Die besten Ärzte - Sammelband 74 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 74 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1839: Erbin unter Verdacht
Notärztin Andrea Bergen 1318: Das Kleid, das ich nie tragen werde
Dr. Stefan Frank 2272: Ein Baby für Dr. Bruckmann
Der Notarzt 321: Ein falscher Griff ins Regal ...


Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 256 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 488

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 74

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2015/2017/2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Prostock-studio / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-8077-3

https://www.bastei.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 74

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1839

Erbin unter Verdacht

Die Notärztin 1318

Das Kleid, das ich nie tragen werde

Dr. Stefan Frank 2272

Ein Baby für Dr. Bruckmann

Der Notarzt 321

Ein falscher Griff ins Regal …

Guide

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Contents

Erbin unter Verdacht

Der Tod der alten Dame sorgt für Spekulationen

Von Katrin Kastell

„Hier, Mutsch Meier! Die hab ich nur für dich gepflückt.“ Ein wenig umständlich schiebt die kleine Silja der alten Dame im Bett ein arg zerdrücktes Sträußchen Gänseblümchen in die Hand, und für einen Moment scheinen sich die tiefen Linien im Gesicht Ermelinde Meiers zu glätten. Ein glückliches Leuchten tritt in ihre Augen, als sie dem Mädchen über die blonden Locken streicht.

Lisa de Boor, Ermelindes Pflegerin, wollen die Tränen kommen. Sie weiß, was ihr Töchterchen noch nicht ahnen kann: Das Lebenslicht der alten Frau verlöscht! Mutsch Meier wird jeden Tag ein bisschen weniger. Doch Lisa ist fest entschlossen, bis zu Mutschs letztem Atemzug bei ihr zu bleiben – auch wenn sie nicht weiß, wie es dann mit ihr und Silja weitergehen soll …

Tatsächlich steht die junge Pflegerin nach Ermelindes Tod zunächst vor dem Nichts. Doch da ist Ermelindes geheimnisvolles Vermächtnis, das Lisa und ihre Tochter auch in Zukunft auf wundersame Weise beschützen wird …

Es war ein warmer, sonniger Frühlingsnachmittag. Ermelinde Meier, von allen Freunden und Bekannten liebevoll Mutsch Meier genannt, lag im Wintergarten in ihrem bequemen Ohrensessel, dessen Fußteil aufgestellt war. Sie hatte sich in eine Decke gewickelt und döste in der Sonne mit geschlossenen Augen vor sich hin. Ein Lächeln flog über das rosige Gesicht der alten Dame, das kaum Falten hatte. Sie träumte sich wieder einmal in glücklichere Zeiten.

„Mutsch, Mutsch!“, ertönte die helle Stimme der kleinen Silja. „Bitte, bitte erzähl mir eine von deinen schönen Geschichten!“

Erschrocken blieb die Sechsjährige stehen, als Mutsch Meier ganz vorsichtig die Augen öffnete und in die Sonne blinzelte.

„Hab ich dich geweckt?“

„Nein, meine Kleine“, wehrte Mutsch rasch ab. „Komm, setz dich zu mir! Wir machen es uns hier im Sonnenschein gemütlich!“

„Au ja, und die Mami kocht uns einen Kakao!“ Begeistert zog die Kleine einen Hocker heran. „Erzählst du mir dann wieder von früher? Ich meine, wo du doch wach bist …“

Ein zärtliches Lächeln verschönte das faltige Altfrauengesicht und schenkte ihm einen besonderen Zauber.

„Ja, Herzchen, das werde ich! Ach, Kind, das tue ich viel zu gern, wenn es dich nicht langweilt.“

„Nie“, versicherte Silja im Brustton der Überzeugung. „Du kannst richtig gut so Sachen erzählen.“

So Sachen! Mutsch Meiers Lächeln wurde breiter. In ihre Stimme schlich sich ein Glucksen ein.

„Tja, sie sind halt echt, die Sachen!“

Lisa de Boor, die vor wenigen Monaten die Pflege von Ermelinde Meier übernommen hatte, brachte ein Tablett mit Kaffee und Kakao in den Wintergarten. Sie hatte auch die Lieblingskekse von Mutsch Meier nicht vergessen.

„Hallo, meine bezaubernden Ladys, hier ist euer Wunschgetränk!“ Sie strich ihrer kleinen Tochter zärtlich über den Kopf. „Es ist so schön, hier in der Sonne zu sitzen, nicht wahr?“

Lisa reichte der Hausherrin eine Tasse Kaffee und setzte sich in einen der hübschen Korbsessel.

„Ja, Lisa, die Wärme der Sonnenstrahlen streichelt die Seele“, erwiderte Mutsch Meier leise.

Dann schloss sie einen Moment lang die Augen. Sie seufzte kaum hörbar, ehe sie von früher erzählte, als ihre Familie noch intakt war, als ihr Mann Heribert noch lebte und Gereon, ihr Sohn, daheim war.

„Mein Heribert war ein bekannter Mann in München“, begann sie, und Lisa spürte die Sehnsucht, aber auch den Stolz in Mutschs Stimme. „Er war einer der besten Optiker – nein, er war der beste!“

„Was ist ein Opziga?“, zwitscherte Silja.

„Ein Optiker, meine kleine Silja, stellt fest, wie gut du sehen kannst. Wenn du eine Brille haben musst, passt er sie dir an. Und – schwups – siehst du wieder richtig gut und kannst viel besser Lesen und Schreiben lernen.“

„Brauch ich nicht“, stellte Silja fest. „Ich kann richtig gut gucken! Und lesen kann ich auch schon – na ja, ein bisschen!“

Mutsch Meier schwärmte von dem gemeinsamen Leben mit ihrem Mann, dem schönen Geschäft und der kleinen Fabrik, in der Heriberts eigene Brillenkreationen gefertigt worden waren. Die junge Ermelinde hatte ihrem Mann geholfen und an seiner Seite einen festen Platz in der Münchner Gesellschaft gefunden.

Heribert war ein gutherziger Mann gewesen, der aus Dankbarkeit für seinen beruflichen Erfolg gern denen etwas gab, die nichts hatten und seine Unterstützung brauchten.

Als Gereon geboren wurde, dauerte es nicht lange, bis Ermelinde auch bei ihren karitativen Einsätzen nur noch „Mutsch Meier“ genannt wurde. Und in jedem ihrer Worte klang eine unbändige Sehnsucht und tiefes Leid mit.

„Hat Gereon nicht Mami gesagt?“ Siljas helle Stimme wirkte tröstlich auf die gequälte Seele der alten Dame.

„Als er sprechen lernte, nannte er mich natürlich Mama. Aber später fand er es lustig, dass alle Mutsch zu mir sagten. Sogar seine Lehrerin in der Schule und die Verkäuferin im Supermarkt.“

Sie ließ sich von Lisa das alte, ein bisschen zerfledderte Fotoalbum geben und streichelte zärtlich über den abgegriffenen Einband, ehe sie Silja die ersten Fotos ihres Sohnes zeigte.

„Er war ein süßer Kerl, fast so niedlich wie du, mein Mäuschen …“

Eine Weile schwieg sie. Sie schloss die Augen, als wollte sie die Fotos nicht mehr anschauen. Zu lange hatte sie von ihrem Sohn nichts mehr gehört. Sie fand keine Worte, die ihre geheimsten Wünsche tränenlos hätten ausdrücken können.

Vorsichtig nahm Lisa das Album an sich und zog die leichte Wolldecke ein wenig höher, sodass Mutsch Meier nicht frieren musste. Dann gab sie ihrer Tochter einen Wink. Leise zogen sie sich zurück und überließen die Hausherrin ihren Erinnerungen.

Die Fünfundachtzigjährige hatte nicht bemerkt, dass sie allein im Wintergarten saß. Sie spürte die Sonne wie eine zarte Berührung, die jedoch die Kälte, die sie im Herzen empfand, nicht verscheuchen konnte.

Gereon war erwachsen geworden und hatte sich mit seinem Vater überworfen. Er hatte sich geweigert, den Beruf des Optikers zu ergreifen und die Firma zu übernehmen. Mutsch hatte hilflos zusehen müssen, wie ihr Familienglück zerbrach.

Als der Sohn sich unversöhnlich zeigte und bei Nacht und Nebel verschwand, war die Kälte in ihr Leben eingezogen. Heribert hatte es nie verwunden, dass Gereon stillschweigend das Haus verlassen hatte. Er war erkrankt und hatte täglich an Kraft verloren, Kraft, die auch Ermelinde ihm nicht mehr geben konnte.

Heribert Meier hatte seine Firma verkauft und dafür gesorgt, dass seine Frau ein gutes Leben haben würde, wenn er einmal gehen musste. Seinen Sohn hatte er nicht mehr wiedergesehen.

Gereon hatte sich erst zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters aus Amerika gemeldet. Zurückgekommen war er nicht mehr. Er hatte geheiratet und war Vater eines Sohnes geworden.

Viel mehr wusste seine Mutter nicht. Die seltenen Kartengrüße oder auch das eine oder andere Foto aus dem fernen Amerika verrieten nichts von seinem neuen Leben.

Mutsch Meier wischte sich über die Augen und schaute sich suchend um.

„Wo seid ihr denn, Lisa? Silja? Ich schlafe nicht, Kinder! Bitte, lasst mich nicht allein!“

Besorgt eilte Lisa herbei und sprach beruhigend auf ihren Schützling ein.

Frau Ermelinde lächelte. Dennoch sah sie unendlich traurig aus. Dann fielen ihre Augen wieder zu. Im nächsten Moment war sie eingeschlafen.

Lisa de Boor betrachtete die alte Dame eine kleine Weile voller Sorge. Wenn sich doch wenigstens dieser Gereon mal melden würde! Es konnte doch nicht sein, dass er seine Mutter vergessen oder aus seinem Leben gestrichen hatte! Hätte sie seine Telefonnummer finden können, sie hätte ihn längst angerufen!

***

Es war einer jener Tage, an denen in der Berling-Klinik alles ein bisschen durcheinanderging. Im Kreißsaal war die Hölle los. Gleich drei werdende Mütter lagen in den Ruheräumen, und bei jeder konnte die Geburt im nächsten Moment einsetzen.

Auch auf der Chirurgie gab es alle Hände voll zu tun, da es zu einem Unfall in der Innenstadt gekommen war. Ein Motorradfahrer hatte einem Omnibus die Vorfahrt genommen. Dr. Daniel Falk hatte alle Ärzte des Hauses in die Ambulanz gerufen, damit möglichst schnell Ordnung in das Chaos kam und jedem der Verletzten schnell geholfen werden konnte.

Im Sekretariat des Chefarztes Dr. Stefan Holl bemühte sich Moni Wolfram, möglichst viele Termine des Klinikchefs zu verlegen, als Dr. Holl hereinschaute und um eine Tasse Kaffee bat.

„Das erste Baby ist da und bei Frau Sanders in besten Händen“, erklärte er strahlend. „Und die frischgebackene Mama, Frau Sellmann, ist in bester Verfassung.“

„Und Herr Sellmann? Er hatte so große Angst vor der Geburt seines ersten Kindes“, erinnerte sich Moni Wolfram.

„Schauen Sie nachher mal bei der jungen Familie vorbei. Die Sellmanns mit ihrer kleinen Sophie werden sich freuen.“

„Chef!“, rief Schwester Annegret ein wenig außer Atem. „Es geht los bei Frau Hollerstein!“

„Ich bin sofort da, Annchen!“ Dr. Stefan Holl stellte die Kaffeetasse auf den Empfangstresen und eilte mit der alten Schwester davon.

Moni Wolfram sah ihrem Chef mitfühlend nach. Dann ging sie ins Wartezimmer und vertröstete die beiden Damen, die auf Dr. Holl warten wollten.

„Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis Dr. Holl aus dem Kreißsaal kommt. Aber ich gebe Ihnen gern einen neuen Termin.“

Magdalene Venninghoff erhob sich.

„Machen Sie sich um mich keine Gedanken, liebe Frau Wolfram. Ich komme gern ein anderes Mal wieder. Ist ja nur die jährliche Vorsorgeuntersuchung. Da kommt es auf einen Tag nicht an. Die kleinen neuen Erdenbürger sind wichtiger als ich alte Frau!“

Die Sekretärin protestierte lachend „Von wegen alt! Sie stecken so manche jüngere Frau in die Tasche! Darf ich Sie anrufen, wenn ein Termin frei wird? Morgen ist Dr. Holl leider schon ausgebucht.“

Damit war die elegante Dame einverstanden. Fröhlich verabschiedete sie sich und nickte der anderen Patientin noch einmal freundlich zu.

Moni Wolfram wandte sich an die junge Frau, die sie bisher nur als Begleiterin einer langjährigen Patientin kannte.

„Wollen Sie auf den Herrn Doktor warten, auch wenn es noch länger dauert, Frau de Boor?“

Die zierliche Blonde nickte. „Es muss sein … Es geht nicht um mich, Frau Wolfram, es geht um Frau Meier, müssen Sie wissen.“

Die Sekretärin nickte. „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee bringen?“

Lisa de Boor errötete. „Danke, das ist sehr freundlich.“

Aus einer Tasse Kaffee wurden drei, ehe Dr. Holl aus dem Kreißsaal zurückkehrte.

„Geben Sie mir ein paar Minuten, Moni“, bat er erschöpft. „Der kleine Noah hat es uns sehr schwer gemacht.“

„Die haben Sie, Herr Doktor. Es wartet nur noch eine Dame auf Sie“, erwiderte seine Sekretärin. „Wenn ich Frau de Boor richtig verstanden habe, möchte sie mit Ihnen etwas besprechen.“

„Frau de Boor? Ach ja, die Pflegerin von Mutsch Meier! Bitten Sie die junge Dame in zehn Minuten herein!“

Er ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen, lehnte sich so weit zurück, wie die Sessellehne es erlaubte, und legte für ein paar Minuten die Füße auf den Schreibtisch.

Gut, dass weder Annchen noch meine Julia hier sind!, dachte er und schmunzelte beim Gedanken an die Empörung der Damen.

Lange hielt er es nicht aus. Kaum hatte er seinen Kaffee getrunken und den Teller mit den Apfelsinenstückchen, den seine Sekretärin ihm mahnend in die Hand gedrückt hatte, geleert, nahm er wieder Haltung an in Erwartung Lisa de Boors.

***

Dr. Holl lächelte der jungen Frau entgegen. Sie wirkte sehr zurückhaltend, eher schüchtern.

„Liebe Frau de Boor, wir sehen uns ja nicht so häufig“, sagte er nach der Begrüßung und bot ihr Platz an.

Lisa senkte den Blick. „Sie haben recht, Herr Doktor. Ich habe meine Vorsorgeuntersuchungen einfach vergessen …“

„Ich bitte Sie …“

Sie hob abwehrend die Hand. „Nein, nein, Herr Doktor. Als Krankenschwester weiß ich, wie wichtig diese Untersuchungen sind. Aber ich bin noch nicht so lange in München. Da ist es nicht so einfach …“ Sie machte eine kleine Pause. „Es wäre schön, wenn auch ich als Patientin zu Ihnen kommen dürfte.“

„Selbstverständlich, Frau de Boor. Allerdings muss ich Sie bitten, sich von Frau Wolfram einen Termin geben zu lassen“, erwiderte Dr. Holl freundlich.

Lisa errötete. „Danke. Aber ich bin heute aus einem anderen Grund hier. Ich mache mir Sorgen um Frau Meier.“

Sie erzählte, dass Frau Ermelinde in den letzten drei Wochen immer weniger wurde, jeden Arztbesuch ablehnte, sehr viel schlief und zu wenig aß.

„Wissen Sie, es ist die Sehnsucht nach ihrem Sohn, die sie krank macht. Selbst meine kleine Tochter kann sie nur kurzfristig aufheitern. Ich weiß mir keinen Rat mehr.“

Dr. Holl drückte auf die Computermaus. Moni Wolfram hatte ihm die Krankenakte von Frau Meier auf seinen Bildschirm gespielt. Schweigend las er seine letzten Eintragungen, ehe er sich an Lisa de Boor wandte.

„Es ist gut, dass Mutsch Meier eine so aufmerksame und liebevolle Betreuerin hat, Frau de Boor“, meinte er dann mit einem kleinen Lächeln. „Doch auch die kompetenteste Betreuung erreicht nur wenig, solange sie sich nach ihrem Sohn verzehrt. Mutsch Meier hat ein schwaches Herz. Es ist ja schon ein kleines Wunder, dass sie sich von ihrem Herzinfarkt so gut erholt hat. Das hat sie Ihnen zu verdanken.“

Lisa wehrte heftig ab. „Ich habe nicht viel dazu beigetragen, Herr Doktor …“

„Seien Sie nicht so bescheiden! Ich sehe an meinen Aufzeichnungen, dass es ihr sehr viel besser geht, seit Sie sich um Sie kümmern. Aber nun sollten wir gemeinsam überlegen, was wir für unseren Schützling tun können. Was das Herz angeht, so wird mein Kollege Dr. Falk die Medikation neu einstellen.“

„Oh, entschuldigen Sie bitte, Dr. Holl, dann bin ich bei Ihnen an der falschen Stelle“, warf Lisa hastig ein und erhob sich. „Ich wollte Ihnen die Zeit nicht stehlen!“

„Das tun Sie nicht“, erwiderte der Chefarzt begütigend. „Bitte, nehmen Sie wieder Platz! Ich werde Ihnen verraten, was Mutsch Meier und mich als Klinikchef verbindet.“

Er holte ein wenig aus und erzählte der jungen Frau, dass es sein Schwiegervater war, der Mutsch Meiers Sohn auf die Welt geholfen hatte. Als Professor Berling in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war, hatte Dr. Holl dessen Patientinnen liebevoll übernommen.

„Bei vielen entstand ein sehr persönliches Verhältnis – wie auch bei Ermelinde Meier“, schloss er. „Ich käme nie auf die Idee, sie bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Sie sehen, Frau de Boor, Sie sind bei mir absolut an der richtigen Adresse, wenn es darum geht, etwas für Ihren Schützling zu tun.“

„Aber was?“, fragte Lisa hilflos. „Ich weiß nicht mehr weiter. Sie macht mir Sorgen – jeden Tag mehr!“

„Ich verstehe Sie sehr gut. Die letzten Untersuchungsergebnisse von Frau Meier sind noch recht erfreulich gewesen. Es ist wohl eher ihre Psyche. Da anzusetzen ist nicht so einfach. Hat sie denn gar nichts mehr von ihrem Sohn gehört?“

Lisa zerrupfte ihr Papiertaschentuch vor Nervosität. Sie kam sich schäbig vor, dass sie hinter dem Rücken von Mutsch über deren Privatangelegenheiten sprach. Aber es musste sein.

„Sie hat mir erzählt, dass er zumindest zu Weihnachten und zu ihrem Geburtstag geschrieben hat“, sagte sie langsam. „Aber den letzten Geburtstag hat er ebenso vergessen wie Weihnachten. Ich verstehe es einfach nicht. Wie gern hätte ich eine Mutter wie Mutsch Meier gehabt!“

Das klang so tieftraurig und sehnsuchtsvoll, dass Dr. Holl sein Gegenüber noch einmal genauer betrachtete. Sehr viel wusste er nicht von Lisa de Boor. Sie war Krankenschwester und Physiotherapeutin mit hervorragenden Abschlüssen und hatte die Stelle als Pflegerin bei Ermelinde Meier angetreten, weil sie auf diese Weise ihre kleine Tochter versorgen konnte.

„Möchten Sie nicht ein bisschen mehr von sich erzählen, Frau de Boor?“, fragte Dr. Holl mit seiner sanftesten Stimme.

Lisa schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, nein, nicht heute! Jetzt geht es um Mutsch Meier. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihren Sohn erreichen kann!“

„Hm. Wenn Frau Meier seine Adresse nicht kennt … Hatte Herr Meier tatsächlich keinen weiteren Kontakt nach München?“, überlegte der Arzt. „Hat Mutsch Meier die Briefumschläge seiner Post aufgehoben? Vielleicht könnte man den Poststempel lesen.“

„Mutsch hat alles aufgehoben.“ Lisas Miene hatte sich aufgehellt, verdunkelte sich aber im nächsten Augenblick wieder. „Ich kann sie nicht um die Briefe bitten, ohne ihr zu sagen, warum ich sie brauche. Aber ich kann ihr doch auch nicht von dieser Idee erzählen …“ Sie seufzte leise. „Heimlich in ihren privatesten Dingen herumzuschnüffeln ist einfach unanständig. Mutsch vertraut mir …“

Dr. Holl konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Die junge Frau gefiel ihm von Minute zu Minute besser. Ihre Bedenken zeigten ihre Aufrichtigkeit.

„Sie sind sehr ehrlich, Frau de Boor. Mutsch Meier darf sich wirklich glücklich schätzen, dass Sie ihre Betreuerin sind. Wenn Sie sich nun einen, vielleicht den letzten Brief ausleihen, so ist das nur zu ihrem Besten. Nun werden wir erst einmal zu Frau Wolfram gehen, damit Sie Ihren Vorsorgetermin bekommen. Zudem werde ich einen Hausbesuch bei Frau Meier eintragen. Wäre es Ihnen morgen am späten Nachmittag recht?“

Lisa wusste nicht, was sie sagen sollte. In ihrem fein geschnittenen Gesicht wechselten sich Blässe und Röte ab, was sie noch jünger wirken ließ.

„Ja … Danke … Sie sind – sehr freundlich.“

„Kommen Sie!“, forderte der Klinikchef sie resolut auf und durchquerte mit langen Schritten den Raum.

Lisa hatte Mühe, ihm zu folgen. Ihre Knie waren weich. Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie das Gefühl, dass sie Unterstützung bekam im Kampf um Mutsch Meiers dünnen Lebensfaden.

***

Dr. Holl hielt Wort und fuhr gleich am nächsten Nachmittag zum Haus Ermelinde Meiers. Der Hausbesuch Dr. Holls erfreute die alte Dame. Recht aufgekratzt sah sie dem Arzt entgegen und reichte ihm mit damenhafter Haltung die Hand.

„Sie dürfen gern öfter kommen, lieber Herr Doktor Holl“, zwitscherte sie. „Es ist so schön, wenn man den Tee nicht allein trinken muss.“

Dr. Holl drohte ihr scherzhaft mit dem Finger.

„In Ihrem Alter sollten Sie nicht mit Ihrem Arzt flirten, Mutsch Meier!“

Die alte Dame kicherte wie ein junges Mädchen.

„Schämen Sie sich, Herr Doktor! Oder ist es den Ärzten etwa erlaubt, mit jungen Patienten zu poussieren?“

„Na, lassen Sie das mal nicht unsere Schwester Annegret hören! Die legt mir sofort Handschellen an!“

„Ist gar nicht nötig, junger Mann“, stellte Mutsch Meier vergnügt fest. „Als ob Sie Ihrer zauberhaften Frau untreu sein könnten!“

Lisa de Boor brachte das Tablett mit dem Nachmittagstee ins Schlafzimmer und stellte es auf dem kleinen Tisch ab.

„Ich bin in der Küche. Wenn Sie mich brauchen, klingeln Sie bitte.“ Sie deutete auf das Porzellanglöckchen auf dem Nachttisch.

Dr. Holl zog sich den kleinen brokatbezogenen Damensessel heran und machte ein ernstes Gesicht.

„Warum mögen Sie nicht mehr aufstehen, Mutsch Meier?“, fragte er streng.

Sie drückte den Kopf in die Kissen und schloss die Augen.

„Ich bin heute einfach zu müde, Herr Doktor. Jeder Tag ist ja nicht gleich, nicht wahr?“

„Das stimmt zwar, wahr ist aber auch, dass man immer weniger Lust hat aufzustehen, je länger man sich – na, sagen wir mal hängen lässt. Und dann klappt es auch nicht mehr so richtig mit dem Laufen.“

Mutsch Meier winkte ein bisschen unwirsch ab.

„Trinken wir erst mal die Untersuchung und machen dann den Tee … oh!“

Erschrocken sah Stefan Holl seine Patientin an.

„Es ist alles in Ordnung, mein lieber Herr Doktor!“ Sie lachte herzlich. „Ich habe noch alle Tassen im Schrank, ich benutze sie nur nicht immer der Reihe nach! Und das macht manchmal sogar richtig Spaß.“

„Also, das ist … Mutsch Meier, den Spruch merke ich mir! Der wird meinen Kindern gefallen!“ Dr. Holl wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht und reichte Mutsch eine Tasse Tee. „Also, zuerst den Tee und dann die Untersuchung!“

„Ich hoffe, Sie haben noch ein wenig Zeit für ein äußerst wichtiges Gespräch!“

„Das klingt sehr ernst, meine Liebe.“

„Das ist es, und es geht eigentlich gar nicht so sehr um mich“, erklärte Mutsch Meier und sah den Arzt bittend an. „Das, was ich Ihnen anvertrauen möchte, muss unter allen Umständen unter uns bleiben.“

Er reichte ihr die Hand. „Versprochen. Und denken Sie daran: Ich stehe auch hier in Ihrem Haus unter ärztlicher Schweigepflicht!“

Der Seufzer der alten Dame klang erleichtert.

Nun erfuhr Dr. Holl, dass sich Ermelinde Meier um ihre Pflegerin ebenso sorgte, wie es Lisa um sie tat.

Mutsch verriet, dass Lisa in einem Waisenhaus aufwuchs, das sie schon viele Jahre lang unterstützt hatte. Lisa war eines der Sorgenkinder gewesen, intelligent, aber sehr verschlossen. Deshalb hatte sie dafür gesorgt, dass das Mädchen eine möglichst gute Ausbildung bekam.

Mutsch Meier war für gleich zwei Ausbildungen aufgekommen und hatte Lisa auch unterstützt, als sie schwanger geworden war. Bis zum heutigen Tag ahnte die junge Frau nicht, dass sie im Haus ihrer langjährigen Gönnerin lebte.

„Ich habe längst gemerkt, dass sie eine hervorragende Krankenschwester ist. Aber ihr Können verkümmert doch, wenn sie nur mich versorgen muss. Das bisschen Physiotherapie, das sie mir so liebevoll zukommen lässt, macht mich zwar ein wenig beweglicher, bringt ihr aber im Grunde nichts. Es wird ja auch nicht mehr ewig mit mir dauern – nein, nein, sagen Sie nichts, Herr Doktor! Meine Zeit ist eigentlich längst abgelaufen. Ich lebe nur noch mit der gnädigen Zugabe unseres Herrn.“

Mutsch befürchtete, dass Lisa nicht mehr in ihren Beruf zurückfand, vielleicht einfach keine Chance bekam, keine Anstellung fand.

„Wissen Sie, sie braucht auch mal ein bisschen Abwechslung, sollte mal ausgehen. Auf Silja kann ich gerade noch aufpassen. Die Kleine ist lieb. Na ja, sie passt wohl eher auf mich auf!“

Nun wurde sie verlegen, errötete sogar bis unter die Haarwurzeln.

„Bitte, Dr. Holl, Sie brauchen doch bestimmt eine gute und zuverlässige Schwester. Können Sie nicht ganz unauffällig mit ihr darüber sprechen und ihr ein Angebot machen? Vielleicht erst mal für ein paar Stunden in der Woche …“

„Ich verspreche Ihnen, dass ich darüber nachdenke, Mutsch Meier“, erwiderte Dr. Holl warm. „Frau de Boor muss ja auch selbst wollen.“

„Das wird sie sicher. Sie wird alles tun, um für sich und ihre Tochter zu sorgen. Reden Sie mit ihr!“ Sie reichte ihm ihre leere Tasse. „Und noch eine Bitte habe ich: Ich möchte, dass Sie mit Lisa in der Berling-Klinik sprechen, während ich meinen Anwalt hier empfange. Auch mit ihm muss ich ein paar Dinge klären, bevor ich diese Welt verlasse.“

Dr. Holl holte tief Luft. „Mutsch Meier, Sie bringen mich zur Verzweiflung! Wenn Sie sich an die ärztlichen Anweisungen halten und Ihre Medikamente nehmen, werden Sie noch eine ganze Weile bei uns bleiben und sich an der kleinen Silja und ihrer reizenden Mama erfreuen.“

Die alte Dame winkte ab. „Lassen Sie es gut sein, Doktor. Ich bin nicht verkalkt. Denken und fühlen kann ich immer noch. Ich weiß, dass es nicht gut um mich steht, und ich weiß nicht, ob ich noch weiterleben will. Ich habe keine Familie mehr, und ich mag auch nicht Lisa zur Last fallen.“

„Das sieht Frau de Boor anders“, warf Dr. Holl ein.

Mutsch Meier schwieg. Ihre Gedanken machten sich wieder einmal selbstständig. Das Gespräch hatte sie sehr angestrengt. Sie fühlte sich unendlich müde.

„Müssen Sie mich unbedingt untersuchen?“, fragte sie mit kleiner Stimme.

„Mir wäre es lieber, wenn wir Sie in der Klinik durchchecken könnten. Ich werde Ihnen übermorgen einen Wagen schicken, Mutsch Meier. Wir werden Ihre Medikamente neu einstellen, und Sie versprechen, dass Sie wieder aufstehen, ein bisschen mehr essen und in den Garten gehen werden.“

„Wenn es sein muss …“, stimmte sie fast unwillig zu.

„Es muss, meine Liebe, es muss!“

Sie griff nach dem Porzellanglöckchen und klingelte. Es dauerte nur einen Augenblick, bis Lisa de Boor das Zimmer betrat.

„Lisa, mein Kind, bitte begleiten Sie unseren Gast zur Tür. Ich werde noch ein bisschen ruhen. Aber zum Abendessen dürfen Sie mich ins Esszimmer bringen!“

***

„Lisa, eigentlich sind Sie heute mit dem Erzählen an der Reihe“, meinte Mutsch Meier und zog den Schal ein wenig enger um den Hals.

Es war ein schöner Frühlingsnachmittag. Lisa de Boor hatte ihren Schützling warm angezogen und fuhr Mutsch nun im Rollstuhl durch den kleinen Park bis zum Ententeich.

„Sie wissen doch schon alles über mich“, wehrte Lisa ab.

„Das ist stark übertrieben“, hakte Ermelinde Meier nach. „Sie haben mir noch nie etwas über Siljas Vater erzählt.“

Lisa seufzte. „Er ist weg, und das ist gut so!“

Mutsch Meier schaute auf ihre Armbanduhr. „Bitte, Lisa, fahren sie mich ins Pavillon-Café. Ich habe schon lange keinen Cappuccino mehr getrunken. Ein bisschen Zeit haben wir ja noch, bis wir Silja abholen müssen. Sie nehmen mich mit, nicht wahr?“

Es war unglaublich. Die Fünfundachtzigjährige hatte ihre Sprunghaftigkeit und ihr Temperament noch nicht ganz verloren. Vor allem Letzteres brach immer wieder durch und versetzte jeden, der so einen Ausbruch miterlebte, in Erstaunen. Mutsch Meier war eben mitreißend. Es war also kein Wunder, dass die Untersuchungen in der Berling-Klinik kaum etwas Neues erbracht hatten.

Lisa ahnte nicht, dass Mutsch viel mehr aus ihrem Leben wusste, als sie erzählt hatte. Sie war über das Kinderheim, in dem sie aufgewachsen war, als Pflegerin vermittelt worden und hatte bei ihrem Vorstellungsgespräch offen erzählt, dass sie Waise war ohne weitere Verwandtschaft und dass sie ihre Ausbildung einem Hilfsfonds zu verdanken hatte.

Sie strahlte von innen heraus, als sie über ihre kleine Tochter sprach, verlor jedoch über den Vater ihres Kindes kein Sterbenswörtchen.

Aber gerade dieses Schweigen machte Mutsch Meier umso neugieriger.

Lisa erfüllte der alten Dame ihren Wunsch und suchte einen sonnigen Platz in dem gut besetzten Café.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie so gern Cappuccino trinken“, bekannte sie, nachdem die mit Kakao bestäubten Tassen vor ihnen standen. „Wenn Sie mögen, kann ich den auch zu Hause machen.“

„So richtig italienisch?“, meinte Mutsch Meier misstrauisch.

„Aber sicher! Meine erste Anschaffung von meinem Geld, das ich in der Ausbildung bekam, war eine richtig gute Kaffeemaschine, die eigentlich viel zu teuer für mich war. Dafür macht sie einen Cappuccino, den Sie lieben werden!“

„Na, na, ich lasse mich überraschen! Wenn Sie dann auch ein bisschen gesprächiger werden …“

Lisa lachte herzlich. „Mutsch, Sie sind ja neugierig!“

„In meinem Alter ist Neugier eine positive Eigenschaft“, stellte Ermelinde in weisem Ton fest. „Das nennt man dann Wissbegier. Nur damit nimmt man wirklich am Leben teil. Ach, Lisa, mir geht es doch immer nur um Sie und Silja!“

„Ich weiß, Mutsch, und dafür bin ich unendlich dankbar.“

Mutsch Meier legte die Hand auf die von Lisa.

„Schon gut, mein Kind. Sie sind für mich die Tochter, die ich nie hatte, und Sie machen mir so viel Freude – mehr als Sie ahnen. Wollen wir uns nicht endlich duzen?“

Lisa errötete vor Verlegenheit. So viel Herzlichkeit und Zuneigung hatte sie lange nicht erlebt.

„Ja, gern, wenn es Ihnen recht ist …“

„Das heißt ab sofort ‚du‘!“, bestimmte Mutsch Meier. „Darauf trinken wir jetzt ein Gläschen Eierlikör! Himmel, so wohl habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt! Und den letzten Eierlikör … ich weiß gar nicht, wann ich den getrunken habe!“

Die Bedienung brachte das Gewünschte, und Mutsch Meier stieß mit Lisa an.

„Gut, ach das war himmlisch gut! Aber jetzt sollten wir mal ein paar wichtige Dinge klären“, begann Ermelinde und ergriff noch einmal Lisas Hand. „Du bist noch so jung, und mein Leben geht dem Ende entgegen. Wir müssen also darüber reden, wie es sein wird, wenn du ohne mich auskommen musst, Lisa!“

„Nein, darüber denke ich nicht nach. Ich möchte, dass Sie – dass du uns noch lange erhalten bleibst.“

„Das ist sehr lieb. Aber du bist Krankenschwester und weißt, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Schau, ich verstehe ja, wenn du mit mir nicht über Siljas Vater reden möchtest. Doch wenn er zumindest für sein Kind zahlen würde, sähe es auch für dich ein bisschen besser aus.“

Lisa kaute an ihrer Unterlippe und starrte in ihre leere Kaffeetasse. „Ach, Mutsch, ich bin so froh, dass es dich gibt!“ Ein zu Herzen gehender Seufzer folgte ihren Worten.

„Wir sollten jetzt zu Silja gehen, damit sie nicht warten muss“, beschloss Mutsch Meier das Gespräch in sanftem Ton. „Und heute Abend machen wir beide es uns gemütlich, und dann erzählst du mir alles, was dich bedrückt. Ich denke, wir werden eine Lösung finden!“

Sie machten sich auf den Weg und wurden in den nächsten Stunden von Silja mit Beschlag belegt. Das Mädchen jubelte, als es sah, dass auch die geliebte Mutsch Meier zur Tagesstätte gekommen war.

„Am liebsten tät ich dich durchs ganze Haus fahren!“, rief es begeistert. „Bloß ist das so doof, weil hier Treppen sind!“

„Vielleicht beim nächsten Mal“, erwiderte Ermelinde lächelnd. „Deine Mama übt ja jeden Tag mit mir. Wer weiß, wie schnell ich wieder stark bin und Treppen allein gehen kann!“

Silja zog das Näschen kraus. „Eigentlich könnten die so einen Aufzug an die Treppe bauen wie zu Hause. Dann kannst du fast allein da oben hin!“

Die Erwachsenen fanden es einfach herzig, wie die Kleine sich um die alte Dame bemühte.

„Ich glaube, dann würden die Kinder gar nicht mehr ihre Hausaufgaben machen, sondern nur noch die Treppe rauf- und runterfahren“, meinte Traudel Herrmanns, die Leiterin der Tagesstätte, bedauernd. „Nicht jedes Kind hat so einen Treppenlift zu Hause.“

„Auch wahr“, erwiderte Silja verständnisvoll. „Na gut, dann machen wir jetzt einen Dauerlauf nach Hause!“

Lisa hatte Mühe, Mutsch Meier und Silja einzuholen, was die alte Dame besonders genoss.

Erst nach dem Abendessen, als Silja in ihrem Bettchen lag, fanden die beiden so unterschiedlichen Frauen wieder zu ihrem Gespräch zurück.

„Mutsch, ich kann mich nicht an Siljas Vater wenden“, gestand Lisa. „Als er erfuhr, dass ich schwanger war, hat er behauptet, dass er niemals der Vater sein könne. Er drohte, allen zu erzählen, dass ich ihn immer wieder wegen des einen oder anderen Mannes versetzt hätte. Ich musste schweigen um meiner selbst willen.“

Ermelinde machte sich im Geheimen Vorwürfe, dass sie in all den Jahren stets im Hintergrund geblieben war. Ja, an Geld hatte es nicht gemangelt, nicht für die eine, nicht für die andere Ausbildung und auch nicht für den Lebensunterhalt. Aber Lisa hätte eine starke Schulter gebraucht, eine Ersatzmutter, in deren Armen sie sich hätte ausweinen können.

Doch jetzt war es zu spät. Mutsch Meier musste weiter schweigen. Sie würde einen anderen Weg finden, um Lisa auch in Zukunft beizustehen.

„Du hättest nach Siljas Geburt einen Vaterschaftstest machen lassen können.“

Lisa winkte ab. „Das hatte ich vor. Dummerweise habe ich es ihm gesagt. Er hat sich sofort Urlaub genommen, war für mich nicht mehr zu sprechen und innerhalb weniger Tage aus Ingolstadt verschwunden.“

„Verschwunden?“

„Ja, ich habe später erfahren, dass er eine Stelle in Neuseeland angenommen hat. Weiter weg konnte er wohl kaum gehen“, sagte sie bitter und setzte leise hinzu: „Es war einer unserer Lehrer, dem ich vertraut hatte. Dass er verheiratet war, wusste ich nicht.“

„Aber du könntest einen Anwalt einschalten …“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat seine Strafe bekommen. Eine ehemalige Kollegin hat mir vor etwa drei Jahren erzählt, dass seine Frau und die beiden Kinder aus Neuseeland zurückgekommen sind, weil sie nie richtig Fuß gefasst hatten. Und allein hatten sie nicht bleiben wollen. Er muss wohl bei einem Segelausflug ums Leben gekommen sein – er und ein junges Mädchen.“

„Der liebe Gott straft, wo er es für richtig hält“, stellte Mutsch Meier fest und dachte für einen Augenblick an ihren Sohn, der einfach nichts mehr von sich hören ließ. Rasch schickte sie ein stummes ‚Verzeih ihm‘ in den Himmel.

Dann wandte sie sich mir warmer Stimme an Lisa: „Du hast recht, meine Liebe, du kannst nicht zu der armen Frau gehen und ihr noch mehr Seelenschmerz zufügen. Aber das brauchst du auch nicht. Was immer passiert, ich bin für dich da.“

Lisa kämpfte mit den Tränen. Ihr Bericht hatte sie aufgewühlt, und die Güte Ermelindes war so schmerzvoll tröstlich, dass sie nur nicken konnte.

„Lass uns schlafen gehen, Lisa! Morgen ist auch noch ein Tag. Dann erzählst du mir von deiner Familie – das, was du noch weißt. Es gibt noch vieles, über das wir sprechen müssen!“

Lisa küsste Mutsch Meier auf beide Wangen und half ihr in den ersten Stock ins Schlafzimmer.

***

Mutsch Meier hatte immer wieder auf Lisa de Boor eingeredet.

„Wenigstens ein paar Stunden in der Woche solltest du dich um deinen Beruf kümmern, Lisa. Dr. Holl kann dich bestimmt gut in seiner Klinik brauchen.“

„Er hat mich ja schon gefragt“, gestand Lisa. „Aber ich mag dich nicht allein lassen, Mutsch!“

„Unsinn! Ich bin erwachsen und ganz klar im Kopf. Vielleicht bin ich nicht mehr so beweglich und öfter mal müde. Aber ich kann immer noch selbst entscheiden, was mir guttut!“

Ihre Entrüstung wirkte so komisch, dass Lisa lachen musste.

„Ich weiß schon: mein Cappuccino und Eierlikör!“

„Ach ja, das ist eine gute Idee! Sei lieb und koch uns einen Cappuccino – und dann erzählst du mir wieder ein bisschen von dir!“

Lisa ließ sich nicht zweimal bitten. Und so saßen die beiden Damen wenig später gemütlich im Wohnzimmer. Mutsch Meier nippte genüsslich an ihrer Tasse.

„Also, wie war das mit deinen Eltern?“, wollte sie wissen. „Woran erinnerst du dich?“

„Sie waren großartig, liebevoll und wunderschön“, sagte Lisa langsam. „Wir hatten ein Haus – ich kann mich aber nicht wirklich erinnern. Ich weiß auch nicht mehr genau, wo. Papa stammte aus Belgien. Ach, Mutsch, es ist so lange her!“

Eine kleine Weile blieb es still. Nur das Ticken der alten Kaminuhr war zu hören.

„Was ist geschehen?“

„Es war ein Unfall. Meine Eltern waren sofort tot. Mich brachte man zu einer entfernten Cousine meiner Mutter. Aber die war schon alt. Sie konnte mit einer Dreijährigen nichts anfangen, zumal ich wohl immer nur geweint habe. Zumindest hat mir das Schwester Gishilde im Kinderheim erzählt.“

Lisa hatte die Verwandte nie mehr gesehen. Sie konnte sich nicht einmal mehr an ihr Aussehen erinnern. Ein kleines Päckchen mit alten Fotos, einer Goldkette mit Medaillon und einer Armbanduhr, die wohl ihrem Vater gehört hatte, das waren ihre Schätze und die einzigen Erinnerungen an ihr früheres Leben.

Im Kinderheim hatte sie sich stets etwas abgesondert und zeigte sich störrisch, wenn Paare auf der Suche nach einem Adoptivkind ins Haus gekommen waren. Einzig einer vornehmen Dame hatte sie ihr Vertrauen geschenkt. Die hatte jedoch keine Anstalten gemacht, sie zu adoptieren.

Mutsch Meier biss sich auf die Lippen. Wenn Lisa jetzt bloß nicht auf die Idee kam, dass sie jene Dame war!

„Sie trug immer große Hüte, mehr weiß ich auch nicht mehr. Aber ich glaube, dass sie diejenige war, die den Förderfonds, wie wir es später nannten, eingerichtet hatte.

Als ich Schwester Gishilde fragte, wer die Gönnerin oder der Gönner sei, der mir so viel ermöglichte, sagte sie, dass die Personen – ja, sie sagte ‚Personen‘ – ungenannt bleiben wollten. Das fand ich schade.“

„Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass diese – diese Gönnerin vielleicht immer noch deinen Lebensweg verfolgt? Sie würde sich sicher freuen, wenn du wieder in deinem Beruf arbeitest. Und du bist in der glücklichen Lage, dass du gleich zwei Ausbildungen hast und wählen kannst!“

„Mutsch Meier!“, rief Lisa mit leiser Empörung. „Ich glaube, ich kann dir erzählen, was ich will, du wirst immer wieder auf dasselbe Thema zurückkommen!“

„Ja.“ Sie nickte zufrieden. „Das hast du gut erkannt, mein Kind. Es ist einfach an der Zeit, dass du nicht immer nur an mich alte Frau denkst!“

Sie lehnte sich demonstrativ in ihrem Sessel zurück und schloss die Augen.

Im nächsten Augenblick gingen ihre Gedanken wieder eigene Wege. Mutsch Meier sah die süße Kleine mit den großen traurigen Augen vor sich, glaubte gar, das „Marienheim der frommen Schwestern“ zu riechen. Sie spürte die kleinen Hände, die sich in die ihren schoben, und empfand Leid und Sehnsucht, die sie damals nicht hatte stillen können. Heribert hätte einer Adoption nie zugestimmt …

Wenn sie nur lange genug lebte, damit sie ihr Schweigen wiedergutmachen konnte!

Im nächsten Moment sah sie ihren Heribert vor sich, seine Trauer und seinen Schmerz, als Gereon im Streit von ihnen geschieden war. Er hatte es weder ihr noch dem Sohn verziehen, dass Gereon einfach ausgewandert war.

Wenn sie nur lange genug lebte, damit sie ihren Sohn noch einmal sehen konnte …

Lisa wusste nicht, ob Mutsch Meier wirklich schlief oder ob sie nur so tat. Sie hatte sich zu einer sehr guten Schauspielerin entwickelt, was sicher nicht böse gemeint war. Die alte Dame nutzte nur alle Möglichkeiten, ihre Wünsche durchzusetzen.

Und wenn sie nur so tat, so würde sie gleich eingeschlafen sein. Ein Erholungsschlaf, den Mutsch immer öfter nach solchen Gesprächen brauchte.

Lisa beschloss, noch einmal mit Dr. Holl zu sprechen. Vielleicht konnte er sie dann und wann in der Klinik einsetzen.

Und so kam es, dass Lisa de Boor zweimal in der Woche als Physiotherapeutin auf der Kinderstation arbeitete. Sie durfte Silja mitbringen, sodass Mutsch Meier sich nicht um die Kleine kümmern musste. Für die kranken Kinder war die quirlige Silja eine willkommene Abwechslung.

An einem dieser Tage brachte Lisa einen hellblauen Briefumschlag mit in die Berling-Klinik.

„Dr. Holl, glauben Sie wirklich, dass wir Gereon Meier damit finden können?“, fragte sie den Klinikchef bang.

Dr. Holl lächelte zuversichtlich.

„Ich habe einen hervorragenden Spezialisten für die Suche im Internet“, erwiderte er. „Mein Sohn ist heute schon ein kleines Genie auf diesem Gebiet. Er hat sogar mir die ersten Schritte an dieser Höllenmaschine beigebracht.“

„Heutzutage sind Computer schon fast in jedem Kinderzimmer zu finden“, erwiderte Lisa amüsiert. „Geben Sie zu, Herr Doktor, ohne Computer würde hier in der Klinik so gut wie nichts mehr funktionieren, und Sie arbeiten selbst gern damit!“

„Ich bekenne mich schuldig, Frau de Boor, ich habe übertrieben! Aber was das Internet angeht, so habe ich damit reichlich Probleme!“ Er steckte den Umschlag ein. „Diese Suchen machen mich nervös. Das ist etwas anderes als meine tägliche Arbeit mit diesen Geräten.“

***

Dr. Holl war an diesem Abend früher als sonst nach Hause gekommen. Er hatte schon am Mittag angerufen und darum gebeten, dass sein fünfzehnjähriger Sohn auf ihn warten sollte.

Chris hatte sein Sündenregister von oben nach unten und umgekehrt durchgearbeitet, hatte aber nichts gefunden, was die Anordnung seines Vaters hätte hervorrufen können.

Mit Herzklopfen sah er ihm nun entgegen.

„Hallo, Paps! Ist was passiert? Du bist so früh zu Hause …“

Stefan Holl klopfte seinem Sprössling freundlich auf den Rücken.

„Es ist alles in Ordnung, mein Sohn. Dein alter Vater braucht einfach mal deine Hilfe!“

„Okay …“ Der Fünfzehnjährige blieb misstrauisch. Dass sein Vater ihn um Hilfe bat, kam nicht so oft vor.

„Am besten setzen wir uns in dein Zimmer. Dann erkläre ich dir, worum es geht!“ Dr. Holl nahm gleich zwei Stufen auf einmal in die erste Etage.

Chris konnte ihm kaum folgen.

„Mann, Paps, was ist denn los?“

Er bekam keine Antwort. Erst als der Hausherr in dem ziemlich unordentlichen Jungenzimmer nachdrücklich die Tür schloss, ein paar zusammengeknüllte Kleidungsstücke von einem Stuhl schob und ein Paar schmutzige Turnschuhe aus dem Weg kickte, wandte er sich an Chris.

„Räumst du hier auch noch mal auf?“, erkundigte er sich in ironischem Ton. „Du darfst zwischendurch auch ruhig mal lüften.“

Der Junge wurde brandrot.

„Morgen ist Aufräumtag! Ich schwör’s!“

Stefan verkniff sich ein Grinsen und brummte kaum verständlich: „Na, dann ist es ja gut!“ Er wies auf den Schreibtisch, auf dem der Computer seines Sohnes stand. „Setz dich!“

Dann zog er einen Briefumschlag aus der Jackentasche, hielt ihn aber so, dass Chris ihn nicht lesen konnte.

„Zuerst einmal, alles, was wir beide hier besprechen, darf dieses Zimmer nicht verlassen“, sagte er ernst.

„Versprochen! Du weißt, ich kann schweigen wie ein Grab!“

„Gut.“

Nun erzählte Stefan, dass Lisa de Boor den Briefumschlag heute in die Klinik gebracht hatte. Ein Absender stand nicht drauf. Aber der Poststempel war gut lesbar.

„Also, es geht darum, dass der Sohn einer meiner Patientinnen in die USA ausgewandert ist. Sie hat seither immer nur Weihnachts- und Geburtstagsgrüße bekommen, auf denen nie eine Absenderadresse stand. Die Dame weiß nicht, wie sie ihren Sohn erreichen kann. Ihre Betreuerin, Frau de Boor, sorgt sich nun sehr und hofft, dass wir irgendwie an die Adresse kommen.“

Zuerst hörte Stefan Holl ein erleichtertes Stöhnen, Chris waren ganze Berge von der Seele gefallen. Er hatte also nichts ausgefressen.

Er schaltete den Computer ein.

„Name?“, fragte er geschäftsmäßig.

„Gereon Meier!“

Fassungslos starrte Chris seinen Vater an. „Das ist nicht dein Ernst, Paps! Wie soll ich denn den Mann finden? Weißt du, wie viele Meiers es gibt?“

„Ich hoffte, dass es die Verbindung mit dem Vornamen Gereon nicht so oft gibt“, erwiderte sein Vater ein wenig hilflos.

„Vielleicht …“

Es dauerte einen Moment, bis Chris auf die ersten Ergebnisse zeigte.

„In Deutschland gibt es allein sechzehn Leute mit diesem Namen!“

„So viele?“ Stefan Holl war schockiert.

„Schätz mal, wie oft mein Name in deutschen Telefonbüchern steht!“

Fragend sah der Vater den Sohn an. „Na ja …“

„Mindestens einhundertneunundneunzig Mal!“

„Willst du dich umbenennen lassen?“, wollte Stefan erschrocken wissen.

„Quatsch! Gib mir lieber den Umschlag. Ich muss die Suche anders angehen. Wenn man den Ort auf dem Stempel lesen kann, könnte ich versuchen, das örtliche Telefonbuch zu durchsuchen.“

„Das kannst du?“

„Vielleicht, Paps!“

Chris nahm den Briefumschlag und betrachtete den Poststempel durch ein Vergrößerungsglas.

„Schau mal, Paps, könnte das Seattle heißen?“

Dr. Holl drehte den Umschlag ein bisschen hin und her und nahm dann auch das Vergrößerungsglas zur Hilfe.

„Du könntest recht haben …“

„Okay“, meinte Chris, „dann lass mich mal allein. Wenn ich was gefunden habe, sage ich dir Bescheid!“

„Ich würde gern zusehen und etwas lernen!“

Lachend wehrte Chris ab. „Paps, du machst mich nur nervös! Ich darf doch auch nicht bei deinen Operationen zusehen!“

„Schon gut, ich sehe mal nach, was unsere Cäcilie zum Abendessen zaubert!“

Chris stürzte sich in die Arbeit. Er musste ganz schön tüfteln, um seinem Ziel, der Adresse Gereon Meiers, näher zu kommen.

Stefan Holl zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Ruhe fand er nicht. Immer wieder stand er auf und durchmaß den Raum mit langen Schritten, bis Julia plötzlich hinter ihm stand und ihn festhielt.

„Was ist los, Liebling?“, erkundigte sie sich sanft. „Cäcilie sagte mir, dass du sehr früh zu Hause warst und dich mit Chris zurückgezogen hast. Hat der Junge etwas angestellt?“

„Nein, mein Julchen!“ Stefan küsste sie zärtlich. „Chris ist ein kluger Kopf. Er recherchiert für mich im Internet!“

„Geht es um Mutsch Meier?“

Stefan erzählte seiner Frau von Lisa de Boors großer Sorge und Ermelindes unendlicher Sehnsucht nach ihrem Sohn.

„Wenn Chris herausfindet, wo er wohnt, können wir ihn vielleicht erreichen …“

In diesem Moment stürmte Chris herein.

„Ich hab ihn! Das ist er garantiert! Gereon Meier-Sanders in Seattle!“

Chris hatte nicht nur die Adresse herausgefunden, er berichtete auch, dass die Familie Sanders ein Architekturbüro besaß, gegründet von Horatio Joseph Sanders. Als derzeitige Firmenleiter wurden Harriet und Gereon Meier-Sanders genannt. Sogar ein Familienfoto hatte Chris im Netz gefunden. Demnach hatte das Paar einen Sohn.

„Gut gemacht!“ Stefan Holl war sichtlich stolz auf seinen Sohn. „Jetzt werden wir einen Brief aufsetzen und nach Amerika schicken. Und dann können wir nur noch beten und hoffen!“

Diesmal war es der Fünfzehnjährige, der seinem Vater kumpelhaft auf den Rücken klopfte.

„Das wird schon, Paps“, meinte er grinsend. „Der wird seine Mutter schon nicht im Stich lassen. Also, ich könnte das nicht!“

„Du bist ja auch ein echter Holl“, erwiderte Stefan vergnügt.

„Ja, einer von mindestens einhundertneunundneunzig!“

„Würdet ihr mich bitte aufklären?“, verlangte Julia Holl irritiert.

„Klar, Mama“, versprach Chris mit der Großzügigkeit seiner fünfzehn Jahre. „Aber bitte beim Abendessen! Ich bin völlig ausgehungert! Weißt du, wie hungrig so eine Recherche macht?“

***

Lisa de Boor hatte Mutsch Meier nicht verraten, dass sie mithilfe Dr. Holls die Adresse von Gereon herausgefunden hatte. Unbemerkt hatte sie den Briefumschlag wieder an seinen Platz gelegt.

Während Mutsch Meier ihren Mittagsschlaf hielt, setzte Lisa einen rührenden Brief an Gereon auf und machte ihm klar, wie wichtig es war, dass er sich endlich um seine Mutter kümmerte.

Sie stirbt vor Sehnsucht , schrieb sie. Ich weiß, dass sie sich immer wieder die Augen nach Ihnen ausweint. Ihr Herz ist so schwach, dass sie die Trennung von ihrem geliebten Sohn nicht mehr verkraftet.

Als sie recht schwungvoll ihren Namen unter den Brief gesetzt hatte, fiel ihr ein, dass es vielleicht angebracht war, eine englische Übersetzung beizufügen – vor allem, wenn es um die genaue Beschreibung von Mutsch Meiers Gesundheitszustand ging.

Lisa versuchte sich in holprigem Englisch. Dann rief sie Dr. Holl an. Zum Glück konnte Moni Wolfram sie sofort zu ihm durchstellen.

Dr. Holl überlegte nicht lange.

„Am besten kommen Sie zu uns nach Hause, Frau de Boor. Wäre es Ihnen am Samstag recht? Bringen Sie Ihre Tochter ruhig mit! Wir haben einen schönen Garten, in dem sie spielen kann. Unsere Juju freut sich immer, wenn sie kleine Spätze betreuen darf!“

Lisa bedankte sich. Sie hatte sich so sehr an Dr. Holls selbstverständliche Unterstützung gewöhnt, dass sie sogar ihre Schüchternheit und Verlegenheit abgelegt hatte.

So hatte sie keine Scheu, seine Einladung anzunehmen, und stand am Samstagnachmittag mit Silja vorm Doktorhaus.

Es war Juju, die ihr öffnete. „Hallo, wollt ihr zu meiner Mama?“

„Nein, wenn du Juju bist, dann wartet dein Vater auf uns“, erwiderte Lisa de Boor freundlich. „Ich heiße Lisa, und das ist Silja!“

„Klar, jetzt weiß ich Bescheid!“ Juju streckte Silja die Hand entgegen. „Komm, wir bringen deine Mama zu meinem Papa, und dann gehen wir in den Garten!“

„Das ist sehr lieb von dir, Juju!“ Lisa folgte den beiden Mädchen und freute sich, dass Silja so vertrauensvoll Jujus Hand genommen hatte.

Wenig später saß sie Dr. Holl, seiner Frau und einem weiteren Mann gegenüber.

„Ich möchte Ihnen meinen Schwager Dr. Lassow vorstellen“, sagte Stefan nach der Begrüßung. „Axel ist Anwalt – auch der Anwalt von Mutsch Meier.“

Lisa wich erschrocken zurück. „O mein Gott …“

„Keine Angst, Frau de Boor“, versuchte Julia mit sanfter Stimme, die junge Frau zu beruhigen. „Unser Schwager“, sie vermied das Wort Anwalt, „möchte Ihnen helfen. Auch ihm liegt daran, dass sich Mutsch Meiers Sohn meldet.“

Lisa ließ sich dazu bewegen, Platz zu nehmen und ihren Brief vorzulegen.

„Es ist sicher besser, wenn er auch in englischer Sprache geschrieben wird. Ich kann nicht begründen, weshalb ich so denke“, gestand sie leise.

Dr. Axel Lassow räusperte sich.

„Ich helfe gern beim Übersetzen. Vielleicht kann Gereon Meier aus irgendwelchen Gründen nicht selbst antworten. Dann kann zumindest ein Familienmitglied den Brief lesen.“

Das Ehepaar Holl war sehr von den liebevollen Worten angetan, die Lisa de Boor gefunden hatte.

Ihre Mutter ist so voller Sehnsucht nach Ihnen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, ihre Sehnsucht zu stillen. Ich bitte Sie von Herzen, rufen Sie Ihre Mutter an – nein, bitte kommen Sie nach München, damit Sie Ihre Mutter noch einmal umarmen können.

So schloss der Brief, und Julia wollte schon eine Träne aus den Augenwinkeln wischen, so sehr ging ihr der Wortlaut ans Herz.

„Ich bin davon überzeugt, dass Gereon Meier sich meldet“, meinte sie.

„Er wird froh sein, dass seine Mutter bei Ihnen so gut aufgehoben ist, Frau de Boor“, behauptete Dr. Lassow mit einem kleinen Lächeln. „Ich wäre es jedenfalls.“

Lisa wurde rot. „Bitte, ich tue nur, was ich kann. Ich habe mir immer vorgestellt, dass meine Mutter so eine wunderbare und großzügige Frau hätte sein können wie Mutsch Meier.“

„Ihre Mutter ist verstorben?“, erkundigte sich Julia Holl leise. Stefan hatte bisher nur über die Fähigkeiten der jungen Frau gesprochen.

Lisa seufzte leise. „Meine Eltern sind verunglückt, als ich drei Jahre alt war. Ich blieb bei einer alten Tante zurück, die mich ins Heim brachte, als ich fünf Jahre alt wurde. Wahrscheinlich war ich in meiner Trauer zu störrisch geworden.“

„Das ist sehr traurig.“ Julia hätte Lisa am liebsten in den Arm genommen.

„Ja, das ist es – einerseits. Andererseits habe ich viel Glück gehabt. Es gab einen Ausbildungsfonds für begabte Kinder in diesem Heim. Ich habe ohne Sorgen zwei Ausbildungen machen können. Das hatte ich dem Fonds zu verdanken. Und dann durfte ich mit meinem Kind die Stelle bei Mutsch Meier antreten. Besser hätte ich es nicht antreffen können!“

„Sie war schon immer eine großartige und hilfsbereite Frau“, warf Dr. Holl ein. „Sie hat sich viele Jahre für die eine oder andere Spendengala oder Benefiz-Veranstaltung eingesetzt – manchmal sogar gegen den Willen ihres Mannes. Herr Meier gehörte auch einigen Gremien an, die sich um verschiedene soziale Projekte kümmerten. Aber er wollte die Menschen nicht kennenlernen, denen er half, im Gegensatz zu seiner Frau.“

„Wohl aber erst, als Gereon die Familie verlassen hatte. Das hat Mutsch Meier mir erzählt“, ergänzte Lisa. „Und nun geht es ihr auch immer schlechter.“

„Vielleicht erholt sie sich, wenn ihr Sohn sich meldet“, sagte Dr. Holl hoffnungsvoll.

Julia bat ihre Gäste auf die Terrasse: „Cäcilie hat schon Kaffee gekocht, und die Kinder warten sicher auch auf uns.“

Auf dem Weg zur Terrasse erkundigte sich Axel Lassow: „Frau de Boor, verraten Sie mir, welche Ausbildung Sie genossen haben?“

Lisa lachte. Der Anwalt hatte sich vorsichtig ausdrücken wollen und klang gerade deshalb ein bisschen altbacken.

„Ich bin sowohl examinierte Physiotherapeutin als auch Krankenschwester.“

„Gratuliere, da wird der gute Stefan Sie nicht mehr aus den Fingern lassen! Solche Perlen sammelt er für seine Klinik!“

Dr. Axel Lassow wusste sehr genau, was hinter der Geschichte Lisa de Boors steckte und wie sehr sie mit dem Leben seiner Mandantin verknüpft war. Aber das durfte er nicht verraten. Mutsch Meier hatte angeordnet, dass Lisa die Wahrheit erst nach dem Tod der alten Dame erfahren sollte.

Angesichts der bezaubernden Mädchen, die so fröhlich und unbeschwert im Garten spielten, lösten sich alle beschwerlichen Gedanken in Nichts auf.

Juju hatte ihre Puppen, die sie schon lange nicht mehr an die frische Luft gebracht hatte, in den Garten geholt und beaufsichtigte auf liebevolle Weise, wie Silja die Puppenkinder an- und auszog.

***

Silja schob den Rollstuhl von Mutsch Meier durch den Park und plapperte fröhlich drauflos. Begeistert erzählte die Kleine von Jujus Puppen.

„Ich hab sie anziehen dürfen! Und ich durfte ihnen neue Namen geben. Das war sooo schön! Und ich darf wiederkommen, hat sie gesagt. Juju ist ja schon groß!“

Lisa hatte Spaß daran, mit welcher Aufmerksamkeit Mutsch Meier der Erzählung der Kleinen folgte. In den letzten beiden Tagen hatte sie immer apathischer in ihrem Bett gelegen und sich nur schwer überreden lassen, ihr Schlafzimmer wenigstens für ein paar Stunden zu verlassen.

Wieder einmal war sie froh, dass sie gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit den Rollstuhl besorgt hatte. Mutsch Meier war so schwach, dass sie kaum laufen konnte. All ihr Können als Physiotherapeutin reichte nicht aus, die Muskeln wiederaufzubauen und sie beweglicher zu machen.

Mit dem Rollstuhl kam sie wenigstens an die frische Luft. Silja hatte jedes Mal Spaß daran, wenn sie Mutsch Meier schieben durfte.

„Mami, Mutsch möchte Cappelschino!“

„Cappuccino, heißt das, Süße!“ Lisa lachte herzlich. „Und du möchtest sicher ein Eis, nicht wahr?“

Silja nickte heftig, dass ihre blonden Locken flogen.

„Und ich möchte alles wissen, was du mit Dr. Holl besprochen hast, Lisa“, meldete sich Mutsch Meier zu Wort. „Er ist doch bestimmt zufrieden mit dir und möchte, dass du noch mehr für ihn arbeitest!“

„Du weißt ja schon alles!“, erwiderte Lisa vergnügt. „Aber ich habe ihm abgesagt, im Moment braucht ihr mich mehr, Silja und du. Und ein paar Stunden in der Woche in der Klinik helfen mir, nicht einzurosten.“

„Du bist ein dummes Mädchen!“

„Meine Mami ist nicht dumm!“, krähte Silja empört dazwischen.

„Nein, Mäuschen, sie ist eine kluge Frau“, berichtigte sich Mutsch Meier. „Aber auch kluge Frauen sind manchmal verflixt dumm!“

„Mami nie!“, erwiderte Silja inbrünstig.

Mutsch Meier seufzte theatralisch. „Mit euch beiden habe ich es nicht leicht!“

„Gar nicht wahr!“, protestierte Silja. „Mami, das stimmt nicht, oder?“

Lisa strich ihrer Tochter beruhigend über den Kopf.

„Keine Aufregung, mein Spatz! Mutsch Meier meint es nur gut mit uns beiden.“

„Wir mit ihr aber auch!“ Ganz so schnell war das Mädchen nicht zu beruhigen.

***

Wenig später saßen sie auf der Terrasse des Cafés. Die Bedienung kannte sie schon und begrüßte sie besonders freundlich. Silja durfte sich an der Theke ihr Lieblingseis aussuchen, und Mutsch Meier freute sich auf ihren Cappuccino.

„Es ist so schön, mit euch hier zu sitzen und den Ausblick, die Sonne und den Kaffee zu genießen“, befand sie und klang sowohl zufrieden als auch traurig. Ihre Stimmlage war irgendwo dazwischen, sodass Lisa in Habacht-Stellung ging.

„Was ist los, Mutsch Meier? Kann ich etwas für dich tun?“, fragte sie sanft.

„Ach, Kind, ich merke halt, dass mein Herz trotz aller Medikamente immer schwächer wird …“

„Das darfst du eben nicht zulassen. Es gibt so vieles, was du noch tun kannst. Du bist mir ein lieber und unverzichtbarer Mutterersatz – nicht nur, weil wir dich Mutsch nennen. Silja braucht dich und deine Geschichten. Sie liebt dich mit der ganzen Kraft ihrer kleinen Kinderseele.“

Der Seufzer der alten Dame klang diesmal echt und voller Schmerz.

„Lisa, Kind, ihr beide seid mir ein unendlicher Trost. Ich glaube, ich würde gar mehr leben ohne euch … Aber da ist eine Wunde, die sich nicht schließen lässt …“

Am liebsten hätte Lisa ihr verraten, dass sie die Adresse des so schmerzlich vermissten Sohnes herausgefunden hatte. Aber sie schwieg, hoffte sie doch auf eine positive Antwort aus Amerika.

Silja hatte ihr Eis längst aufgeschleckt und war nach draußen gelaufen. Jetzt kam sie mit Gänseblümchen zurück.

„Hab ich für euch gepflückt“, verriet sie und drückte zuerst ihrer Mutter und dann Mutsch Meier ein winziges Sträußchen in die Hand. „Weil ich euch ganz doll lieb habe“, fügte sie hinzu.

***

Ermelinde Meier ging es immer schlechter. Es war, als wollte ihr Lebenslicht still verlöschen. Mutsch hatte ihren Lebenswillen verloren.

Voller Sorge bat Lisa de Boor Mutschs Ärzte um Hilfe. Die alte Dame wollte nicht ins Krankenhaus.

Jeden zweiten Tag erhielt sie Besuch von Dr. Holl oder von Dr. Falk. Und es war Silja, die nun zur „Märchentante“ wurde und versuchte, mit kleinen Geschichten Mutsch Meier zu erfreuen.

„Meine Mami sagt immer, man muss die Gänseblümchen sehen“, plapperte sie munter drauflos. „Weil nämlich die Gänseblümchen so schön sind, kann man sich dran freuen. Soll ich dir noch mal ein paar davon aus dem Garten holen, Mutsch?“

Tatsächlich schlich sich ein kleines Lächeln in das eingefallene Gesicht der alten Dame. „Mach das, meine kleine Prinzessin! Aber komm schnell wieder!“

Es war, als spürte Mutsch Meier, dass ihr die Zeit davonlief. Sie schloss die Augen und ließ sich von ihren Erinnerungen in jene glückliche Vergangenheit tragen, die niemals die Chance auf eine positive Zukunft hatte. Gereon war so weit weg, Gereon, ihr Sohn, ihr Ein und Alles … Ermelinde sah ihn vor sich, diesen kleinen niedlichen Kerl, der mit hellem Lachen über die Wiese im Garten tollte.

Noch ehe die Leere in ihr Herz zurückkehrte, stand Silja wieder an ihrem Bett und hielt ihr einen etwas zerdrückten Strauß Gänseblümchen entgegen.

„Du bist ein echter Schatz, Gereon“, sagte sie leise.

„Ich bin Silja!“

Mutsch Meier schaute das Mädchen erstaunt an.

„Aber das weiß ich doch, meine Kleine!“

Im nächsten Augenblick war sie eingeschlafen. Ein entrückt wirkendes Lächeln verschönte ihr Gesicht.

***

Lisa de Boor, die Dr. Holl begleitet hatte, erschrak.

„Sie darf nicht … nicht jetzt, Dr. Holl! Silja, bitte geh in den Garten!“

Dr. Holl beugte sich über Mutsch Meier und überprüfte ihren Puls.

„Sie schläft“, sagte er sanft. „Frau de Boor, wir sollten ihr die nötige Ruhe lassen. Wir sollten miteinander reden.“

„Ich lasse sie nicht allein, Doktor, das kann ich nicht, nicht jetzt!“, wehrte sie ab.

„Deshalb habe ich Schwester Hella mitgebracht. Sie wird Ihren Platz einnehmen, damit Sie auch mal eine Pause machen können.“

Die junge Schwester hatte an der Tür gewartet und kam auf den Wink des Arztes näher.

„Sie können sich auf mich verlassen, Frau de Boor“, sagte sie mit glockenheller Stimme. „Ich werde gut auf Frau Meier achten.“

„Mutsch – Mutsch Meier heißt sie“, erwiderte Lisa erleichtert. „Bitte nennen Sie sie niemals anders!“

Sie strich der alten Dame noch einmal sanft über die Wange, ehe sie mit Dr. Holl ins Wohnzimmer ging.

„Ich spüre, dass es mit ihr zu Ende geht, Dr. Holl. Sie spricht auf ihre Medikamente nicht mehr an. Es ist schon gut, dass sie keine Schmerzen hat.“

„Sie wird einschlafen, wenn es so weit ist“, gab Dr. Holl zurück. „Wichtig ist, dass sie trinkt und isst.“

„Ich habe schon Spezialnahrung besorgt. Dr. Falk hatte mich darauf hingewiesen. Ich fühle mich so hilflos – und so traurig, weil immer noch keine Antwort aus Amerika gekommen ist.“

Dr. Holl seufzte unhörbar. „Mein Schwager ist auf dem Weg hierher. Er hat wohl eine Antwort bekommen. Er klang nicht zufrieden und bat mich, hier auf ihn zu warten.“

„O Gott, Gereon wird nicht kommen! Er interessiert sich nicht mehr für seine Mutter!“ Lisas Stimme versagte. „Das wird Mutsch Meier den Rest geben! Das darf sie nicht erfahren!“, setzte sie dann hinzu.

„Warten wir es ab.“ Dr. Holl mochte ihr nicht sagen, dass er genauso empfand wie sie.

Zum Glück mussten Sie nicht lange warten. Dr. Lassow begrüßte Lisa freundlich und nickte seinem Schwager kurz zu.

„Es tut mir sehr leid, dass ich keine guten Nachrichten mitbringe“, erklärte er, nachdem er Platz genommen hatte. „Heute kam der Antwortbrief aus Amerika. Ich habe ihn geöffnet, wie wir es abgesprochen hatten. Wenn es Ihnen recht ist, Frau de Boor, lese ich das Schreiben vor.“

Lisa nickte und zog ihre kleine Tochter fest in ihre Arme. Silja verstand noch nicht, wie wichtig dieser Moment war – für sie, für ihre Mama, vor allem aber für Mutsch Meier.

Sehr geehrte Frau de Boor, verehrter Dr. Holl und Dr. Lassow,

ich heiße David Meier, bin fünfunddreißig Jahre alt und der Sohn von Gereon und Harriet Meier-Sanders. Ich verstehe sehr gut Deutsch, weil mein Vater immer darauf bestanden hat, dass ich seine Sprache lerne.

Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass mein Vater Gereon vor mehr als einem Jahr verstorben ist.

Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass ich noch eine Großmutter in Deutschland habe. Mein Vater hat mit den Jahren immer weniger von seiner alten Heimat gesprochen. Ich wage zu behaupten, dass er mehr Heimweh hatte, als er zugeben wollte.

Selbstverständlich möchte ich gern nach Deutschland kommen und meine Grandma kennenlernen. Vor allem möchte ich auch Ihnen danken, die Sie sich so wunderbar um sie bemühen. Darüber würde sich mein Vater sicher gefreut haben.

Ich bin Architekt und habe Vaters Firma übernommen. Das bedeutet, dass ich nicht sofort auf Reisen gehen kann. Es wird sicher ungefähr drei Monate dauern, ehe ich nach München kommen kann.

Bitte grüßen Sie meine Grandma und sagen Sie ihr, dass ich sie sehr liebe. Und tun Sie bitte alles in Ihrer Macht Stehende für sie, ganz egal, was es kosten mag. Ich übernehme selbstverständlich alle Rechnungen. Es soll ihr gut gehen. Vielleicht kann sie mir verzeihen, dass ich mich bisher nicht um sie kümmern konnte.

Ihnen noch einmal besten Dank für Ihre Mühe.

Es grüßt David Meier.

„O mein Gott!“ Lisa war tief betroffen. „Was ist in dieser Familie nur falsch gelaufen, dass Gereon Meier nicht einmal seinem Sohn von Mutsch Meier erzählt hat?“

Erst dann begriff sie, dass Gereon nicht nach München kommen konnte, weil er verstorben war.