhören, an dieses Licht zu denken. Es war so hell gewesen. Er drückte mich ein wenig, bevor er mich losließ. »Ja.«

»Ja, das war ein Meteor?«

»Ja, wir sollten zurück.«

Ich wollte glauben, dass es nur ein Meteorschweif gewesen war, doch ich hatte das Licht durch die Augenlider hindurch gesehen. Während wir uns anzogen, spielte das Radio ein fröhliches Lied nach dem anderen. Vielleicht zog ich meine Wanderschuhe statt meiner Halbschuhe an, weil ein Teil meines Hirns noch auf Schlimmeres wartete. Ohne es zu kommentieren, sahen wir bei jedem Liedende das Radio an in der Erwartung, dass uns diesmal jemand sagen würde, was geschehen war.

Der Boden der Hütte bebte.

Zunächst dachte ich, ein schwerer Lkw wäre vorbeigerollt, doch wir befanden uns mitten im Nirgendwo. Ein Rotkehlchen aus Porzellan tanzte über die Kante des Nachttischs und fiel herunter. Man hätte erwarten sollen, dass ich als Physikerin ein Erdbeben schneller erkennen würde. Aber wir befanden uns in den Pocono Mountains, und die waren geologisch stabil!

Nathaniel zerbrach sich über solche Details nicht den Kopf, sondern packte meine Hand und zog mich in den Türrahmen. Der Boden unter uns bockte und bebte. Wir klammerten uns aneinander wie zwei Betrunkene, die Foxtrott tanzen. Die Wände verschoben sich, und dann … brach die ganze Hütte zusammen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gebrüllt habe wie am Spieß.

Als die Erde sich beruhigte, lief das Radio immer noch. Es summte, als wäre ein Lautsprecher beschädigt, aber irgendwie funktionierte die Batterie weiterhin. Nathaniel und ich lagen aneinandergepresst in den Resten des Türrahmens. Kalte Luft wirbelte um uns herum. Ich strich ihm den Staub aus dem Gesicht.

Meine Hände bebten. »Noch ganz?«

»Schreckliche Angst.« Er hatte die blauen Augen weit aufgerissen, aber beide Pupillen waren gleich groß, also … ein gutes Zeichen. »Und du?«

Ich hielt inne, bevor ich das obligatorische »Gut« zurückgeben konnte, atmete durch und tastete mich einmal durch meinen Körper. Ich war voller Adrenalin, aber ich hatte mich nicht eingenässt. Der Drang war da gewesen. »Morgen hab ich Muskelkater, aber ich glaube, es ist nichts beschädigt. Nichts an mir, meine ich.«

Er nickte und reckte den Hals, um die kleine Höhle zu begutachten, in der wir begraben waren. Sonnenlicht fiel durch eine Lücke, wo ein Stück der Deckenverkleidung aus Sperrholz heruntergekommen und gegen die Überbleibsel des Türrahmens gestürzt war. Wir brauchten eine Weile, aber wir konnten die Trümmer wegschieben und -hebeln, bis wir uns aus dem Zwischenraum in das vorgearbeitet hatten, was von der Hütte übrig war.

Wenn ich allein gewesen wäre … Wäre ich allein gewesen, hätte ich den Türrahmen nicht rechtzeitig erreicht. Ich schlang mir die Arme um den Körper und bebte trotz Pullover.

Nathaniel sah, wie ich zitterte, und musterte die Trümmer. »Vielleicht finde ich eine Decke.«

»Lass uns einfach zum Auto gehen.« Ich drehte mich um und betete, dass nichts darauf gestürzt war. Nicht nur, weil es die einzige Möglichkeit war, die Landebahn zu erreichen, auf der sich unser Flugzeug befand, sondern auch, weil es ein Leihwagen war. Zum Glück stand es unbeschädigt auf dem kleinen Parkplatz. »In diesem Chaos werde ich meine Handtasche niemals finden. Ich kann es kurzschließen.«

»Vier Minuten?« Er stolperte durch den Schnee. »Zwischen dem Blitz und dem Beben?«

»So ungefähr.« Ich schob im Kopf Zahlen und Entfernungen hin und her, und er tat sicherlich dasselbe. Ich spürte meinen Herzschlag in allen Gelenken und klammerte mich an die handfeste Sicherheit der Mathematik. »Also befindet sich das Zentrum der Explosion immer noch in einer Entfernung von unter fünfhundert Kilometern.«

»Die Druckwelle kommt … eine halbe Stunde später? So in etwa.« Obwohl er sehr ruhig war, bebten Nathaniels Hände, als er mir die Beifahrertür öffnete. »Was bedeutet, dass wir noch etwa … fünfzehn Minuten haben, bevor sie hier ist?«

Die Luft brannte mir kalt in der Lunge. Fünfzehn Minuten. All die Jahre, in denen ich Berechnungen für Raketentests angestellt hatte, fächerten sich in aller Klarheit vor mir auf. Ich konnte den Radius der Druckwelle einer V2 oder den Energiegehalt von Raketentreibstoff berechnen. Aber das hier … das waren nicht einfach Ziffern auf einem Blatt Papier. Und ich hatte nicht genug Informationen für verlässliche Berechnungen. Alles, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass es keine Atombombe sein konnte, solange das Radio noch lief. Aber was auch explodiert war, es musste riesig gewesen sein.

»Lass uns versuchen, so weit wie möglich ins Tal zu gelangen, bevor die Druckwelle uns einholt.« Das Licht war aus dem Südosten gekommen. Gott sei Dank hielten wir uns auf der Westseite des Bergs auf, aber im Südosten befanden sich D. C. und Philly und Baltimore und Hunderttausende Menschen.

Inklusive meiner Familie.

Ich glitt auf den kühlen Vinylsitz und beugte mich vor, um die Kabel aus der Lenksäule zu ziehen. Es war einfacher, sich auf etwas Konkretes zu konzentrieren, wie darauf, ein Auto kurzzuschließen, statt zu rätseln, was geschehen war.

Draußen begann es in der Luft zu knacken und zu zischen. Nathaniel lehnte sich aus dem Fenster. »Scheiße!«

»Was?« Ich zog den Kopf wieder unter dem Armaturenbrett hervor und sah auf – aus dem Fenster, an den Bäumen und dem Schnee vorbei in den Himmel hinauf. Flammen und Rauch hinterließen Kondensspuren in der Luft. Ein Meteor hätte sicherlich schon einiges an Schaden angerichtet, wenn er über der Erdoberfläche explodiert wäre. Aber ein Meteorit? Er hatte tatsächlich in die Erde eingeschlagen und stieß Material durch das Loch aus, das er selbst in die Atmosphäre gerissen hatte. Ejekta. Wir sahen Stücke des Planeten, die in Form von Feuer wieder auf uns herabregneten. Meine Stimme bebte, aber ich bemühte mich trotzdem um einen vorwitzigen Tonfall. »Nun … immerhin lagst du mit der Theorie falsch, dass es ein Meteor ist.«

Ich bekam das Auto zum Laufen, und Nathaniel parkte aus und fuhr bergab. Wir würden es auf keinen Fall zum Flugzeug schaffen, bevor die Druckwelle zuschlug, aber ich hatte die Hoffnung, dass es im Schuppen geschützt war. Was uns anging … je mehr Berg wir zwischen uns und die Druckwelle brachten, umso besser. Eine so helle Explosion aus fünfhundert Kilometern Entfernung … Diese Druckwelle würde uns nicht als laues Lüftchen erreichen.

Als ich das Radio anschaltete, erwartete ich Stille, doch sofort kam Musik. Ich wechselte die Sender auf der Suche nach einer Meldung über das, was passiert war, doch überall lief erbarmungslos Musik. Während der Fahrt wärmte sich das Auto auf, doch ich konnte nicht aufhören zu zittern.

Ich rutschte in die Mitte und schmiegte mich an Nathaniel. »Ich glaube, ich stehe unter Schock.«

»Kannst du fliegen?«

»Das hängt davon ab, mit wie viel Ejekta wir es zu tun haben, wenn wir die Landebahn erreichen.« Ich war im Krieg schon unter ziemlichen Extrembedingungen geflogen, auch wenn ich offiziell keinen Kampfeinsatz gehabt hatte. Aber das war ohnehin nur eine technische Spezifikation, damit sich die amerikanische Öffentlichkeit wohler damit fühlte, dass Frauen im Militär dienten. Wenn ich das Ejekta allerdings als Flugabwehr ansah, hatte ich einen Referenzrahmen für das, was vor uns lag. »Ich muss nur verhindern, dass meine Körpertemperatur noch weiter abfällt.«

Er legte einen Arm um mich und fuhr das Auto an den gegenüberliegenden Straßenrand unter die Leeseite einer schroffen Steilwand. Zwischen der Steilwand und dem Berg würden uns die schlimmsten Auswirkungen der Druckwelle erspart bleiben. »Das ist vermutlich der beste Schutz, den wir finden können, bevor uns die Welle trifft.«

»Gut mitgedacht.« Es fiel mir schwer, mich nicht in Erwartung der Druckwelle zu verkrampfen. Ich legte den Kopf an die kratzige Wolle von Nathaniels Jacke. Panik würde uns beiden nicht guttun, und ich konnte mit meinen Prognosen auch immer noch falschliegen.

Ein Lied brach mittendrin ab. Ich weiß nicht mehr, welches; ich erinnere mich nur an die plötzliche Stille und dann, endlich, den Ansager. Warum hatten sie fast eine halbe Stunde gebraucht, um über das zu berichten, was passiert war?

Ich hatte Edward R. Murrow noch nie so aufgelöst gehört.

»Meine Damen und Herren … Meine Damen und Herren, wir unterbrechen unser Programm, um Ihnen ernste Neuigkeiten zu überbringen. Heute Vormittag um kurz nach zehn scheint ein Meteor in die Erdatmosphäre eingedrungen zu sein. Der Meteor hat kurz vor der Küste von Maryland im Meer eingeschlagen und einen gewaltigen Feuerball, Erdbeben und weitere Zerstörungen nach sich gezogen. Menschen an der gesamten Ostküste werden dazu aufgefordert, das Gebiet Richtung Inland zu evakuieren. Es werden weitere Flutwellen erwartet. Alle anderen Bürgerinnen und Bürger werden gebeten, das Haus nicht zu verlassen, um die Arbeit der Rettungskräfte nicht zu behindern.« Er hielt inne, und das statische Rauschen im Radio schien ein Widerhall des kollektiven Luftholens einer ganzen Nation zu sein. »Wir schalten nun zu unserem Korrespondenten Phillip Williams vom uns angeschlossenen Sender WCBO of Philadelphia, der sich vor Ort befindet.«

Warum hatten sie sich an einen Sender in Philadelphia gewandt statt an einen vor Ort in D. C. oder Baltimore?

Zunächst dachte ich, das statische Rauschen sei schlimmer geworden, doch dann wurde mir klar, dass der Lärm eines gewaltigen Feuers die Übertragung störte. Und noch einen Moment später begriff ich: Sie hatten so lange gebraucht, um einen Reporter zu erreichen, der noch am Leben war. Und sie hatten niemanden gefunden, der näher dran war als dieser Mann in Philadelphia.

»Ich stehe hier an der US-1, etwa einhundert Kilometer nördlich des Meteoriteneinschlags. Näher kommen wir nicht heran, nicht einmal mit Flugzeugen, weil die Hitze so gewaltig ist. Im Flug habe ich unter mir eine Szenerie grauenhafter Zerstörung gesehen. Es war, als hätte eine riesige Hand die Hauptstadt aufgehoben und mit ihr all die Männer und Frauen, die dort lebten. Bis jetzt ist nichts über den Zustand des Präsidenten bekannt, aber …« Mir stockte das Herz, als seine Stimme brach. Ich hatte Williams über den Zweiten Weltkrieg berichten hören, ohne sich irgendetwas anmerken zu lassen. Später, als ich sah, wo er gestanden hatte, wunderte ich mich, dass er überhaupt einen Ton herausgebracht hatte. »Doch von Washington ist nichts übrig geblieben.«

Zwei

Sprecher:Sie hören BBC World News am 3. März 1952. Das sind die Nachrichten, und ich bin Robert Robinson. In den frühen Morgenstunden hat ein Meteorit unmittelbar vor der Hauptstadt der Vereinigten Staaten mit einer größeren Explosionskraft als die Hiroshima- und Nagasaki-Bomben eingeschlagen. Die daraus resultierende Feuersbrunst hat sich von Washington, D. C. aus noch Hunderte Kilometer weit ausgebreitet.

Ich schob im Kopf Zahlen hin und her, nachdem im Radio endlich, endlich die Nachrichten gelaufen waren. Das war einfacher, als über das große Ganze nachzudenken. Darüber, dass wir in D. C. lebten. Dass wir dort Menschen kannten. Dass meine Eltern …

Von D. C. aus würde es etwas länger als vierundzwanzig Minuten dauern, bis uns die Druckwelle traf. Ich tippte die Uhr auf dem Armaturenbrett an. »Wir sollten sie bald zu spüren kriegen.«

»Ja.« Mein Mann bedeckte das Gesicht mit den Händen und lehnte sich nach vorn gegen das Lenkrad. »Waren deine Eltern …?«

»Zu Hause. Ja.« Ich konnte nicht aufhören zu zittern. Meine Atemzüge waren viel zu schnell und zu flach. Ich presste die Kiefer zusammen und hielt einen Moment mit geschlossenen Augen den Atem an.

Nathaniel drehte sich auf dem Sitz, um die Arme um mich zu legen und mich an sich zu ziehen. Er neigte den Kopf über meinen, sodass ich mich in einem kleinen Kokon aus Tweed und Wolle befand. Seine Eltern waren älter als meine und vor einigen Jahren gestorben, also wusste er, was ich brauchte, und hielt mich einfach fest.

»Ich dachte gerade … Ich meine, Grandma ist hundertdrei. Ich habe geglaubt, Daddy würde für immer leben.«

Er atmete scharf ein, als hätte ihn jemand erdolcht.

»Was ist?«

Nathaniel seufzte und umarmte mich noch fester. »Sie haben vor Flutwellen gewarnt.«

»O Gott!« Grandma lebte in Charleston. Natürlich nicht in einem Strandhaus, aber die ganze Stadt befand sich auf der Ebene direkt an der Küste. Und dann waren da noch meine Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, Margaret, die gerade erst ein Kind bekommen hatte. Ich versuchte, mich aufzusetzen, doch Nathaniels Arme hielten mich fest. »Wann kommt die Flutwelle an? Der Meteor hat kurz vor zehn eingeschlagen. Aber wie groß war er? Und wie tief ist das Wasser … Ich brauche eine Karte und …«

»Elma.« Nathaniel presste mich an sich. »Elma. Schh…! Du kannst diese Gleichung nicht lösen.«

»Aber Grandma …«

»Ich weiß, Süße, ich weiß. Wenn wir beim Flugzeug ankommen, können wir funk…«

Die Schockwelle der Explosion ließ das Autofenster zersplittern. Es grollte und dröhnte, vibrierte quer durch mich hindurch wie eine startende Rakete. Die Schwingungen drangen durch meine Haut, füllten jeden Teil meines Bewusstseins mit tosenden Wellen und dann Zweit- und Drittexplosionen. Ich klammerte mich an Nathaniel, und er klammerte sich ans Lenkrad, während das Auto auf der Straße hin und her bockte und schlitterte.

Die Welt stöhnte und ächzte, und der Wind heulte durch die leeren Fensterrahmen.

Als der Lärm verklungen war, fanden wir uns mit dem Auto in der Straßenmitte wieder. Um uns herum lagen die Bäume in ordentlichen Reihen am Boden, als hätte ein Riese sie so drapiert. Nicht alle waren umgefallen, aber von denen, die noch standen, waren sämtlicher Schnee und alle Blätter heruntergeschüttelt worden.

Die Windschutzscheibe war einfach weg. Das Fenster auf der Fahrerseite war komplett herausgedrückt worden und lag von spinnwebfeinen Rissen durchzogen auf uns. Ich drückte dagegen, und Nathaniel half mir dabei, es aus der Tür zu befördern. Blut bildete sich in den kleinen Schnitten auf seinem Gesicht und seinen Händen.

Er hob die Hand an meine Wange. »Du blutest.« Ich hörte seine Stimme, als wäre ich unter Wasser, und auch er runzelte beim Sprechen die Stirn.

»Du auch.« Auch meine Stimme klang gedämpft. »Trommelfellschäden?«

Er nickte und rieb sich übers Gesicht, wobei er das Blut als roten Film verteilte. »Immerhin können wir so die Nachrichten nicht hören.«

Daraufhin lachte ich, denn manchmal muss man das einfach, selbst wenn es nichts zum Lachen gibt. Ich griff ans Armaturenbrett, um das Radio auszuschalten, und hielt mit der Hand am Regler inne.

Es drang kein Geräusch mehr heraus, und das lag nicht daran, dass die Druckwelle uns betäubt hatte; das Radio war verstummt. »Der Sendeturm muss beschädigt sein.«

»Schau mal, ob du einen anderen Sender findest.« Er legte einen Gang ein, und wir rollten ein paar Meter nach vorn. »Nein. Warte. Entschuldige. Wir müssen laufen.«

Selbst wenn das Auto in erstklassigem Zustand gewesen wäre, lagen einfach zu viele Bäume auf der Straße, und wir wären nicht sehr weit gekommen. Aber von der Hütte zum Flugfeld waren es nur etwas mehr als drei Kilometer, und im Sommer gingen wir häufiger zu Fuß. Vielleicht – vielleicht konnten wir Charleston noch erreichen, bevor die Flutwelle zuschlug. Wenn das Flugzeug unbeschädigt war. Wenn die Luft klar genug war. Wenn wir genug Zeit hatten. Die Chancen standen schlecht, aber was außer der Hoffnung blieb mir denn noch?

Wir stiegen aus dem Auto und liefen los.

Nathaniel half mir über einen Baumstumpf. Ich glitt im Morast aus, als ich den Fuß aufsetzte, und wenn er nicht meinen Arm gehalten hätte, wäre ich auf dem Hintern gelandet. Eigentlich wollte ich mich beeilen, aber wenn ich mir den Hals oder auch nur den Arm brach, hätte niemand etwas davon.

Beim Anblick des schmelzenden Schnees verzog er das Gesicht. »Es wird wärmer.«

»Vielleicht hätten wir Badezeug einpacken sollen.« Ich tätschelte seinen Arm, während wir weitergingen, und gab Belanglosigkeiten zum Besten, um tapfer zu wirken und Nathaniel so dabei zu helfen, sich nicht so viele Sorgen um mich zu machen. Jedenfalls hoffte ich das.

Zumindest bewirkte die Anstrengung, dass ich aufhörte zu zittern. Ich hatte noch keinen einzigen Vogel zwitschern gehört, aber ich wusste nicht, ob es am beeinträchtigten Hörvermögen lag oder daran, dass sie nicht sangen. Die Straße war größtenteils blockiert, es war jedoch einfacher, sich daran zu orientieren, als wenn wir querfeldein gegangen wären. Wir konnten es uns nicht leisten, uns zu verirren, und kamen nur langsam voran. Trotz der warmen Luft durch die Druckwelle waren wir für eine Wanderung nicht passend angezogen.

»Du glaubst nicht wirklich, dass das Flugzeug noch da ist, oder?« Die Schnittwunden in Nathaniels Gesicht hatten aufgehört zu bluten, aber Blut und Schmutz ließen ihn beinahe wie einen Piraten aussehen. Falls Piraten Tweed trugen.

Ich bahnte mir einen Weg um eine Baumkrone herum. »Selbst unter diesen Umständen befinden wir uns immer noch näher an der Landebahn als an der Stadt, also …«

Da lag ein Arm auf der Straße. Kein Körper. Nur ein nackter Arm. Er endete abrupt an einer blutigen Schulter und gehörte vermutlich einem erwachsenen weißen Mann in den Dreißigern. Die Finger waren leicht zum Himmel ausgestreckt.

»Mein Gott!« Nathaniel hielt neben mir inne.

Wir waren beide nicht zimperlich, und die aufeinanderfolgenden Schockzustände hatten eine gewisse Gefühllosigkeit bei uns ausgelöst. Ich näherte mich dem Arm und sah den Hügel hinauf. Dort standen nur noch wenige Bäume, doch selbst ohne Blätter verbargen ihre Kronen die Landschaft hinter einem Astgewirr. »Hallo?«

Nathaniel legte die Hände um den Mund und brüllte: »Hallo! Ist da jemand?«

Bis auf den Wind, der in den Zweigen raschelte, war alles still.

Ich hatte an der Front schon Schlimmeres als einen abgetrennten Arm gesehen, wenn ich Flugzeuge aus der Gefahrenzone überführte. Das hier war kein Krieg, aber es würde ebenso viele Tote geben. Den Arm zu begraben war sinnlos. Trotzdem, ihn einfach liegen zu lassen fühlte sich … falsch an.

Ich griff nach Nathaniels Hand. »Baruch Dayan Ha’emet.«

Er fiel mit seinem rauen Bariton ein. Wir beteten weniger für den uns unbekannten Mann, der vermutlich nicht einmal jüdisch gewesen war, und mehr für all die Menschen, die er verkörperte. Für meine Eltern und die Tausenden – Hunderttausenden – Menschen, die heute gestorben waren.

Da kamen mir endlich die Tränen.

Wir brauchten weitere vier Stunden, bis wir beim Flugfeld ankamen. Zur Einordnung: Die Strecke wanderten wir im Sommer in unter einer Stunde. Die sanften Berge Pennsylvanias waren wenig mehr als Hügel.

Diesmal war es … schwierig.

Der Arm blieb nicht unser schlimmster Fund. Lebende trafen wir auf dem Weg zum Flugfeld nicht. Dort standen mehr Bäume, obwohl alle mit flachen Wurzeln umgestürzt waren. Aber ich verspürte den ersten Hoffnungsschimmer, seit ich das Licht nach dem Einschlag gesehen hatte, denn wir hörten ein Auto.

Das Grummeln eines Automobils im Leerlauf stieg durch die Bäume zu uns auf. Nathaniel erwiderte meinen Blick, und wir rannten gemeinsam die Straße hinab, kraxelten über Stämme und Äste am Boden, umgingen Trümmer und tote Tiere, glitten in Schlamm und Asche aus. Währenddessen wurde das Geräusch immer lauter.

Als wir das letzte Hindernis hinter uns hatten, befanden wir uns am anderen Ende der Piste. Es war eigentlich nur ein Feld, aber Mr Goldman hatte Nathaniel schon als kleinen Jungen gekannt und mähte immer einen Streifen für uns. Die Scheune stand in einem seltsamen Winkel verdreht da, aber sie existierte noch! Wir hatten unglaubliches Glück.

Gemähtes Gras markierte die Flugpiste zwischen den Bäumen auf einem sanften Plateau. Sie verlief von Ost nach West und genug in Richtung des Einschlags, sodass die Bäume von der Druckwelle parallel dazu niedergeworfen worden waren und die Piste selbst frei ließen.

Die Straße lief am Ostende der Landebahn vorbei und machte dann eine Kurve, um an der Nordseite entlangzuführen. Dort befand sich, teils verdeckt von den letzten Bäumen, das Auto, das wir hörten.

Es war der rote Ford-Pick-up, den Mr Goldman fuhr. Nathaniel und ich liefen rasch die Straße hinunter und um die Kurve. Dort versperrte ein Baum die Straße, und der Truck stemmte sich so dagegen, als versuchte Mr Goldman, den Baum damit aus dem Weg zu schieben.

»Mr Goldman!«, schrie Nathaniel und wedelte mit den Armen.

Die Fenster des Trucks waren alle fort, und Mr Goldman war gegen die Tür gesunken. Ich rannte auf das Auto zu, in der Hoffnung, dass er nur ohnmächtig war. Nathaniel und ich hatten die Druckwelle immerhin erwartet, uns gewappnet und halbwegs in Sicherheit begeben können, bevor sie uns traf.

Aber Mr Goldman …

Ich wurde langsamer, als ich den Truck erreichte. Nathaniel hatte mir immer Geschichten aus seiner Kindheit über die Ausflüge zur Hütte erzählt, bei denen Mr Goldman ihm stets eine Pfefferminzstange geschenkt hatte.

Er war tot. Ich musste ihn nicht berühren oder seinen Puls ertasten. Der Ast, der ihm den Hals durchbohrt hatte, beantwortete all meine Fragen.

Drei

Sprecher:  Sie hören die BBC World News am 3. März 1952. Das sind die Nachrichten, und ich bin Raymond Baxter. Während Brände die Ostküste der Vereinigten Staaten verwüsten, bekommen auch andere Länder die ersten Auswirkungen des Meteoriteneinschlags vom Vormittag zu spüren. Flutwellen werden aus Marokko, Portugal und Irland gemeldet.

Als Women Airforce Service Pilot – WASP – im Zweiten Weltkrieg war ich häufig Transportmissionen mit Maschinen geflogen, die kaum flugtüchtig waren. Meine kleine Cessna war flugfähiger als einige der Flugzeuge, mit denen ich als WASP gestartet war. Staubig und verschrammt durchaus, aber nach der umsichtigsten Vorflugkontrolle in der Geschichte der Luftfahrt bekam ich sie in die Luft.

Sobald wir gestartet waren, schwenkte ich nach links, um südlich auf Charleston zuzufliegen. Wir wussten beide, dass es vermutlich zwecklos war, aber ich musste es versuchen. Während das Flugzeug wendete, starb jedoch der letzte Funke meiner irrationalen Hoffnung. Der Himmel im Osten war eine einzige lange dunkle Mauer aus Staub und Rauch, die von unten von einem Inferno erhellt wurde. Falls du bereits Waldbrände gesehen hast, kannst du dir in etwa vorstellen, wie es aussah. Das Feuer füllte die ganze Krümmung des Horizonts aus, als hätte jemand die Erdkruste abgezogen und ein Tor in die Hölle geöffnet. Feuerzungen leckten gen Himmel, während weiterhin Ejekta auf die Erde prasselte. Dort hineinzufliegen wäre Wahnsinn.

Alles auf der Ostseite des Bergs war platt gewalzt worden. Die Druckwelle hatte die Bäume in merkwürdig ordentliche Reihen gelegt. Im Sitz neben mir ächzte Nathaniel, was ich über das Dröhnen des Triebwerks gerade so hören konnte.

Ich schluckte schwer und lenkte das Flugzeug wieder nach Westen. »Wir haben noch Treibstoff für zwei Stunden. Vorschläge?«

Wie mir ging es auch ihm besser, wenn er etwas hatte, worauf er sich konzentrieren konnte. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er eine Terrasse angebaut, dabei kann er nicht besonders gut mit einem Hammer umgehen.

Nathaniel rieb sich das Gesicht und setzte sich gerade hin. »Lass doch mal hören, ob da draußen jemand ist.« Er nahm sich das Funkgerät, das immer noch auf den Langley Tower ausgerichtet war. »Langley Tower, Cessna Vier Eins Sechs Baker bittet um VFR-Verkehrsanweisungen. Over.«

Als Antwort erhielten wir nichts als Rauschen.

»An alle Geräte, Cessna Vier Eins Sechs Baker bittet um VFR-Verkehrsanweisungen. Over.«

Er wählte sich durch die gesamte Funkfrequenz und horchte nach Signalen. Dann wiederholte er den Ruf auf jeder Frequenz, während ich flog. »Versuch’s auf der UHF.« Als Zivilpilotin sollte ich natürlich nur VHF-Funk haben, aber weil Nathaniel beim NACA arbeitete, hatten wir auch die UHF installiert, damit er Piloten auf Testflügen direkt zuhören konnte. Wir blockierten die Militärkanäle nie mit Funksprüchen, aber heute …? Heute wollten wir einfach nur, dass irgendjemand antwortete. Während wir auf dem Weg in den Westen waren, ließ die Verwüstung langsam nach, aber nur im Vergleich zu der, die hinter uns lag. Bäume und Gebäude waren von der Druckwelle umgeworfen worden. Einige brannten, ohne dass sie jemand löschte. Wie musste es gewesen sein, nicht zu wissen, wie einem geschah?

»Unidentifizierte Cessna, Sabre Zwei Eins, jeder unnötige Luftverkehr ist zu vermeiden.«

Beim Klang einer menschlichen Stimme kamen mir abermals die Tränen, doch ich durfte kein verschwommenes Sichtfeld in Kauf nehmen. Also blinzelte ich mir die Tränen aus den Augen und heftete den Blick auf den Horizont.

»Roger, Sabre Zwei Eins, Cessna Vier Eins Sechs Baker benötigt Hinweise auf freie Landezonen. Wir fliegen Richtung zwei sieben null.«

»Eins Sechs Baker, verstanden. Ich bin direkt über Ihnen. Wo zur Hölle kommen Sie her?« Die Stimme wurde vom unmissverständlichen Zischen und Rasseln einer Sauerstoffmaske begleitet, und dahinter war das leise Heulen eines Düsenantriebs zu hören. Hinter und über mir konnte ich gerade so eine F-86 und etwas weiter hinten den Flügelmann ausmachen, die sich uns näherten. Sie würden uns umkreisen müssen, denn selbst ihre Mindestgeschwindigkeit war höher als alles, was meine kleine Cessna zustande brachte.

»Hölle trifft es sehr gut.« Nathaniel rieb sich mit der freien Hand die Stirn. »Wir waren in den Poconos, als der Meteorit eingeschlagen hat.«

»Jesus, Eins Sechs Baxter, da habe ich gerade einen Überflug gemacht. Wie können Sie noch am Leben sein?«

»Ich habe keine Ahnung. Also … wo sollen wir landen?«

»Geben Sie mir eine Sekunde. Ich prüfe nach, ob ich Sie nach Wright-Patterson eskortieren kann.«

»Roger. Würde es helfen, wenn ich Ihnen sage, dass ich Army-Captain im Ruhestand bin und immer noch für die Regierung arbeite?«

»Für die Regierung? Bitte sagen Sie mir, dass Sie Senator sind.«

Nathaniel lachte auf. »Nein, ich bin Raketenwissenschaftler beim NACA. Nathaniel York.«

»Die Satelliten! Deshalb kommt mir Ihre Stimme so bekannt vor. Ich hab Sie im Radio gehört. Major Eugene Lindholm, zu Ihren Diensten.« Der Mann schwieg einige Minuten. Als der Funk knackend wieder zum Leben erwachte, fragte der Major: »Haben Sie genug Treibstoff, um es bis nach Wright-Patterson zu schaffen?«

Ich hatte diesen Luftstützpunkt schon mehrere Male im Krieg angeflogen und diverse Flugzeuge dorthin gebracht. Er befand sich vielleicht vierhundert Kilometer von uns entfernt. Ich bestätigte und passte den Kurs an.

Nathaniel nickte mir aufmunternd zu und hob das Mikrofon wieder vor den Mund. »Haben wir.«

»Großartig. Dann sind Sie zum Abendessen dort. Nicht, dass Vorfreude angebracht wäre …«

Mir knurrte bei der Erwähnung von Essen der Magen. Wir hatten seit dem vergangenen Abend nichts mehr gegessen, und mich überkam plötzlich ein Bärenhunger. Selbst über etwas Wasser hätte ich mich gefreut.

Nachdem Nathaniel sich abgemeldet hatte, lehnte er sich mit einem Seufzer in den Sitz zurück.

»Sieht so aus, als hättest du einen Fan.«

Er schnaubte. »Wir hätten ihn sehen müssen.«

»Wen?«

»Den Meteoriten. Wir hätten ihn kommen sehen müssen.«

»Das war nicht dein Job.«

»Aber wir haben nach Dingen gesucht, die die Satelliten stören. Man sollte doch annehmen, dass wir einen gottverdammten Meteoriten aufspüren, wenn er so nah ist!«

»Niedrige Albedo. Eine Flugbahn in einer Linie mit der Sonne. Klein …«

»Wir hätten ihn sehen müssen!«

»Und was hätten wir dann tun können?«

Das Dröhnen des Triebwerks ließ den Sitz unter mir vibrieren und wurde vom Zischen der an uns vorbeigleitenden Luft untermalt. Nathaniel wippte nervös mit einem Knie auf und ab. Er beugte sich vor und griff nach den Karten. »Es sieht so aus, als müsstest du Kurs nach Südwesten nehmen.«

Das hatte ich längst getan, und wir hatten eine Eskorte, aber wenn Nathaniel sich nützlich fühlte, indem er mir die Richtung wies, dann sollte er das in Gottes Namen tun. Jedes Ejektageschoss am Himmel führte uns unsere Hilflosigkeit vor Augen. Ich konnte sie zwar sehen, würde jedoch nicht rechtzeitig etwas dagegen unternehmen können, also ließ ich die Hände einfach auf dem Steuerhorn und flog weiter.

Ein Gutes hatte das Zwacken des Hungers: Es machte das einschläfernde Dröhnen des Flugzeugs wett und hielt mich wach. Das – und Nathaniels schrecklicher Bariton. Mein Gatte war vieles, aber kein Sänger. Oh, er konnte durchaus einen Ton halten – aber nur in einem Eimer voller Kies.

Zum Glück wusste er das und versuchte sich eher an lustigen Liedern, um mich wach zu halten. Während er mit dem Vibrato einer verliebten Gans grölte, stampfte er mit dem Fuß den Rhythmus auf den Flugzeugboden.

»Oh, do you remember Grandma’s Lye Soap?

Good for everything, everything in the place.

The pots and kettles, and for your hands, and for your face?«

Unter uns war nun der glorreiche Anblick der Wright-Patterson-Landebahn auszumachen. Die Markierungslichter blinkten erst grün und danach im Doppel-Weiß einer Militärpiste.

»Mrs O’Malley, down in the valley

Suffered from ulcers, I understand …«

»Gerettet!« Ich passte die Höhe an. »Willst du sie wissen lassen, dass wir kommen?«

Nathaniel nahm sich grinsend das Mikrofon. »Sabre Zwei Eins, Eins Sechs Baker. Und, wie ist das Essen auf dem Stützpunkt?«

Im Funkgerät knisterte es, und Major Lindholm lachte. »Genau so, wie Sie erwarten. Und doch ganz anders.«

»So schlimm, ja?«

»Das hab ich nicht gesagt, Sir. Aber wenn Sie nett zu mir sind, gebe ich Ihnen vielleicht was vom Pausenpaket ab, das mir meine Frau mitgegeben hat.«

Ich stimmte in Nathaniels Lachen ein, wir amüsierten uns mehr, als es der Witz verdiente.

Nathaniel schaltete auf die Tower-Frequenz, doch bevor er das Mikrofon an den Lippen hatte, hörten wir schon eine weitere Stimme. »Flugzeug auf Kurs zwei sechs null, auf achttausendfünfhundert Fuß, hier ist der Wright-Patterson Tower. Identifizieren Sie sich.«

»Wright-Patterson Tower, hier ist Cessna Vier Eins Sechs Baker auf achttausendfünfhundert, Anflug auf die Landebahn.«

Nathaniel war oft genug mit mir geflogen, um die Routine zu beherrschen. Er ließ das Mikrofon kurz sinken, grinste und hob es dann wieder. »Und wir haben Sabre Zwei Eins im Schlepptau, Tower.«

»Tower, hier Sabre Zwei Eins. Wir eskortieren Eins Sechs Baker, Direktanflug zum Flugfeld erbeten.«

Ich schnaubte. Es musste einen Kampfpiloten wurmen, an einem so armseligen kleinen Flugzeug wie meiner Cessna festzukleben.

»Verstanden, Eins Sechs Baker und Sabre Zwei Eins. Genehmigung zu direkter Landung erteilt. Luftraumfreigabe an Eins Sechs Baker. Nehmen Sie sich in Acht, uns wurde berichtet …«

Ein Lichtblitz sauste an der Nase des Flugzeugs vorbei. Ein Knall wie von einer hochgehenden Bombe. Das Flugzeug wackelte. Ich versuchte verzweifelt, es erneut auszurichten …

Dann konnte ich plötzlich den Propeller sehen. Der so gut wie unsichtbare Wirbel hatte sich zu einem stotternden, unebenen Strich verlangsamt. Ein Teil davon war einfach verschwunden! Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was passiert war: Der Lichtblitz war ein Stück Ejekta gewesen, hatte in die Nase meines Flugzeugs eingeschlagen und einen Teil meines Propellers mit sich gerissen.

Die Vibrationen des Triebwerks ließen das Steuerhorn in meiner Hand beben und hämmerten mir den Sitz gegen den Steiß. Das war erst der Anfang und konnte darin enden, dass der Motor direkt aus dem Flugzeug geschüttelt wurde. Ich riss das Steuerhorn in den Leerlauf und leitete die Sequenz zur Sicherung des Motors ein – womit ich meine, dass ich ihn abschaltete.

Verdammt! Ich würde es nicht zum Stützpunkt schaffen. »Ich brauche eine Piste. Jetzt.«

Immerhin flogen wir über Ackerland, obwohl der Schnee den eigentlichen Untergrund nicht erkennen ließ. Ich schob den Schubhebel in den Leerlauf, und das Triebwerk verstummte und ließ uns mit dem Pfeifen des Winds zurück. Der Überrest des Propellers drehte sich im Wind.

»Was …?«

»Wir gleiten.« Hätte das Ejekta einen Flügel getroffen, wären wir in größeren Schwierigkeiten gewesen, aber die Cessna war ein verdammt guter Gleiter. Ich würde allerdings nur einen Landeversuch bekommen.

Eine Straße schnitt sich durch die Felder. Wäre sie nicht rechts und links von Zäunen begrenzt gewesen, hätte ich darauf landen können, aber so würde ich wohl mit einem Feld vorliebnehmen müssen. Ich ging in Schräglage und setzte zur Landung an.

Im Augenwinkel bemerkte ich, dass Nathaniel immer noch das Mikrofon umklammert hielt. Als WASP waren mir viel zu oft die Motoren lahmgelegt worden. Für ihn war es das erste Mal. Er führte das Funkgerät zum Mund, und ich war ziemlich stolz darauf, wie fest seine Stimme klang. »Wright Tower, hier ist Cessna Vier Eins Sechs Baker, wir haben einen Notfall. Unser Motor hat versagt, und wir müssen auf einem Feld notlanden … ähm …« Er tastete nach der Karte.

»Cessna Vier Eins Sechs Baker, hier ist Wright Tower. Wir haben Sie im Blick. Konzentrieren Sie sich einfach auf die Landung. Sabre Zwei Eins, hier Wright Tower. Bleiben Sie in der Nähe, um zu unterstützen und die Landestelle an uns weiterzugeben.«

»Wright Tower, hier Sabre Zwei Eins. Wir sind schon dabei.« Der Jet raste dröhnend über uns hinweg, als Major Lindholm und sein Flügelmann in weitem Bogen um uns flogen.

Nun dröhnte mir der Herzschlag anstelle des Triebwerkgeräuschs durch den Körper. Es war nicht meine erste Landung ohne Motor, aber die erste, bei der ich meinen Mann an Bord hatte. Nach allem anderen, was heute geschehen war, wollte ich auf keinen Fall der Grund dafür sein, dass auch er den Tod fand. »Angeschnallt?«

»Äh, ja.« Aber er schnallte sich erst jetzt an, also war es gut, dass ich nachgehakt hatte. »Kann ich irgendwas tun?«

»Mach dich bereit.« Ich senkte den Kopf und sah auf den Höhenmesser.

»Sonst noch was …«

»Nicht reden.« Er wollte nur helfen, aber dafür hatte ich keine Zeit. Ich musste das Flugzeug so weit wie möglich abbremsen, bevor ich ganz runterging, aber nicht so sehr, dass wir vor dem Feld auftrafen. Der Boden kam immer näher, verwandelte sich von einer glatten weißen Ebene in das verschneite Feld einer Modelleisenbahn, um sich dann – ohne Übergang – in voller Größe unter uns zu erstrecken. Ich hielt die Nase oben, damit das Spornrad als Erstes aufsetzte.

Der Schnee sammelte sich um das Rad und verlangsamte uns weiter. Ich zog die Nase hoch, solange es ging. Als schließlich auch das Hauptfahrwerk unter den Tragflächen aufsetzte, blieb ein Rad in den unebenen Furchen unter dem Schnee hängen. Das Flugzeug wurde heftig durchgeschüttelt. Ich umklammerte das Steuerhorn, damit die Tragflächen auf einer Ebene blieben, und versuchte, uns mit den Ruderpedalen in den Wind auszurichten.

Die Wende dauerte an, bis wir in die Richtung schauten, aus der wir gekommen waren. Endlich bewegte sich das Flugzeug nicht mehr. Um uns herum war die Welt still und stumm.

Ich stieß zischend die Luft aus und sackte gegen den Sitz. Ein Düsentriebwerk dröhnte über uns, und das Funkgerät knackte. Major Lindholms Stimme füllte die Kanzel. »Eins Sechs Baker, gut gemacht! Alles in Ordnung?«

Nathaniel setzte sich auf und griff nach dem Mikrofon. Seine Hand zitterte. »Wir sind nicht tot. Also: Ja!«

Die erstarrte Masse aus Kidneybohnen und der sehr fragwürdige Hackbraten waren vermutlich das Beste, was ich je gegessen hatte. Die Bohnen schmeckten süßlich und zogen mir mit ihrem übertriebenen Salzgehalt gleichzeitig den Mund zusammen, aber ich schloss die Augen und lehnte mich an die harte Rückenlehne der Bank in der Air-Force-Kantine. Es war ungewohnt leer, da der größte Teil des Stützpunkts zu Hilfsmaßnahmen ausgesandt worden war. Geschirr klapperte auf dem Tisch und brachte den herrlichen Duft von Schokolade mit sich.

Als ich die Augen öffnete, setzte sich Major Lindholm uns gegenüber auf die Bank. Das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte, hielt der Realität nicht stand. Ich hatte einen älteren, kräftigen Mann mit nordisch blonden Haaren erwartet.

Der echte Major Lindholm war schwarz und jünger, als ich anhand seiner Stimme vermutet hatte. Er war ein fit aussehender Mann von Ende dreißig mit vom Helm noch platt gedrücktem Haar. Um Kinn und Nase zeichnete sich noch das rote Dreieck der Sauerstoffmaske ab. Und er brachte uns heißen Kakao.

Nathaniel ließ die Gabel sinken und beäugte die drei dampfenden Tassen auf dem Tisch. Er schluckte vernehmlich. »Ist das Kakao?«

»Ja, aber danken Sie mir nicht dafür. Ich will Sie nur bestechen, damit ich Ihnen Fragen über Raketen stellen kann.« Lindholm schob zwei Tassen über den Tisch. »Aus dem Geheimvorrat, den meine Frau mir immer mit zur Arbeit gibt. Nicht das Air-Force-Zeug.«

»Wenn Sie nicht schon verheiratet wären …« Ich hatte die Hand um die warme Tasse gelegt, bevor mir klar wurde, was ich gesagt hatte. Ich hoffte, dass er nicht beleidigt war.

Gott sei Dank lachte er. »Ich habe einen Bruder …«

Mir wurde das Herz schwer. Ich hatte es geschafft, nicht an meine Familie zu denken, um weitermachen zu können, doch ich hatte ebenfalls einen Bruder – in Kalifornien. Hershel musste mich für tot halten. Ich atmete zitternd ein und beschwor dann von irgendwoher ein Lächeln herauf. »Kann ich irgendwo telefonieren? Ein Ferngespräch?«

Nathaniel legte mir eine Hand auf den Rücken. »Ihre Familie lebte in D. C.«

»Grundgütiger, Ma’am, das tut mir so leid.«

»Aber mein Bruder – er lebt in Kalifornien.«

»Kommen Sie mit, Ma’am.« Er warf Nathaniel einen Blick zu. »Möchten Sie auch jemanden anrufen, Sir?«

Nathaniel schüttelte den Kopf. »Nicht sofort.«

Ich folgte Major Lindholm mit Nathaniel auf den Fersen durch Korridore, die ich kaum zur Kenntnis nahm. Was für eine rücksichtslose Frau ich doch war! Ich hatte mich damit getröstet, dass Hershel mit seiner Familie in Kalifornien lebte, doch überhaupt nicht daran gedacht, dass er mich für tot halten musste. Es gab keinen Grund für ihn, anzunehmen, dass ich nicht in D. C. gewesen war, als der Meteorit einschlug.

Das Büro, in das Major Lindholm mich führte, war klein und militärisch aufgeräumt. Das Einzige, was die rechten Winkel durchbrach, waren ein gerahmtes Foto von zwei Jungen, vermutlich Zwillingen, und eine mit Buntstiften gemalte Karte der USA an der Wand. Nathaniel schloss die Tür und blieb mit Lindholm draußen. Ein zweckmäßiges schwarzes Telefon stand auf dem Schreibtisch, doch es hatte immerhin eine Wählscheibe, sodass ich nicht mit einer Telefonistin sprechen musste. Der Hörer lag warm und schwer in meiner Hand. Ich wählte Hershels Nummer und hörte dem Rattern der Wählscheibe zu, die sich durch die Zahlen drehte. Jedes Signal sandte einen Impuls durch die Leitung und gab mir Zeit, mich in eine mechanische Ruhe zurückzuziehen.

Ich bekam nur das hohe, hektische Summen einer überlasteten Telefonleitung zu hören. Das war zu erwarten gewesen, daher legte ich auf und versuchte es sofort noch einmal. Das Besetztzeichen zehrte an meinen Nerven.

Ich hatte gerade wieder aufgelegt, als Nathaniel die Tür öffnete. »Wir kriegen Gesellschaft. Alles okay?«

»Ich komme nicht durch.« Ich fuhr mir durchs Gesicht und verschmierte den Schmutz vermutlich noch mehr. Ich könnte darum bitten, ein Telegramm senden zu dürfen, aber die Militärfunker waren sicher alle beschäftigt. »Ich versuche es später noch mal.«

Es war schon eine Menge wert, dass wir gesund und munter waren. Ich bestand nur noch aus Schmutz, Rauch und kleinen blutenden Wunden, aber ich war am Leben. Mein Mann war am Leben. Mein Bruder und seine Familie waren am Leben. Wenn ich mir vor Augen führen wollte, welch Segen das war, musste ich nur daran denken, wie viele Menschen heute gestorben waren.

Doch als der Air Force Colonel den Raum betrat, versuchte ich noch rasch, meine Frisur zu richten, als würde das einen Unterschied machen. Dann schweifte mein Blick von den Insignien zum Mann. Stetson Parker. Zum Glück war mein Gesicht so dreckig, dass meine Miene mich nicht verraten würde.

Das Arschloch war also befördert worden. Das war natürlich keine Überraschung, denn er schleimte sich gern bei Höherrangigen ein – und bei allen, die ihm nützlich waren, wie er gerade bewies, indem er Nathaniel die Hand hinhielt. »Dr. York. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für eine Erleichterung es ist, Sie in Sicherheit zu wissen.«

Selbst in Anbetracht der von Lindholm eben noch kundgetanen Begeisterung für Raketen vergaß ich manchmal, dass der Satellitenstart Nathaniel berühmt gemacht hatte. Wir hatten es geschafft, die Russen zu schlagen, indem wir Satelliten in die Umlaufbahn gebracht hatten, und das nicht nur einmal, sondern gleich bei drei Starts. Mein überaus attraktiver und charmanter Mann – in dieser Hinsicht bin ich zugegebenermaßen voreingenommen – war zum Gesicht des NACA-Raumfahrtprogramms avanciert.

»Nun, Major Lindholm hat gut auf uns aufgepasst. Wir sind dankbar, dass Sie uns willkommen heißen, Colonel …?« Der Mann hatte ein Namensschild an der Uniform, aber dennoch … Es wäre angemessen gewesen, sich vorzustellen.

»Was hab ich nur für Manieren! Ich bin so von Ehrfurcht ergriffen, Sie hier zu haben!« Parker grinste überheblich. »Colonel Stetson Parker, Kommandant dieses Stützpunkts. Obwohl … so, wie die Dinge stehen, sieht es ganz danach aus, als trüge ich momentan für weitaus mehr als diesen Stützpunkt die Verantwortung.«

Selbstverständlich erwähnte er das, um darzulegen, wie wichtig er war. Ich trat vor und reichte ihm ebenfalls die Hand. »Schön, Sie wiederzusehen, Colonel Parker.«

Er hob überrascht die Augenbrauen. »Entschuldigen Sie, Ma’am, aber Sie müssen mir auf die Sprünge helfen.«

»Ach, als Sie mich zuletzt gesehen haben, war ich noch Elma Wexler. Eine der WASP-Pilotinnen.«

Sein Gesicht erstarrte ein wenig. »Ah, die Tochter des Generals. Natürlich, ich erinnere mich.«

»Ich gratuliere zur Beförderung.« Ich setzte mein schönstes gönnerhaftes Lächeln auf. »Dafür haben Sie sicher hart gearbeitet.«

»Danke schön, Ma’am!« Er grinste wieder und schlug Nathaniel auf die Schulter. »Und ich wette, die kleine Lady ist auch befördert worden, hm, und Mrs York geworden?«

Meine Zähne schmerzten, weil ich sie so fest aufeinanderbiss, doch ich behielt mein Lächeln bei. »Sie erwähnten, dass Sie nicht wissen, wer im Augenblick Ihr Vorgesetzter ist. Was können Sie uns über die aktuelle Situation sagen?«

»Ah …« Parker wurde wieder ernst, und dieser Stimmungswechsel war vermutlich sogar echt. Er wies auf die Stühle auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Setzen Sie sich doch bitte.«

Parker zog den Stuhl hinter dem Schreibtisch zurück, und erst jetzt bemerkte ich das Namensschild darauf. Ich war erstaunt, dass er Vater von Zwillingen war, und fragte mich, wer ihn geheiratet hatte.

Er verschränkte die Finger und seufzte erneut. »Eine Explosion …«

»Ein Meteorit.«

»So heißt es in den Nachrichten. Aber angesichts der Tatsache, dass Washington ausradiert wurde, tippe ich eher auf die Russen.«

Nathaniel legte den Kopf schief. »Wurde radioaktive Strahlung gemessen?«

»Wir sind noch nicht nah genug an die Einschlagstelle gekommen, um Messungen vorzunehmen.«

Idiot. Ich versuchte, es für ihn herunterzubrechen. »Überall fällt Ejekta vom Himmel, das zum einen auf Radioaktivität getestet werden könnte. Zum anderen gehören Ejekta nicht zu den Auswirkungen einer Atombombe. Das passiert nur, wenn ein Meteorit ein Loch in die Atmosphäre schlägt, das Auswurfmaterial ins All gesogen wird und dann zurück auf die Erde stürzt.«

Er kniff die Augen zusammen. »Dann sollten Sie in Betracht ziehen, dass zum Zeitpunkt des Einschlags eine Kongresssitzung stattfand, sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat. Die Regierung der Vereinigten Staaten wurde nahezu komplett ausgelöscht. Das Pentagon, Langley … Selbst wenn das lediglich ein Naturereignis war, ist doch wohl davon auszugehen, dass die Russen versuchen werden, das auszunutzen, nicht wahr?«

Das … war ein erschreckend gutes Argument. Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, weil ich plötzlich fror.

Nathaniel sprang in die Bresche. »Also plant das Militär Verteidigungsmaßnahmen?«

Er betonte das Wort »Militär« nicht wirklich, machte jedoch klar genug, dass ein Colonel den Laden keinesfalls allein schmeißen würde.

»Das wäre wohl das Umsichtigste, Dr. York …« Er machte eine Pause, doch sein Zögern war so wohlkalkuliert, dass ich beinahe sehen konnte, wie er die Sekunden zählte. »Sie haben am Manhattan-Projekt mitgearbeitet, wenn ich mich nicht irre?«

Nathaniel versteifte sich neben mir. Das Manhattan-Projekt war vom wissenschaftlichen Standpunkt aus interessant, in jeder anderen Hinsicht jedoch entsetzlich gewesen. »Das ist korrekt, aber ich habe mich in der letzten Zeit der Erforschung des Weltalls zugewandt.«

Parker winkte ab. »Ich frage Sie das nach diesem anstrengenden Morgen nur ungern, aber würden Sie mich zu einer Besprechung begleiten?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendetwas beizutragen habe.«

»Sie sind momentan unser bester Raketenwissenschaftler.«

Keiner von uns musste daran erinnert werden, dass viele Mitarbeiter des NACA vermutlich tot waren. Ich legte eine Hand auf Nathaniels Knie, um ihn so zu bestärken, wie er es bei mir getan hatte. Das NACA war jedoch nicht das einzige Raketenprogramm. »Ich will die Leistung meines Mannes nicht schmälern, aber Wernher von Braun arbeitet am Sunflower-Projekt in Kansas.«

Parker schnaubte und schenkte mir ein gequältes Lächeln. Er hatte es schon während des Kriegs gehasst, nett zu mir sein zu müssen, es jedoch meinem Vater zuliebe tun müssen – und nun ärgerte er sich, weil er Dr. Yorks Frau gegenüber zu Freundlichkeit verpflichtet war. »Es ist schön, dass Sie helfen wollen, Ma’am, aber ich hoffe, Sie verstehen, dass ich einen ehemaligen Nazi wie von Braun nicht in Fragen der nationalen Sicherheit konsultieren kann.« Und dann sah er Nathaniel erneut an und ignorierte mich komplett. »Was sagen Sie, Dr. York? Wir wollen nur wissen, wie es um unsere Optionen für die Sicherung Amerikas steht.«

Nathaniel seufzte und pflückte einen losen Faden von seiner Hose. »In Ordnung. Aber ich kann nicht versprechen, heute noch irgendetwas Schlaues von mir zu geben.«

Als er aufstand, wollte ich mich anschließen, doch Parker hob die Hand und schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, Ma’am. Sie können sich hier in meinem Büro ausruhen, während Major Lindholm ihnen ein Quartier herrichtet.«

»Wir haben freie Zimmer bei uns zu Hause – falls Ihnen nicht nach einem TLF ist?«, schlug der Major vor.

Ich fühlte mich geschmeichelt – nicht wegen des Angebots, sondern weil er das Kürzel für temporäre Wohneinheiten verwendet hatte, statt es wie für eine Zivilistin zu übersetzen. »Das ist sehr nett. Wenn es Ihrer Frau nicht zu viel Mühe macht, Major.«

»Es ist ihr bestimmt recht, Ma’am.«

Parkers Lächeln wirkte erstaunlich herzlich. »Da sind Sie in guten Händen. Seine Frau macht eine verdammt gute Pastete.«

Ich muss zugeben, dass ich überrascht war, so etwas wie aufrichtige Kameradschaft zwischen den beiden Männern wahrzunehmen. Meine eigenen Erfahrungen mit Parker waren bei Weitem nicht ideal gewesen. Hoffentlich bedeutete das nicht, dass sich Major Lindholm auch als charmant, aber unangenehm herausstellen würde. »Danke! Wenn das geklärt ist, dann können wir ja aufbrechen.« Ich hatte zwar kein Bedürfnis, einer Besprechung beizuwohnen, aber es hätte mir eine Menge bedeutet, mich nützlich zu fühlen.

»Ah … Das tut mir leid, Ma’am.« Parker rückte seine Krawatte zurecht. »Ich hätte Ihnen natürlich sagen sollen, dass Dr. York dank seiner Arbeit am Manhattan-Projekt bereits die nötige Freigabestufe hat. Sie verstehen das bestimmt.«

Freigabe, was für ein Humbug! Wenn ich ihn richtig verstanden hatte, gab es keine Hierarchie mehr – und schon gar keine Freigabe. Aber es wäre nicht hilfreich gewesen, das überhaupt auszusprechen, also ließ ich mich wieder auf den Stuhl sinken.

»Aber natürlich. Das verstehe ich. Ich bleibe einfach hier und warte.«

Nathaniel hob daraufhin die Augenbrauen. Er kannte mich gut genug, um meine Wut zu spüren, auch wenn er den Grund dafür nicht wusste. Ich schüttelte den Kopf, um ihm zu versichern, dass alles in Ordnung war. Ich lächelte, faltete die Hände sittsam im Schoß und lehnte mich zurück. Wie ein braves kleines Mädchen würde ich hier sitzen und warten, meinen Mann die Arbeit tun lassen und zu Gott beten, dass dieser Mishegas keinen Atomkrieg anfing.

Vier

Neunzig Tote bei Erdbeben im Iran

TEHERAN, Iran, 3. März 1952 (Reuters) – Neunzig Menschen kamen bei einem Erdbeben in Laristan und Bastak im südlichen Iran zu Tode, es gab hundertachtzig Verletzte. Radio Teheran gab heute bekannt, dass vermutet wird, die Erdbeben seien vom Meteoriteneinschlag in Nordamerika hervorgerufen worden.

Die Sonne war in leuchtendem Zinnoberrot untergegangen, durchzogen von Kupfer- und dunklen Goldadern. Dem roten Himmel über uns nach zu urteilen, hätten wir uns auch auf dem Mars befinden können. Das rötliche Licht veränderte alle Farben, sogar der weiße Lattenzaun vor Major Lindholms Haus sah aus, als wäre er in Blut getaucht worden.

Normalerweise hasste ich es, mich jemandem aufzudrängen, aber Parker hatte mich zu sehr geärgert. Und ich war ehrlich gesagt zu müde zum Nachdenken und dankbar dafür, dass mir jemand sagte, wo es langging. Außerdem würden sie die TLFs noch als Geflüchtetenunterkünfte benötigen.

Nathaniel steckte immer noch in der Besprechung fest. Er war kurz herausgekommen, um mich zum Gehen zu ermutigen, und ich hatte keine Ausrede mehr, mich länger hier herumzutreiben – außer der absoluten Sicherheit, ihn nie wiederzusehen, wenn ich jetzt ging. Aber so etwas spricht man nicht laut aus. Nicht an einem Tag wie diesem.

Als ich aus dem Jeep ausstieg, schienen die Flecken auf meiner Kleidung dunkler zu werden. Ich konnte beinahe meine Mutter sagen hören: »Elma! Was sollen die Leute denken?«

Wenigstens hatte ich mir das Gesicht gewaschen. Ich straffte mich und folgte Major Lindholm durch das Zauntor und den gefegten Weg hinauf zur Veranda. Die Tür wurde geöffnet, als wir die Stufen hinaufstiegen, und eine gedrungene Frau in einem puderblauen Kleid trat heraus.

Ihre Haut war in etwa so dunkel wie Nathaniels Sommerbräune, und sie hatte ein sanftes, rundliches Gesicht. Mir wurde erschreckend bewusst, dass ich noch nie zuvor das Haus einer schwarzen Person betreten hatte. Mrs Lindholm hatte sich das lockige Haar toupiert, das nun ihre sanften Wangen einrahmte. Die Augen hinter ihrer Brille waren gerötet und von Sorgen überschattet.

Sie öffnete die Tür weiter und legte sich eine Hand auf den Busen. »Ach du meine Güte, Sie Arme. Kommen Sie erst mal rein.«

»Danke, Ma’am.« Der Boden drinnen bestand aus makellosem Linoleum mit Ziegelsteinmuster. Meine Schuhe waren so schmutzig, dass ihre Farbe nicht mehr zu erkennen war. »Lassen Sie mich nur die Stiefel ausziehen.«

»Machen Sie sich deswegen bloß keine Sorgen!«

Ich setzte mich auf die Stufen, um sie auszuziehen. Mama hätte sich für mich geschämt, wenn ich so viel Schlamm in jemandes Wohnung geschleppt hätte. »Mein Mann wird noch genug Dreck für uns beide mitbringen, wenn er herkommt.«

Sie lachte. »Sind Männer nicht immer so?«

»Ich kann dich hören!« Major Lindholm hatte auf der Stufe neben mir innegehalten. »Aber sagen Sie bitte Bescheid, wenn Sie etwas benötigen. Egal was. Und ich werde sicherstellen, dass Dr. York sicher hier eintrifft.«

»Danke.« Bei der nächsten freundlichen Geste würde ich völlig zusammenbrechen. Ich konzentrierte mich auf meinen Stiefel. Sogar meine Strümpfe waren schmutzig, von den Füßen darin ganz zu schweigen.

Mrs Lindholm trat ein paar Schritte auf die Veranda. »Ich habe drei Söhne großgezogen. Mit Schmutz kenne ich mich aus, das kann ich Ihnen versichern.«

Keine Tränen. Noch nicht. Flach atmend kämpfte ich gegen den Gefühlsausbruch an. Ich schluckte das Salz herunter, packte das Geländer und zog mich hoch, jetzt auf nackten Füßen. »Ich kann Ihnen wirklich nicht genug danken.«

»Oh, ich habe doch noch gar nichts getan.« Sie hielt eine Hand an meinen Rücken und geleitete mich in ihr Haus, ohne mich zu berühren. »Nun … ich schätze, ein schönes heißes Bad käme Ihnen jetzt bestimmt gelegen.«

»Ich würde eine kalte Dusche bevorzugen.«

Die Vordertür führte direkt ins Wohnzimmer. Die Möbel standen in ordentlichen rechten Winkeln zueinander, und selbst der Tschotschkes – der Nippes – war an den Kanten der Tischchen und Regale ausgerichtet. Es roch nach zitronigem Möbelreiniger und Zimt.

»Für eine kalte Dusche hätten Sie in der Kaserne bleiben können.« Mrs Lindholm eilte durch das Wohnzimmer in den Flur und öffnete die erste Tür zur Rechten. Den meisten Raum im Badezimmer nahm eine auf Metallfüßen stehende Wanne ein. »Ich habe auch Schaumbad. Lavendel und Rose.«

»Ich sollte vielleicht vorher duschen.«

Sie rückte ihre Brille zurecht und musterte den Dreck, der mir an Kleidung und Haut klebte. »Hm … In Ordnung. Aber danach baden Sie in Ruhe, haben Sie verstanden? Sonst werden Sie sich morgen vor Schmerzen nicht mehr bewegen können.«

»Jawohl, Ma’am.« Sie hatte ja recht. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, wäre es ein Wunder, wenn ich morgen überhaupt aus dem Bett kam.

»So, hier sind Handtücher und ein Schlafanzug von meinem Ältesten.« Sie legte die Hand auf einen roten Flanellpyjama. »Meine Nachthemden würden Ihnen einfach von den Schultern rutschen. Legen Sie Ihre Kleidung auf die Kommode, dann wasche ich sie.«

Ich nickte, während sie hinausging, und hoffte, dass sie die Dankbarkeit darin sah.

Sie musste meine Kleidung waschen, denn sonst hätte ich nichts zum Anziehen gehabt. Der Gedanke klang wie der einer verzweifelten Debütantin, doch es war die Wahrheit. Wir waren Geflüchtete. Unser Heim. Unsere Arbeit. Unser Bankkonto. Unsere Freundinnen und Freunde. Alles war durch den Einschlag des Meteors zerstört worden.

Und wenn Nathaniel nicht Raketenwissenschaftler wäre – wenn Parker ihn nicht gebraucht hätte –, wo wären wir jetzt? Ich hatte über Menschen wie Mr Goldman nachgedacht, aber nicht an die, die überlebt hatten. Was sollten all die anderen Menschen, die sich am Rande der Zerstörung befunden hatten – Hunderte, Tausende von ihnen –, nun tun?

Eine Dampfwolke entwich in den Flur, als ich aus dem Badezimmer trat. Ich schlich in meinem geborgten Flanellpyjama hinaus. Die Hose saß gut, dank meiner langen Beine, aber die Ärmel reichten mir bis zu den Fingern. Ich rollte sie im Gehen hoch und spürte die kleinen Schnittwunden in den Fingern, mit denen ich am weichen Stoff hängen blieb. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Wahrscheinlich stand ich immer noch unter Schock, was vermutlich normal war, aber immerhin äußerte er sich nicht mehr in Muskelzittern. Jetzt kam ich mir stattdessen vor wie in Watte gepackt.

Im Wohnzimmer lief der Fernseher, war jedoch leise gedreht. Mrs Lindholm hatte ihren Sessel nah an den Bildschirm geschoben. Sie saß vornübergebeugt da und schaute die Nachrichten, die Finger in ein Taschentuch gekrallt.

In flackerndem Schwarz-Weiß saß Edward R. Murrow mit einer Zigarette am Nachrichtenpult und sprach über die Ereignisse des Tages.

»… nach dem Einschlag des Meteors heute Morgen wurden bisher siebzigtausend Todesfälle bestätigt, aber Schätzungen zufolge liegt die Zahl deutlich höher. Fünfhunderttausend Menschen in den Bundesstaaten Maryland, Delaware, Pennsylvania, New York, New Jersey, Virginia bis hoch nach Kanada und bis zur Ostküste von Florida hinab mussten ihre Häuser verlassen. Diese Bilder hat ein Flugzeug etwa fünf Stunden nach der Katastrophe aufgenommen. Was Sie hier sehen, meine Damen und Herren, war bis heute Morgen die Hauptstadt unserer Nation.«