Die besten Ärzte - Sammelband 58 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 58 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1823: Die Verbrechen des Dr. Justus Berwald
Notärztin Andrea Bergen 1302: Am Meer vergaß sie alle Sorgen
Dr. Stefan Frank 2256: Nur einmal wieder draußen spielen...
Dr. Karsten Fabian 199: Der Landarzt und die blinde Frau
Der Notarzt 305: Noteinsatz im OP


Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 584

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Ina Ritter Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 58

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2016/2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Nattakorn_Maneerat / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-6441-4

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 58

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1823

Die Verbrechen des Dr. Justus Berwald

Die Notärztin 1302

Am Meer vergaß sie alle Sorgen

Dr. Stefan Frank 2256

Nur einmal wieder draußen spielen ...

Dr. Karsten Fabian - Folge 199

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Der Landarzt und die blinde Frau

Der Notarzt 305

Noteinsatz im OP

Guide

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Contents

Die Verbrechen des Dr. Justus Berwald

Er täuschte alle – auch Dr. Holl

Von Katrin Kastell

Mit zitternden Händen schließt Schwester Priska die Tür hinter sich. Die schöne Pflegerin möchte dieses Krankenzimmer nie wieder betreten. Der Patient darin heißt Dr. Julius Berwald, Priska kennt ihn von früher, und nun drängen sich furchtbare Bilder zurück in ihr Bewusstsein: Julius Berwalds gieriger Blick, wie er hinter ihr her hetzt, wie er sie am Ende einfach auf dem Boden liegen lässt …

Nach Tagen der Unsicherheit fasst Priska einen Entschluss: Sie wird Dr. Holl die Wahrheit über Dr. Berwald sagen. Vorher muss sie nur noch kurz zu dem Patienten und ihm seine Medikamente bringen. Sie betritt das Krankenzimmer – und erstarrt. Dort am Bett sitzt Stefan Holl. Er und Julius Berwald klopfen sich lächelnd auf die Schultern, während sie sich gegenseitig freundschaftliche Anekdoten erzählen …

Wie schön sie war!

Simon betrachtete das schmale Gesicht der Pflegerin, die sich mit Schwester Priska vorgestellt und den Kniebereich seines linken Beins für den Eingriff vorbereitet hatte. Aufmerksam beklopfte sie seinen rechten Handrücken, um eine passende Vene für den Katheter zu finden.

„Hier müsste es gehen“, sagte sie ruhig. „Jetzt werden Sie kurz den Einstich spüren.“

„Es ist vermutlich auszuhalten“, erwiderte er. In Wahrheit aber fürchtete er sich vor der Vollnarkose, die ja ein kompletter Kontrollverlust war, mehr als vor der Operation selbst.

Schon seit etlichen Monaten litt Simon Lohmer, Manager der Jugendmannschaft Harlaching, an Knieproblemen. Eine Zeit lang hatte er es mit Ignorieren versucht, aber dann hatten ihn die Schmerzen doch zum Hausarzt getrieben.

Der wiederum hatte ihn in die Berling-Klinik geschickt. Die dortigen Untersuchungen zeigten einen ausgeprägten Meniskusschaden, der auf Anraten der Ärzte behoben werden musste. Sie sagten, ein Riss dieses scheibenförmigen Knorpels sei wie Sand im Getriebe, würde unbehandelt zu Gelenkentzündungen führen und schließlich das Aus für jede sportliche Betätigung bedeuten.

Hier im Vorbereitungsraum lag der Patient nun in banger Erwartung dessen, was gleich mit ihm geschehen würde.

„Tut mir leid“, sagte Schwester Priska in diesem Moment bedauernd und ein bisschen verlegen. „Das hat nicht geklappt. Ich versuche es noch einmal. Manchmal ist es nicht leicht, ein Gefäß zu treffen.“

Sie warf die Spritze in einen Behälter.

Während sie erneut das Gummiband um seinen Unterarm schlang, die sterile Verpackung einer neuen Nadel entfernte und sie zum zweiten Mal in seinen Handrücken stach, betrachtete er den gesenkten Kopf der Pflegerin. War die rosig schimmernde Gesichtshaut dem kleinen Missgeschick geschuldet – oder sah der Teint immer so frisch aus?

Simon hätte es gern gewusst. Das hochgesteckte braune Haar wurde nur mühsam von einer Haube zusammengehalten. Die Augen verbargen sich hinter den seidigen Wimpern, aber zuvor hatte er schon gesehen, dass sie ebenfalls braun waren.

Achtete Simon in dieser Situation auf solche Nebensächlichkeiten, um sich von seinen Ängsten abzulenken? Er unterdrückte ein Aufseufzen und versuchte, gleichmäßig zu atmen.

Schwester Priska wirkte jung und zerbrechlich und – ja – auch irgendwie schutzbedürftig, doch im nächsten Moment verflog dieser Eindruck wieder.

„So, jetzt sitzt die Kanüle“, stellte sie zufrieden fest und klebte zum besseren Halt noch einen Pflasterstreifen drüber. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr gequält.“

Bevor er darauf antworten konnte, wurde er von einer anderen Frau begrüßt, die sich als Dr. Kellberg vorstellte.

„Ich bin Ihre Anästhesistin“, sagte die Ärztin. „Wir injizieren Ihnen ein Medikament, danach werden Sie sich ein wenig schwindelig fühlen und alles Weitere machen wir dann. Seien Sie unbesorgt.“

Zwei Pfleger schoben das Krankenbett in den gekachelten Raum neben den OP-Tisch. Mit vereinten Kräften hoben sie den schlanken Mann hoch und lagerten ihn auf die feste Unterlage, an deren oberem Ende sich eine Vertiefung für den Kopf befand.

„Liegen Sie bequem?“, erkundigte sich eine männliche Stimme.

„Ja“, murmelte Simon.

Jemand hielt ihm eine Atemmaske vors Gesicht. Er verspürte kurz den angekündigten Schwindel, dann sank er in die Bewusstlosigkeit.

Die Chirurgen betraten den OP. Im Vorgespräch mit dem Patienten hatte man sich darauf verständigt, nach Möglichkeit über eine Gelenkspiegelung den schadhaften Meniskus zu nähen oder, wenn das nicht möglich sein sollte, nur die nicht mehr zu reparierenden Knorpelteile zu entfernen.

Michael Wolfram und Peter Donat arbeiteten Hand in Hand. Sie hatten diesen Eingriff schon mehrfach gemeinsam durchgeführt.

Dr. Wolfram legte kleine Schnitte für die Arthroskopie. Das gesamte Instrumentarium bestand aus einer Kamera und einem röhrenförmigen Endoskop, durch das die OP-Bestecke eingeführt werden konnten.

OP-Schwester Tanja stellte den Bildschirm ein. Nun konnte das Ärzteteam genau verfolgen, was im Inneren des Knies geschah.

Dr. Donat drehte die drei Millimeter große Kamera im Knie hin und her. Alle Augenpaare im OP blickten auf den Bildschirm.

„Wir bereiten das Nähen vor“, sagte Michael nach einigen Sekunden.

Sein Kollege Peter führte die Miniaturschere durch das Endoskop ein und glättete die aufgerauten Ränder des Risses. Dann zog er das Instrument wieder heraus.

Nun kamen Nadel und Fadenhalter zum Einsatz. Mit großer Sorgfalt vernähte Dr. Wolfram den Spalt zwischen den Knorpelteilen.

„Das sollte für die nächsten zwanzig Jahre halten“, meinte er in einem Tonfall, der ein fröhliches Grinsen unter dem Mundschutz verriet. „Andrea, lass ihn wieder selbstständig atmen.“

Der gesamte Eingriff hatte nicht länger als fünfundvierzig Minuten gedauert.

„Herr Lohmer! Aufwachen! Da sind Sie ja wieder. Alles ist gut verlaufen. Wir bringen Sie jetzt in den Aufwachraum.“

***

Priska nahm den Patienten in Empfang und schloss ihn an das Blutdruckmessgerät an, um die Werte ständig beobachten zu können.

„War doch gar nicht schlimm, Herr Lohmer, oder?“

„Ich habe geträumt“, sagte er, als er wieder in das Gesicht schaute, das ihm nun schon so vertraut war. „Kann ich etwas trinken?“

„Noch nicht“, erwiderte die Pflegerin. „Aber ich kann Ihnen den Mund etwas befeuchten.“

Diese Behandlung empfand er als sehr angenehm. Nun waren seine Lippen nicht mehr so trocken.

„Wie lange muss ich hierbleiben?“

„Wenn Ihr Blutdruck weiterhin so stabil bleibt, bringe ich Sie in einer Stunde auf die Station zurück. Wenn Sie Beschwerden verspüren, zum Beispiel Übelkeit, dann sagen Sie es sofort, ja?“

So liebevoll umsorgt zu werden, fühlte sich gut an. Er schloss die Augen und ließ die Geräusche der Umgebung auf sich wirken.

Sein Bett war mit spanischen Wänden gegen fremde Blicke abgeschirmt. Er döste vor sich hin.

Irgendwann spürte er eine leichte Berührung an der Schulter. Zwei Hände befreiten seinen linken Arm von der Blutdruckmanschette.

„Jetzt geht’s auf die Station“, sagte Priska.

„Wie lange werde ich bleiben müssen?“, erkundigte er sich.

„In der Regel zwei oder drei Tage“, erwiderte die Pflegerin. „Während des Heilungsprozesses werden Sie Gehhilfen brauchen. Aber darüber wird Sie der Arzt noch genau informieren. So, da kommt Schwester Marion. Alles Gute, Herr Lohmer.“

„Sehen wir uns denn nicht mehr?“ Simon bemühte sich, seine Enttäuschung zu unterdrücken.

„Morgen habe ich dienstfrei. Aber wenn Sie übermorgen noch da sind, schaue ich bei Ihnen vorbei.“

Und schon wurde er in seinem Bett fortgeschoben. Fort von der angenehmen Stimme, die seine Ohren wie Samtwellen berührte. Fort von dieser aparten Schönheit, die sein Herz träumen ließ.

Priska – ein Name so leicht und frisch wie eine Quelle.

Am Nachmittag kam Dr. Wolfram in Simons Krankenzimmer. Er berichtete kurz vom Ablauf der Operation.

„Morgen wechseln wir den Verband. Wegen der Ruhigstellung des Beins bekommen Sie eine Thrombose-Prophylaxe. Lassen Sie sich noch ein paar Tage hier betreuen. Wenn wir Sie nach Hause schicken, bekommen Sie noch ein paar Regeln mit auf den Weg.“

„Wann kann ich wieder Sport treiben?“

„Damit müssen Sie so lange warten, bis die Naht gut verheilt ist. Das kann einige Wochen dauern.“ Dr. Wolfram stützte sich auf das Fußende des Bettgestells. „Machen Sie Leistungssport?“

„Ich trainiere eine junge Fußballmannschaft. Und das möchte ich in Zukunft natürlich ohne Krücken tun.“

„Keine Sorge, das werden Sie auch bald wieder können. Wie alt sind die Kids denn?“

„Dreizehn bis fünfzehn. Einige von ihnen haben das Zeug zu einer größeren Fußballkarriere und müssen früh gefördert werden.“

„Ich hab auch mal Fußball gespielt“, bekannte der Arzt. „Aber ich war wohl nicht besonders gut. Die anderen wollten mich nämlich bald nicht mehr dabei haben. So bin ich eben Arzt geworden.“

Simon warf Dr. Wolfram einen Blick zu und sah gleich den Schalk in dessen Augen. Beide Männer lachten.

„Sie verstehen was von der ärztlichen Kunst, Doktor. Ich kicke lieber, als in einem Kniegelenk herumzuschnipseln.“

Gut gelaunt verabschiedete sich Dr. Wolfram. Er ging nicht davon aus, dass der Heilungsprozess Komplikationen bringen würde. „Wir sehen uns morgen wieder“, versprach er und verließ das Krankenzimmer.

***

Priska saß in der S-Bahn und genoss den Anblick, den der Frühling bot. In diesem Jahr hatte er lange auf sich warten lassen, doch nun machte er seine Verspätung mit den brillantesten Farben wieder wett. Jeder Baum kündigte mit seiner vollen Blütenpracht den bevorstehenden Sommer an.

Die Fahrt bis zu ihrer kleinen Wohnung in Haidhausen dauerte knappe 20 Minuten. Eigentlich hatte sie sich für diesen Abend vorgenommen, die Fenster zu putzen und ein wenig aufzuräumen. Doch, zu Hause angekommen, verspürte sie keine Lust dazu. Für wen sollte sie sich diese Mühe machen? Seit jenem Tag, an dem die Welt aufgehört hatte, sich zu drehen, fand sie solche Hausarbeiten nicht mehr wichtig.

„Hallo, ihr zwei!“, sagte sie zu dem gerahmten Foto im Bücherregal. „Was habt ihr denn heute so getrieben? Bei mir war nichts Besonderes los. Allerdings habe ich eine Vene verfehlt. Ist mir schon ewig nicht mehr passiert. Zum Glück hat mir der Patient nichts übelgenommen. War ein sympathischer Mensch, überhaupt nicht nachtragend.“

Sie gab dem Foto einen kleinen Schubs mit dem Daumen, damit es nicht gar so kerzengerade und ordentlich im Regal stand.

„Die Ärzte haben sein Knie ganz gut hingekriegt. Hoffentlich kann er bald wieder laufen. Er ist Fußballtrainer, das dürfte dich interessieren, mein Kleiner. In ein paar Jahren kannst du in seiner Mannschaft spielen. Aber bis dahin bleibt ja noch Zeit.“

Priska ging in die Küche und zog die Kühlschranktür auf. Was sie dort sah, kam ihr nicht sehr verlockend vor. Morgen musste sie die Vorräte auffüllen. Dazu hatte sie den ganzen Tag Zeit.

Sie nahm die beiden letzten Eier heraus, schlug sie in eine Tasse und verquirlte sie mit Salz und Pfeffer.

Zum Rührei aß sie ein Stück altes Brot. Gern hätte sie heute mal ein Glas Wein dazu getrunken, aber auch der musste erst noch besorgt werden.

Nicht zum ersten Mal fiel Priska heute auf, dass sie sich herzlich wenig um eine ausgewogene Ernährung kümmerte. Das sollte sie eigentlich ändern.

Wie es wohl dem Patienten Lohmer mit seinem Knie ergehen mochte? Sie sah seine fragenden Augen vor sich. Augen von der tiefblauen Farbe hochgelegener Bergseen an einem schönen Sommertag.

Als ihr Teller leer war, schob sie ihn von sich und stützte das Kinn in die Hand. Schnell waren ihre Gedanken wieder bei dem Fußballtrainer. Um sich abzulenken, holte sie Papier und Bleistift und machte sich Notizen für den morgigen Einkauf.

Doch es gelang ihr nicht wirklich, sich darauf zu konzentrieren. Seine Augen waren von einem ganz ungewöhnlichen Blau. Aber ganz sicher bin ich nicht die Erste, die das bemerkt, dachte sie.

Als sie später ins Wohnzimmer zurückging und den Fernseher einschaltete, vermied sie es, zu dem Foto hinüberzuschauen. Die zwei sollten bloß nicht denken, dass sie sich für einen anderen Menschen interessierte, noch dazu für einen Mann.

Tatsächlich gelang es ihr, die inneren Bilder zurückzudrängen, aber nachts kehrten sie leichtfüßig wieder zurück und beflügelten ihre Träume.

***

Ein Abend voller Überraschungen, dachte Dr. Stefan Holl. Ohne Ankündigung stand plötzlich der Besuch vor der Tür und Stefan hatte eine Weile gebraucht, um den Kommilitonen aus längst vergangenen Studientagen zu erkennen.

Jetzt allerdings fand er, dass Justus Berwald sich kaum verändert hatte. Ja, einige Falten um die Augen, zwei tiefe Furchen von beiden Seiten der Nase zu den Mundwinkeln, ein paar graue Strähnen im Haar, aber ansonsten war er immer noch der alte, etwas großspurig, aber charmant.

„Ich beneide dich um deine Familie“, sagte Justus Berwald und hob sein Glas. „Hoffentlich kann ich Julia noch meine Aufwartung machen.“

Stefan schaute auf die Uhr. „Sie wird sicher bald kommen“, sagte er. „Das Frauentreffen zieht sich immer ein wenig hin. Aber erzähl mal, was ist mit dir? Familie, Kinder?“

Justus zog die Schultern hoch, eine Geste, die leicht bekümmert wirkte.

„Nein. Es gab mal eine, mit der ich gern zusammengeblieben wäre, aber dann ging sie Amerika, traf dort einen anderen und kam nicht mehr zurück. Ob ich noch jemals eine Frau finden werde, die es mit mir aushält, ist fraglich.“

Stefan schmunzelte. „Wieso? Was ist denn mit dir? Du bist doch genau der Typ, auf den Frauen fliegen.“

„Meinst du?“ Justus fühlte sich sichtlich geschmeichelt.

„Ganz ohne Zweifel, du bist ein attraktiver Mann“, stellte Stefan neidlos fest. „Aber erzähl mir mal, wo du dich in all den Jahren rumgetrieben hast.“

Justus Berwald seufzte. „Anfangs hatte ich mit einem Kollegen zusammen eine Gemeinschaftspraxis für Allgemeinmedizin, aber das hat sich dann zerschlagen. Eine Weile war ich im Ausland, danach war ich ein paar Jahre Oberarzt in der Chiemgau-Klinik. Jetzt mache ich Sportmedizin und zwischendurch reise ich als Schiffsarzt auf Kreuzfahrten mit. Das macht großen Spaß und man sieht was von der Welt. Du glaubst ja nicht, was man an Bord so alles erlebt. Ein dickes Buch könnte ich darüber schreiben.“

Stefan hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Das musste Julia sein. Er stand auf, um sie zu begrüßen.

Auch Dr. Berwald erhob sich. Als er Julia sah, nahm er sie gleich in die Arme und drückte ihr zwei herzhafte Küsschen auf die Wangen.

„Du bist ja noch schöner geworden!“, rief er enthusiastisch aus.

Julia trat einen Schritt zurück und betrachtete den Besucher mit geneigtem Kopf.

„Du siehst aus wie immer“, meinte sie lächelnd. „Immer noch der große Charmeur, der Mittelpunkt jeder Party.“

Sofort kehrte die Erinnerung an früher zurück. In einer großen Clique von angehenden Ärzten hatten sie damals Schwabing und Umgebung unsicher gemacht. Und Justus, der große Wortführer, war immer mit dabei.

„Trotzdem habe ich die Richtige noch nicht getroffen, ganz im Gegensatz zu deinem Mann.“ Justus schaute von Julia zu Stefan. „Euch leuchtet das Glück ja aus den Augen.“

Die beiden Eheleute warfen sich einen verschmitzten Blick zu.

„Habt ihr schon silberne Hochzeit gefeiert?“

„Dieses Fest steht uns noch bevor“, erwiderte Stefan, holte ein frisches Glas für seine Frau und schenkte ihr Rotwein ein.

Julia holte aus der Küche noch ein paar Knabbereien.

„Aber jetzt reden wir nicht mehr von mir“, sagte Justus, als alle drei in den bequemen Sesseln saßen. „Wie geht es Euch, was macht der Nachwuchs, wie hat sich die Berling-Klinik entwickelt?“

„Marc und Dani, unsere Zwillinge, studieren beide. Chris ist fünfzehn und drückt noch mit wechselnder Begeisterung die Schulbank. Dann haben wir noch unser Nesthäkchen. Sie heißt Juju und ist schon recht selbstbewusst. Sie will Pilotin werden.“

Justus lächelte melancholisch und eine kleine Trauerfalte erschien zwischen den buschigen Brauen.

„Ihr seid ganz wundervolle Menschen. Und ihr habt all das, was ich nie erreicht habe, wohlgeratene Kinder, ein intaktes Familienleben, also man kann euch nur beglückwünschen.“

Stefan nahm einen Schluck Rotwein. Die Lobhudelei des Besuchers ging ihm ein wenig auf die Nerven und so wechselte er etwas abrupt das Thema.

„Was die Berling-Klinik betrifft, so hat es natürlich in den letzten beiden Jahrzehnten viele Neuerungen gegeben. Fortschritte sind ja nicht aufzuhalten. Ich bin sehr zufrieden. Unser Haus hat einen guten Ruf.“

„Vielleicht hast du ja Verwendung für jemanden wie mich.“

Dr. Holl brauchte sich die Antwort nicht lange zu überlegen.

„Darüber können wir reden, wenn bei uns eine Stelle frei ist. Zurzeit ist das nicht der Fall.“

Er registrierte, dass Justus kurz die Lippen zusammenpresste, was ihn verwunderte. Mit seiner Tätigkeit als Sport- und Schiffsarzt musste der alte Freund doch mehr als ausgelastet sein.

Justus leerte sein Glas. „Es wird Zeit für mich, zu gehen. Hab euch schon viel zu lange aufgehalten.“

„Aber nein!“, sagte Stefans Frau. „Du solltest wiederkommen. Ich werde dich bald mal zum Essen einladen. Wir telefonieren, ja?“

Wieder drückte der Besucher die Dame des Hauses zum Abschied an seine Brust. Julia wusste gar nicht, wie ihr geschah. So schnell sie konnte, befreite sie sich aus seinen Armen. Die Situation war ihr etwas peinlich. Sie konnte sich an einen besonders intensiven Kontakt mit ihm nicht erinnern.

„Der geht aber heftig ran“, stellte Stefan fest, als sich die Tür hinter Justus schloss.

„Es war mir unangenehm“, meinte die Chefarztgattin. „Ich will das mal seiner Wiedersehensfreude zuschreiben. Aber waren wir wirklich so eng befreundet?“

„Ich jedenfalls mehr als du“, erwiderte Stefan. „Aber was heißt schon eng? Wir haben uns gemeinsam in den Hörsaal gedrängelt und so manchen Abend im Biergarten verbracht.“

„Er hat ja heute Abend eine regelrechte Charmeoffensive veranstaltet“, stellte Julia fest. „Aber trotzdem kam er mir auch etwas verbittert vor.“

„Wer weiß, was ihm alles widerfahren ist im Leben“, sagte Stefan. „So ganz gradlinig scheint seine Karriere ja nicht verlaufen zu sein.“

Dr. Holl ließ seinen Worten ein gemütliches Gähnen folgen. „Wir sollten langsam schlafen gehen. Was hältst du von diesem Vorschlag, mein Schatz?“

„Ich komme gleich nach“, versicherte Julia ihrem Mann und zupfte ihn zärtlich am Ohr.

***

Bevor Priska die Tür zum Krankenzimmer Nummer zwölf öffnete, verharrte sie einen Moment. Wollte sie sich sammeln, sich auf das Wiedersehen vorbereiten? Sie nahm einen tiefen Atemzug, dann drückte sie die Klinik herunter und trat ein.

Simon Lohmer schaute ihr so herzlich entgegen, als hätte er genau gewusst, dass sie und keine andere in diesem Moment eintreten würde.

„Grüß Gott, Herr Lohmer, wie geht es Ihnen?“ Priska ging auf den Patienten zu. Das Bein mit dem operierten Meniskus lag ruhiggestellt auf einer Unterlage.

„Ich freue mich, Sie zu sehen, Schwester Priska.“

Die Pflegerin beobachtete fasziniert, wie das Sonnenlicht im Raum seine Bergseeaugen zum Funkeln brachte.

„Wie ich höre, haben Sie schon erste Übungen gemacht“, sagte sie etwas hastig, um ihre aufsteigende Verlegenheit zu überspielen.

„Ja, und es hat ganz gut geklappt“, versicherte er mit fast jungenhaftem Stolz. „Wenn ich so weitermache, kann ich die Krücken schon bald in die Ecke werfen. Allerdings muss ich das Knie noch schonen. Keine große Belastung und immer wieder Kühlen mit Eisbeuteln.“

„Das vermeidet Haut- und Gewebeschäden“, pflichtete Priska dem Patienten bei. „Wann geht’s denn nach Hause?“

„Im günstigsten Fall morgen, im ungünstigsten erst übermorgen.“

Simon fühlte sich beschwingt, aber auch ein wenig aufgeregt, denn nun musste er unbedingt die Gelegenheit nutzen und sie um ein Wiedersehen bitten – außerhalb der Klinik natürlich. Ein paar einleitende Sätze hatte er sich schon zurechtgelegt, aber nun fand er sie alle überflüssig und formulierte seinen Wunsch mit wenigen Worten.

„Ich möchte Sie gern zum Essen einladen“, sagte er mit einem bittenden Lächeln. „Irgendwann in der nächsten Woche. Darf ich auf Ihre Zusage hoffen?“

Priska schwieg. Nicht, weil sie sie die Einladung unangenehm fand, sondern weil ihr spontan kein triftiger Ablehnungsgrund einfiel, der ihn so wenig wie möglich verletzte.

„Es würde mich sehr freuen, wenn Sie Ja sagen“, fuhr Simon eifrig fort. „Ich kenne ein kleines italienisches Lokal, das ich Ihnen gern zeigen möchte. Man isst dort ganz hervorragend. Aber natürlich gehen wir auch in ein Restaurant Ihrer Wahl, wenn Sie …“

„Denken Sie dabei auch an Ihr Knie? Es wird noch eine Weile dauern, bis Sie wieder so mobil sind wie vorher.“ Priska spürte die feine Röte, die ihr ins Gesicht stieg.

Er lachte leise. „Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Mir geht es jeden Tag besser. Geben Sie mir lieber Ihre Telefonnummer, damit ich Sie anrufen kann.“

Schon hielt er sein Handy in der Hand. Priska diktierte ihm die Ziffern, und er gab sie ein. Wenn er sich wirklich meldete, konnte sie immer noch unter einem Vorwand absagen.

Mit einem Siegerlächeln verstaute Simon das Telefon in seinem Nachtschrank. „Ich werde es kaum erwarten können“, sagte er.

„Voraussichtlich habe ich nächste Woche einige Male Nachtdienst“, erwiderte sie. „Sie müssen also wohl oder übel Geduld haben. Und jetzt lasse ich Sie wieder allein.“

Sie gestand sich ein, dass sie nur hier war, um ihn zu sehen, denn auf dieser Station hatte sie gar nichts zu tun. Ein bisschen verlegen reichte sie ihm die Hand. Simon nutzte die unverhoffte Gelegenheit, seine Lippen auf ihre schlanken Finger zu drücken.

Etwas abrupt zog sie ihre Hand wieder zurück, wandte sich um und verließ den Raum.

Hoffentlich hat sie das nicht missverstanden, dachte Simon betroffen, als er wieder allein war. Sein Handkuss sollte doch nur Ausdruck seiner Verehrung für sie sein.

***

Bevor sie ihre Wohnung erreichte, wusste sie, was mit ihr los war: Sie hatte sich verliebt. Ihr Herz schlug höher und sie konnte gar nicht mehr aufhören, an ihn zu denken.

Natürlich hoffte sie, dass dieser Zustand im Laufe der nächsten Tage genauso schnell wieder verschwinden würde, wie er gekommen war. Doch eine Stimme in ihr trällerte vor sich hin und schien ganz anderer Meinung zu sein.

Priska stellte die Tüte mit einigen Einkäufen auf den Tisch. Darin befanden sich ein Salat, vier Tomaten, eine Dose Thunfisch und sechs Eier. Aber schon beim Auspacken verspürte sie keine Lust, sich eine Mahlzeit herzurichten. Ein belegtes Brot mit Käse musste genügen. Mit einem Glas Wasser trug sie es ins Wohnzimmer.

Wie immer beim Heimkommen fiel ihr Blick auf das Foto mit den beiden Liebsten. Erst wollte sie etwas erklären, doch dann geschah etwas Ungeheuerliches: Sie ergriff den Bilderrahmen und bettete ihn in die oberste Schublade des Wäscheschrankes.

Heute Abend wollte sie ganz mit sich und ihren Gefühlen allein sein und einmal nicht von der Vergangenheit eingeholt werden. An ihrem Brot knabbernd, machte sie sich klar, dass sie neunundzwanzig Jahre alt war und damit zu jung, um für den Rest ihres Lebens einsam zu sein.

Andererseits würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als weiterhin ihre Erfahrungen mitzuschleppen, die sie immer öfter wie ein Bündel voller Blei empfand, das an ihren Schultern zerrte.

Natürlich wusste sie, dass die Vergangenheit nie in Vergessenheit geraten würde, aber sie durfte nicht mehr so dominant sein, dass sie ihr die Zukunft verbaute.

Der Kokon aus Trübsal und Schmerz, der Priska nun schon seit so vielen Jahren umgab, wurde dünner und brüchiger. Viel zu lange schon lebte sie außerhalb dieser Welt und nicht in ihr. Das durfte nicht so bleiben.

Ja, sie wollte lieben, geliebt werde und sich wieder darüber freuen dürfen, dass es einen Menschen gab, dem sie vertraute. Denn auch das Vertrauen in andere, das sie durch ein schreckliches Erlebnis verloren hatte, wollte sie wieder verspüren.

Noch aber wusste Priska nicht, ob aus ihren Träumen jemals Wirklichkeit werden würde. Allein, die Bereitschaft, einen Mann zu entdecken, Zeit und Leben mit ihm zu teilen, war da und wuchs mit jedem Tag ein wenig mehr.

Vom ersten Blick an hatte sie Simon gemocht. Seine Art zu reden, sein Lächeln, seine ausdrucksvollen Augen machten sie neugierig auf mehr. Was war er für ein Mensch? Welche Eigenschaften hatte er?

Hatte Priska heute Nachmittag noch vorgehabt, ihm abzusagen, änderte sie nun ihre Meinung. Ja, sie würde sich mit ihm treffen, mit ihm reden, mit ihm lachen. Einfach mal schauen, wie es weiterging. An Liebe wagte sie noch nicht zu denken. Dazu war es auch noch viel zu früh.

Und so lange blieben Andreas und Marius auf dem Foto in der Schublade, wo sie ja weich und bequem lagen. Priska brauchte jetzt etwas mehr Freiheit. Freiheit für ihre Gedanken und ihre Gefühle.

Sie überließ sich dem angenehmen Schwebezustand, der völlig neu für sie war. Ein Bild aus früheren Zeiten tauchte auf. Sie sah sich als kleines Mädchen glücklich jauchzend auf dem Kettenkarussell durch die Luft fliegen – geradewegs in den Himmel hinein.

Das Läuten des Telefons holte sie aus ihren Träumen zurück.

Es war Simon. „Keine Bange, ich werde Sie nicht belästigen.“ Seine volle Stimme klang entschuldigend. „Ich wollte Ihnen nur einen angenehmen Abend wünschen.“ Eine Pause entstand. „Und Ihnen sagen, dass ich Sie vermisse.“

„Danke, ich nehme es gerne zur Kenntnis.“

Priska lächelte und musste über sich selbst den Kopf schütteln. Schon ziemlich verrückt, wie sie beide um den heißen Brei herumstrichen. Sie nahm all ihren Mut zusammen.

„Ich freue mich schon auf den versprochenen Abend.“

Simon ergriff sofort die Chance, die sich ihm so unverhofft bot. „Wie wäre es mit kommendem Samstag? Haben Sie dann frei?“

„Ja.“

Bis Samstagmorgen hatte sie noch Nachtdienst. Dann konnte sie tagsüber ein paar Stunden schlafen und wäre abends frisch und ausgeruht.

„Um sieben bei Alfredo“, schlug er vor und nannte Straße und Hausnummer.

„Und wie kommen Sie dorthin?“

„Machen Sie sich um mich keine Gedanken“, wiegelte Simon ab. „Ich freue mich jetzt schon riesig.“

„Also dann – bis bald!“

Priska legte auf. Bis zum Wiedersehen waren es noch vier Tage. Vielleicht war dieser Zeitraum lang genug, um sich wenigstens ansatzweise mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen.

***

„So anhänglich kenne ich ihn gar nicht“, sagte Dr. Holl zu seiner Frau. Justus Berwald hatte ihnen neulich ein paar Fotobände vorbeigebracht und heute war ein bunter Frühlingsstrauß für „Die Dame des Hauses“ abgegeben worden.

„Er kommt mir ziemlich einsam vor“, meinte Julia nachdenklich.

Das Ehepaar saß noch am Frühstückstisch. Die Kinder waren schon alle weg. Stefan blieb noch etwas Zeit, bis er aufbrechen musste.

„Darum tut er mir leid. Andererseits …“ Sie verstummte.

„Sag nur, was du sagen wolltest“, bat Stefan.

„Andererseits wäre mir ein etwas größerer Abstand lieber“, schloss Julia. „Wir haben uns schließlich seit damals nicht mehr gesehen. Da sollten wir uns für eine Annäherung doch etwas mehr Zeit lassen.“

„Ich werde ihn zum nächsten Stammtisch mitnehmen.“ Dr. Holl nickt bekräftigend zu seinen Worten. „Dann lernt er die Kollegen kennen und kann neue Kontakte knüpfen.“

„Durch seine Tätigkeit als Sportarzt wird er doch genügend Leute kennen.“

Sinnierend betrachtete Julia die Blumen. Es kam ihr so vor, als wolle sich der alte Freund von früher auf schnellstem Wege bei ihnen einschmeicheln.

Das Ehepaar kam nicht dazu, dieses Gespräch zu verfolgen. Ein Telefonanruf aus der Klinik unterbrach sie beide.

„Ich bin schon unterwegs“, sagte Stefan bald in den Hörer und stand auf. „Tut mir leid, Liebes, aber bei einer Geburt könnte es Komplikationen geben. Ich muss für alle Fälle verfügbar sein.“

***

Eine Viertelstunde später betrat der Gynäkologe den Geburtsraum. Die Wehen hatten einen Tag vor dem errechneten Termin begonnen und waren schon sehr kräftig. Das Kind befand sich in Steißlage und hatte sich in den letzten Schwangerschaftswochen nicht mehr gedreht.

Die werdende Mutter hatte sich vorgenommen, das Baby trotzdem auf natürliche Weise zur Welt zu bringen, auch wenn ihr viele Leute davon abrieten. Dr. Holl hatte ihren Wunsch akzeptiert und ihr versprochen, zu jeder Zeit verfügbar zu sein, um nötigenfalls doch noch einen Kaiserschnitt vorzunehmen.

Die Schwangere bekam eine Periduralanästhesie. Und ziemlich bald setzten schon die Presswehen ein. Ihr Mann saß hinter ihr und hielt ihr die Hände. Dora Elling presste wild entschlossen.

„Nicht ganz so heftig!“, wurde sie von Dr. Holl ermahnt.

Nach vier intensiven Presswehen war es so weit. Das Baby kam mit einem angewinkelten und einem gestreckten Bein aus dem Geburtskanal. Erst dann platzte die Fruchtblase. Ein kleiner prächtiger Junge war geboren, 53 cm groß und 3400 Gramm schwer.

„Das haben Sie ganz wunderbar gemacht“, lobte Stefan die Mutter. Nicht jeder Frau hätte er zur Geburt in Steißlage geraten, aber die glückliche Mutter war sich ihrer Sache sicher gewesen, was gleichzeitig Stressfreiheit bedeutete – für sie und für das Kind.

Die Kinderärztin Renate Sanders versorgte den kleinen Daniel, dann legte sie ihn der Mutter in die Arme. Sofort begann der Kleine nach der Brust zu suchen.

Das harmonische Bild von Eltern und Kind stimmte Stefan glücklich und zufrieden. Solche Ereignisse empfand er als Glanzlichter in seinem Berufsleben. Er freute sich schon darauf, Julia am Abend davon zu berichten.

***

Priska genoss die romantische Atmosphäre des Essens bei Kerzenschein, aber Hunger hatte sie trotzdem nicht. Dennoch zwang sie sich dazu, ein paar Bissen zu essen und hin und wieder an ihrem Rotwein zu nippen.

„Darf ich das Du vorschlagen?“, erkundigte sich Simon mit einem verschmitzten Lächeln. „Ich finde, dann plaudert es sich leichter.“

Wieder stieg ihr leichte Röte ins Gesicht, doch sie machte keine Einwände geltend. „Ich sage gerne du zu dir“, erwiderte sie leise.

Simon hatte schon am Tisch auf sie gewartet, als sie mit ein paar Minuten Verspätung im Lokal eingetroffen war. Er wirkte sehr entspannt und zufrieden. Wie er hergekommen war, wusste sie nicht. Seine Krücken jedenfalls standen im Behälter für Schirme.

Der nette Kellner kam und erkundigte sich mit einem besorgten Blick auf Priskas halbvollen Pasta-Teller, ob es ihr nicht geschmeckt habe.

„Es war ausgezeichnet, nur die Portion war für mich zu groß“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln.

Simon bestellte noch zwei Espresso. „Jetzt haben wir die ganze Zeit von mir gesprochen, doch ich weiß noch gar nichts von dir. Lebst du allein?“

„Ja“, gab Priska leise zurück.

„Dann ist dir der Richtige noch nicht begegnet?“

Er kleidete seine Feststellung in eine Frage und versuchte, seine Nervosität zu verbergen. Was, wenn es einen Freund oder gar einen Verlobten gab? Doch würde sie sich dann mit einem ehemaligen Patienten treffen?

Priska holte tief Luft. Es half nichts, jetzt musste sie ins kalte Wasser springen, denn sie wollte von Anfang an ehrlich sein.

„Ich habe schon früh geheiratet. Er hieß Andreas.“ Sie sprach mit sanftem Nachdruck. „Wir kannten uns schon von der Schule her. Eigentlich war es ganz selbstverständlich, dass wir zusammenbleiben würden. Es war eine tiefe Lebensfreundschaft. Ein Jahr nach der Hochzeit wurde unser Sohn Marius geboren.“

Ihre Augen füllten sich mit Verzweiflung und Schwermut. Simon schaute sie erschüttert an und bereute schon seine Bemerkung.

„Ich habe beide bei einem Brand verloren. Mann und Kind. Vor fünf Jahren. Plötzlich stand unser Haus in Flammen. Dass ich gerettet wurde, habe ich lange Zeit als falsch empfunden. Ich wollte auch tot sein, zusammen mit meiner Familie. Aber das Schicksal hat mich zum Weiterleben gezwungen.“

Stumm drückte er ihre Hand.

„Ich glaubte, nie wieder lachen zu können. Aber mit den Jahren wird auch der größte Schmerz kleiner. Man lernt schließlich, damit zu leben. Das ist meine Geschichte.“

„Du bist unglaublich tapfer, Priska.“ Simon biss sich sofort auf die Zunge. Was sagte man in einer solchen Situation? Er fühlte sich plötzlich ernüchtert.

„Mach dir keine Gedanken“, sagte die schöne Pflegerin nach einer Weile des Schweigens. „Du musst mich jetzt nicht wie eine Kranke behandeln. Inzwischen bin ich sogar sehr froh, dass ich lebe, auch wenn ich die beiden nie vergessen werde.“

„Was für ein furchtbares Unglück. Wie ist es denn dazu gekommen?“

Priska erzählte, was die anschließenden Untersuchungen ergeben hatten. Nach einer Reparatur im Haus war es zu einem unbemerkten Schwelbrand gekommen. Das Feuer hatte Mann und Sohn im Schlaf überrascht. Sie hatte zu der Zeit Nachtdienst in der Chiemgauklinik gehabt, sonst wäre auch sie in den Flammen umgekommen.

Forschend betrachtete sie Simons Gesicht, das ihr schon so vertraut war. Dass es noch ein weiteres schreckliches Erlebnis in der Vergangenheit gab, das sie fast das Leben gekostet hätte, musste sie ihm auch noch beichten, aber nicht heute, nicht alles auf einmal.

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, murmelte er. „Mein Kopf ist ganz leer …“

„Wir sollten gehen“, schlug Priska vor. „Ich bestelle ein Taxi und bringe dich nach Hause.“

„Wie wäre es, wenn du noch ein Weilchen mit zu mir kommst? Der Abend ist noch jung. Ich möchte noch ein wenig mit dir reden. Auch mit dir schweigen, wenn dir das lieber ist. Hauptsache, ich bin dir nahe.“ Er unterbrach sich kurz, doch sie sagte nichts.

„Ich wohne in Harlaching in meinem Elternhaus. Dort lebe ich allein, wenn ich das noch sagen darf. Du kannst bei mir übernachten …“

Er strich ihr zärtlich über den Arm. „Mein Vorschlag ist ohne Hintergedanken. Ich habe ein Gästezimmer …“

„Schon gut“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich habe keine Angst davor, dass du mich überfallen könntest. Dass du ein lieber Mensch bist, sagen deine Augen.“

Priska wollte sich an der Rechnung beteiligen, doch das ließ Simon nicht zu. „Das war und ist meine Einladung!“, erklärte er. „Kein Wort mehr dazu.“

Zwanzig Minuten später stiegen sie aus dem Taxi und gingen auf das Einfamilienhaus zu, dessen Eingang beleuchtet war.

„Hier bin ich groß geworden.“ Simon deutete mit der rechten Krücke auf die Hauswand. „Für diesen Sommer sind ein paar umfangreiche Renovierungsmaßnahmen geplant.“

Dass er das Haus eigentlich verkaufen wollte, erwähnte er nicht, denn nun wartete er erst einmal ab, wie sich die Dinge zwischen ihnen entwickelten. Dieser Abend jedenfalls hatte ihn in seinen schönsten Hoffnungen bestärkt.

***

Dr. Justus Berwald hatte dieses Leben gründlich satt. Die Arbeit als Sportarzt bei der Harlachinger Jugendmannschaft interessierte ihn ebenso wenig wie die Probleme der älteren Herrschaften auf den Kreuzfahrtschiffen. Er wollte wieder einen Vollzeit-Job. In einer guten Klinik. In der besten. In der Berling-Klinik.

Und darum musste es ihm einfach gelingen, in Stefans Klinikbetrieb einzusteigen. Zwar hatte Justus den medizinischen Fortschritt in den letzten Jahren ein wenig aus den Augen verloren, aber das ließ sich durch eine Tätigkeit in der Berling-Klinik schnell nachholen.

Zwar hatte Stefan gesagt, es gäbe zurzeit keine freie Stelle. Aber Justus gedachte immer wieder nachzufragen und sich privat bei den Holls blicken zu lassen, damit er nicht in Vergessenheit geriet.

Und darum war er jetzt wieder auf dem Weg zu den Freunden. Diesmal hatte er für jedes Kind ein Geschenk dabei. Für die beiden Mädchen jeweils eine Pralinenschachtel, für die zwei Buben CDs mit Pop-Musik.

Julia empfing ihn mit einem herzlichen Lächeln.

„Komm rein“, sagte sie. „Stefan ist noch nicht da, aber ich hoffe, er wird bald kommen. Manchmal kann er sich einfach nicht loseisen.“

„Er arbeitet wohl zu viel“, meinte Justus, während er mit der Hausherrin ins Wohnzimmer ging. „Ich habe den Kindern etwas mitgebracht …“

„Das ist ganz lieb von dir, Justus, immer kommst du mit vollen Händen. Aber ich möchte dich bitten, das einzustellen. Versprich mir das! Du hast uns jetzt schon genug Aufmerksamkeiten zukommen lassen.“

Justus lächelte demütig. „Es macht mir nun mal große Freude, andere zu beschenken, vor allem solche Menschen, die ich mag.“

„Setz dich. Möchtest du einen Tee? Oder Kaffee?“

„Wenn du hast, einen Espresso“, entschied Justus.

Julia verschwand in der Küche, um sich darum zu kümmern. Wenig später kam sie mit dem Kaffee, Würfelzucker und einer Karaffe Wasser zurück.

Justus stand am Fenster und schaute in den erleuchteten Garten hinaus. Das türkis schimmernde Wasser des Swimmingpools behauptete sich gegen die hereinbrechende Nacht.

„Wirklich schön habt ihr es hier.“ Er wandte sich um. „Euer Heim strahlt so viel Behaglichkeit aus.“

„Wann ist denn deine nächste Kreuzfahrt?“, erkundigte sich Julia, während sie den Zucker in ihrer Tasse verrührte.

„Erst in zwei Monaten. Und die jungen Fußballer betreue ich meistens in den Abendstunden, sodass ich tagsüber immer viel Freizeit habe. Die verbringe ich dann mit einem ausgedehnten Fitnessprogramm.“

Stefan rief an und erklärte bedauernd, dass sich sein Verbleib in der Klinik noch länger hinziehen würde.

„Schade“, sagte seine Frau. „Unser Freund Justus ist hier.“

„Er soll nicht mehr auf mich warten. Grüß ihn von mir. Kann sein, dass ich erst nach Mitternacht komme.“

Julia nahm die Mitteilung gelassen hin. Sie war lange genug mit Stefan verheiratet, um zu wissen, dass Seufzen auch nicht weiterhalf. Sie hoffte, dass Justus bald gehen würde und zu ihrer Erleichterung tat er das auch.

***

Priska fühlte sich von der innigen Unterhaltung mit Simon bis ins Herz gerührt. Er erzählte von seiner ersten großen Liebe, aus der dann nichts geworden war und von seinen verstorbenen Eltern.

„Zwischen mir und meinen beiden älteren Brüdern besteht ein Altersunterschied von neunzehn beziehungsweise einundzwanzig Jahren. Mit mir hatte niemand mehr gerechnet, aber dann wurde ich der Liebling der Familie.“

Priska lachte. „Sicher zu recht“, meinte sie. „So ist das ja meistens mit den Nachzüglern.“

„Mein Bruder Friedrich lebt in London und Max in Berlin. Altersmäßig könnten beide meine Väter sein.“ Simon lächelte. „Vielleicht lernst du sie mal kennen. Auch wenn wir alle drei weit auseinander wohnen, so fühlen wir uns immer noch als Familie. Natürlich bin ich auch schon Onkel. Meine zwei Nichten sind nur wenig jünger als ich.“

Sie saßen in einem gemütlichen Wohnraum. Die Möbel waren alt, aber herrlich bequem. Zum ersten Mal sprach Priska in dieser anheimelnden Atmosphäre ausführlich über ihren Schicksalsschlag, ohne dass ihr der Hals eng wurde oder die Tränen hochstiegen.

Sie redete über die ausgestandenen Ängste, aber auch über ihr Schuldgefühl, das zwar im Laufe der Jahre kleiner geworden, aber doch nie ganz verschwunden war.

Simon unterbrach sie nicht und sagte nur wenig. Manchmal strich er über ihre Hand oder warf ihr einen teilnehmenden Blick zu. Priska war selig. Wann hatte sie sich jemals so geborgen gefühlt?

Die ständig vorhandene Wehmut wurde von einer neuen Hoffnung verdrängt. Hoffnung, die eine angenehme Leichtigkeit in ihr Leben brachte. Noch traute sie der neuen Situation nicht ganz, doch das Gefühl blieb. Als es auf Mitternacht zuging, machte Priska Anstalten zum Aufbruch.

„Wo willst du jetzt hin?“, fragte Simon. „Ich kann dich leider noch nicht mit dem Wagen nach Hause bringen. Mein Knie erlaubt das nicht. Und bis zur Bushaltestelle ist es viel zu weit.“

„Du könntest mir ein Taxi bestellen“, schlug sie vor.

„Warum übernachtest du nicht hier? Ein Gästezimmer steht dir zur Verfügung. Und morgen frühstücken wir zusammen. Eine frische Zahnbürste kann ich dir auch anbieten …“

„Schon gut, ich bin einverstanden.“ Priska lachte, machte sich aber nicht erst die Mühe, über ihr Verhalten nachzudenken. Tatsächlich verspürte sie kein Bedürfnis, jetzt allein durch die Nacht zu marschieren oder mit einem fremden Menschen im Auto nach Hause zu fahren.

Simon verschwand und kam mit einem korrekt zusammengelegten Pyjama zurück. Für Hausarbeiten war seine Putzhilfe, verantwortlich. Jetzt, da er immer noch gehbehindert war, kam sie sogar zweimal die Woche.

„Wenn du die Jacke überziehen willst – die Hose dürfte dir zu groß sein.“

Priska nahm die Nachtwäsche an sich. „Danke Simon, das ist sehr lieb von dir. Mache ich dir auch wirklich nicht zu viele Umstände?“

„Aber nein, ich freue mich, dich hier zu haben.“

Er zeigte ihr das Gästezimmer im Parterre. Er schlief gleich nebenan, weil ihm das Treppensteigen ins Obergeschoss noch schwerfiel.

„Gute Nacht.“

Priska warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor sie im Bad verschwand. Fünf Minuten später schlüpfte sie unter das leichte Federbett und schloss die Augen. Sie befand sich im Haus eines Mannes, der ihr offen seine Zuneigung zeigte. Und sie? Sie war tatsächlich dabei, sich in ihn zu verlieben.

Es klopfte leise an die Tür.

„Herein!“ Priskas Stimme schwankte ein wenig. Fürchtete sie sich vor dem, was jetzt kam? Oder wünschte sie sich schon jetzt in seine Arme?

Durch den offenen Spalt fiel Licht ins Zimmer. Dass Simon das Bein noch immer ein wenig nachzog, beeinträchtigte seine dominante Gestalt nicht. Er setzte sich auf die Bettkante, wobei er das operierte Knie langstreckte.

„Liebe Priska, ich wollte dir noch eine gute und ruhige Nacht wünschen. Und ich wollte dir sagen, dass ich überglücklich bin, dich bei mir zu haben. Das könnte der Anfang von etwas ganz Wunderbarem sein.“

Priska ergriff seine rechte Hand und drückte sie mit beiden Händen. „Es ist ein schönes Gefühl, so angenommen zu sein. Danke, Simon.“

Er beugte sich über sie. Selbst in dem schwachen Lichtschein sah sie das große Versprechen in seinen Augen. Es war ein magischer Moment.

„Träum was Schönes“, flüsterte er. Dann legten sich seine sinnlichen Lippen zärtlich auf die linke Wange, dann auf die rechte. „Ich bin immer in deiner Nähe.“

Er stand auf und ging langsam zur Tür, die er leise hinter sich schloss. Priska aber spürte die aufsteigenden Tränen. Es waren Tränen des Glücks und der Verheißung.

***

Dr. Holl machte sein Versprechen wahr und nahm seinen alten Studienfreund Justus mit zum Ärztestammtisch, der unregelmäßig stattfand. Es war ein anregender Abend. Gegen elf verabschiedete sich Stefan von den anderen. Auch Justus brach auf.

Vor dem Lokal stiegen sie auf ihre Räder. „Du hast ja ein tolles Rad!“, bemerkte der Klinikchef. „Ich wollte mir auch immer mal so einen Rennflitzer zulegen, aber dann ist es doch nicht dazu gekommen.“

„Willst du mal eine Runde drehen?“

„Nein danke!“ Stefan lachte. „Das Risiko gehe ich nicht ein, bin ja völlig untrainiert. Ich bleibe lieber bei meinem braven Drahtesel. Also, komm gut heim!“

Die beiden Ärzte schwangen sich in den Sattel und fuhren in entgegengesetzte Richtungen davon. Als Stefan zu Hause ankam, war Julia noch auf. Sie unterhielten sich noch eine Weile. Als sie ins Bett gehen wollten, klingelte das Telefon.

Der Kollege Wolfram war am Apparat.

„Entschuldigen Sie die Störung, Doktor Holl, aber wir haben hier einen Neuzugang, der unbedingt mit Ihnen sprechen will. Es handelt sich um Doktor Justus Berwald.“

„Was ist passiert, um Himmels willen?“

„Augenblick!“ Das Telefon wurde weitergereicht. Dann hörte Stefan die klägliche Stimme des Freundes, von dem er sich vor einer knappen Stunde verabschiedet hatte.

„Ich bin angefahren worden!“, rief Justus anklagend. „Ich habe große Schmerzen in der Schulter und im Beckenbereich. Der Wagen ist weitergebraust, hat mich einfach liegen gelassen. Eine Sauerei ist das. Hoffentlich findet die Polizei ihn noch. Zum Glück konnte ich mit dem Handy den Notarzt alarmieren.“

„Hör zu, Doktor Wolfram wird alle notwendigen Diagnosemaßnahmen in die Wege leiten. Gib ihn mir noch mal.“

Stefan besprach sich mit Michael, der Nachtdienst hatte. Das Wichtigste war zunächst die Schmerzbekämpfung und Ruhigstellung. Morgen würde man dann die weiteren Maßnahmen ergreifen.

„Ob ich noch mal in die Klinik fahren soll?“ Stefan richtete diese Frage nach dem Telefonat eher an sich selbst als an seine Frau.

„Er ist dort gut versorgt“, sagte Julia sachlich. „Du kannst jetzt auch nichts anderes tun als Händchen halten. Wenn du allerdings meinst, das sei nötig …“

„Nicht unbedingt, mein Schatz, und wenn schon, dann jedenfalls nicht das eines Mannes“, erwiderte Stefan belustigt. „Ich bin jetzt rechtschaffen müde und werde mich aufs Ohr legen. Kommst du mit?“

„Ja klar. Morgen fängt der Tag für uns wieder früh an. Ich freue mich schon auf die Pfingstferien. Dann fahren wir mit den Kindern nach Rottach. Ich hoffe, du hast den Termin rot im Kalender angestrichen.“

„Es wird mir nichts dazwischenkommen“, versprach Stefan. „Fahren auch die Zwillinge mit?“

„Sie haben sich noch nicht festgelegt. Juju freut sich jedenfalls jetzt schon. Und Chris möchte seinen Freund Ulrich mitbringen.“

„Dagegen habe ich keine Einwände.“

Stefan gähnte ausgiebig. Das Ferienhaus in Rottach am Tegernsee hatten sie in der letzten Zeit viel zu selten genutzt. Es stand dem ganzen Familien-Clan zur Verfügung. Auch Stefans Schwester Beatrix, die mit dem Anwalt Axel Lassow verheiratet war, hielt sich gern dort auf.

Als er endlich langgestreckt auf seiner Matratze lag, ging ihm noch mal Justus’ Unglück durch den Kopf. Und er hoffte, dass der flüchtige Autofahrer gefasst und wegen seines feigen Verhaltens zur Rechenschaft gezogen wurde.

***

Priska saß mit Simon am großen Küchentisch. Sie fühlte sich ganz unbefangen. Eine angenehme Nacht lag hinter ihr. An Träume konnte sie sich zwar nicht erinnern, aber sie war mit einem umfassenden Wohlgefühl erwacht.

Auf dem Tisch stand ein Brotkorb mit frischen Semmeln, die Simon aus der nahegelegenen Bäckerei geholt hatte. Dazu gab es Butter, Marmelade, Orangensaft und Käse.

Von ihrem Platz aus blickte sie auf die ruhige Straße, die von Alleebäumen gesäumt war. Es schien ein schöner Tag zu werden. Die Frühlingssonne stieg unaufhaltsam hinauf und betrachtete sich die Stadt von oben.

Priska trank ihren Kaffee und stellte die leere Tasse zurück. „Jetzt wird es aber höchste Zeit, dass ich verschwinde“, meinte sie augenzwinkernd. „Sonst werde ich dir noch lästig.“

„Du? Niemals!“ Er lächelte spitzbübisch und schüttelte heftig den Kopf. „Dieser Zustand wird niemals eintreten. Ganz im Gegenteil. Ich werde mich wieder einsam fühlen, wenn du fort bist. Liebe Priska!“ Er griff nach ihrer Hand. „Wann sehen wir uns wieder?“

„Ich habe heute noch einen freien Tag …“

„Wunderbar! Dann bleib doch gleich hier! Wir gehen mittags in den Biergarten und essen dort was. Der ist nicht weit von hier. Dieser kleine Spaziergang ist für mich leicht zu schaffen und wird mir guttun. Am Nachmittag setzen wir uns in den Garten. Wir können auch in den Perlacher Forst fahren.“

„Das schieben wir noch auf!“, meinte Priska mit einer Bestimmtheit, der er nicht widersprach. „Lange Wanderungen solltest du dir noch nicht zumuten. Aber ein Nachmittag im Garten wäre eine feine Sache.“

Sie überlegte kurz. „Trotzdem möchte ich jetzt erst nach Hause fahren und mich umziehen. Am Nachmittag komme ich dann wieder und bringe uns Kuchen mit. Wenn das Wetter so bleibt, können wir auch noch abends in den Biergarten gehen.“

Simon war mit all ihren Vorschlägen einverstanden. „Hauptsache, du bist bald wieder da!“, sagte er.

Sie wollte noch den Tisch abräumen, doch das duldete er nicht.

„Das erledige ich schon. Ich bin schließlich nicht krank. Und die Physiotherapeutin will, dass ich das Knie mäßig belaste, jeden Tag ein wenig mehr, bis ich mich wieder so bewegen kann wie vorher.“

„Und wer vertritt dich in deinem Job?“

„Nächste Woche gehe ich wieder ins Vereinsbüro. Das Training macht inzwischen mein Stellvertreter. Die kommen auch mal ein paar Tage ohne mich klar.“

Priska erhob sich. „Also dann, bis später.“

Simon brachte sie zur Tür. Priska blinzelte in den hellen Tag hinaus. Noch einmal wandte sie sich um. Der Abschied schien ihr schwerzufallen. Sie strich ihm über das Kinn.

„Wiedersehen, Simon.“

„Ich freu mich schon jetzt auf dich.“ Er legte seine Hände um ihr Gesicht.

Seine Anziehungskraft empfand sie als so stark, dass sie fast willenlos gegen seine Brust sank. Simon hielt sich nicht länger zurück. Er küsste sie wieder wie gestern Nacht auf beide Wangen – und nach fünf süßen qualvollen Sekunden kam es zum ersten zärtlichen Kuss.

„Bis bald“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Ich werde voller Sehnsucht auf dich warten.“

Priska wandelte wie auf einem Teppich von Rosenblüten zur Bushaltestelle. Das Glück war zu ihr zurückgekehrt. Ganz tief in ihrem Herzen spürte sie, dass es schon dabei war, sich häuslich einzurichten.

***

Dr. Justus Berwald war so unglücklich mit seinem Rennrad gestürzt, dass er sich einen komplizierten Becken-Ringbruch zugezogen hatte. Außerdem wurden zwei angeknackste Rippen diagnostiziert. Am Oberkörper befanden sich große Hämatome und Prellmarken.

Weitere Frakturen in diesem Bereich lagen nicht vor. Um die quälenden Schmerzen zu lindern, bekam er Medikamente. Sowohl die Röntgenaufnahmen, als auch die Computertomographie ergaben den Befund einer rotatorischen Instabilität des Beckens.

Er befand sich vorerst noch auf der Intensivstation. Puls, Blutdruck und Hämoglobin wurden ständig überwacht, da massive innere Blutungen nicht ausgeschlossen werden konnten.

Am Morgen nach dem Unfall stand Dr. Peter Donat am Bett des Patienten und gab einen kurzen Befundbericht.

„Sie werden Geduld haben müssen. Das Becken verbindet im Haltungs- und Bewegungssystem die Wirbelsäule und die unteren Extremitäten und schützt darüber hinaus die Organe des unteren Bauchraums. Es wird eine Weile dauern, bis …“

„Weiß ich alles“, knarzte Justus ungehalten. „Sie brauchen mir keine Vorträge zu halten. Bin selbst Arzt. Sagen Sie mir lieber, was Sie zu tun gedenken. Ist Stefan schon im Haus?“

„Sie meinen Doktor Holl?“

„Ja natürlich, wen sonst? Wir sind befreundet.“

Dr. Donat, ein ausgesprochen ruhiger Zeitgenosse, presste zum Zeichen seines Ärgers nur kurz die Lippen zusammen. Bei dem Neuzugang schien es sich um einen Patienten der schwierigeren Art zu handeln. „Ich werde mich erkundigen, ob der Chefarzt schon da ist.“

„Tun Sie das! Und dann schicken Sie ihn zu mir. Ich will nur von ihm behandelt werden.“

Wortlos verließ Dr. Donat den Raum.

Wenig später kam die Polizei, um Justus über den Unfallhergang zu befragen, doch der Verletzte konnte nur angeben, dass es sich um einen Wagen von dunkler Farbe handelte. Die Automarke oder wenigstens Teile des Kennzeichens hatte er nicht erkennen können.

Nach der Polizei erschien Stefan im Zimmer des Freundes.

„Was machst du denn für Geschichten?“, fragte er teilnahmsvoll. Die Befunde hatte er schon gelesen. Justus würde einige Zeit in der Klinik bleiben müssen.

„Wenn ich diesen Dreckskerl zu fassen kriege, mache ich ihn fertig, das kann ich dir sagen!“

„Bitte reg dich jetzt nicht auf. Den Flüchtigen zu stellen, ist Sache der Polizei. Du kümmerst dich jetzt nur ums Gesundwerden.“

„Was wirst du tun?“

„Ich bespreche mich noch mit dem Kollegen Falk. Meiner Meinung nach kann der Bruch konservativ behandelt werden. Das heißt für dich, dass du Geduld haben musst. Für einen operativen Eingriff sehe ich keinen zwingenden Grund. Zwar gibt es im vorderen Beckenbereich zwei Sprengungen, aber die vertikale Stabilität ist erhalten.“

„Aber bei einer Operation käme ich schneller wieder auf die Beine.“

„Ja, das wäre möglich, Justus. Aber erst einmal müssen wir eine gewisse Stabilität erreichen. Mach dir keine Sorgen. Wir alle kümmern uns um dich. Du bist hier gut aufgehoben.“

Justus seufzte leidend. „Das will ich doch hoffen“, sagte er.

Beim Eintreffen des Notarztes am Unfallort hatte er darauf bestanden, in die Berling-Klinik gebracht zu werden, obwohl ein städtisches Krankenhaus näher gewesen wäre.

„Bitte bring mich von der Intensiv weg. Hier hat man ja keine Ruhe.“

„Ich bitte dich noch um einen Tag Geduld, Justus. Es ist besser so. Wenn noch eine posttraumatische Komplikation auftritt, kann sie sofort behandelt werde. Im Krankenzimmer auf der Station ist nicht ständig jemand vom Pflegepersonal bei dir.“

„Aber wirklich nur noch einen Tag“, beharrte der unbequeme Patient.

„Ich soll dich ganz herzlich von Julia grüßen. Sie lässt dir alles Gute wünschen. Wir hoffen beide, dass du bald wieder auf den Beinen bist.“

„Danke.“ Ein kleines Lächeln zog in Justus’ Mundwinkel.

„Was ist mit deiner Arbeit? Müssen Angehörige benachrichtigt werden?“, erkundigte sich Dr. Holl.

„Danke, nicht nötig, das erledige ich schon selbst. Ich bin ja nicht so krank, dass ich nicht telefonieren könnte.“

„Gut, wie du möchtest. Ich schaue später wieder bei dir vorbei.“

Stefan nickte dem Kollegen zu. „Mach’s gut, alter Freund.“

***

Es war gar nicht so einfach, sich an das Glück zu gewöhnen, doch jeden Tag gelang es Priska ein wenig besser. Auch ihr Äußeres veränderte sich. Die Augen wurden klarer, die Züge entspannter und immer öfter lächelte oder lachte sie.

Schwester Marion ahnte, was die Ursache für Priskas neue Fröhlichkeit sein könnte und erkundigte sich während einer Kaffeepause etwas scheinheilig, ob Priska im Lotto gewonnen habe.

„Geld, ach du lieber Himmel, das beruhigt, aber macht doch nicht glücklich.“

„Dann ist es also eine neue Liebe?“

„Mhm.“ Priska nahm mit spitzen Lippen ein Schlückchen vom heißen Kaffee. „Ehrlich gesagt, ich weiß es noch nicht. Das heißt, ich glaube es schon, aber ich will den Dingen nicht vorgreifen. Verstehst du?“

„Nein“, sagte Marion trocken. „Bist du nun verliebt oder nicht?“

„Ja.“ Priska gab ein leises Glucksen von sich. „Ich hätte nie gedacht, dass mir das passieren könnte.“

„Wieso nicht?“

Für einen kurzen Augenblick verschloss sich Priskas Miene wieder. Da sie der Meinung war, dass ihr Schicksal niemanden was anginge, sprach sie auch nie darüber. Niemand wusste von ihrem früheren Leben – und das sollte auch so bleiben. Sie mochte kein Mitleid. Es war ihr ebenso lästig wie betroffene Gesichter oder Fragen zum Hergang der Katastrophe.

„Ich habe einfach nicht damit gerechnet“, sagte sie jetzt mit einem verschwörerischen Lächeln. „Irgendwie war ich in meinem Singledasein gefangen und fand das ganz normal. Und dann ist plötzlich ein Mann aufgetaucht, der mein Leben völlig umkrempelt. Und verrückterweise gefällt mir das auch noch.“

„Du schwebst also im siebten Himmel“, stellte Marion mit liebevollem Spott fest. „Hoffentlich hast du wenigstens ein Sicherheitsnetz aufgespannt – falls es mal wieder abwärts geht.“

„Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf.“ Sich ein solches Szenario vorzustellen, hielt Priska für vollkommen überflüssig. Ihre Liebe zu Simon war für die Ewigkeit. Aber das konnte Marion natürlich nicht wissen.

Die kurze Kaffeepause wurde durch das Klingeln eines Patienten unterbrochen.

„Ich gehe schon“, sagte Marion und stellte den Becher mit dem Rest Kaffee ab. „Dann kannst du noch eine Minute länger träumen.“

Aber Priska träumte nicht. Sie dachte an das schreckliche Erlebnis in den Alpen, über das sie noch mit keinem Menschen gesprochen hatte. Jetzt spürte sie mehr und mehr, dass die Wahrheit sich nicht länger verstecken ließ.

Anfangs dachte sie, dieses Geschehen aus ihrer Erinnerung verbannen zu können. Doch seit sie Simon kannte, rumorte und gärte es in ihrer Seele. Bei der nächsten Gelegenheit musste er davon erfahren. Erst dann standen ihrer Liebe alle Himmel offen.

***

Der unleidliche Patient Dr. Justus Berwald lag inzwischen auf der Chirurgie. Den Pflegekräften gegenüber verhielt er sich schroff, gelegentlich sogar verletzend.

Die meisten nahmen sein Verhalten gelassen. Unangenehme Kranke gab es immer wieder, daran war man gewöhnt, damit wurde man schon fertig.

Als er Besuch von Julia Holl bekam, die ihm einen blühenden Kaktus und ein paar Krimis mitbrachte, trat erstmals seit seiner Einlieferung in die Klinik überschwängliche Freude in sein kantiges Gesicht.

Julias Anwesenheit empfand er als enorme Aufwertung seines Status’. Jetzt wussten hoffentlich alle, dass er zum engeren Freundeskreis der Holls gehörte.

„Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist. Wie geht es zu Hause? Was machen die Kinder?“

„Alles bestens. Sie lassen dir für die Geschenke danken. Aber erzähl mir, wie es dir geht. Ist die Lage einigermaßen erträglich für dich?“

„Noch muss ich liegen. Für einen Sportler wie mich ist das natürlich eine harte Prüfung. Und schau dir meinen Arm an. Der ist schon ganz blau von den vielen Nadelstichen.“

„Was sein muss, muss sein. Trag’s mit Fassung. Irgendwann wird auch das vorbei sein.“

Julia lächelte ihn so herzlich an, dass er schon fast an einen kleinen Flirt glaubte. So eine Frau hätte er schon gern an seiner Seite. Würde es schwer sein, sie zu erobern? Sein Jagdinstinkt rührte sich, sank aber bald wieder in sich zusammen. Gefesselt an das Krankenlager, blieb ihm nichts weiter übrig, als auf bessere Zeiten zu warten.

Als gut aussehender Mann mit einem sportlich-muskulösen Körper zog er auch mit seinen achtundvierzig Jahren noch immer die Blicke der Frauen auf sich. Warum dennoch keine nach dem ersten Kennenlernen bei ihm blieb, konnte er sich selbst nicht erklären. Wahrscheinlich lag es an der Charakterschwäche dieser Frauen, die nur auf Geld aus waren.

„Du siehst toll aus“, erklärte er charmant. „Wann hat dir dein Mann das letzte Mal ein Kompliment gemacht?“

Julia blickte für einen Moment verdutzt. Sie empfand diese Frage als unpassend.

„Gerade vor zehn Minuten“, erwiderte sie schlagfertig und schaute auf die Uhr. „Ich muss los. Juju wartet auf mich. Ich habe versprochen, sie vom Sport abzuholen. Und was man seinen Kindern verspricht, muss man halten, nicht wahr?“

Sie erhob sich, gab ihm zum Abschied aber nicht die Hand, sondern winkte nur.

„Bis später, Justus. Und weiterhin gute Besserung!“

Seine Laune sank schon wieder in den Keller. Ein wenig länger hätte sie ruhig bleiben können. Die Wasserkaraffe auf seinem Nachttisch war auch schon wieder leer. Etwas mehr Aufmerksamkeit durfte er ja wohl erwarten.

Es klopfte kurz an die Tür, dann trat die Putzfrau ein und begann mit der täglichen Reinigung. Da sie klein und rundlich war, schloss er die Augen, um sich diesen Anblick zu ersparen.

***

Nach zwei wundervollen freien Tagen, die sie zum großen Teil mit Simon verbracht hatte, trat Priska wieder ihren Dienst in der Berling-Klinik an. Wie sehr die Liebe das Leben veränderte, grenzte ja an ein Wunder. Dass sie jahrelang in einem Dämmerzustand gelebt hatte, konnte sie jetzt nicht mehr fassen. Aber zum Glück war diese Zeit vorbei und würde hoffentlich nie mehr wiederkommen.

Marion stellte gerade die Medikamentenrationen für den Tag zusammen, als ein Ruf aus Zimmer zwölf kam.

„Der Patient ist gestern von der Intensiv gekommen“, sagte Marion seufzend. „Meistens hat er was zu meckern. Ein lästiger Typ.“

„Ich gehe schon“, sagte Priska mit einem verträumten Lächeln. In diesem Raum hatte Simon mit seinem Knie gelegen. Sie klopfte kurz an die Tür und ging auf das Bett zu.

„Guten Tag, ich bin Schwester Priska. Was kann ich für Sie …“

Ihr war, als drücke eine Eisenfaust ihr Herz zusammen. Dieses Gesicht! Diese Augen! Dieser hämisch verzogene Mund!

Sie wollte etwas sagen, doch aus der wie zugeschnürten Kehle drang kein einziger Laut.

„Das glaube ich jetzt nicht!“, rief Justus. „Du hier! Das ist ja eine tolle Sensation.“

Priska brauchte etliche Sekunden, um sich von diesem Schock zu erholen. Sie hatte gehoffte, diesem Widerling niemals mehr zu begegnen. Nun lag er sogar als Patient auf dieser Station – und sie musste ihn betreuen!

Auf seine Worte ging sie gar nicht erst ein.

„Warum haben Sie geklingelt?“

„Dürfte ich um Wasser bitten?“ Seine süffisante Stimme schnitt ihr ins Herz.

Wortlos nahm sie die Karaffe und füllte sie im angrenzenden Bad mit Wasser.

„Sonst noch etwas?“

„Lass dich anschauen. Hübsch siehst du aus. Seit wann bist du denn in der Berling-Klinik?“

„Gleich kommt die Visite“, sagte sie brüsk und ging hinaus.

Sie ging zur Besucherecke und setzte sich. Ihr Herz flatterte, ihre Knie zitterten. Verzweifelt suchte sie nach einem guten Gedanken, an dem sie sich festhalten konnte, doch in ihrem Kopf war nur ein Schwindelgefühl.

Dr. Justus Berwald in der Berling-Klinik, hier auf ihrer Station! Was sollte sie tun? Wenn sie ihn auch noch anfassen musste, würde sie schreiend zusammenbrechen.

Einfach alles aufklären!, wisperte ein dünnes Stimmchen aus den Tiefen ihrer Seele. Der ganzen Welt sagen, was er ihr angetan hatte!

Aber warum haben Sie denn so lange geschwiegen, Priska Anders? Haben Sie Beweise? Immerhin sind das sehr schwere Anschuldigungen, die Sie da äußern.

Sie schluckte, doch der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. Dr. Justus Berwald schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. Nicht die kleinste Betroffenheit in seiner Miene, sondern nur dieser zynische Ausdruck, der sie schon einmal so fassungslos gemacht hatte. Damals, als sie sich in höchster Gefahr befunden hatte.

„Hier bist du! Ich habe dich schon gesucht.“ Marion stand vor ihr. „He, du bist ja ganz blass. Was ist los mit dir?“

„Mir ist übel“, hauchte Priska. Zwei rebellische Haarsträhnen hatten sich gelöst und hingen ihr jetzt über das Gesicht.

„Dann meld dich ab und geh nach Hause“, schlug Marion seufzend vor. Angesichts der Arbeit, die sie dann zusätzlich übernehmen musste, fiel ihr dieser Hinweis nicht leicht. Aber eine kranke Kollegin bedeutete ja auch keine echte Hilfe. „Es ist wieder eine Magen-Darm-Grippe unterwegs. Hast dir wohl was eingefangen.“

Priska nickte und versuchte nach Kräften, ihre Panik zu unterdrücken. „Vielleicht ist morgen schon wieder alles vorbei“, meinte sie wenig hoffnungsvoll.

***

Als sie die Tür ihres Apartments hinter sich geschlossen hatte, atmete Priska auf. Nur langsam wich die eisige Kälte, die sie trotz der milden Witterung wie ein harter Panzer umgab. Nach und nach konnte sie klarer denken. Aber von einer Strategie war sie noch weit entfernt.

Völlig ausgeschlossen, diesem Monster noch einmal zu begegnen. Zwar lag er jetzt hilflos in einem Krankenbett, doch in ihrer Panik traute sie ihm alles zu, sogar übernatürliche Kräfte.

Immer noch ganz schockiert, machte sie sich in der Küche zu schaffen. Nach einer Weile sinnlosen Herumhantierens setzte sie Wasser auf und wartete, bis es kochte. Als es zu sprudeln begann, goss sie es in eine Tasse, in der schon ein Teebeutel hing.

In einer einzigen Sekunde war ihre Welt, die sich gerade erst stabilisiert hatte, wieder ins Wanken geraten. Priska entfernte den Teebeutel und wollte einen ersten Schluck probieren, doch das Getränk war noch zu heiß.

Das Klingeln des Handys riss sie aus ihren hilflosen Überlegungen.

„Hallo, Liebes“, sagte Simon. Seine Stimme beruhigte sie ein wenig. „Wie sieht es mit heute Abend aus? Wenn ich dich nicht sehe, gerät meine Heilung ins Stocken.“

„Tut mir leid, Simon, aber mir geht es nicht gut.“

„Bist du in der Klinik?“

„Nein, ich bin nach Hause gegangen. Mir ist übel.“

„Du wirst mir doch nicht krank werden!“, rief er bestürzt aus.

„Es ist sicher nur eine kleine Unpässlichkeit, die bald wieder vergeht, aber in der Klinik konnte ich mich nicht mehr auf den Beinen halten …“

„Ich komme zu dir!“