10,99 €
Eine Hebamme, die für das Recht der Frauen kämpft.
Marias beste Freundin Evi erwartet heimlich ein Kind von ihrem Verlobten. Dann stirbt er jedoch bei einem Unfall in den Alpen, und Evi, eine unverheiratete Schwangere, gilt als Mädchen der Schande. Verzweifelt bittet sie Maria um Hilfe, und stürzt ihre Freundin in einen Gewissenskonflikt. Plötzlich steht Maria unter dem Verdacht, unrechtmäßig Abtreibungen vorgenommen zu haben, und niemand glaubt ihr, als sie ihre Unschuld beteuert. Bis auf den charmanten neuen Landarzt Georg, der gerade nach Brannenburg gezogen ist ...
Der zweite Band der bewegenden Berghebammen-Saga von Bestsellerautorin Linda Winterberg.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2025
1896: Marias Hebammenalltag im beschaulichen Brannenburg wird gleich von mehreren Ereignissen durcheinandergewirbelt: Die Ankunft des neuen Landarztes Georg lässt ihr Herz höher schlagen, und dann ist auch noch ihre beste Freundin Evi ungeplant schwanger – und das obwohl sie nicht verheiratet ist! Evi ist in höchster Not, denn ihr droht der Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft. Sie bittet Maria um Hilfe und bringt sie in einen schweren Konflikt. Noch bevor sich Maria zu einer Entscheidung durchringen kann, ist plötzlich Evis Leben in Gefahr, und Maria steht vor einer ungeahnten Herausforderung, in der es nicht mehr nur um das Wohl ihrer besten Freundin geht, sondern auch um das Leben so vieler Bergfrauen.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehrFolgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Registrieren Sie sich jetzt unter:
http://www.aufbau-verlage.de/newsletter
Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir
jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!
Linda Winterberg
Die Berghebamme – Tage der Liebe
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
1. Kapitel — 9. Juli 1896
2. Kapitel — 15. Juli 1896
3. Kapitel — 18. Juli 1896
4. Kapitel — 25. Juli 1896
5. Kapitel — 5. August 1896
6. Kapitel — 18. August 1896
7. Kapitel — 30. August 1896
8. Kapitel — 5. September 1896
9. Kapitel — 12. September 1896
10. Kapitel — 14. September 1896
11. Kapitel — 18. September 1896
12. Kapitel — Am selben Abend
13. Kapitel — 2. Oktober 1896
14. Kapitel — 17. Oktober 1896
15. Kapitel — Später am Tag
16. Kapitel — 22. Oktober 1896
17. Kapitel — 28. Oktober 1896
18. Kapitel — 4. November 1896
19. Kapitel — 6. November 1896
20. Kapitel — 18. November 1896
21. Kapitel — 7. Dezember 1896
22. Kapitel — 14. Dezember 1896
23. Kapitel — 24. Dezember 1896
24. Kapitel — 1. Januar 1897
25. Kapitel — 2. Januar 1897
26. Kapitel — 3. Januar 1897
27. Kapitel — Am selben Tag
28. Kapitel — 12. März 1897
29. Kapitel — Am selben Tag
30. Kapitel — 13. März 1897
31. Kapitel — 14. März 1897
32. Kapitel — 15. März 1897
33. Kapitel — 25. März 1897
34. Kapitel — 23. Juni 1897
Nachwort
Impressum
Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...
9. Juli 1896
Maria schob sich einen Bissen köstlichen Kaiserschmarrn in den Mund, und ihr Gesichtsausdruck wurde selig. Wie sehr sie diese süße Mehlspeise doch liebte. Und besonders gut schmeckte sie selbstverständlich auf einer Alm, umgeben von der herrlichen Berglandschaft. Sie ließ ihren Blick über den Wald hinweg ins Inntal hinabschweifen. Von hier oben sah der die Landschaft durchschneidende Fluss wie ein schimmerndes, lindgrünes Band aus. Über den Berggipfeln auf der anderen Seite des Tals türmten sich weiße Quellwolken auf. Blickte sie nach links, sah sie die beeindruckende Hochsalwand, unter deren felsigem Gipfel auf den sattgrünen Almwiesen einige Kühe grasten. Das Bimmeln ihrer Glocken war ein solch herrlich vertrautes Geräusch, begleitet vom plätschernden Wasser der nicht weit entfernt stehenden Viehtränke.
Maria nahm eine letzte Gabel voll und seufzte zufrieden. Das Essen stammte aus der Küche der Mailalm, deren Wirt Ägidius Pflunzer, den alle nur Egidi nannten, seit jeher die Hütte bewirtschaftete. Früher noch mit seiner Frau, doch seit einigen Jahren war er Witwer, seine drei Töchter hatte er erfolgreich verheiratet. In den Sommermonaten herrschte auf der Alm eine rege Betriebsamkeit, denn es zog mit jedem Jahr mehr Touristen auf den Wendelstein, und die Mailalm lag am Aufstiegsweg zu dem über eintausendachthundert Meter hohen Gipfel. Sein Anblick stellte für Maria noch immer den Inbegriff von Heimat dar. Das Wendelsteinhaus ein Stück unterhalb des Gipfelkreuzes war heute ihr Ziel, denn sie hatte von der Pächterin am Morgen einen Anruf erhalten. Rosa Krimbacher klagte über ein Ziehen im Rücken, das sie so nie zuvor verspürt hatte. Es könnte ein Fehlalarm sein, denn bei einer Schwangeren zwickte es gerne mal irgendwo, und Rosa war eine Erstgebärende. Aber es war besser, einmal umsonst da gewesen zu sein, als die werdende Mutter in dieser herausfordernden Situation allein zu lassen. Zu Marias Bedauern bedeutete das allerdings, dass sie den vier Stunden dauernden Aufstieg zum Wendelstein zu bewältigen hatte, und das übermüdet, denn sie hatte um vier Uhr morgens das fünfte Kind, einen gesunden Buben, der Jungbäuerin vom Schachlhof auf die Welt geholt. Aber so war nun einmal das Leben einer Dorfhebamme in dieser gebirgigen Region. Zusätzlich zu den Schwangeren in ihrem Heimatort Brannenburg betreute sie auch noch die Sennerinnen auf den umliegenden Almen. Längere Ruhepausen gab es da nur selten. Eigentlich sollte Rosa für die Geburt ins Tal kommen, doch dann hatte eine ihrer Aushilfen auf der Hütte kurzfristig gekündigt, und der werdende Vater hatte sich das Handgelenk gebrochen, weshalb er im Betrieb kaum noch eine Hilfe darstellte. Und die noch recht rüstige Oma Dete wollte Rosa nicht mit der ganzen Arbeit allein lassen. Und davon gab es in dem hoch gelegenen Wendelsteinhaus reichlich, Rosa hatte etwas von einer größeren Gesellschaft aus Berlin gesagt, die am Abend eintreffen wollte und der sie auf die Schnelle nicht mehr absagen konnte.
Der beschwerliche, wenn auch wunderschöne Aufstieg hatte Maria zu ihrer kurzen Einkehr auf der Mailalm verleitet. Egidi kam nun aus der Hütte und setzte sich neben sie auf die Hausbank. Der Sechzigjährige brachte Küchengerüche mit. Er trug ein Leinenhemd, eine braune Stoffhose dazu, als Schürze diente ihm ein blaues Geschirrtuch. Er holte eine Schnupftabakdose hervor, genehmigte sich einen ordentlichen Schnupf und nieste kräftig. Sogleich hing der Geruch von Pfefferminz in der schwülwarmen Luft. Maria würde nie verstehen, wieso Menschen Gefallen daran fanden. Sie hatte es ein einziges Mal probiert, und danach hatte ihr eine halbe Stunde lang die Nase gebrannt, niemals wieder würde sie dieses Teufelszeug anrühren.
»Also wenn du mich fragst, dann kommt heut noch ein Gewitter. Richtung Westen ist es schon ganz diesig«, sagte Egidi. »Aber eines von den kräftigen, das hab ich im Urin. Ich an deiner Stelle würd besser zusehen, dass ich weiterkomm. Wenn so ein Wetter übers Mangfalltal reinkommt, dann kann’s heftig werden, und bisher ist vom Erler Wind nix zu merken.«
Seine Aussage besorgte Maria. Wenn sie eines gelernt hatte, dann, dass Mutmaßungen der Älteren über das Wetter stets ernst zu nehmen waren. Auch ihre Hausmamsell Burgi hatte kurz vor ihrem Aufbruch Ähnliches vermutet.
»Schwül genug wäre es«, antwortete sie. »Aber vielleicht haben wir ja Glück, und der Erler Wind frischt doch noch auf und verhindert das Schlimmste. Er ist doch unser Glücksbringer.«
»Ja, das ist er wohl«, stimmte ihr der alte Wirt zu. »Dieses Windphänomen hat der Herrgott gut eingerichtet. Aber verlassen kann man sich halt nie drauf.«
Stimmen waren nun zu hören, und nur wenige Augenblicke später sahen sie auf dem geschotterten Weg die dazugehörenden Personen. Es war eine größere Gruppe Wanderer, vermutlich die Gesellschaft aus Berlin, von der Rosa gesprochen hatte. Die Mehrzahl waren Männer, es befanden sich aber auch einige Damen unter ihnen. Die Ersten blieben vor der Hütte stehen, nahmen ihre Hüte ab und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Ein Mann war sehr rotwangig, eine Frau blieb stehen und japste so arg nach Luft, als würde sie ersticken. Eine weitere Frau neben ihr fächelte ihr mit ihrem Hut Luft zu.
»Meine Güte, was für ein Anstieg«, hörte Maria einen der Männer sagen.
»Diese Alm scheint bewirtschaftet«, meinte ein anderer.
»Ich glaube, du wirst jetzt gleich reichlich zu tun haben«, merkte Maria an und tupfte sich den Mund ab.
Egidi seufzte tief und antwortete wenig begeistert: »Sieht danach aus.«
Maria grinste. Sie wusste, dass der alte Hüttenwirt nicht sonderlich gut mit den Fremden konnte, auch wenn sie ihm zusätzliche Einnahmen brachten.
»Ich seh dann mal zu, dass ich weiterkomme, ich hab mich eh schon viel zu lange aufgehalten«, sagte sie und erhob sich. »Danke noch mal für den Kaiserschmarrn.« Sie nahm ihren Hebammenkoffer, schnallte ihn sich auf den Rücken und verabschiedete sich von Egidi.
Eine Weile darauf hatte Maria den größten Teil des Weges zurückgelegt. Der Bergwald hatte sich nun endgültig gelichtet, und es ging über einen schmalen und steinigen Weg steil bergauf. Unter ihr im Wiesengrund lag die Reindleralm, dahinter konnte man weit ins Tal blicken. Bedauerlicherweise schien Egidi mit seiner Wettervorhersage recht zu behalten. Eine bedrohlich aussehende dunkle Wolkenwand hatte sich innerhalb kürzester Zeit wie aus dem Nichts aufgebaut, und leider wehte auch weiterhin kein Lüftchen. Es war so schwül, Marias Bluse klebte an ihrem Leib, und der Schweiß rann ihr in Strömen über das Gesicht und unter ihrem knöchellangen Rock die Beine hinunter. Mehrfach hatte sie bereits stehen bleiben und aus ihrer Wasserflasche trinken müssen, die sie erst vor einer halben Stunde an einem Gebirgsbach wieder aufgefüllt hatte. Ihr kastanienbraunes, zu einem Zopf geflochtenes Haar war im Nacken feucht. Ein entferntes Donnergrollen drang an ihr Ohr, und Maria stieß einen Seufzer aus.
»Ich hätte Rosa doch darum bitten sollen, für die Geburt ins Tal zu kommen, Almbetrieb hin oder her. Das hab ich jetzt von meiner Gutmütigkeit«, sagte sie laut und setzte sich wieder in Bewegung.
An der nächsten Wegbiegung geschah dann das Unglück. Sie erwischte eine der in den Weg eingearbeiteten Steinstufen nicht richtig, trat auf einen größeren Schotterstein und knickte mit dem rechten Fuß um. Ein stechender Schmerz traf sie mit voller Wucht und ließ sie mit einem Aufschrei zu Boden sinken. Einen Moment lang verharrte sie wie gelähmt in dieser Position. Der Schreck saß tief.
»Herrgott! Ich kann nicht mal schauen, wo ich hinlaufe«, schalt sie sich selbst. Sie setzte sich auf die Stufe und begann, vorsichtig ihren Fuß abzutasten. Jetzt, wo sie saß, ließ der Schmerz zum Glück nach. Vielleicht würde er, wenn sie sich etwas ausruhte, noch erträglicher werden. Den Schuh traute sie sich nicht auszuziehen, denn aus Erfahrung wusste sie, dass durch das Nachlassen des Drucks Schwellungen schlimmer werden konnten. Erneut grummelte es in der Ferne, und sie richtete ihren Blick auf die sich unerbittlich nähernde Schlechtwetterfront.
»Es hilft nichts, ich muss hier weg«, sagte sie. »Irgendwie wird es schon gehen.«
Sie schnallte sich ihren Hebammenkoffer mit zittrigen Händen wieder auf den Rücken und stand etwas wackelig auf. Vorsichtig setzte sie den rechten Fuß auf den Boden. Erneut durchzuckte ihn dieser stechende Schmerz, und sie hob das Bein wieder an. Um das Gleichgewicht zu halten, ruderte sie mit den Armen. »Verflucht nochmal!«, schimpfte sie und setzte sich wieder auf die Stufe. Der wehe Fuß pochte abscheulich. Wie sollte sie denn jetzt auf diesen Berg raufkommen?
»Ab heute gibt es keine Geburten auf Almen mehr«, murmelte sie. »Sollen alle runterkommen und so lange im Tal bleiben, bis das Wochenbett vorüber ist, diese sturen Weiber. Dann muss die Arbeit halt mal jemand anderes machen.«
Einige Minuten blieb Maria einfach so sitzen, in der Hoffnung, der Knöchel würde sich von allein wieder beruhigen, und betrachtete die dunkle Wolkenwand. In der Ferne sah es so aus, als würde es bereits regnen. Irgendwann ließ das Pochen tatsächlich etwas nach, und sie schöpfte erneut Hoffnung. Vielleicht war es ja doch gar nicht so schlimm. Den Großteil des Weges hatte sie bereits zurückgelegt, von hier aus war es nicht mehr ganz so weit bis zur Hütte. Sie musste es irgendwie schaffen. Ihre Gedanken wanderten zu Rosa, und sie hoffte, dass es ein Fehlalarm gewesen war und die sture Sennerin nicht ganz allein mit starken Wehen kämpfen oder gar das Kind ohne ihre Hilfe zur Welt bringen musste. Immerhin hätte sie die pragmatische Oma Dete an ihrer Seite, zwölffache Mutter und mehrfache Großmutter. Sie würde schon wissen, was zu tun war.
Ein noch lauteres Grollen ließ sie alarmiert Richtung Tal blicken. Die düstere Wolkenfront wurde plötzlich von einem Blitz erhellt, und es folgte ein lauter Donner.
Es hilft nichts, dachte sie. Wenn ich nicht im Unwetter sitzen will, muss ich weiter. Und der Erler Wind weht auch nicht, wenn man ihn mal dringend braucht.
Sie erhob sich erneut und versuchte aufzutreten. Es tat abscheulich weh, war aber auszuhalten.
Langsam humpelnd setzte sie ihren Weg fort. Doch nach einem kurzen Stück blieb sie erschöpft stehen und betrachtete entmutigt den steilen Steig.
Ich schaffe das nicht, dachte sie, es ist doch zu weit. Warum musste das gerade jetzt passieren? Sie hätte sich vom Egidi nicht zu einer Pause überreden lassen sollen. Das hatte sie nun davon. Hunger sollte für Hebammen kein Hindernis darstellen und Müdigkeit auch nicht, sagte sie sich grimmig.
Erste Regentropfen streiften ihr Gesicht, und der nächste Donner hörte sich noch bedrohlicher an. Bald würde es hier oben äußerst ungemütlich werden. Sie musste irgendwo Schutz suchen und von dem Weg runter. Aber wo sollte sie hin? Neben ihr ging es steil bergab, und auf der anderen Seite befand sich ein von Felsen durchsetzter Hang.
Da hörte sie plötzlich Schritte und wandte sich um. Hinter der letzten Biegung war ein blonder Mann hervorgekommen. Er trug knielange Lederhosen und ein Trachtenhemd, die Ärmel hatte er hochgekrempelt. Auf seinem Kopf lag ein Tirolerhut. Als er Maria erreichte, blieb er stehen und sah besorgt aus. Maria war noch nie so froh darüber gewesen, einem Wanderer zu begegnen, wie in diesem Augenblick. Vor Erleichterung hätte sie heulen können. Trotz ihrer misslichen Lage fiel ihr auf, wie gut aussehend er war. Der Mann hatte strahlend blaue Augen, ebenmäßige Gesichtszüge, ein markantes Kinn und trug einen Schnauzbart. Nur seine Nase mit dem kleinen Höcker war etwas zu lang geraten, verlieh seinem Gesicht aber einen ganz eigenen Charakter.
Er grüßte und erkundigte sich nach Marias Befinden.
»Sie sehen mitgenommen aus. Kann ich Ihnen behilflich sein? Was führt Sie denn bei solch einem Wetter auf den Berg hinauf?«
Maria erklärte ihr Problem, und sein Blick fiel auf ihren rechten Fuß.
»Ach du je«, sagte er. »Ich kann mir den Knöchel gerne ansehen. Ich bin Arzt.«
Verdutzt wiederholte Maria: »Arzt …«
»Ich bin vor drei Tagen aus München angereist und werde die vakante Stelle von Doktor Danzinger in Brannenburg übernehmen.«
»Dann werden wir in der nächsten Zeit häufiger miteinander zu tun haben«, erwiderte Maria, die kaum glauben konnte, was sie eben gehört hatte. Dieser gut aussehende Mann wurde ihr neuer Landarzt? Sie hatten dringend einen Nachfolger gebraucht, und mit diesem Mann wohl mehr als Glück gehabt.
Plötzlich durchfuhr sie eine Form von Nervosität, wie sie sie lange nicht mehr gefühlt hatte. Ein flattriges Gefühl, das ihre Zunge zu lähmen schien. Sie schluckte, um diese seltsam ungewohnte Empfindung loszuwerden.
»Ich bin die ortsansässige Dorfhebamme. Und auf dem Weg zu einer Erstgebärenden.«
»Dachte ich mir bereits«, antwortete er und deutete lächelnd auf den Hebammenkoffer. »Aber ich denke, wir müssen ein anderes Mal weiterplaudern.« Sein Blick wanderte zu der düsteren Gewitterwand über dem Tal. »Das könnte übel werden, und ich sehe hier weit und breit keinen Unterschlupf. Können Sie wenigstens etwas auftreten? Wird es denn gehen, wenn ich Sie stütze?«
»Ein wenig Auftreten geht, es tut nur sehr weh. Aber mit Ihrer Hilfe könnte es funktionieren.«
»Gut, dann los«, antwortete er, trat näher und nahm ihren Hebammenkoffer auf. »Wenn alle Stricke reißen, dann nehme ich Sie Huckepack.«
Er schnallte sich den Koffer auf den Rücken und legte den Arm um Marias Taille. Sein starker Griff vermittelte ihr das Gefühl von Sicherheit. Er roch nach Tabak und Rasierseife. Sie spürte seinen Atem an ihrer Wange, und ein Schaudern durchflutete ihren Körper. In Gedanken zwang sie sich zur Ordnung, während sie versuchte, immerhin mit der Zehenspitze etwas aufzutreten, was zum Glück mit seiner Unterstützung gelang. Sie würde mit ihm professionell zusammenarbeiten müssen. Empfindungen dieser Sorte hatte sie sich zu verbieten.
Mit seiner Hilfe schaffte sie es tatsächlich, einigermaßen voranzukommen. Und zu ihrer Erleichterung schien nun das kleine Wetterwunder namens Erler Wind doch noch in Erscheinung zu treten. Es sah danach aus, als sorgte er dafür, dass sich das Gewitter ihnen nicht weiter näherte und die düsteren Wolken Richtung Osten abdrifteten. Immerhin dieser Kelch schien an ihnen vorüberzugehen.
Etwas später konnten sie bereits die kleine Wendelsteinkirche sehen, die höchstgelegene Kirche Deutschlands. Wenn man dem Himmel also besonders nah sein wollte, dann kam man am besten hier herauf. Und als ob der Herrgott gewusst hatte, dass sie gerade jetzt eine besondere Aufmunterung benötigte, riss in diesem Moment die Wolkendecke über ihnen auf, und ein Sonnenstrahl fiel direkt auf das Gotteshaus. Es schien wie ein Wunder, und sie blieben schweigend einen Moment stehen und betrachteten andächtig das Schauspiel.
»Wie wunderschön es doch ist«, sagte Georg. »Ein Geschenk des Himmels.«
Maria nickte und fügte hinzu: »Und des Erler Winds.«
»Ja, vermutlich. Mir gefällt Himmel irgendwie besser«, erwiderte er lachend und hielt für einen Moment ihren Blick fest, was für ein prickelndes Gefühl in Marias Magen sorgte.
»Ich glaube, wir hatten in der Eile ganz vergessen, uns einander vorzustellen. Ich heiße Georg Saller.«
Er hielt ihr seine Hand hin. Maria ergriff sie und nannte ihren Namen.
»Es ist schön, dich kennenzulernen, Maria Roßacker«, erwiderte er und hielt ihre Hand einen Moment länger fest als notwendig, oder bildete sie sich das nur ein?
Als sie bald darauf das unweit der Kirche gelegene Wendelsteinhaus erreichten, wurden sie von Oma Dete in Empfang genommen, die ihnen mitteilte, dass ihr Enkelsohn bereits vor zwei Stunden gesund und munter das Licht der Welt erblickt hatte. Mutter und Sohn waren wohlauf.
15. Juli 1896
Die Anzeichen könnten schon auf eine erneute Schwangerschaft hindeuten«, sagte Maria und wusch sich die Hände in einer Waschschüssel. »Übelkeit und Schwindel plagten dich bisher bei jeder Schwangerschaft. Du wärst nicht die Erste, die wenige Wochen nach der Entbindung erneut ein Kind erwartet. Ich gratuliere dir.«
Iris seufzte. Sie setzte sich wieder auf und richtete ihren Rock. Ihre Miene zeigte keine Freude, sie sah mitgenommen aus, was Maria gut verstehen konnte. Eine erneute Schwangerschaft so kurz nach einer Geburt war belastend. Aber gewiss würde Iris sich bald auch auf dieses Kindchen freuen.
»Vielleicht wird es dieses Mal ja endlich ein Mädchen für deinen Männerhaushalt«, versuchte Maria sie aufzumuntern.
Sie wusste, dass solche Neuigkeiten manchmal etwas Zeit brauchten, um verdaut zu werden. Apropos Verdauung. »Was machen denn deine Buben? Geht es allen gut? Ich hoffe, das Bauchweh des Kleinen hat sich gebessert. Wie alt ist er jetzt? Zehn Wochen?« Ein rascher Blick in Iris Zaisserers Akte bestätigte ihre Schätzung.
»Er weint noch immer viel«, antwortete Iris.
Die beiden Frauen befanden sich in Marias Hebammensprechzimmer auf dem Bichlhof. Das von ihr und ihrer Hausmamsell Burgi bewohnte Gebäude war das Zuhäusl des stattlichen Bauernhofs, der von der Familie Maierhofer bereits in der dritten Generation bewohnt wurde. Das zweistöckige Haus war aus dem für die Region typischen Nagelfluh-Gestein gebaut, der im Ortsteil Degerndorf in den Steinbrüchen auf der Biber bereits seit tausend Jahren abgebaut wurde und den Brannenburgern ein gutes Auskommen sicherte. Marias Arbeitsbereich lag im Erdgeschoss des Gebäudes, rechter Hand der gemütlichen Wohnstube, und war heimelig eingerichtet, damit sich die Frauen bei ihr wohlfühlten. An den Fenstern hingen von Burgi gehäkelte Gardinen, auf dem alten Dielenboden lag ein bunter Flickenteppich, und an den weiß getünchten Wänden befanden sich hübsche Landschaftsmalereien aus der Region, die Maria von einer Schwangeren erhalten hatte, die als Künstlerin einige Monate in Brannenburg verweilt und deren Sohn sie gesund auf die Welt geholt hatte. An kalten Tagen sorgte ein Petroleumofen für wohlige Wärme.
Iris war mit einem Steinmetz verheiratet und im letzten Jahr fünfundzwanzig Jahre alt geworden. Die drei Schwangerschaften waren nicht spurlos an der blonden jungen Frau vorübergegangen. Sie war mit jedem Kind etwas fülliger geworden, was ihr jedoch nach Marias Meinung gut zu Gesicht stand. Sie konnte sich noch gut an ihre erste Begegnung erinnern, die unter keinem guten Stern gestanden hatte, denn Iris war mit einer schweren Infektion zu ihr gekommen, die sie beinahe das Leben gekostet hätte. Damals hatte sich Maria noch gegen ihre Vorgängerin Alma durchsetzen müssen, die gar nicht davon begeistert gewesen war, aufs Altenteil geschickt zu werden. Am Ende hatte sie die Entscheidung des Gemeinderates dann doch akzeptiert und Maria das Feld überlassen – dem einstigen Findelkind, das es trotz aller Schwierigkeiten, die sich einem elternlosen Menschen in dieser Welt entgegenstellten, zu etwas gebracht hatte. Nun durfte sie ihren Traum, Hebamme zu sein, jeden Tag leben.
»Bestimmt werden sich die Koliken bald geben«, tröstete Maria. »In der Regel stellt sich nach den ersten drei Monaten eine Besserung ein.«
»Wollen wir es hoffen. Der Johannes hat das erste halbe Jahr stundenlang geschrien, das war furchtbar, dazu noch der Tod von der Mutter …« Iris winkte ab. »Und jetzt sieht es so aus, als käme bald noch ein Butzerl. Ich freu mich schon, aber ein bisserl mehr Zeit zwischen den Schwangerschaften wäre schon gut gewesen.«
»Ja, manchmal kann es mit dem nächsten Kind recht schnell gehen«, erwiderte Maria. »Aber wir werden das schon hinbekommen. Gegen Übelkeit hilft das Kauen von Sonnenblumenkernen ganz gut. Aber das weißt du ja längst. Sollten doch noch Blutungen auftreten, dann melde dich bitte bei mir.«
»Mach ich, fest versprochen«, antwortete Iris und stand auf. »Mei, das wird was werden, wenn ich meinem Hans sag, dass ich wieder in anderen Umständen bin. Auf den Blick bin ich jetzt schon gespannt. Und du hast recht, ein Madl wäre nach den vielen Buben eine Freud. Mal sehen, vielleicht hab ich ja Glück.«
Nachdem Iris das Sprechzimmer verlassen hatte, streckte sich Maria gähnend. Es war mal wieder ein langer Tag gewesen. Um drei Uhr morgens war sie von einer Magd zu einer Geburt gerufen worden, seit ihrer Rückkehr am Vormittag hielt sie durchgehend ihre Sprechstunde ab.
Im nächsten Moment knurrte ihr Magen in einer bemerkenswerten Lautstärke, und sie schaute auf die Uhr. Es war bereits vier Uhr nachmittags, und sie hatte kaum etwas gegessen. Es war eindeutig Zeit für eine Pause, und vielleicht konnte sie sich heute sogar einen ausgiebigen Feierabend gönnen. Es wäre ein Segen.
Sie humpelte nach draußen, wo sie Burgi auf der Hausbank antraf, wo sie sich mit Sockenstopfen beschäftigte. Neben einem großen Berg löchriger Strümpfe stand zu Marias Freude eine Kuchenplatte mit Zwetschgendatschi im Schatten eines Sonnenschirms. Es war ein warmer Sommertag, zum Glück ohne Schwüle, am Himmel und über den Bergen hingen nur wenige Quellwolken.
Burgi Danner war seit ihrem Dienstantritt an ihrer Seite und für Maria rasch zu einer Freundin geworden, die sie nicht mehr missen wollte. Erst vor Kurzem hatten sie gemeinsam mit vielen Freunden ihren achtundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Ihr früher braunes Haar, das sie stets zu einem Dutt hochgesteckt am Hinterkopf trug, war inzwischen vollständig ergraut. Sie war zuverlässig, nur Alkohol vertrug sie überhaupt nicht, weshalb in ihrem Haus selten Hochprozentiges zu finden war. Ein Glas Obstler, und Burgi wurde unberechenbar.
Burgi ließ ihr Nähzeug sinken und schenkte Maria einen mitleidigen Blick.
»Komm, setz dich her, Madl«, sagte sie und rückte den Sockenstapel zur Seite. »Jetzt iss erst einmal was und trink ein Haferl Kaffee mit reichlich Milch und Zucker, dann schaut die Welt bestimmt wieder besser aus. Heute war aber auch wieder ein Betrieb. Hoffentlich kehrt jetzt mal Ruhe ein. Was macht der Fuß?«
Maria ließ sich neben Burgi auf die Hausbank fallen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie erschöpft sie wirklich war.
»Der Fuß geht so«, antwortete sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so lange dauert. Es ist doch bloß eine Verstauchung.«
»Aber du schonst dich ja auch überhaupt nicht«, gab Burgi zu bedenken und stellte ein gefülltes Kaffeehaferl vor Maria, es folgte ein Teller mit gleich zwei Stücken Zwetschgendatschi darauf.
»Wie soll ich das deiner Meinung nach denn machen, wenn andauernd Kundschaft auftaucht oder ich zu Geburten gerufen werde? Zum Glück war keine Alm mehr dabei«, entgegnete Maria und nippte an ihrem Kaffee. Auf ihrem Kuchenteller landete eine Wespe, die sie sogleich mit der Hand verscheuchte. Die Viecher waren in diesem Sommer die reinste Plage.
»Also ich halte es ja nach wie vor für eine Unsitte, dass die Sennerinnen für die Geburten nicht ins Tal kommen«, echauffierte sich Burgi mal wieder. »Da müsste der Gemeinderat eingreifen und neue Regelungen aufstellen. Es geht hier schließlich um die Sicherheit von Mutter und Kind. Im Notfall kommt einem irgendwo im Nirgendwo so schnell kein Arzt zu Hilfe, und du als Hebamme kannst auch nicht immer rechtzeitig zur Stelle sein.«
Burgis Worte sorgten dafür, dass Maria an den neuen Arzt Georg Saller denken musste, und in ihrem Inneren breitete sich wieder dieses flirrende Gefühl aus. Ihr hatte zum Glück irgendwo im Nirgendwo ein Arzt Beistand geleistet. Und er hatte sie sogar am nächsten Morgen gemeinsam mit einem Knecht vom Berg hinabgeleitet. Auf einem Lastenesel sitzend, war sie sicher ins Tal gebracht worden.
»Max hat es doch schon mehrfach versucht«, antwortete Maria mit vollem Mund. Sie schluckte das Stück Kuchen hinunter. »Aber so recht will keines der Mannsbilder das Problem wahrhaben. Einer von ihnen meinte zuletzt sogar, dass die Sennerinnen doch mit allen Wassern gewaschen seien und ihre Geburten denen der Kühe ähneln würden, und die bekämen es auch ganz gut allein hin, ihre Kälber zu werfen.«
»So was kann nur von einem Mann kommen«, erwiderte Burgi und rollte die Augen. »Es wird Zeit, dass sich was ändert und wir Frauen bei solchen Entscheidungen mehr Mitspracherechte bekommen. Dem Trottel würde ich gerne mal für ein paar Stunden ein paar heftige Geburtswehen angedeihen lassen, dann redet der bestimmt ganz anders daher. Aber weil du gerade Max erwähnst: Bei der Gundel im Laden hab ich gestern aufgeschnappt, dass er sich für die nächste Bürgermeisterwahl nicht mehr aufstellen lassen will. Hat er da schon mit dir schon drüber geredet?«
Maria hatte geahnt, dass die Entscheidung ihres Kindheitsfreundes Max Antretter, nicht mehr für das hohe Amt zu kandidieren, bald die Runde machen würde. Aber dass es nun so schnell gehen würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Max war der Grund dafür, weshalb sie aus München in den Ort ihrer Kindheit heimgekehrt war, denn er hatte sie darum gebeten, Almas Nachfolge anzutreten. Nach ihrer Rückkehr nach Brannenburg war damals ihr Miteinander komplett verändert gewesen. Sie waren beide erwachsen geworden und hatten sich plötzlich zueinander hingezogen gefühlt. Doch Max war mit Annemarie verheiratet gewesen, eine arrangierte Heirat, die ihn aber nie geliebt hatte. Trotzdem war sie auf Maria eifersüchtig gewesen, was nur verständlich gewesen war. Ihr Tod im Kindbett war das größte Drama in Marias bisherigem Leben gewesen. Max hatte sie nach Brannenburg geholt, um Annemarie vor Almas veralteten Praktiken, die Hygiene betreffend, zu beschützen, doch letztlich hatte Maria sie nicht retten können. Sie war nach der Geburt verblutet.
Vor diesem schrecklichen Schicksalsschlag waren da plötzlich diese neuen Gefühle zwischen Max und Maria gewesen. Sie waren jedoch in den Hintergrund getreten, als das furchtbare Unglück geschah, das Annemarie das Leben kostete. Max und Maria hatten schließlich einen Weg gefunden, um den Schmerz zu verarbeiten, und ihre Freundschaft war dadurch noch inniger geworden. Doch dies hatte Zeit gebraucht und ihre Beziehung verändert. Max war einer der wichtigsten Menschen in Marias Leben geblieben, doch romantische Gefühle empfanden sie heute nicht mehr füreinander. Max hatte vor zwei Jahren wieder geheiratet, eine Tochter der Astenbauern. Juliane war eine Seele von Mensch, und Maria verstand sich ausgezeichnet mit ihr. Im letzten Jahr hatte sie sie von einer gesunden Tochter entbunden, und das nächste Kind der beiden war bereits unterwegs.
Maria wollte Burgi Antwort geben, kam jedoch nicht mehr dazu, denn es näherte sich ihnen eine junge Frau mit blondem geflochtenem Zopf. Es war Marias beste Freundin Evi, die noch als Magd auf einem nicht weit entfernten Hof arbeitete, ehe sie in wenigen Wochen den Sohn des ortsansässigen Sattlers Bartl heiraten würde. Die beiden waren sich beim letzten Tanz in den Mai nähergekommen, und bald darauf hatte der Bartl Evi einen Antrag gemacht. Dass er zwölf Jahre älter als sie war, störte sie nicht sonderlich, denn er war für seine Mitte dreißig noch recht ansehnlich, nur die Haare auf seinem Kopf fehlten ihm schon arg, aber darüber sah Evi großzügig hinweg. Für sie war die Heirat ein Segen, bedeutete sie doch einen gesellschaftlichen Aufstieg. Es gab nur mal wieder ein Problem, das sie in ähnlicher Form mit Evi schon einmal erlebt hatte: Sie war mit Bartl bereits intim geworden, und dieses Mal erwartete sie tatsächlich ein Kind. Allerdings sah es zum Glück nicht danach aus, als würde sie von ihrem Verlobten sitzengelassen werden, und wenn sie in wenigen Wochen seine Frau war, krähte sowieso kein Hahn mehr nach dem genauen Zeugungsdatum des Kindes.
»Grüß Gott, Evi«, sagte Burgi und bot ihrem unverhofften Gast ein Stück Zwetschgendatschi an.
»Den hab ich heute früh gebacken, und der Hefeteig ist mir dieses Mal besonders gut gelungen. Der ist so aufgegangen, ich hab schon gedacht, der springt mir aus der Schüssel und geht gleich spazieren.«
»Das klingt gut«, antwortete Evi und setzte sich ihnen gegenüber auf die Bank. »Aber mir ist mal wieder so fürchterlich übel, auf dem Weg hierher hab ich schon wieder speiben müssen. Ist das denn noch normal, Maria?«, wandte sie sich an ihre Freundin. »Ich hab mir gedacht, es ist einem immer bloß morgens schlecht.« Im nächsten Moment hielt sie sich die Hand vor den Mund, sprang auf und eilte in ihrer Not zum nahen Wiesenrand, wo sie fürchterlich zu würgen begann. Maria befiel Mitleid, und sie humpelte neben ihre Freundin, hielt ihr den geflochtenen Zopf nach hinten und strich ihr tröstend über den Rücken. Evis gesamter Körper bebte, sie weinte vor Verzweiflung, und Tränen tropften zwischen die blühenden Margeriten. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, griff Maria sie unter dem Arm und führte sie zurück zur Hausbank. Burgi reichte ihr mit mitfühlendem Blick ein Taschentuch.
»Nur bisserl zerknittert«, entschuldigte sich für das verkrumpelte Aussehen des karierten Stoffstücks.
Evi putzte sich die Nase und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Vielleicht ist das ja ein schlimmes Zeichen, und es stimmt etwas mit mir und dem Kind nicht. Am Ende bestraft mich der Herrgott noch für meine Sünde. Recht hat er damit. Ich Dummerl hätte mich vom Bartl nicht dazu drängen lassen sollen. Das hab ich jetzt davon.« Erneut kullerten Tränen über ihre Wangen, und Maria seufzte innerlich. Gerade Evi hätte aus ihrer Erfahrung eigentlich klug werden müssen. Aber sie konnte auch leicht reden, war sie selbst ja noch nie in solch einer Situation mit einem Mann gewesen. Und Evi war nicht die einzige Frau Brannenburgs, die mit einem Braten in der Röhre zum Traualtar schritt. In den letzten Jahren hatte Maria mehrere solche Fälle miterlebt, und sie wusste mindestens von zwei Fällen, in denen dem stolzen Papa ein Kuckuckskind untergejubelt worden war. Doch als Hebamme war sie selbstverständlich zum Stillschweigen verurteilt.
»Also mit Schwangerschaftsübelkeit ist vom Herrgott bestimmt noch nie jemand bestraft worden«, beschwichtigte sie und setzte sich neben Evi. »Manches Mal kommt es vor, dass Frauen von einer schlimmeren Übelkeit befallen werden. Dem Kind schadet das aber aus Erfahrung nicht. Viel können wir nicht tun, um sie zu lindern. Ich kann dir gerne einen magenschonenden Kräutertee mitgeben, das Kauen von Sonnenblumenkernen oder Haselnüssen hat sich ebenfalls bewährt, und du solltest, wenn du etwas zu dir nimmst, darauf achten, dass es kleinere Portionen sind und das Essen nicht zu fettig ist.«
»Im Moment esse ich so gut wie gar nichts«, erwiderte Evi. »Alles kommt wieder raus. Auf dem Hof hab ich gesagt, dass ich eine Magenverstimmung hab, aber die alte Bäuerin schaut mich seit Neuestem immer so komisch an. Die ahnt bestimmt etwas. Am End tratscht sie ihre Vermutung weiter. Weißt doch, wie das Gerede ist. Schneller, als man schauen kann, ist man eine Schlampe.«
Maria musste Evi in dieser Hinsicht leider recht geben. Wenn ein solches Gerücht mal die Runde machte, dann war es schwer wieder einzufangen. Außerdem war es in Evis Fall ja nicht bloß ein Gerücht, sondern eine Tatsache. Es war eine verzwickte Angelegenheit. Sie mussten irgendwie einen Ausweg finden. Dass sich Evis heftige Übelkeit durch ihren Kräutertee und das Kauen von Sonnenblumenkernen komplett einstellen würde, bezweifelte Maria.
»Und was wäre, wenn du deine Anstellung kündigst und bis zur Hochzeit bei uns unterschlüpfst?«, schlug Burgi spontan vor. Die jungen Frauen sahen sie überrascht an, und beiden fehlten für einen Moment die Worte.
»Was schaut’s ihr denn jetzt so deppert?«, rügte Burgi sie. »Wenn das Madl nicht mehr auf dem Hof ist, dann kann auch keine Tratscherei entstehen. Und bis zur Hochzeit ist ja nicht mehr lang hin. Musst halt auf dem Kanapee in der Stube schlafen, aber das ist recht gemütlich. Ich koch dir auch gern einen Kräutertee und mach dir einen Haferschleim. Der ist bei einem verdrehten Magen ja auch immer hilfreich.«
»Das ist gar keine dumme Idee«, war es Maria, die als Erste auf Burgis Vorschlag reagierte. »Was meinst du, Evi?« Sie sah ihre Freundin fragend an.
»Ja, das klingt ganz gut«, antwortete Evi zögerlich. »Ich hab sowieso das Gefühl, dass die Bäuerin mit meiner Arbeit nicht mehr so zufrieden ist, seitdem mir andauernd schlecht ist.«
»Also wenn dein Zustand so bleibt, wirst du ihr vermutlich keine allzu große Hilfe sein«, merkte Burgi an.
Evi musste ihr zustimmen.
»Und ich bin euch wirklich keine Last?«, hakte sie noch einmal nach. »Ich mein, ihr habt doch immer so viel zu tun.«
»Bisserl wirst mir schon zur Hand gehen können«, entgegnete Burgi. »Und da die Maria immer noch am Humpeln ist, kann ich eine zusätzliche Hilfe im Haus ganz gut gebrauchen. Unser Marillenbaum hängt bis oben hin voll. Wenn es dir einigermaßen gut geht, dann kannst mir beim Ernten und Einmachen helfen.«
Sie deutete auf einen Obstbaum neben dem Haus. Einige Zweige trugen so schwer an ihrer Last, dass sie fast bis zum Boden hingen.
»Dann ist es abgemacht«, sagte Evi. »Das ist so lieb von euch beiden, dass ihr mir helft.« Sie fiel nun zuerst Maria und dann Burgi um den Hals und begann erneut zu weinen, dieses Mal jedoch vor Freude.
18. Juli 1896
Entschlossen lehnte Maria die Holzleiter an den Marillenbaum im Garten, prüfte deren Standfestigkeit und zeigte sich mit dem Ergebnis zufrieden. Ihrem Aufstieg stand nichts mehr im Wege. Wäre da nicht die zweifelnde Evi neben ihr.
»Und du denkst wirklich, dass das mit deinem wehen Fuß eine gute Idee ist?«, fragte sie.
»Aber ich steh doch bloß auf einer Leiter und pflück Marillen vom Baum. Das geht schon. Außerdem tut der Knöchel heute gar nicht mehr so weh«, entgegnete Maria und hängte sich einen Korb über den Arm. »Und dich kann ich ja schlecht auf den Baum raufschicken, du bist doch immer noch andauernd am Spucken. Erst vorhin hast du deinen Tee wieder hochgebracht, und dein Frühstück ist auch nicht dringeblieben. Da bleibst du lieber schön auf festem Untergrund und pflückst die Früchte von den unteren Zweigen.«
»Aber Burgi könnte doch auch den Baum raufkraxeln«, schlug Evi vor. »Sie hat keine Verletzung, und übel ist ihr auch nicht.«
»Das ist keine gute Idee«, erwiderte Maria. »Burgi ist nicht für Ausflüge auf Bäume geeignet. Ihr wird schon schwindelig, wenn sie die Leiter bloß anschaut. Seitdem wir zusammenwohnen, hat sie es einmal probiert, und bereits auf der Hälfte der Leiter ist sie kreideweiß im Gesicht geworden. Es hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert und viel gutes Zureden gebraucht, sie wieder runterzubekommen, weil sie vor lauter Angst wie erstarrt war. Später hat sie mir erzählt, dass eine ihrer Tanten bei der Obsternte an einer Leiter abgerutscht ist und sich so verletzt hat, dass sie zeit ihres Lebens nicht mehr gerade laufen konnte. Seitdem steigt sie höchstens noch auf Hocker und Stühle, und das auch nur, wenn es unbedingt sein muss. Es ist also besser, wenn sie in der Küche bleibt und die Marillen einkocht.«
»Wenn sie da wenigstens wäre«, meinte Evi. »Seit Stunden ist sie schon weg, derweil wollte sie doch bloß schnell ein bisserl Zucker kaufen. Bestimmt ist die wieder irgendwo auf einer Hausbank hängen geblieben.«
»Wäre möglich«, antwortete Maria. Sie ließ sich dazu hinreißen, eine der Früchte vom Baum zu pflücken, und biss genüsslich hinein. »Also dieses Jahr sind die Marillen ein Traum«, sagte sie mit vollem Mund und wischte sich etwas Fruchtsaft vom Kinn. »Das wird herrliche Marmelade und feines Kompott geben.«
Auch Evi nahm sich eine der Früchte und setzte sich zu Marias Erstaunen ins Gras.
»Ich weiß ja nicht, wie du es siehst«, sagte sie, »aber ich finde, wir haben uns jetzt eine Pause verdient. Du hast erst letzte Nacht ein Kind auf die Welt geholt, und Burgi hat mich heute schon früh durch die Gegend gescheucht. Andauernd ist ihr was anderes eingefallen, was ich noch schnell machen könnt. Außerdem ist Mittagszeit, da arbeitet sowieso niemand.« Sie biss von ihrer Marille ab und stieß einen wonnigen Seufzer aus.
Maria hatte bereits einen Widerspruch auf den Lippen, doch dann befand sie, dass Evi recht hatte. Eine kleine Pause unter einem schattigen Baum hatte noch nie jemandem geschadet. Rasch pflückte sie noch einige Früchte, dann ließ sie sich neben Evi ins Gras fallen und drapierte ihre süße Beute neben ihnen auf einem Baumstumpf.
Ihr Blick schweifte über die blühende Obstwiese hinweg, und plötzlich fühlte es sich ein wenig so an, als wären sie noch Kinder. Es war einer dieser warmen Sommertage, die man am liebsten für die Ewigkeit festhalten wollte. Die Sonne schien von einem weiß-blauen Himmel, keine Schwüle erfüllte die Luft, und es wehte ein angenehmes Lüftchen. Um sie herum schwirrten Bienen und Schmetterlinge. Die beiden legten sich hin, streckten ihre Beine aus und blickten eine Weile entspannt in das Blätterdach über ihnen. Irgendwann flog eine Amsel in den Baum und hüpfte eine Weile munter von Ast zu Ast, bevor sie wieder davonflatterte.
»Stell dir mal vor, die hätte uns jetzt auf den Kopf gemacht. Da hätten wir aber ganz schön dumm dreingeschaut«, sagte Evi unvermittelt. »Weißt noch, das ist damals im Kinderhaus mal dem Toni passiert. Aber bei dem war das keine kleine Amsel, sondern eine fette Taube.« Sie begann zu kichern, und Maria, die in diesem Moment Toni und seinen Vogelschiss auf dem Kopf vor Augen hatte, stimmte mit ein. Sie amüsierten sich so ausgelassen wie früher, als sie noch Kinder waren und in dem großen Garten des Dammerhofs allerlei Unsinn angestellt hatten.
»Wir sind schon zwei Hühner«, sagte Maria, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Liegen unterm Baum und lachen über die Hinterlassenschaften von Vögeln. Burgi wird uns ausschimpfen, wenn sie kommt. Ich hör ihre Stimme jetzt schon: ›Da liegen sie am helllichten Nachmittag nichtsnutzig in der Gegend rum, die beiden Faulenzias.‹«
»Soll sie doch zetern«, antwortete Evi und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. »Wir haben gute Ausreden. Mein Magen braucht Ruhe, sonst rumort er wieder, und du hast einen wehen Fuß. Und den Marillen ist es egal, ob sie jetzt oder in einer Stunde geerntet werden. So schnell verfaulen die auch wieder nicht.«
Maria brachten Evis Worte zum Schmunzeln. Wie früher war ihre Freundin gut darin, Ausflüchte zu ersinnen. Es war wunderbar, sie wieder nah bei sich zu haben, und trotz der Enge im Haus wünschte sich Maria plötzlich, Evi könnte noch etwas länger bei ihnen wohnen bleiben.
»Du musst mir versprechen, dass du nach deiner Hochzeit öfter mal zu Besuch kommst«, sagte Maria unvermittelt. »Ich hab mich nach meiner Rückkehr aus München so darüber gefreut, dass ich dich wieder in meiner Nähe hab, aber wir sehen uns leider viel zu selten. Momente wie diesen brauchen wir viel öfter.«
»Aber du hast ja nie Zeit«, erwiderte Evi. »Ständig bringst irgendwo ein Kind auf die Welt oder kümmerst dich um die Mütter. Ich war schon ab und an mal hier, aber dann hat die Burgi immer gesagt, du bist nicht da oder es hat mir keiner aufgemacht. Das soll kein Vorwurf sein, ich bin stolz auf dich, und mich freut’s, dass du jetzt unsere Dorfhebamme bist. Aber manchmal wünscht ich mir, du wärst vielleicht nicht nach München gegangen, sondern hiergeblieben. Wir hätten gemeinsam als Mägde auf einem Hof arbeiten können oder halt was anderes, als Bedienungen beim Wirt oder auf dem Schloss.«
»Und du denkst tatsächlich, dass es dann besser geworden wäre?«, hakte Maria nach. »Am Ende hätten wir keine gemeinsame Anstellung erhalten, und für mich als Bankert wäre es sowieso schwer gewesen. Du weißt, dass ich damals nur fort von all dem hier wollte. Außerdem hatte ich dir vorgeschlagen, mit mir nach München zu kommen. Aber du wolltest nicht. Und jetzt heiratest den Bartl und bist bald eine richtige Hausherrin, und es verändert sich wieder alles. So ist halt das Leben. Jeder geht seinen Weg. Aber echte Freundinnen kann nix trennen, oder?« Sie sah Evi fragend an.
»Natürlich nicht.« Evi klang nun wieder versöhnlicher, nahm Marias Hand und drückte sie kurz. »Ich bleib an dir kleben, ob es dir nun gefällt oder nicht. Hast schon recht. Im Nachhinein wäre es für mich vielleicht besser gewesen, mit dir zu gehen. Aber hinterher glaubt man ja immer, es besser zu wissen. Und ich verspreche dir, auch wenn ich verheiratet bin, setz ich mich mit dir noch unter einen Marillenbaum und ratsch mit dir über alles Mögliche. Dafür hab ich als verheiratete Frau dann viel mehr Zeit, um fünf Uhr früh Ställe ausmisten muss ich dann nicht mehr. Gut, vielleicht hab ich bald andere Aufgaben, wenn das Kleine erst einmal auf der Welt ist.« Sie legte ihre Hand auf den Bauch. »Aber vielleicht können wir ja dann zu dritt unterm Baum liegen. Das Butzerl, seine Patentante und ich.«
Überrascht schaute Maria Evi an.
»Du willst, dass ich seine Patentante werde?«
»Ja, wer denn sonst?«, entgegnete Evi erstaunt. »Du bist wie eine Schwester für mich, die einzige Familie, die ich hab. Dir erzähl ich Sachen, die ich sonst niemandem sag, und ich weiß, dass du immer zu mir halten wirst. Was auch immer passiert. Gell, das machst du doch, oder?«
Evis Worte rührten Maria so sehr, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
Sie nahm Evis Hand, drückte sie fest und antwortete: »Aber natürlich halt ich immer zu dir. Wir sind Familie. Und es ist mir eine Ehre, die Patentante deines Kindes zu werden.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie knuffte Evi sanft in die Schulter.
»Da schaut’s euch die zwei an. Am helllichten Tag sitzen sie faul unterm Apfelbaum. Ja, schämt’s ihr euch nicht?«, war plötzlich Burgis anklagende Stimme zu hören. Maria und Evi zuckten erschrocken zusammen und blickten Richtung Hauseingang. Burgi schaute sie finster an.
»Da lauf ich extra bis nach Flintsbach in den Kramerladen, weil die depperte Gundel keinen Zucker mehr hat, und ihr zwei liegt’s ratschend auf der Wiesen. Ja, glaubt’s ihr denn, die Marillen hupfen von allein in die Körbe?«
Vorbei war es mit der Ruhe, und die beiden erhoben sich seufzend. Maria griff nach dem Korb und kletterte die Leiter hinauf.
Zu ihrem Bedauern hörte sie keine Minute später unter ihr ein vertrautes Würgen. Evi gab die eben gegessene Marille wieder von sich.
Den restlichen Tag und bis in den Abend hinein beschäftigten sich die drei mit der Ernte und dem Einmachen der Marillen. Irgendwann war der größte Teil der Arbeit geschafft, und es türmten sich unzählige Gläser voller Marmelade und Kompott auf dem Tisch in der Stube. Trotz aller Bemühungen hatten sie es jedoch nicht geschafft, alle Früchte zu verarbeiten, es befanden sich noch reichlich Marillen in einem der Erntekörbe und auf dem Baum.
»Aus denen könnt ich morgen Marillenknödel machen«, sagte Burgi und deutete auf den Korb. »Was meint’s? Die hab ich schon als Kind immer gern gegessen. Und ich könnt den Willi fragen, ob er den restlichen Baum leer macht. Der brennt dann Schnaps draus. Bestimmt gibt er uns eine oder zwei Flaschen ab.«
Maria warf ihr einen mahnenden Seitenblick zu, den Burgi zu deuten wusste, und sie lenkte ein, wissend, dass Alkohol und sie so ihre Probleme miteinander hatten. »Gut, dann halt keinen Schnaps für uns. Trotzdem kann er die Früchte haben. Müssen ja nicht auf dem Baum verfaulen. Aber für heut kann ich keine Marillen mehr sehen. Ich brauch jetzt was Deftiges. Was haltet ihr von Speckbroten mit Essiggurken? Dazu Spiegeleier?«
»Ich weiß nicht recht, ob mein Magen das verträgt«, warf Evi ein und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Vielleicht besser eine Hühnerbrühe? Davon steht noch was in der Speisekammer.«
Das Knarren der Haustür unterbrach sie. Eine junge Magd trat ein, und Maria ahnte, was sie gleich hören würde.
»Grüß Gott, beisammen«, sagte sie. »Ich soll die Hebamme holen. Das Kind kommt.«
Erst am Vormittag des nächsten Tags, befand sich Maria wieder auf dem Heimweg vom Griesenbacher Hof, und sie fühlte sich wie erschlagen. Sie hatte so sehr darauf gehofft, dass die fünfte Geburt der Jungbäuerin flott vorangehen würde, aber am Ende hatte es doch wieder über zwölf Stunden gedauert, bis sie ihr ihren Sohn in die Arme legen konnte. Selbst das reichliche Frühstück, das ihr die alte Bäuerin angedeihen ließ, hatte sie nicht sonderlich aufgerichtet. Sie wollte nur noch schlafen. Zum Glück war einer der Hausknechte so freundlich und fuhr sie wegen ihres wehen Fußes zurück zum Bichlhof.
Als sie vor ihrem Zuhäusl vom Wagen kletterte, wurde sie von der Jungbäuerin des Bichlhofs angesprochen, die just in diesem Moment mit einem Einkaufskorb am Arm des Weges kam. An ihrem ernsten Gesichtsausdruck erkannte Maria, dass etwas geschehen sein musste.
»Kommt irgendwo ein Kind?«, fragte sie alarmiert.
»Nein, nein, es ist viel schlimmer. Bei euch wohnt doch neuerdings die Evi, oder? Mei, das arme Madl, was für ein Unglück. Ich hab es eben bei der Gundel im Laden gehört. Der Bartl ist droben auf dem Petersberg die Steilwand runtergefallen. Er hat einem waghalsigen Touristen helfen wollen, der sich zu nah an den Abgrund gewagt und im Gestrüpp gehangen hat. Der Mann hat ihn mit in den Tod gerissen.«
25. Juli 1896
Maria verkündete das Gewicht des eben zur Welt gekommenen kleinen Mädchens. »Stolze sechs Pfund«, sagte sie. »Dazu ist sie fünfzig Zentimeter lang, und alles ist so, wie es sein soll.«
»Das klingt wunderbar«, antwortete Hannelore Gradinger. Sie war die Frau des Stationsvorstehers und zählte mit ihren zweiundvierzig Jahren zu Marias älteren Müttern. Die Geburt des gesunden Kindes freute Maria ganz besonders, denn zu Anfang ihrer Zeiten in Brannenburg hatte sie Hannelore von einem Kind mit einer schweren Behinderung entbunden. Es hatte eine starke Verformung des Kopfes gehabt, die als »Froschkopf« bezeichnet wurde. Damit war es nicht lebensfähig gewesen. In ihren Armen war es auf dem Weg zum Pfarrer in Neubeuern gestorben. Hannelore war nach der Beerdigung tieftraurig gewesen und hatte Monate gebraucht, um sich von dieser Tragödie zu erholen. Sie hatte dem Kinderkriegen damals endgültig abgeschworen. Außerdem hatte sie bereits sechs Kinder geboren, das war allemal genug. Doch der Herrgott hatte es anders gewollt und ihr noch einmal ein kleines Wunder geschenkt.
Allerdings hatte es auch bei dieser Geburt erneut Komplikationen gegeben. Das Kind hatte sich bereits weit im Becken befunden, als die Wehen zum Stillstand gekommen waren. Maria hatte nach dem Arzt schicken lassen müssen. Am Ende war es eine Zangengeburt geworden, der Kopf war dadurch etwas mehr verformt als bei einer normalen Geburt, man sah auch die Abdrücke des Geburtsgeräts, die aber bald verschwinden würden. Das kleine Fräulein war recht munter und zappelte mit Armen und Beinen, hatte die Augen geöffnet. Maria ging das Herz auf, und sie verspürte wieder diese wunderbare Wärme in ihrem Inneren, die sie jedes Mal nach einer geglückten Entbindung empfand. Dieses besondere Gefühl der Wonne, nachdem sie regelrecht süchtig war und von dem sie vermutlich niemals genug bekommen würde. Sie half neuem Leben auf die Welt, eine bessere Arbeit konnte es doch gar nicht geben.
Georg Saller war nun mit der Versorgung des Dammschnitts fertig, trat neben sie, und während er sich in der Waschschüssel die Hände reinigte, betrachtete er das Neugeborene mit einem Lächeln.
»Na, da haben wir ja ein besonders entzückendes kleines Fräulein«, sagte er. »Es wird Zeit, dass sie ihre Mutter kennenlernt, finden Sie nicht auch, Fräulein Roßacker?«
Maria stimmte ihm zu, wickelte die Kleine in ein Tuch und brachte sie zu Hannelore, die arg mitgenommen aussah, was nach einer solch anstrengenden Geburt – zwölf Stunden hatte es sich hingezogen – nachvollziehbar war. Ihr braunes Haar war feucht vom Schweiß, einige Strähnen klebten an ihrer Stirn, dunkle Schatten lagen unter den bereits von einigen Falten umgebenen Augen.
Als Maria ihr die Kleine in die Arme legte, geschah jedoch das, was jedes Mal in diesem Augenblick passierte: Mochte die Mama noch so mitgenommen sein und während der starken Geburtsschmerzen ihr Kind und auch den Ehemann verflucht haben, die Augen strahlten nun, und es lag ein ganz besonderer Ausdruck der Liebe in ihnen, der Maria jedes Mal aufs Neue ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Die letzten Monate waren für Hannelore nicht leicht gewesen. Die Angst, es könnte erneut ein missgebildetes Kind zur Welt kommen, war zu ihrem täglichen Begleiter geworden, und Maria hatte sich alle Mühe gegeben, ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und ermutigende Worte zu finden.
»Wie klein sie ist«, sagte Hannelore. »Und sie ist ganz ihr Vater, dieselbe Nase. Ach, er wird sich so freuen. Er hat sich ein Madl gewünscht, Buben haben wir schon genug, hat er erst neulich zu mir gesagt. Wir wollen sie Cäcilie nach ihrer Großmutter väterlicherseits nennen.«
»Das ist ein hübscher Name«, sagte Georg, der sich seine Hemdsärmel wieder nach unten krempelte. Für ihn war die Arbeit hier getan, und Maria wusste, dass er jetzt rasch ins Doktorhaus zurückeilen würde, denn dort hatte bereits vor zwanzig Minuten die Sprechstunde begonnen. Nach ihrem ersten zufälligen Aufeinandertreffen auf dem Weg zum Wendelstein hatte sich der junge Arzt äußerst aufmerksam um Marias Knöchel gekümmert und war einen Tag nach ihrem Abstieg vom Berg bei ihnen auf dem Bichlhof erschienen. Fachmännisch hatte er Marias Fuß noch einmal begutachtet und verbunden. Danach hatten sie einige Stunden, gut versorgt mit einer deftigen Brotzeit, auf der Hausbank gesessen und waren Marias Patientenakten durchgegangen. Maria hatte sich alle Mühe gegeben, Georg Saller einen möglichst guten Überblick zu vermitteln. Das war nicht einfach gewesen, denn seine blauen Augen, die sie so intensiv musterten, und seine starken Hände, die ihren Knöchel sanft, aber fest umschlungen hielten, hatten Maria den Rest des Gesprächs über unkonzentriert werden lassen.
Diese vermaledeiten Schmetterlinge in ihrem Bauch, die sie schon bei ihrer ersten Begegnung gespürt hatte, plagten sie zu ihrem Leidwesen in seiner Gegenwart noch immer. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, breitete sich in ihr dieses flirrende Gefühl aus. Sie atmete dann stets einmal tief durch, um sich zu sammeln, und redete sich ein, dass dieses Gefühl bestimmt bald wieder verschwinden würde. Hätte er eine Familie gehabt, wären ihre Empfindungen gewiss schneller verflogen, aber es hatte sich herausgestellt, dass er noch Junggeselle war. Das hatte selbst Burgi verwundert, und sie hatte gemunkelt, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte, wenn ein solch junger und gut aussehender Arzt noch alleinstehend war.
Obwohl Maria Georg Saller vom ersten Moment an gemocht hatte, vermisste sie in beruflicher Hinsicht die vertraute Zusammenarbeit mit Anton Danzinger. Der Arzt war im letzten Jahr auf Wunsch seiner Gattin zu ihr und ihrer Familie nach Kufstein übergesiedelt. Aber Anton hatte Maria immerhin nicht mit jedem Lächeln durcheinandergebracht.
»Alles Weitere übernehmen dann ja Sie«, sagte Saller zu Maria, während er seinen Arztkoffer schloss. »Sollte es noch irgendwelche Probleme geben, bin ich jederzeit wieder zur Stelle.« Er schenkte ihr wieder dieses Lächeln, das Maria mit einer Hitze durchflutete, die ihr in die Wangen stieg.
Zum Glück schien er nichts davon zu bemerken. Nachdem er den Raum verlassen hatte, hörte Maria, wie er noch einige Worte mit dem Stationsvorsteher wechselte. Dieser wartete gemeinsam mit seiner Mutter in der benachbarten Wohnstube bereits seit Stunden auf Neuigkeiten aus dem Geburtszimmer.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie bald ebenfalls losmusste. Sie wollte, wenn kein weiteres Kind dazwischenkam, Evi zu der am frühen Nachmittag stattfindenden Beerdigung ihres Verlobten begleiten. Der Gedanke an das traurige Ereignis versetzte ihrer guten Stimmung einen Dämpfer. Bartls Tod hatte Evi hart getroffen, vor allem in ihrer jetzigen Situation. Sie hatte die letzten Tage nur geweint und kaum einen Bissen angerührt. Zum Glück konnten sie und Burgi sich um die bedauernswerte Seele kümmern, denn sie wohnte nun bei ihnen im Haus.
Evi beweinte nicht nur den tragischen Verlust ihres Verlobten, sondern auch ihr eigenes Unglück. Denn nun war eingetreten, was niemand für möglich gehalten hatte: Sie war als unverheiratete Frau schwanger und würde mit den üblen Konsequenzen dieser Tatsache leben müssen. Die Dorfgemeinschaft verurteilte ledige Frauen, die ein Kind erwarteten, auf das Schärfste, und auch der Umstand, dass Evis Verlobter der Vater des Kindes gewesen und bei einem Unglück ums Leben gekommen war, würde sie vor dieser Ächtung nicht bewahren. Schließlich war eine anständige Braut erst in der Hochzeitsnacht zum ersten Mal intim mit ihrem Ehemann.