Die besten Ärzte - Sammelband 61 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 61 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1826: Noch sind wir nicht geschieden
Notärztin Andrea Bergen 1305: Solange du mich liebst ...
Dr. Stefan Frank 2259: Neles Geheimnis
Dr. Karsten Fabian 202: Ein Kuss, ein Flirt - und tausend Tränen
Der Notarzt 308: Probe für den großen Tag


Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 574

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Ulrike Larsen Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 61

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2016/2017/2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © OPOLJA / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-6475-9

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 61

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1826

Noch sind wir nicht geschieden

Die Notärztin 1305

Solange du mich liebst …

Dr. Stefan Frank 2259

Neles Geheimnis

Dr. Karsten Fabian - Folge 202

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Ein Kuss, ein Flirt – und tausend Tränen

Der Notarzt 308

Probe für den großen Tag

Guide

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Contents

Noch sind wir nicht geschieden

Warum Silvia plötzlich eine Auszeit brauchte

Von Katrin Kastell

Als Dr. Silvia Bäumler ihr Kind in den ersten Wochen der Schwangerschaft verliert, gerät sie in eine tiefe Krise und quält sich mit Selbstvorwürfen. Ist sie mit siebenunddreißig Jahren vielleicht doch schon zu alt, um ein Kind auszutragen?

Dr. Holl, ihr Gynäkologe und Vorgesetzter, spricht ihr immer wieder Mut zu. Der Chefarzt der Berling-Klinik ist überzeugt, dass sich Silvias Wunsch nach einem Baby erfüllen wird. Schließlich sind sie und ihr Mann Antonio kerngesund und halten sich mit Sport und bewusster Ernährung fit.

Bald schöpfen auch Silvia und Antonio wieder Hoffnung. Sie wünschen sich beide so sehr ein Baby. Doch mit einem Schlag platzen Silvias Träume, denn sie kommt dahinter, dass ihr Mann eine Affäre hat und sich mit seiner Geliebten schamlosen Liebesspielen hingibt, die ihr die Röte in die Wangen treiben …

Es war Freitagnachmittag. Die Gerichtstermine waren vorüber, und der letzte Klient hatte die Kanzlei verlassen. Dennoch wollte die Arbeit kein Ende nehmen. Antonio Bäumler arbeitete noch an einem Schriftsatz, der am Montagmorgen am Gericht sein musste. Da er am Wochenende mit seiner Frau wegfahren wollte, musste er an seinem Schreibtisch ausharren.

Früher hatte Antonio häufig länger gearbeitet und war am späten Abend als Letzter gegangen. Das hatte zum Alltag gehört. Sein Büro in der Kanzlei war für ihn immer ein Ort gewesen, an dem er sich optimal konzentrieren konnte. Zu Hause wollte er abschalten und Privatmann sein. Arbeit mit nach Hause zu nehmen, das war ihm zuwider.

In den vergangenen zwei Monaten hatte er es trotz allem getan und war nie länger als seine Kollegen und die Sekretärinnen geblieben. Selbst so war es zu Vorfällen gekommen, die ihn verstörten. Am liebsten hätte er die Kanzlei gewechselt, aber das war nicht so einfach.

Wie hätte er es begründen sollen? Ausgerechnet sein ungewöhnlicher Erfolg und seine allgemein bekannten guten Aussichten, die Kanzlei irgendwann einmal zu übernehmen, machten ein Wechseln problematisch. Trotz allem empfand er eine große Loyalität der Kanzlei gegenüber.

Es war ein ungeschriebenes Gesetz zwischen ihm und seiner Frau Silvia, dass sie die wenige Freizeit, die sie gemeinsam hatten, voll und ganz einander widmeten. Die Arbeit war gewöhnlich selbst als Gesprächsthema tabu zwischen ihnen. Die Akten, die er plötzlich mit heimbrachte, hatten Stirnrunzeln und giftige Bemerkungen bei ihr ausgelöst. Er wollte sie nicht unnötig reizen.

Wie gerne hätte er über all das mit Silvia gesprochen. Sicher hätte sie Rat gewusst. In solchen Dingen war sie einfach weiser als er, aber im Moment konnte er sie nicht fragen. Sie kämpfte mit ihrer Trauer, die sie sich nicht eingestand, und hatte sich in die Arbeit geflüchtet. Er war an der Reihe, sie zu trösten und für sie da zu sein. Es ging nicht, dass er sie auch noch mit seinen beruflichen Sorgen belastete.

Normalerweise genossen Silvia und er die gemeinsame Zeit in ihrem Haus, das am Rand des Englischen Gartens lag. Gingen sie über die Straße, waren sie im Grünen, obwohl sie mitten in München lebten. Der riesige Park war ihr persönlicher Vorgarten.

Früher hatten sie ihre Tage meist mit einem langen, gemeinsamen Spaziergang beschlossen und dabei über alles Mögliche geredet. Falls sie es in jüngster Zeit noch schafften, wenn Silvia meist spät aus der Klinik kam, gingen sie stumm nebeneinanderher.

So durfte es nicht bleiben! Sie mussten zurück zu ihrem Leben finden, und dazu gehörte es einfach, dass er die Akten im Büro ließ.

Silvia brachte schließlich auch kein Skalpell oder einen OP-Tisch mit nach Hause, sondern ließ ihre Arbeitsutensilien in der Berling-Klinik, wo sie als Neurochirurgin arbeitete.

Antonio war bis vor zwei Monaten rundum mit seinem Leben zufrieden gewesen. Alles hatte sich blendend für Silvia und ihn entwickelt. Ihre Karrieren schienen auf einem soliden, guten Weg zu sein. Finanziell standen sie mehr als gut da, und ihr Kinderwunsch schien problemlos in Erfüllung zu gehen.

Silvia war wenige Wochen, nachdem sie beschlossen hatten, die Pille abzusetzen, schwanger geworden. Ihr Glück schien komplett. Und dann hatte sich alles verändert. Silvia hatte nach fünf Wochen das Kind verloren und rang noch mit ihrer Trauer. Und in der Kanzlei hatten die Nachstellungen begonnen, mit denen er nicht umgehen konnte.

Er beruhigte sich damit, dass man manchmal eben im Leben zurückgeworfen wurde. Man musste Geduld haben und weiter an sich und sein Glück und seinen Erfolg glauben. Alles würde am Ende gut werden – so war es schließlich immer gewesen. Sie waren auf der Gewinnerspur, und genau da gehörten sie auch hin.

Warum hatte er nur dennoch dieses bange Gefühl von Gefahr? Warum konnte er sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren und starrte immerzu furchtsam zur Tür? Würde sie an diesem Abend geschlossen bleiben? War der Spuk vorüber, der Horror ausgestanden? Er hoffte es so sehr!

Dr. Waldenbourg musste einfach akzeptieren, dass er sie als Anwältin und Chefin schätzte, aber kein Interesse an ihr als Frau hatte. Sie war eine kluge, erfahrene Anwältin und immer eine kultivierte, angenehme Chefin gewesen. Er konnte sich nicht erklären, was sie dazu veranlasst hatte, an jenem Abend jede Grenze der Schicklichkeit zu verletzen.

Sie war in sein Büro gekommen und hatte Dinge gesagt, die er nie für möglich gehalten hätte. Dieses Sprachniveau hatte er nie und nimmer bei ihr vermutet. Dann hatte sie damit begonnen, in sinnlicher Langsamkeit ihre Bluse aufzuknöpfen und versucht, ihn zu küssen.

„Du willst es doch auch! Ich weiß, du willst es auch!“, hatte sie gegurrt und sich an ihn geklammert.

Allein bei dem Gedanken an den Vorfall schauderte ihn. Er hatte sich mit Gewalt von ihr befreien müssen und war aus der Kanzlei geflohen. Ihr höhnisches Lachen klang ihm noch in den Ohren.

„Antonio, du kommst wieder! Du willst es genauso sehr wie ich!“, hatte sie ihm nachgerufen. „Du willst mich, und du willst meine Kanzlei! Du willst uns, Süßer!“

Obwohl er ihr keine Gelegenheit mehr gegeben hatte, ihn allein in seinem Büro zu überraschen, hatte sie in den vergangenen Wochen immer wieder verstörende Signale gegeben und ihn selbst vor seinen Kollegen mit Gesten und sexistischen Bemerkungen grob angemacht.

Das war ihm alles unendlich peinlich und nicht nur ihm. Weder er noch einer seiner Kollegen hatte ein Wort darüber verloren. Antonio quälte die Frage, was er getan haben mochte, um einen derart falschen Eindruck bei ihr zu erwecken. Er fühlte sich schuldig, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein.

Dr. Carmen Waldenbourg hatte ihn vor sieben Jahren nach seinem zweiten Juristischen Staatsexamen in ihrer Kanzlei eingestellt und optimal gefördert. Dank ihr hatte er sich als Anwalt bereits einen Namen in München machen können. Er hatte sie immer geschätzt und schuldete ihr viel.

Was hatte er getan, um ihr das Gefühl zu geben, er könne ein sexuelles Interesse an ihr hegen? Oder war das Ganze etwa ein primitiver Scherz? Wenn es um seinen Sinn für Humor ging, hatte Silvia ihm schon oft bescheinigt, dass er an der Grenze zur Humorlosigkeit existierte, und sich deswegen über ihn lustig gemacht.

Es musste alles ein dummer Scherz sein, den er nicht einzuordnen verstand. Vielleicht gab es eine versteckte Kamera. Wollte Dr. Waldenbourg ihm zusammen mit seinen Kollegen zu seinem vierzigsten Geburtstag einen Streich spielen? Der Gedanke kam ihm abwegig vor, aber er hielt sich wie an einem Strohhalm daran fest.

Würde sich seine Chefin mit ihren knapp sechzig Jahren dafür hergeben? Er fand überhaupt nichts Witziges daran, von ihr auf übelste Weise sexuell belästigt zu werden. Nein, er fand das ganz und gar nicht komisch, und es passte auch nicht zu den anderen Veränderungen, die immer spürbarer wurden. Die ganze Atmosphäre in der Kanzlei war eine andere geworden.

Nach Lachen und Scherzen war wohl keinem seiner Kollegen mehr zumute. In den Teambesprechungen zeigte sich Dr. Waldenbourg von einer völlig neuen Seite. Sie kreidete Fehler und Niederlagen aggressiv und boshaft an. Schonungslos spielte sie ihre fachliche Überlegenheit aus und führte die jüngeren, weniger erfahrenen Anwälte, die für sie arbeiteten, übel vor.

So etwas hatte es in dieser Kanzlei nie gegeben. Man hatte sich gegenseitig unterstützt und bereitwillig Wissen weitergegeben. Nichts war mehr, wie es gewesen war.

Antonio war derart verunsichert, dass er sich sogar dafür ein Stück weit die Verantwortung gab. Verhielt sie sich so, weil sie seine Zurückweisung nicht verkraftete?

Er wusste, dass Dr. Carmen Waldenbourg noch in ihrem Büro war. Auf dem Flur waren Schritte zu hören, und sofort versteifte er sich und dachte an Flucht. Aber es war nur die Putzkolonne, die alle Büros am Abend reinigte und freitags besonders gründlich sauber machte. Für die kommenden zwei Stunden war er in Sicherheit.

Solange der Trupp in Höchstgeschwindigkeit durch die Kanzlei fegte und überall zugleich zu sein schien, konnte eigentlich nicht viel passieren – hoffte er. Antonio fand sich selbst lächerlich in seiner Angst. Bestimmt war alles ganz harmlos, und er verstand es nur falsch. Nur was gab es daran falsch zu verstehen?

Was war nur mit Carmen Waldenbourg los? Warum tat sie ihm das an? Er hatte sie immer für ihren ungewöhnlich scharfen Verstand und ihr juristisches Wissen bewundert, fast schon verehrt. Sie war seine Mentorin.

Antonio wusste nicht, was er tun sollte, wenn sie ihn das nächste Mal zum Sex aufforderte und einfach ihre Bluse aufknöpfte.

Er nahm sich vor, das Ganze trotz allem mit Silvia durchzusprechen, falls das Wochenende gut verlief und sie sich entspannten. Bisher hatte er keine Worte gefunden, um es ihr zu erzählen. Es war nicht nur Rücksichtnahme, sondern auch Scham, die ihn schweigen ließ.

Seit der Fehlgeburt vor vier Wochen war es auch so schon schwierig, mit Silvia zu reden. Sie hatte einen Panzer um sich errichtet. Operationen und Hirntumore schienen alles, was sie noch interessierte.

Antonio drang kaum zu ihr durch. Daher war das Wochenende derart wichtig. Er hatte ihnen ein Ferienhäuschen am Chiemsee gebucht mit einem eigenen Steg, damit sie völlig ungestört sein konnten.

Genau wie sie hatte er sich auf sein Kind gefreut, aber für ihn war es nach gerade einmal fünf Wochen noch kaum real gewesen. Für Silvia dagegen reichte der Verlust tiefer, weil sie zu dem winzigen Wesen, das da in ihr heranzuwachsen begann, bereits eine Bindung aufgebaut hatte.

Als Medizinerin sprach sie unbeteiligt und distanziert über den Abgang. Sie hatte ihm sachlich mitgeteilt, wie häufig Abgänge in dieser frühen Phase einer Schwangerschaft waren.

„Statistisch betrachtet, müssen wir uns keine Gedanken machen. Es liegt alles im normalen Rahmen. Ich bin siebenunddreißig. Das ist kein Alter, und ich kann ein Kind austragen“, hatte sie kühl erklärt, und doch hatte er die nicht geweinten Tränen spüren können.

Antonio setzte große Hoffnungen auf das Wochenende. Er wollte Silvia helfen, und er brauchte dringend ihre Hilfe und ihren Rat.

***

„Silvia, ich habe eben gesehen, dass ausgerechnet du dich für die Vertretung dieses Wochenende eingetragen hast. Das möchte ich eigentlich nicht. Du hast mehr Überstunden, als ich gutheißen kann“, sagte Dr. Stefan Holl, der Leiter der Berling-Klinik in München, zu seiner Neurochirurgin, als sich die Ärzte am Freitagabend im OP-Trakt über den Weg liefen.

„Ich weiß, aber wir haben doch gerade durch die Urlaubszeit so einen Engpass, und ich mache es gern, Stefan. Antonio hat einen Wochenendausflug an den Chiemsee geplant, und mir graut davor. Wenn ich den Dienst übernehme, habe ich eine wunderbare Ausrede, und er kann mir nicht böse sein“, antwortete Dr. Silvia Bäumler ehrlich.

Stefan Holl und sie waren befreundet. Zudem war er ihr Gynäkologe und wusste besser als sonst jemand, wie sehr sie darunter litt, ihr Kind verloren zu haben. Ihm konnte und wollte sie nichts vormachen.

„Der Ausflug täte euch beiden gut, Silvia“, mahnte ihr älterer Kollege einfühlsam. Er wusste genau, wie es in ihr aussah. Stefan Holl war Ende vierzig und hatte vier Kinder, die er innig liebte und ohne die er sich sein Leben hätte nicht vorstellen können.

„Ich weiß! Antonio meint es gut. Er macht sich Sorgen um mich. Es ist nur so, wenn ich in seine traurigen Augen schaue, dann fühle ich mich schuldig. Er hat sich so auf unser Kind gefreut und ich …“

„Du hast dich auch gefreut. Ihr seid beide traurig und enttäuscht, dass es dieses Mal nicht geklappt hat. Aber ich hoffe, bald habt ihr euer Baby zu Hause und könnt es nach Strich und Faden verwöhnen. Silvia, es gibt nichts, was du dir vorwerfen müsstest. Ich bin sicher, Antonio sieht das genau wie ich“, unterbrach Stefan Holl sie ernst.

„Natürlich! Ich weiß das doch auch, aber … Stefan, was ist, wenn ich auch das nächste Kind verliere? Was ist, wenn ich keine Kinder bekommen kann? Ich habe Antonio immer vertröstet und gesagt, dass wir noch Zeit haben, und jetzt bin ich vielleicht schon zu alt und …“

„Unsinn! Du bist siebenunddreißig und in einem sehr guten körperlichen Zustand. Du hast nie geraucht oder Alkohol getrunken und immer Sport getrieben. Du bist im besten Alter, um schwanger zu werden und ein gesundes Kind auszutragen“, erklärte er resolut, aber sie hörte ihm kaum zu.

„Antonio wollte immer Vater werden. Wir haben bei unserem ersten Date über Kinder geredet und dass sie für ihn zum Leben gehören. Ich habe ihn damals damit aufgezogen, dass ich die Kinder gerne in Serie bekomme, wenn er zu Hause bleibt und sie großzieht. Du weißt doch, dass er keinen Humor versteht. Er hat ganz einfach zugestimmt“, erzählte Silvia und lächelte traurig.

„Du wirst wieder schwanger werden und ein gesundes Kind zur Welt bringen!“, sagte Dr. Holl eindringlich.

„Hoffen wir es! Das wünsche ich mir und Antonio sehr, aber ich bin einfach noch nicht so weit, meinem Mann in die Augen zu sehen und weiterzumachen. Ich brauche noch etwas Zeit. Lass mich die Vertretung übernehmen, Stefan! Bitte!“, bat sie.

„In Ordnung!“ Der Klinikleiter nickte widerstrebend. „Aber ich finde, du solltest einmal hoch zu Doktor Maser gehen und mit ihm reden!“, riet er ihr.

„Psychotherapie?“ Silvia grinste. „Ich bin Chirurgin, Stefan! Ich gehöre zu dem Club, der Problemzonen aus dem Gehirn herausschneidet. Das ist die Therapieform, die ich schätze. Im Reden bin ich nicht so gut“, scherzte sie.

„Alles zu seiner Zeit würde ich meinen“, konterte Stefan, musste aber lachen.

„Es geht mir gut. Ich brauche nur noch etwas mehr Zeit, das ist alles!“, beruhigte sie ihn.

„Es ist eigentlich nicht üblich, dass jemand um Überstunden und Sonderdienste bittet, wenn er mehr Zeit für sich braucht, aber du bist wohl in allem eigen. Wenn du doch einmal reden möchtest, Silvia, dann weißt du, wo du mich findest! Und falls du ein weises, weibliches Ohr bevorzugst, rufe Julia an! Sie fragt oft nach dir“, brachte er seine Frau ins Spiel, die sich sehr gut mit Silvia verstand.

„Danke! Ihr zwei seid entzückend. Sollte ich je Redebedarf haben, dann komme ich auf euch zu. Versprochen!“

Sie lächelten sich an. Silvia war froh, einen Grund gefunden zu haben, nicht mit an den Chiemsee zu müssen. Sie rief umgehend bei Antonio an und hoffte, dass sie ihn dazu bringen konnte, ohne sie zu fahren.

„Ach nein! Kannst du da wirklich nichts machen? Wir haben doch das Ferienhaus, und so kurzfristig kann ich das nicht mehr stornieren“, klagte Antonio. Es war kurz nach zwanzig Uhr, und vom anderen Morgen um zehn Uhr an hatten sie das Haus gebucht.

„Fahre ohne mich hin, Schatz! Du hast dir die Auszeit verdient. Ich bleibe vermutlich ohnehin gleich in der Klinik und lege mich in meinem Bereitschaftszimmer aufs Ohr, wenn ich eine Pause habe. Mit Pech komme ich Samstag und Sonntag nicht heim. Lass es dir gut gehen!“, riet Silvia ihm herzlich.

„Ohne dich macht das keinen Spaß. Ich hatte mich darauf gefreut, einmal wieder Zeit zum Reden zu haben und zum Schmusen …“

„Wir holen das nach, Antonio. Ich verspreche es dir!“, sagte sie und hatte ein schlechtes Gewissen, weil es genau das war, was sie hatte vermeiden wollen. Reden und Schmusen war das Letzte, wonach ihr gerade der Sinn stand.

„Ist schon gut! Irgendwann reicht uns die Zeit auch einmal wieder für Urlaub! Das wird werden!“, meinte er betont zuversichtlich, auch wenn er dabei traurig klang.

„Wir sehen uns am Montagabend!“ Silvia legte rasch auf. Sie ertrug es nicht, wie sehr er litt.

In den letzten Wochen wirkte Antonio oft geradezu verstört und abwesend. Er zuckte zusammen, wenn sie ihn überraschend ansprach, und im Schlaf warf er sich unruhig hin und her. Sein Leid war einfach zu viel für sie. Erst musste sie mit ihrem eigenen Kummer irgendwie klarkommen, so leid es ihr tat, ihn alleine zu lassen.

Antonios Schriftsatz war fast fertig, aber nach Silvias Absage war ihm jede Lust zum Arbeiten vergangen. Es gab keinen Grund zur Eile mehr. Natürlich fuhr er nicht ohne sie an den Chiemsee! Er versuchte, den Vermieter telefonisch zu erreichen, aber zu dieser späten Stunde nahm niemand mehr ab. So informierte er ihn per Mail.

Dann stand das Ferienhaus eben für ein Wochenende leer. Was sollte er dort allein? Nein, er konnte seine Unterlagen und Akten mit nach Hause nehmen und am Wochenende genau wie Silvia arbeiten. Für den Berg auf seinem Schreibtisch war das ein Segen, aber froh machte es ihn nicht.

In Gedanken bei seiner Frau räumte er seine Sachen zusammen und bemerkte nicht, dass es sehr still in der Kanzlei geworden war. Die Staubsaugergeräusche und das Klappern von Stühlen, die auf Tische gehoben wurden, waren verklungen. Der Putztrupp war zu seinem nächsten Einsatzort weitergezogen.

Erst als Antonio sein Büro verließ, ging ihm auf, dass er alleine übrig geblieben war. Nur noch in Carmen Waldenbourgs Büro brannte Licht. Er erkannte die Gefahr und wollte im Eilschritt an ihrer Tür vorbeigehen. Da öffnete sie sich, und sein Herz raste vor Schreck. Aber es war nicht seine Chefin, die herauskam, sondern einer seiner jüngeren Kollegen.

„Antonio? Was machst du noch hier?“ Mit roten Wangen schob der junge Mann sein Hemd in die Hose und brachte seine Kleidung in Ordnung. Er wirkte mehr als verlegen und so gehetzt, wie Antonio sich fühlte.

„Ich muss los! Hab einen Termin. Muss schnell machen!“ Mit diesen Worten stürmte er aus der Kanzlei und musste noch einmal umkehren, weil er seine Tasche mit seinen Schlüsseln auf seinem Schreibtisch vergessen hatte.

„Antonio? Schön, dass du noch da bist. Komm doch rein!“, rief Carmen Waldenbourg. Sie saß entspannt auf ihrem Schreibtisch und wirkte zufrieden wie eine Katze, die gerade ihre Milch bekommen hatte.

„Silvi wartet. Entschuldige!“ Antonio rannte seinem Kollegen hinterher und atmete erst auf, als er im Wagen saß und aus der Tiefgarage fuhr.

Was war nur mit Carmen los? Durch die kleine Szene, die er gerade miterlebt hatte, begriff er, dass sich ihr sexuelles Interesse keinesfalls nur auf ihn richtete. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Ihre Bemerkungen hatten sich nie ausschließlich an ihn gerichtet. Er hatte es nur so aufgefasst, weil alles andere ihm undenkbar gewesen war.

Das war nicht mehr die Frau, die er seit sieben Jahren zu kennen glaubte und für eine ihm wohlgesinnte Mentorin gehalten hatte. Unter Umständen lernte er die richtige Carmen jetzt erst kennen, und der Gedanke war abstoßend.

Zu Hause angekommen, aß Antonio eine Kleinigkeit und saß dann verloren im Wohnzimmer. Silvia kam nicht. Das hatte er nach ihrem Anruf auch nicht erwartet. Vermutlich schrieb sie ihm hin und wieder eine kurze Nachricht am Wochenende, aber heimkommen würde sie nicht. Ihm war klar, dass sie ihn mied, auch wenn er nicht verstand, warum sie es tat.

Fühlte sie sich von ihm im Stich gelassen? Hatte sie erwartet, dass er Wege fand, sie zu trösten? Auch Silvia war ihm eigentümlich fremd geworden. Konnte man je behaupten, einen anderen Menschen zu kennen? Musste man immer mit allem rechnen? Antonio spürte Verärgerung in sich aufsteigen.

Er war nicht perfekt und machte Fehler, aber er bemühte sich, ein guter Ehemann und ein guter Angestellter zu sein. Was war mit den Frauen los? Er verdiente es nicht, derart von ihnen behandelt zu werden! So einsam, überfordert und verlassen hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er Silvia getroffen hatte.

Mit irgendjemandem musste er über Carmens Veränderung reden, aber ihm fiel keine Menschenseele ein, der er genügend vertraute, um dieses Thema offen anzusprechen. Silvia war nicht nur seine Frau und Geliebte. Sie war immer auch seine beste Freundin und Vertraute gewesen.

Bei ihrem Arbeitspensum hatten sie sich beide nie die Zeit genommen, Freundschaften außerhalb des beruflichen Umfeldes zu pflegen. In der Kanzlei gab es zwei Kollegen, mit denen Antonio manchmal ein Bier trinken ging. Man unterhielt sich über die Arbeit, und dann ging jeder nach Hause.

Sollte er mit einem von ihnen sprechen? Er war ihnen in den letzten Wochen aus dem Weg gegangen in seiner Scham, aber nun sah er einiges anders. Nicht nur er war betroffen. Was mochte er alles nicht mitbekommen haben? Konnten sie sich gemeinsam eine Strategie überlegen, Carmen Grenzen zu setzen?

Erst vor einem Jahr war er zusammen mit der halben Kanzlei auf dem Polterabend des jungen Mannes gewesen, der eben aus Carmens Büro gekommen war. Sein Kollege tat ihm leid, und er nahm sich vor, diesem Albtraum auf die eine oder andere Weise ein Ende zu setzen.

Carmen überspannte den Bogen. Für das, was sie tat, gab es keine Entschuldigung und auch keine Rechtfertigung. Er wollte ihr und dem Ruf der Kanzlei nicht schaden, aber er war auch entschlossen, dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz war keine Kleinigkeit. Sie nutzte ihre Position schamlos aus.

***

Vier Wochen verstrichen, in denen sich kaum etwas änderte. Silvia lebte für die Arbeit und ging ihrem Mann aus dem Weg. Antonio schleppte sich mit jedem Tag mehr in die Kanzlei, beobachtete entsetzt, was dort geschah, und fand doch nicht den Mut, es offen anzusprechen – weder bei Carmen Waldenbourg noch bei einem seiner Kollegen.

Der Druck wuchs, denn seine Chefin hatte begonnen, ihm Nachrichten auf sein Smartphone zu schicken. Es handelte sich zum Teil um üble Pornografie. Was sie dazu schrieb, machte es noch schlimmer. Er löschte den Schmutz Abend für Abend, bevor er nach Hause fuhr, nur um schon am anderen Morgen neue Nachrichten zu bekommen, die um nichts besser waren.

Mehrmals nahm er Anlauf, um mit Silvia darüber zu reden, aber sie sahen sich selten, und wenn, gab es vieles zu klären, was ihren Alltag betraf. Ihre Gespräche drehten sich um die Waschmaschine, die angeworfen werden musste, oder um den leeren Kühlschrank. Für mehr fehlte ihnen nicht nur die Zeit. Silvia war immer auf dem Sprung, um alles zu vermeiden, was darüber hinausging.

Antonio beobachtete, wie sein jüngerer Kollege nervös und fahrig wurde. Er sah, dass er die Schultern einzog und sich verkrampfte, wenn Carmen hinter seinem Stuhl entlangging bei den Besprechungen. Es war offensichtlich, dass es sich um keine Affäre im wechselseitigen Einvernehmen handelte.

Schließlich hielt Antonio es nicht mehr aus. Da musste etwas geschehen. Er verabredete sich mit Lothar Maier, dem ältesten Anwalt in der Kanzlei neben ihm selbst, auf ein Glas Bier, wie sie es früher häufiger getan hatten. Der Abend verlief allerdings vollkommen anders als erwartet.

„So ein Bier, um den Tag zu beenden, tut gut!“, begrüßte ihn Lothar, der bereits vor ihm in ihrer Stammkneipe angekommen war und am Tresen stand. „Ich habe dir gleich auch eines bestellt.“

„Du kannst dir sicher denken, warum ich mit dir reden möchte“, begann Antonio sofort.

„Entspannung muss sein! Das brauchen wir alle, nicht wahr“, plauderte Lothar, ohne darauf einzugehen, dass ihr Treffen noch einen anderen Grund haben könnte, als einen netten Gedankenaustausch unter Kollegen.

„Dir ist doch auch aufgefallen, dass sich in der Kanzlei gerade Dinge abspielen, die …“

„Der Stress! Wir haben alle viel Arbeit. Also mich hält gerade dieser Fall auf Trab …“ Fast eine halbe Stunde redete Lothar ausführlich über einen Rechtsstreit, der durchaus interessant war, aber für den er eindeutig nicht die Unterstützung eines Kollegen brauchte.

„Lothar, ich finde es auffällig, wie Carmen sich jüngst in den Besprechungen verhält. Das …“, setzte Antonio noch einmal an.

„Nun, wir arbeiten in ihrer Kanzlei“, wurde er unterbrochen. „In München gibt es nur drei Kanzleien, die einen vergleichbar guten Ruf haben. Es ist ein Privileg, bei ihr zu lernen und sich etablieren zu können.“

„Damit können wir nicht alles entschuldigen!“, ereiferte sich Antonio, dem die Geduld ausging. „Irgendwann können wir den Deckmantel des Schweigens nicht mehr darüberbreiten, und dann wird es erst richtig unangenehm. Jetzt haben wir noch die Möglichkeit, die Sache von der Öffentlichkeit fernzuhalten und selbst etwas dagegen zu unternehmen. Carmen muss in ihrem eigenen Interesse gestoppt werden, denn …“

„Doktor Carmen Waldenbourg ist in den juristischen Kreisen Münchens ein Begriff. Sie ist mit den mächtigsten und einflussreichsten Männern befreundet und kann an Fäden ziehen, von deren Existenz du und ich nur eine grobe Ahnung haben. Neun Anwälte – eine auserlesene Auswahl, jeweils die besten Absolventen ihres Jahrgangs – arbeiten für sie“, fasste Lothar im Plauderton zusammen, während er seinen Geldbeutel aus der Tasche nahm und dem Barkeeper winkte.

„Das wäre eine nette Geschichte, wenn neun gebildete Männer, die auf der Karriereleiter ganz nach oben streben, sich nicht gegenüber ihrer Chefin behaupten könnten. Was für ein Glück, dass wir alle gut mit ihr auskommen, findest du nicht auch? Alles andere würde uns mehr schaden als ihr. Das öffentliche Gelächter mag ich mir kaum vorstellen. Wie gut, dass wir keine Schwierigkeiten haben!“

„Heißt das, du willst nichts unternehmen und die Dinge so weiterlaufen lassen?“, fragte Antonio fassungslos.

„Ich weiß nicht, worüber du redest, mein Lieber. Ich habe vor, in zwei oder drei Jahren meine eigene Kanzlei zu eröffnen. Falls du möchtest, kannst du mein Kompagnon werden. Anwälte, die bei der Waldenbourg gearbeitet haben, stehen hoch im Kurs. Ein besseres Sprungbrett kann es nicht geben, und da sie demnächst sechzig wird, denke ich, dass sie sich mehr und mehr aus dem Beruf zurückziehen wird.“

„Lothar, das geht doch nicht. Wir sind Juristen und …“

Sein Kollege zahlte für ihn mit und streifte seine Jacke über. Er war schon im Gehen begriffen, als er noch einmal zurück an den Tresen trat und Antonio mahnend in die Augen sah.

„In Juristenkreisen gilt ein strenger Ehrenkodex. Jemand, der Sachen auf den Tisch bringt, die besser verborgen und unerwähnt bleiben sollten, ist nicht gerne gesehen. Und wer nicht gerne gesehen ist, der wird auch bald kaum noch gesehen vor Gericht, wenn du verstehst, was ich meine. Überlege dir genau, was du tust, Antonio! Ich schätze dich als brillanten Anwalt und würde es bedauern, wenn du dich beruflich neu orientieren müsstest.“

Das war eine klare Warnung. Antonio lief eine Gänsehaut über den Rücken. Und diesen Mann hatte er für eine Art Freund gehalten. Mit Lothars Unterstützung konnte er gewiss nicht rechnen, und falls es ernst wurde, hatte er in ihm einen Gegner.

Ein paar Abende danach traf er sich mit dem jungen Anwalt, der sich am wenigsten gegen Carmens Übergriffe wehren konnte. Paul Marius war der Jüngste im Team und hatte erst vor Kurzem sein zweites Staatsexamen mit den besten Noten bestanden. Er war intelligent, zielorientiert und passte gut in die Juristenwelt.

Seit jenem Abend, als Antonio ihn aus Carmens Büro hatte kommen sehen, war Paul ihm gegenüber äußerst zurückhaltend gewesen. Die Einladung auf ein Bier konnte er einem erfahrenen Kollegen aber unmöglich abschlagen.

Nervös spielten seine Finger mit dem Bierdeckel, und sein Blick wanderte unstet durch das Lokal, nur um nicht in das Gesicht seines Gegenübers blicken zu müssen.

Antonio verstand das gut, aber er war entschlossen, offen mit Paul zu reden. Der junge Mann war erst seit einem Jahr verheiratet, und soweit Antonio es beurteilen konnte, liebte er seine Frau. Carmen bedrohte nicht nur seine Würde und sein berufliches Vorankommen, sondern seine ganze Existenz.

„Ich arbeite sehr gerne für unsere Kanzlei“, betonte Paul gleich drei- oder viermal auf Antonios Fragen hin. Er verlor keinen Ton über die Schwierigkeiten, in denen er offensichtlich steckte.

„Und Carmen …?“, ließ Antonio anklingen.

„Frau Doktor Waldenbourg ist eine großartige Anwältin, und für einen Anfänger wie mich ist es eine Ehre und eine Chance, unter ihr arbeiten zu dürfen“, kam es prompt und klang, als ob Paul es immer und immer wieder vor sich hersagen musste, um zu ertragen, was ihm widerfuhr.

„Ja, für so eine Chance bringt man gerne vollen Einsatz“, spottete Antonio und bedauerte es sofort.

Pauls Wangen brannten vor Röte. Scham stand ihm ins Gesicht geschrieben, aber er blieb stumm und trank sein Bier in großen Zügen, um bald gehen zu können.

„Falls du doch einmal Hilfe möchtest, kannst du dich jederzeit an mich wenden!“, bot Antonio an.

Paul nickte. Keiner von ihnen ging auf das eigentliche Problem auch nur mit einem Wort ein.

„Antonio, ich möchte mit dir reden!“, zitierte ihn Carmen einige Tage danach am Abend in ihr Büro.

„Ich habe einen dringenden Termin und …“

„Sofort!“ Das war ein Befehl, dem er gehorchen musste.

„Du intrigierst also hinter meinem Rücken. Enttäuschend! Ich dachte immer, wir würden uns verstehen“, begann sie ohne Umschweife und musterte ihn feindselig.

„Das dachte ich auch, Carmen, aber da hast du mir auch keine sexistischen Nachrichten auf mein Smartphone geschickt oder bist in meinem Büro über mich hergefallen“, konterte er.

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Du verdankst mir alles! Alles!“, erinnerte sie ihn und funkelte ihn wütend an.

„Ja, und dafür bin ich dir auch dankbar. Umso schlimmer ist es für mich zu sehen, wie du zerstörst, was du selbst aufgebaut hast. Carmen, was ist denn nur los? Kannst du dein Privatleben und deine privaten Bedürfnisse nicht von der Kanzlei getrennt halten? Wir arbeiten für dich, aber wir sind nicht deine Leibeigenen. Da scheinst du mir in letzter Zeit etwas zu verwechseln.“

„Redegewandt wie immer – ich bin beeindruckt. Leibeigene – das gefällt mir. Schön! Du hast also Charakter. Wollen wir einmal sehen, wie weit dein Charakter reicht. Was meinst du? Bekomme ich dich am Ende doch noch in mein Bett? Bekomme ich, was ich will?“

„Nein! Und ich wünschte, wir würden dieses entsetzliche Gespräch nicht führen. Carmen, das bist doch nicht du! Bitte, erinnere dich an die Frau, die du warst und …“

„Die Frau, die ich war …“, wiederholte sie, und plötzlich wirkte sie verwirrt und unsicher. „Die ich war …“ Nachdenklich glitten ihre Blicke durch ihr Büro, als ob sie einen Anhaltspunkt suchen würde. „War ich das?“ Sie deutete auf kostbare afrikanische Masken in einer Vitrine, die sie seit langer Zeit sammelte. Fragend sah sie ihn an.

Antonio wusste nicht, wie er reagieren sollte. Was hatte sie nur derart aus der Bahn geworfen? Er sagte nichts.

„Ich bin eine schöne, begehrenswerte Frau, und wenn ich einen Mann will, dann kann ich ihn mir nehmen. Ich will dich!“, kippte die Situation abrupt. „Und ich werde dich bekommen!“

„Nein!“ Er stand auf und wollte gehen.

„Wenn du mich zurückweist, musst du mit den Konsequenzen leben. Bist du dir ganz sicher, dass du das willst?“, rief sie ihm nach.

„Nein, aber ich bin mir sicher, dass ich jetzt gehe!“

„Vergeude lieber nicht deine Zeit, Antonio, und schreibe erst gar keine Kündigung!“ Sie lachte gehässig.

Er zögerte, denn genau das hatte er vorgehabt. Unter solchen Bedingungen konnte er nicht mehr für sie tätig sein.

„Kündigst du, mache ich dich fertig. Du weißt, dass ich das kann. Ich sorge dafür, dass sich alle Türen für dich schließen und es niemanden mehr gibt, der dich einstellt. Die Anwaltskammer wird sich zusammenfinden, um deinen Ausschluss zu beschließen. Das volle Programm, Antonio. Ich kann das! Ihr seid Marionetten in meinen Händen – ihr alle!“

„Ich weiß. Warum möchtest du, dass ich in der Kanzlei bleibe, Carmen?“

„Du gehörst mir! Ich habe dich gemacht, und ich zerstöre dich, wenn es sein muss. Überlege dir gut, was du tust!“

Kommentarlos zog er die Tür hinter sich ins Schloss, aber so souverän und bewusst er auch nach außen auftrat, etwas in ihm zitterte vor Angst. Das waren keine leeren Drohungen gewesen. Wenn sie es darauf anlegte, dann konnte sie ihn beruflich ruinieren.

Antonio saß lange reglos an seinem Schreibtisch und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und eine Entscheidung zu treffen. Kündigte er nicht, war es, als ob er Carmens Verhalten still und heimlich billigte, aber das tat er nicht. Es war eine Sache der Ehre zu kündigen! Aber da waren auch noch ganz andere Gedanken.

Er war dabei, Silvias Liebe zu verlieren. Was er auch tat, er kam nicht mehr an sie heran. Ihre Ehe bestand im Prinzip nur noch auf dem Papier, und wie lange sie darauf noch bestand, konnte er nicht wissen. Sie sah ihm nicht einmal mehr in die Augen, und er konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal berührt und geküsst hatte.

Verlor er nun auch noch seine Stelle und zugleich seinen Beruf, dann musste er mit vierzig Jahren noch einmal ganz von vorne beginnen. Wollte er das? Konnte er das? Er hatte Angst und fand nicht den Mut, die Kündigung zu schreiben.

Als er etwas später die Kanzlei verließ, um nach Hause zu fahren, war ihm, als ob Carmen an diesem Tag ihren ersten Sieg nach Punkten über ihn errungen hatte. Er blieb, ließ das Unerträgliche weiter passiv geschehen und war um nichts besser als Lothar.

***

„Frau Schreiber, ich kann Ihnen nur dringend dazu raten, mich den Eingriff vornehmen zu lassen! Noch ist der Tumor klein und in keine gefährliche Gehirnregion eingedrungen. Die Zeit drängt, denn das kann sich ändern. Mit einer Operation und einer anschließenden Strahlentherapie haben Sie gute Chancen, noch viele Jahre ein gesundes und gutes Leben zu führen.“ Silvia konnte das Zögern der Patientin nicht gleich nachvollziehen.

„Und mein Kind?“

„Sie sind in der vierzehnten Woche schwanger. Unter diesen besonderen Umständen ist ein Abbruch der Schwangerschaft selbst jetzt noch möglich, aber …“

„Nein!“, kam es sofort. „Nein, ich möchte mein Baby bekommen. Kann ich das schaffen, bevor … Ich meine, kann ich noch ein gesundes Kind zur Welt bringen, bevor ich sterbe?“

„Vom Sterben reden wir noch lange nicht!“, sagte Silvia bestimmt.

„Ich bin einundvierzig Jahre alt, und dass ich dieses Kind in mir trage, ist für mich und meinen Mann das größte Wunder. Wir haben es über Jahre hin versucht, und ich habe sogar eine Hormontherapie gemacht. Nichts hat geholfen. Von alleine wurde ich nicht schwanger, und befruchtete Eizellen, die ich mir implantieren ließ, nisteten sich einfach nicht in meinem Uterus ein“, erzählte Ursula Schreiber.

Sie seufzte tief, als sie an all die Mühen dachte, die sie auf sich genommen hatte, um endlich schwanger zu werden.

„Irgendwann haben wir unseren Traum aufgegeben“, fuhr die Patientin fort. „Wir haben große Urlaube gemacht, uns Hobbys gesucht. Wir haben unser Leben ohne Kinder angenommen, und dann war ich auf einmal schwanger. Das Kind entwickelt sich ganz normal. Es ist gesund, und es ist unser Baby. Was auch mit mir geschieht, ich werde die Schwangerschaft nicht abbrechen!“

„Das verstehe ich sehr gut. Früher hätte man eine Behandlung in Ihrem Zustand für unmöglich erklärt und auf einem Abbruch der Schwangerschaft bestanden, aber die Medizin ist in vielem deutlich weitergekommen. Eine Operation ist möglich mit einem vertretbar geringen Risiko für die Entwicklung Ihres Kindes.“

„Wirklich? Trotz der Narkosemittel?“ Hoffnung schimmerte in den Augen der Patientin.

„Ja. Wir achten auf Sie und Ihr Baby! Ich werde mehrere Kollegen hinzuziehen, die Therapieerfahrung haben bei Krebserkrankungen während einer Schwangerschaft, und mich mit ihnen beraten. Im OP wird eine Ärztin dabei sein, die ausschließlich die Werte des Kindes im Blick hat und eingreift, sollte es gefährlich werden. Lassen Sie mich meine Arbeit machen, damit Ihr Baby eine Mama hat!“

„Und die Strahlentherapie?“

„Wir setzen damit etwas später ein, damit Ihr Kind dann in keinem kritischen Entwicklungsstadium mehr ist, und halten die Strahlendosen sehr gering. Auch das geht. Sie werden gesund werden und Ihr Kind aufwachsen sehen! Vertrauen Sie mir!“

Als die Patientin gegangen war, blieb Silvia lange in ihrem Arztzimmer. Es waren die Freude und die bedingungslose Bereitschaft der Frau, notfalls für ihr Kind zu sterben, die es ihr nicht mehr möglich machten, vor ihren Gefühlen wegzulaufen.

Unvermittelt brachen die Tränen aus ihr hervor, und als sie einmal begonnen hatte zu weinen, konnte sie nicht mehr aufhören. Zum Glück hatte sie keine Operation mehr auf dem Plan. Sie musste es nur noch schaffen, eine Runde zu drehen und nach ihren frisch Operierten zu sehen, dann konnte sie die Berling-Klinik verlassen.

Silvia weinte sich aus, sah nach ihren Patienten, und dann wollte sie nur noch nach Hause zu Antonio. Die Wand, die sie zwischen ihm und sich errichtet hatte, um sich zu schützen, war weg. Es gab so vieles, worüber sie mit ihm reden musste, jetzt, wo sie es endlich wieder konnte.

Sie wünschte sich nach wie vor ein Kind. Hatte er den Mut, es ein weiteres Mal zu versuchen? Selbst wenn es wieder schiefging, bedeutete das nichts. Sie mussten Geduld haben und die Angst in den Griff bekommen, dann konnten sie es schaffen.

Die Sehnsucht danach, ein Baby im Arm zu halten, reichte so tief, dass sie kaum atmen konnte, wenn sie dieses Gefühl voll und ganz zuließ. Sie hatte nicht geahnt, wie sehr sie sich wünschte, Mutter zu sein.

Ob Antonio ihr den Rückzug und die Flucht verzeihen konnte? Sie liebte ihn, und doch hatte sie diesen Abstand gebraucht, damit ihre Seele gesunden konnte.

Sein Auto stand in der Garage. Er war schon da. Silvia freute sich, aber sie war auch aufgeregt. Sie wusste nicht, wie sie ihm erklären sollte, was da alles in ihr vor sich gegangen war. Er musste ihr verzeihen! Wie weh sie ihm auch getan haben mochte, sie hatte nie aufgehört, ihn zu lieben. Das musste er doch wissen, oder?

Antonio saß in der Küche. Wie müde und erschöpft er aussah! Silvia hatte das Gefühl, ihn lange nicht gesehen zu haben. Er war um Jahre gealtert, und seine Augen hatten dieses eigentümliche Schimmern, das sie von ihm kannte, wenn er an der Grenze seiner Kraft war.

Plötzlich befangen, blieb sie in der Küchentür stehen. Sie war es, die ihn derart verletzt hatte. Was war, wenn er nicht mehr ihr Mann sein wollte? Sie hätte es verstanden. Anstatt in den Rückzug zu flüchten, hätte sie den Mut haben müssen, zusammen mit ihm zu trauern. Sie hatte ihn alleine gelassen mit seinem Schmerz.

„Möchtest du auch ein Glas Rotwein?“, bot er an, und als sie nickte, holte er ein Weinglas aus dem Schrank und schenkte ihr ein. „Du bist früh da“, stellte er fest, ohne sonderlich erfreut darüber zu klingen.

„Du hast mir gefehlt“, sagte sie leise, als er ihr das Glas mit dem Rotwein reichte. Sie bedauerte, nicht auf ihn gehört zu haben, als er sie immer wieder gebeten hatte, mehr Zeit mit ihm zu verbringen und zu reden. Nun hatte sich das Schweigen zwischen ihnen verdichtet und ließ sich nicht mehr leicht durchbrechen.

Antonio runzelte zweifelnd die Brauen und musterte sie unsicher, dann lächelte er, und leise Hoffnung stieg in ihm auf. Etwas war anders an ihr. Sie wirkte nicht mehr so abwesend, sondern schien tatsächlich bei ihm in der Küche zu sein.

„Was ist passiert?“, wollte er wissen. Hoffnung war kostbar, aber gefährlich. Ließ man sie zu, tat es anschließend nur noch mehr weh, und man fühlte sich noch verlorener. Er blieb vorsichtig. Nach dem Gespräch mit Carmen ertrug er an diesem Abend nicht noch mehr.

„Es tut mir so schrecklich leid! Ich war eine Idiotin!“, klagte Silvia sich an.

„Stimmt, aber was heißt hier war ? Du bist eine Idiotin, und ich bin ein Idiot. Damit müssen wir leben. Vielleicht passen wir deshalb so gut zusammen, was meinst du?“, scherzte er, und Erleichterung ließ ihn lachen. Silvia war wieder bei ihm angekommen. Nun konnte doch noch alles gut werden!

„Antonio, ich habe mir dieses Kind über alles gewünscht, und als ich es verloren habe, kam die Angst. Du wolltest immer Kinder, und mit Anfang dreißig hätte es unter Umständen leichter geklappt, als es nun klappen wird. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil mir meine Arbeit immer wichtiger war als unsere Zukunftsträume.“

„Unsere Arbeit und die Karrieren waren immer Teil der Zukunftsträume bei dir und bei mir. Wir haben zusammen entschieden zu warten, bis wir uns etwas aufgebaut haben. Wir wollten Zeit für unser Kind haben und nicht innerlich zerrissen sein zwischen Beruf und Familie. Der Plan war gut, auch wenn er nicht klappen sollte. Das haben gute Pläne so an sich, dass sie nicht immer aufgehen“, antwortete er und strich ihr zart mit der Hand über die Wange. Sie schmiegte dankbar ihr Gesicht in seine Hand.

„Dann möchtest du noch Kinder mit mir haben?“, fragte sie leise.

„Natürlich! Nichts wünsche ich mir mehr, Silvia. Ich möchte mit dir eine Familie haben. Ich wünsche mir, mit dir alt zu werden und irgendwann unsere Enkel zu hüten und über Urenkel zu spekulieren. Ich möchte die Eiserne Hochzeit mit dir erreichen, und selbst dann wirst du für mich noch immer die schönste und faszinierendste Frau sein, die es geben kann.“

„Und was ist, wenn es nicht klappt? Was, wenn ich kein Kind mehr bekommen kann und …“ Tränen schimmerten in ihren Augen.

„Dann kommen wir auch damit klar und finden neue gemeinsame Träume. Du und ich, wir gehören zusammen! Wir teilen unser Leben, und manches wird sich so entwickeln, wie wir es wollen, und bei anderen Dingen mag es anders kommen. Du und ich – wir kommen klar damit, denn unsere Liebe ist stark genug für alle Höhen und Tiefen des Lebens!“

„Ich liebe dich.“ Silvia schmiegte sich in seine Arme.

„Und ich dich erst! Diese Monate ohne dich waren schrecklich!“, stöhnte er und presste sie an sich.

Sie hatten sich schon zu lange nicht mehr im Arm gehalten. Leidenschaft flammte auf, und aus Trost und Zärtlichkeit erwachte Begehren. Der Rotwein blieb an diesem Abend ungetrunken auf dem Küchentisch stehen.

„Gott, wie ich das vermisst habe!“, stöhnte Antonio glücklich, als sie hinterher entspannt nebeneinander im Bett lagen. „Du hast mir so gefehlt! Lass mich nie wieder allein zurück! Bitte! Ich brauche dich. Ich bin nicht so stark wie du.“

„Was auch kommt, wir stehen alles zusammen durch und machen etwas Schönes aus unserem Leben!“, gelobte sie.

Beide waren sicher, das Schlimmste hinter sich zu haben und von nun an gestärkt gemeinsam durchs Leben zu gehen. Sie sollten sich täuschen.

***

Nach der Versöhnung mit seiner Frau fühlte Antonio sich sicherer und ruhiger. Er wollte zu gerne wieder in das Lebensgefühl eines aufstrebenden Gewinners zurückschlüpfen und vergessen, wie brüchig der Boden unter seinen Füßen geworden war.

Was Carmen Waldenbourg tat, war unverzeihlich und falsch, aber das musste schließlich allein sie verantworten. Paul Marius war einunddreißig Jahre alt und kein Kind mehr. Wenn er bereit war, für seine Karriere so weit zu gehen, stand Antonio darüber kein Urteil zu.

Kaum hatte er sich alles so zurechtgelegt, gelang es ihm, gut damit zu leben, nicht zu kündigen. Er mochte seine Arbeit, war eingedeckt mit spannenden Fällen, die sein Ansehen in Anwaltskreisen noch erhöhten, wenn er seine Sache gut machte. Nein, er wollte nicht kündigen.

Was er aus seiner Gleichung komplett strich, war die Tatsache, dass Carmen keineswegs ihren Plan aufgegeben hatte, auch ihn zu verführen. Wie eine Spinne lauerte sie in ihrem Netz und wob ihre Fäden. Er war nicht vergessen und von der Liste gestrichen.

Täglich quoll sein Smartphone von ihren Nachrichten über. Manchmal hatte er keine Lust, es einzuschalten, weil er all ihre anzüglichen und schlüpfrigen Botschaften am liebsten nicht sehen wollte. In sein Büro war sie allerdings nicht mehr gekommen, und während der Besprechungen tyrannisierte sie vor allem Paul.

Antonio ignorierte alles, was ihm nicht gefiel, arbeitete konzentriert und tat so, als ob alles in bester Ordnung sei. Für einen Monat ließ Carmen ihn ansonsten weitgehend in Ruhe. Es war ein Monat, in dem Silvia und Antonio ihre Versöhnung feierten.

Jede Minute, die sie freimachen konnten, verbrachten sie zusammen. Sie nahmen ihre gemeinsamen Spaziergänge wieder auf, redeten wie früher über vieles und schmusten und liebten sich entspannt, ohne dabei immerzu an eine mögliche Schwangerschaft zu denken.

Wurde Silvia wieder schwanger, dann wollten sie sich von Herzen freuen. Auf Biegen und Brechen erzwingen wollten sie es aber nicht. Sie wollten einfach nur offen sein für das, was kam, und miteinander leben. Das war der Plan.

Antonio lag es mehr als einmal auf der Zunge, Silvia zu erzählen, was sich in der Kanzlei getan hatte. Carmen und er hatten sich immer hervorragend verstanden und waren auf eine von seiner Seite her sehr respektvolle Weise fast Freunde gewesen.

Er hatte diese Frau verehrt für ihr Wissen, aber auch für ihre faire, vornehme Art – eine Dame der alten Schule, als das hatte er sie wahrgenommen. War er blind gewesen? Hatte er ihr wahres Wesen nicht sehen wollen? Sie konnte sich doch nicht derart verwandelt haben, oder? War so eine grundlegende Charakterwandlung in derart kurzer Zeit möglich?

Dass ausgerechnet Carmen zu einem Menschen geworden war, den er fürchtete und mied, war etwas, worüber er zu gerne mit Silvia geredet hätte. Schließlich waren das Gehirn und seine Funktionsweisen ihr Spezialgebiet. Blieben Menschen, so gut man sie auch zu kennen glaubte, tatsächlich so unberechenbar? War jederzeit immer alles möglich? Die Vorstellung bereitete ihm Unbehagen.

Das war zugleich einer der Gründe, aus denen heraus er das Thema nicht ansprach. Silvia und er genossen, dass sie sich wiedergefunden hatten. Sie zelebrierten das Leben, machten aus ihren Begegnungen kleine Freudenfeste. Das war sehr schön, und ihre Beziehung war wieder so intensiv und lebendig wie in den ersten Jahren.

Antonio wollte diese glückliche, leichte Zeit nicht mit seinen Sorgen und Ängsten belasten. Er hielt sein Berufsleben und sein Privatleben getrennt und fand in den schönen Momenten mit Silvia die Kraft für die unangenehmen Begegnungen mit Carmen.

Irgendwann wollte er erzählen und sich Silvias Rat holen, aber er ahnte, dass es für seine Frau da keine moralische Grauzone gab. Carmen nutzte ihre Position aus und schikanierte die ganze Kanzlei. Sie ging entschieden zu weit, und eine Kündigung und ein Neubeginn waren daher unvermeidlich. Die Konsequenzen mussten in Kauf genommen werden.

Antonio kannte die aufrechte, gerade Denkweise seiner Frau sehr gut. Das war vermutlich sogar der Hauptgrund für sein Schweigen, denn er gab ihr in alldem absolut recht. Er hätte kündigen müssen, das war ihm klar, und doch tat er es nicht.

Carmens triumphierende Blicke, wann immer sie sich sahen, ließen keinen Zweifel daran, dass sie genau wusste, warum er blieb. Ihr Einfluss gefährdete seine berufliche Existenz, und das machte ihn erpressbar. Indem er sich erpressen ließ, gestand er ihr die Macht über sich zu.

Antonio wollte das nicht wahrhaben, aber auch wenn er nicht so weit ging, mit ihr zu schlafen, ließ er sich in anderer Hinsicht sehr wohl von ihr missbrauchen. Der Unterschied zwischen Paul Marius und ihm war nicht so groß, wie er sich das gerne einreden wollte.

Ein Monat verstrich, in dem nichts Schlimmeres geschah. Antonio fühlte sich allmählich sicherer und rechnete nicht mehr damit, dass Carmen etwas unternehmen würde. Er passte sich an die veränderte Situation an und wollte nicht sehen, dass Paul Marius tiefe Schatten unter den Augen hatte.

Der Anwalt verlor sein Selbstbewusstsein und erinnerte in nichts mehr an den aufstrebenden jungen Mann, als der er in die Kanzlei gekommen war. Er hatte angefangen zu rauchen, zuckte nervös zusammen, wenn man ihn ansprach und beteiligte sich an keinen Gesprächen unter den Kollegen mehr.

Antonio sah nicht hin. Das war auch nicht sonderlich schwer, denn er hatte einen äußerst anspruchsvollen, schwierigen Rechtsstreit übernommen, der ausgiebige Recherche erforderte. Mögliche Zeugen lebten über ganz Deutschland verteilt und waren nicht immer gewillt, nach München zu kommen. Er war viel unterwegs und selten in der Kanzlei.

„Buchen Sie mir für morgen bitte ein Hotelzimmer in Karlsruhe!“, bat Antonio die Sekretärin, die für ihn und zwei seiner Kollegen zuständig war. Er hatte für eine Zeugenbefragung erst am späten Abend einen Termin vereinbaren können und wollte nicht in der Nacht nach München zurückfahren.

Am anderen Spätnachmittag fuhr er mit dem Auto nach Karlsruhe, checkte in seinem Hotel ein und fuhr dann zu der Adresse, die ihm der Zeuge für ein Treffen genannt hatte. Dort wartete er über zwei Stunden, aber es kam niemand. Unter der Telefonnummer, die er hatte, nahm keiner mehr ab.

Antonio ärgerte sich über die verlorene Zeit. Silvia hatte zwar Nachtdienst und war nicht zu Hause, aber er hätte mehr als genug sinnvolle Arbeit wegarbeiten können, anstatt sinnlos in Karlsruhe herumzusitzen. Übelster Laune fuhr er zum Hotel und genehmigte sich an der Bar einen Weinbrand.

Kurz vor dreiundzwanzig Uhr ging er hoch auf sein Zimmer, zog seinen Anzug aus, legte seinen Autoschlüssel und sein Smartphone auf den Tisch und gönnte sich eine Dusche. Der Treffpunkt war keine sonderlich einladende Kneipe gewesen, und es tat gut, sich den Gestank nach Rauch und billigem Essen vom Körper zu waschen.

Mit geschlossenen Augen hielt Antonio sein Gesicht in den heißen Wasserstrahl, als er bemerkte, dass er nicht allein im Badezimmer war. Die Glastür der Dusche hatte sich geöffnet und ein kühler Luftzug streifte seine nackte Haut, dann drängte sich ein Körper an seinen.

Im ersten Moment freute er sich. Hatte Silvia sich freigenommen, um ihn zu überraschen? Aber er kannte ihren Körper fast so gut wie seinen eigenen, und das war eindeutig nicht Silvia, die sich da an ihn drängte. Erschrocken fuhr er zurück und öffnete die Augen.

„Hallo, mein Liebster!“, flötete Carmen und lachte, als er entrüstet aus der Dusche floh und sich in ein Handtuch hüllte.

„Verschwinde sofort aus meinem Badezimmer!“, forderte er außer sich.

„Unser Badezimmer, Antonio“, stellte sie richtig. „Wir haben doch die Doppelsuite gebucht mit einem gemeinsamen Badezimmer. Erinnerst du dich nicht?“ Sie lachte ein dunkles, verführerisches Lachen. Trotz ihrer inzwischen sechzig Jahre war sie eine schöne Frau.

Antonio bemühte sich, ihren Körper nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er hatte zwar die zweite Tür gesehen, die von der Gegenseite in das Badezimmer führte, aber da sie verschlossen gewesen war, hatte er sich nichts dabei gedacht.

„Carmen, kennst du denn keine Grenzen mehr? Bitte, geh!“

„Warum sollte ich? Ich zahle die Rechnung. Geh doch du, wenn dir nicht gefällt, was du siehst“, antwortete sie und wollte sich wieder an ihn drängen.

Antonio ließ es nicht zu, floh in sein Zimmer, zog sich, so schnell es ging, an, nahm seine Sachen und fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Tiefgarage, wo sein Wagen parkte. Er war in eine klassische Falle gegangen, aber Carmen würde ihren Willen nicht bekommen! Es war genug!

Noch am selben Abend wollte er Silvia alles erzählen und seine Kündigung schreiben. Er hatte einen hervorragenden juristischen Abschluss und Berufserfahrung. Selbst falls er nicht mehr als Anwalt würde in München praktizieren können, gab es andere Möglichkeiten.

Ein renommierter Lehrbuchverlag hatte ihn schon mehrfach gefragt, ob er an einem juristischen Standardwerk mitarbeiten wollte. In Wirtschaft, Politik und Journalismus konnte er als Anwalt ein Unterkommen finden. Carmen mochte in der Lage sein, entscheidende Türen für ihn zu schließen, aber mit etwas Flexibilität kam er dennoch irgendwo unter.

Antonio war wütend und empört. Er bedauerte, nicht von Anfang an das Richtige getan zu haben, aber nun wollte er es tun. So etwas ließ er sich nicht gefallen! Nein, es gab Grenzen, und Menschen konnten sie nur verletzen, wenn man es geschehen ließ. Er war nicht Carmens Spielball, sondern ein freier Mensch!

***

Gegen zwei Uhr kam Antonio in München an. Silvias Auto war da. Hatte sie doch keinen Nachtdienst? Er war froh, dass sie zu Hause war, denn er musste mit ihr reden. Das Erlebte quälte ihn, und immer wieder stiegen Ekel und Wut in ihm hoch. Er wollte hoch ins Schlafzimmer eilen, da sah er, dass im Wohnzimmer Licht brannte.

„Ich dachte mir, dass du angefahren kommst“, empfing Silvia ihn eisig. „Aber versuche erst gar nicht, mir etwas zu erklären oder dich zu entschuldigen! Antonio, wie konntest du mir in den letzten Wochen vormachen, dass alles zwischen uns wieder in Ordnung sei? Wie konntest du mir sagen, dass du dir Kinder mit mir wünschst und zur selben Zeit …“ Sie brach ab, konnte es nicht aussprechen, weil sie zu verletzt war.

Verständnislos sah er sie an und blieb mitten im Raum stehen, weil er ihre Abwehr und Feindseligkeit spürte. Was war geschehen? Die Wand zwischen ihnen war wieder da, aber diesmal bestand sie aus purem Eis. Er begriff nicht, wie ihm geschah.

„Silvia, ich habe dir nichts vorgemacht! Ich liebe dich!“, beteuerte er. „Ich …“ Weiter kam er nicht.

Tränen rannen über ihre Wangen. Sie sprang auf mit geballten Fäusten und war nahe daran, auf ihn loszugehen, aber dann hielt sie sich zurück. Wie eine Katze, zum Angriff bereit und gerade noch gebändigt, stand sie vor ihm und funkelte ihn an.

„Du bist ein erbärmlicher Lügner, ein billiger Betrüger, und ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben! Verlasse dieses Haus! Wie konnte ich mich so in dir täuschen? Wie konnte ich dir je vertrauen? Antonio, ich weiß nicht, ob ich jemals wieder einem Menschen werde vertrauen können. Geh! Hau ab!“, forderte sie.

Erstarrt blieb er stehen. Das konnte nicht geschehen! Er musste einen Albtraum haben und würde gleich aufwachen. Silvia und er waren seit dreizehn Jahren zusammen und liebten sich. Das konnte nicht geschehen!

„Sag mir doch wenigstens, was ich getan habe!“, bat er mit brüchiger Stimme und begann zu begreifen, dass er tatsächlich in die Falle gegangen war.

„Was du getan hast? Wie kann ein Mensch so berechnend und verlogen sein?“ Ihre Wut sackte in sich zusammen, und nur Schock und maßloser Schmerz blieben.

„Silvia, hat es etwas mit Carmen zu tun? Hat sie dich angerufen? Hat sie mich beschuldigt, etwas getan zu haben? Bitte, du darfst ihr nicht glauben. Ich hätte schon lange mit dir über all das reden müssen, aber ich habe es vor mir her geschoben. Carmen ist nicht mehr die Frau, die du kennst und …“

„Nein, das ist sie sicher nicht, und du bist nicht der Mann, den ich geliebt habe. Ich fühle mich schmutzig, Antonio. Warum kannst du nicht einfach gehen?“, schluchzte Silvia, für die seine Worte nur bestätigten, was sie ohnehin schon wusste.

„Was hat sie dir gesagt? Wessen hat sie mich beschuldigt? Bitte!“, flehte er.

„Du hast dich selbst beschuldigt und überführt, Antonio. Smartphones können heimtückisch sein. Man sollte aufpassen, wem man etwas schickt. Du hast aus Versehen dein Liebesgeflüster an mich geschickt und … und die Bilder und …“

Sie brach ab und schauderte sichtlich.

„Wie schmutzig du denkst! Ich hatte keine Ahnung, dass du zu solch einer Sprache überhaupt fähig bist und … und …“ Wieder brach sie ab. „Geh!“

Silvia hatte nach einer Operation ihr Smartphone eingeschaltet, um Antonio noch eine Gute Nacht zu wünschen. Sie war schon in ihrem Bereitschaftszimmer gewesen. Da hatte sie eine Nachricht von Antonio bekommen und noch gelächelt, weil er zur selben Zeit an sie gedacht hatte wie sie an ihn.

Das Lächeln war ihr vergangen, als sie gelesen hatte, was er vermutlich an einen seiner Kollegen hatte schicken wollen. Es waren hässliche Bemerkungen und Beschreibungen von seinem Liebesspiel mit Carmen und dazwischen Bilder. Eines zeigte ihn nackt in der Dusche, wie er völlig entspannt dastand.

Silvia hatte ihn schon tausend Mal so duschen sehen, und dann kamen Bilder von Carmen, die sie nur vergessen wollte. Es war nicht der Betrug allein, der sie anwiderte, sondern auch die Art, wie er sich vor einem anderen Mann damit brüstete. Ein Mann, der so etwas tat, konnte unmöglich der Mensch sein, als den sie Antonio immer gesehen hatte.

Ihr erster Impuls war es gewesen, all das nicht zu glauben. Sie hatte an eine Intrige, an ein übles Spiel gedacht und hätte alles dafür gegeben, Antonios Unschuld herausfinden zu können. Sofort hatte sie seine Nummer gewählt, aber sein Smartphone war bereits wieder ausgeschaltet gewesen, und sie hatte ihn nicht erreicht.

„Silvia, ich habe das nicht geschrieben, und ich habe es dir auch nicht aus Versehen geschickt. Ich bin in eine Falle getappt. Bitte, glaub mir doch! Der Zeuge, mit dem ich verabredet war, ist nicht gekommen, und als ich unter der Dusche …“

„Sei einfach still! Ich konnte nicht glauben, was ich da gelesen und gesehen habe, und habe versucht, dich zu erreichen. Da dein Smartphone aus war, habe ich in dem Hotel angerufen und mich auf dein Zimmer durchstellen lassen. Carmen hat abgenommen. Also behaupte nicht, dass ihr nicht zusammen gewesen seid! Hör endlich auf zu lügen!“

Antonio hörte seiner Frau fassungslos zu.

„Es war ihr schrecklich peinlich. Sie hat mir gesagt, wie leid es ihr täte, dass unsere Ehe am Ende sei. Es tat ihr leid, dass ich auf diese Weise von euch erfahren würde. Tja, du hättest tun sollen, worum sie dich wohl oft gebeten hat, und mit mir reden sollen. Du hast ihr doch gesagt, dass wir uns scheiden lassen. Schade, dass ich das bisher nicht wusste, aber ich bin flexibel und kann dir den Wunsch gern erfüllen.“

Carmen war in der Tat brillant in allem, was sie tat. Selbst ihre Intrigen waren bis ins Kleinste geplant und ließen keine Schlupflöcher offen, durch die man hätte entkommen können.

„Sie hat gelogen, Silvia!“, sagte er, obwohl er wusste, wie unglaubwürdig das klang. „Sie hat das alles inszeniert und dich manipuliert, damit du mir nicht zuhörst.“

„Tatsächlich? Ich denke, sie wurde genauso von dir benutzt und belogen wie ich. Übrigens hat sie dich gerufen und wollte, dass du mit mir redest, aber dazu warst du zu feige. Tu nicht so, als ob du nicht dort gewesen wärst! Du warst dort! Für wie dumm hältst du mich?“, warf sie ihm verbittert vor.

„Ich war in Karlsruhe, um mich mit einem Zeugen zu treffen und …“

„Seit wann hast du eine Affäre mit Carmen? Seit meiner Fehlgeburt? Schon zuvor? Ich weiß, ich habe dich alleine gelassen, aber wie konntest du so etwas tun? Spätestens als ich dich gefragt habe, ob du noch ein Kind mit mir möchtest, hättest du es mir sagen müssen. Antonio, ich war so glücklich in den letzten Wochen. Ich dachte, wir würden noch einmal ganz neu anfangen, und ich war froh.“

„Mir ging es genauso“, versicherte er. „Ich habe dich nicht belogen und auch nicht betrogen. Carmen stellt mir seit einigen Monaten nach und nicht nur mir. Sie ist dabei, die Kanzlei kaputt zu machen. Ich wollte es dir sagen. Das wollte ich wirklich, aber ich habe mich geschämt. Silvia …“

Sie schüttelte nur den Kopf und deutete mit der Hand zur Tür. Was er da sagte, ergab keinen Sinn. Carmen Waldenbourg war eine Persönlichkeit. Sie war Antonio genauso auf den Leim gegangen wie sie selbst. Sie hatte die Geschichte von der Scheidung geglaubt und war sich nicht klar darüber gewesen, dass sie eine Ehe zerstörte, wenn sie sich mit ihm einließ. Nein, Carmen hatte es nicht nötig, Antonio zu einer Affäre zu zwingen.

„Ich habe keine Affäre mit Carmen! Ich war dir immer treu und …“

„Möchtest du, dass ich gehe? Wenn dir das lieber ist, dann verlasse eben ich das Haus, aber ich werde keine Nacht mehr mit dir unter einem Dach schlafen. Gehst du, oder soll ich gehen?“, stellte Silvia ihn vor die Alternative.

„Ich gehe!“ Antonios Welt ging in Scherben. Er spürte instinktiv, dass es für das, was Carmen da zerstört hatte, keine Heilung mehr geben konnte. Wie sollte er Silvia beweisen, dass sie Opfer einer Intrige geworden waren?

Niemand würde seine Version der Geschichte bestätigen. Im Hotel hatte man sicher eine Doppelbuchung bekommen. Seine Kollegen hatten mehr als deutlich gemacht, dass ihre Karrieren für sie an erster Stelle standen. Sie würden Silvia keinen reinen Wein einschenken, nur um seine Ehe zu retten.

Nein, er hatte den richtigen Zeitpunkt versäumt, um sich ihr anzuvertrauen. Carmen musste seine Zeit unter der Dusche genutzt haben, um Silvia über sein Smartphone die Texte und Bilder zukommen zu lassen, die nun als scheinbar handfeste Beweise gegen ihn sprachen.