Die besten Ärzte - Sammelband 59 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 59 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1824: Puppen haben keine Tränen
Notärztin Andrea Bergen 1303: Katrin - unser Sorgenkind
Dr. Stefan Frank 2257: Mit dem Herbst kam die Liebe
Dr. Karsten Fabian 200: Ein Märchen wird wahr in der Heide
Der Notarzt 306: Und plötzlich nur noch Stille


Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 580

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Katrin Kastell Marina Anders Stefan Frank Sybille Nordmann Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 59

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2016/2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © adriaticfoto / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-6442-1

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 59

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1824

Puppen haben keine Tränen

Die Notärztin 1303

Katrin – unser Sorgenkind

Dr. Stefan Frank 2257

Mit dem Herbst kam die Liebe

Dr. Karsten Fabian - Folge 200

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Ein Märchen wird wahr in der Heide

Der Notarzt 306

Und plötzlich nur noch Stille

Guide

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Contents

Puppen haben keine Tränen

Aber kleine Mädchen weinen, wenn sie traurig sind

Von Katrin Kastell

Jedes Jahr geben Melissa und Sascha Schwarz ein Fest zu Ehren ihrer Tochter. In diesem Jahr wird Kira fünf Jahre alt, und alle sollen sehen, was für ein begabtes Kind sie ist.

Soeben kündigt das stolze Ehepaar an, dass die Kleine nun einige Stücke auf dem Klavier spielen wird. Auch Dr. Stefan Holl und seine Frau Julia gehören zu den Gästen und warten gespannt auf Kiras Auftritt.

In einem reizenden Glitzerkleid tritt die zarte, kleine Künstlerin an den Flügel. »Oh, wie süß«, raunen die Gäste, nur Julia Holl fährt der Schreck in die Glieder, denn Kira sieht furchtbar krank aus. Dennoch spielt sie fehlerfrei ihre Klavierstücke und erntet großen Beifall. Doch während noch tosender Applaus ertönt, bricht das kleine Mädchen plötzlich zusammen und windet sich in einem Krampfanfall neben dem Klavier auf dem Boden …

„Liebling, müssen wir da unbedingt hin? Fällt dir keine gute Ausrede ein?“, stöhnte Julia Holl und sah ihren Mann, Dr. Stefan Holl, den Klinikleiter der Berling-Klinik in München, bittend an. Normalerweise begleitete sie ihn immer klaglos und gerne, wenn er gesellschaftliche Verpflichtungen hatte.

Julias Vater, Dr. Walter Berling, hatte einst die Klinik gegründet, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie wusste, dass es mehr erforderte, als ein hervorragender Arzt zu sein, um eine teure Privatklinik durch die Stürme der Zeit zu manövrieren. Man musste Stratege sein und sich in der Öffentlichkeit gut platzieren, um die dringend erforderlichen Spendengelder zu bekommen, ohne die es nicht ging.

„Tut mir leid, Julia! Ich weiß, wie sehr du dieses jährliche Event ablehnst, aber Sascha Schwarz und seine Frau sind wichtige Förderer“, antwortete ihr Mann bedauernd.

Es war später Samstagnachmittag, und er wäre auch lieber zu Hause geblieben und hätte zur Entspannung noch ein wenig im Garten seiner Villa gearbeitet. Wobei er es nicht ganz so schrecklich fand wie Julia, dass Melissa und Sascha Schwarz seit der Geburt ihrer Tochter vor fünf Jahren, deren Geburtstag zum Anlass für eine große Einladung zum Abendessen nahmen.

„Ich weiß!“ Julia ging mit Leidensmiene zu ihrem Kleiderschrank, um sich etwas Passendes für den Abend zurechtzulegen.

„Ich könnte alleine gehen und dich mit einer zünftigen Erkältung entschuldigen“, bot Stefan Holl großzügig an, dem es leidtat, wie sehr sie sich zwingen musste.

„Wir haben Hochsommer, und ich erfreue mich bester Gesundheit. München ist ein Dorf, wenn es um solche Lügen geht. Ich würde mit Sicherheit auf Schritt und Tritt in die Falschen hineinlaufen, sobald ich nur das Haus verließe. Nein, an guten und an nicht so tollen Tagen, Mann meines Herzens! Ich leide tapfer an deiner Seite“, winkte sie mit einem schrägen Lächeln ab.

„Kira scheint mir gut mit dem Brimborium um ihre Person zurechtzukommen“, meinte Stefan begütigend, der die Fünfjährige eigentlich recht süß fand, wie sie von ihren Eltern für die Öffentlichkeit herausgeputzt und vorgeführt wurde.

„Das Mädchen wird dieses Jahr fünf, Stefan. Ein paar Jahre kann sie sich noch nicht wehren, aber ich hoffe, wenn sie in die Pubertät kommt, zahlt sie es ihrem Vater und ihrer Mutter heim! Niemand sollte derart vorgeführt werden. Sie machen ihre Tochter zu einem süßen Zirkusäffchen und scheinen keinen Gedanken daran zu verschwenden, was sie ihrem Kind damit antun.“

„Vielleicht mag sie es sogar. Die ganze Aufmerksamkeit muss ihr nicht unbedingt schaden. Wenn sie …“ Stefan Holl brach ab.

Es gab Bereiche, über die man mit Julia nicht diskutieren konnte, und das Wohl eines Kindes gehörte dazu. Ihrer Überzeugung nach grenzte das, was Sascha und Melissa Schwarz mit ihrer Tochter machten, an Missbrauch.

Kira war das Maskottchen und Werbesymbol des erfolgreichen Unternehmens ihrer Eltern.

Melissa und Sascha Schwarz waren innerhalb weniger Jahre zu Stars am Modehimmel geworden. Ihre Kollektionen wurden nicht in Mailand oder Paris vorgeführt, aber für zwei Euro konnte man so ziemlich alles von ihnen haben, und für zwanzig Euro gab es ein Hochzeitskleid für jede Figur.

Wegwerfkleidung – anhand eines wachsenden Müllberges konnte man diese Mode mit gemischten Gefühlen betrachten, aber von den Konsumenten wurde die Idee mit Begeisterung aufgenommen. Die Einmal-Kleidung wurde in halb Europa so ziemlich überall verkauft und machte das junge Paar innerhalb kürzester Zeit mehr als nur reich.

Mit T-Shirts, die nach spätestens zweimal Waschen in ihre Bestandteile zerfielen, stieg das junge Paar als leuchtender Stern am Firmament der Münchner Gesellschaft auf.

Sascha und Melissa Schwarz gehörten zu den vermögendsten Mitgliedern des Clubs der Reichsten der Reichen, und keiner von ihnen kam ursprünglich aus einem vermögenden Elternhaus, soweit Stefan wusste.

Man bewunderte sie für ihren Erfolg und akzeptierte sie als Trendsetter. Vor allem die jungen Reichen der Stadt, die ihr Vermögen in der Regel irgendwann erben würden, ahmten nach, was immer Sascha und Melissa für witzig hielten, und verkehrten häufig in ihrer Villa.

Sascha trug gerne eine kleine Wollkappe – inzwischen waren Kappen ein Statussymbol und im Preis enorm gestiegen.

Melissa ging oft in der Öffentlichkeit barfuß und trug so gut wie nie hohe Absätze. Die Füße zahlloser junger Frauen, die ansonsten tapfer gestöckelt waren, dankten es ihr mit weniger Deformierungen.

Saschas und Melissas triumphierendes Gewinnerlächeln strahlte einem fast wöchentlich von einer Zeitung entgegen. Dementsprechend oft tauchte auch Kira in der Öffentlichkeit auf.

Das kleine Mädchen musste jeden Schritt seiner Entwicklung öffentlich vorführen. Für seine unschuldigen Kinderkritzeleien gab es Spendenauktionen, auf denen sie versteigert wurden. Und es gab tatsächlich Menschen, die dafür ein kleines Vermögen boten – natürlich alles nur für die gute Sache, was das auch immer gerade war.

Kira musste vor Publikum singen, tanzen, Männchen machen, und ihre wundersame Begabung wurde allgemein gefeiert, ohne dass jemand hätte zu sagen vermocht, worin sie genau bestand. Sie war eine Art Kinderstar, einfach, weil sie ein Kind war und reiche Eltern hatte.

Julia Holl beobachtete den Trubel mit Mitgefühl. Dem kleinen Mädchen wurde jede normale Entwicklung verwehrt. Es wurde zum Wunderkind stilisiert, ohne im eigentlichen Sinn ein Wunderkind zu sein.

Kira spielte Klavier, wie es für eine Fünfjährige durchaus üblich war, und machte Auftritte mit ihren Kinderliedchen. Sie tanzte und sang nicht wesentlich besser als Gleichaltrige, aber was sie auch tat, wurde aufgebauscht und vermarktet.

Jedes Jahr feierten Sascha und Melissa Schwarz den Geburtstag ihrer Tochter mit einer großen Einladung, zu der sie die Größen der Münchner Gesellschaft einluden und ihre europäischen Geschäftspartner. Das Kind war dabei die Hauptattraktion und hatte zu demonstrieren, was es in dem verflossenen Jahr dazugelernt hatte.

Kira wurde als Showeinlage genutzt, und ob es nun die Aufnahmen ihrer ersten eigenen Schritte gewesen waren oder ihr erster Strich mit einem Buntstift auf Papier – seit ihrer Geburt war sie ein öffentliches Ereignis.

„Geld muss nicht immer ein Segen sein“, brummte Julia mürrisch vor sich hin, als Stefan und sie am frühen Abend ins Auto stiegen. „Millionen und Erfolg machen aus unreifen Eltern noch lange keine Erwachsenen.“

„Millionen und Erfolg stellen aber einen Freibrief aus, und was bei anderen als unreif gilt, ist plötzlich in aller Munde und wird nachgeahmt. Julia, du kannst die Welt nicht ändern, und dich über etwas aufzuregen, was sich nun einmal nicht ändern lässt, ist Kraft- und Zeitvergeudung“, meinte Stefan Holl weise.

Er bot seiner Eheliebsten noch einmal an, zu Hause zu bleiben, obwohl es ihm natürlich viel lieber war, wenn sie ihn begleitete.

„Ich lasse mich dort sehen, esse ein paar Happen vom Büffet, und anschließend schleiche ich mich still und heimlich davon. Dann genießen wir zwei beide den restlichen Abend zusammen. Was meinst du?“, fragte er sie.

„Ich komme mit!“, bestimmte Julia und schlug die Beifahrertür demonstrativ zu. „Das mit dem Wegschleichen hört sich aber trotzdem wunderbar an. Ich habe gehört, sie haben der Kleinen einen Steinway-Flügel gekauft und dass sie uns heute Abend darauf ein Konzert geben soll. Es geht durch die Zeitungen, wie viele Stunden am Tag man das Mädchen üben lässt. Das möchte ich nicht sehen. Es ist einfach zu grausam.“

„Großes Spendensammlerehrenwort: Wir gehen vorher! Aber bist du nicht etwas zu streng? Sie sind eben wie alle Eltern stolz auf ihre Tochter und wollen das mit aller Welt teilen. Irgendetwas müssen sie doch mit all ihrem Geld anfangen …“

„Wenn es bloß elterlicher Stolz wäre, würde ich darüber schmunzeln! Stefan, siehst du es wirklich nicht? Kira hat außerordentlich zu sein, weil ihre Eltern sich für außerordentlich halten. Kannst du dir den Druck vorstellen, unter dem das Kind beständig steht?“

Stefan zuckte schweigend die Achseln. Er fand, dass Kinder und Jugendliche ohnehin unter enormem Druck standen. Davor konnte man sie nicht bewahren. Es war unglaublich, was sie in kürzester Zeit für Kompetenzen erwerben und lernen mussten, und ständig standen sie in Konkurrenz zueinander.

Sie wurden verglichen, gelobt, getadelt, bewertet von morgens bis abends. Er fand es nicht verwunderlich, dass immer mehr Kinder unter psychosomatischen Erkrankungen litten. Kinderärzte klagten, dass sie im Grunde Psychologen hätten sein müssen. Bauchweh, Übelkeit, Erbrechen waren häufige Symptome morgens auf dem Schulhof. Nein, schön war es nicht unbedingt, Kind zu sein.

„Kira hat erbarmungslos zu funktionieren, ohne dass sie in ihrer Persönlichkeit wahrgenommen und gefördert wird. Ihre Grenzen werden permanent verletzt. Hättest du einer unserer vier Pappnasen so eine Kindheit gewünscht?“, fuhr Julia in ihrem Gedankengang fort, und damit hatte sie ihren Mann erreicht.

Julia und Stefan hatten vier Kinder. Ihre Zwillinge Dani und Marc studierten bereits, wohnten aber noch zu Hause. Chris, ihr Fünfzehnjähriger, kämpfte mit den Tücken der Pubertät und die ganze Familie mit ihm. Und Juju, das elfjährige Nesthäkchen, schaffte es, alle zum Lachen zu bringen und sich rundum verwöhnen zu lassen.

Stefan Holl liebte seine Kinder und schätzte jedes auf seine ganz eigene Weise. Genau wie seine Frau war er immer der Ansicht gewesen, dass jeder Mensch etwas Kostbares und Einzigartiges auf die Erde mitbrachte. Eltern waren ihrer Überzeugung nach dafür da, dem Kind dabei zu helfen, seine ureigene Schönheit und Besonderheit zu entdecken.

„So habe ich es nie gesehen, Julia. Nein, ich hätte für keines unserer Kinder so eine Kindheit gewollt. Unter keinen Umständen!“, musste Stefan seiner Frau recht geben und schüttelte sich bei der Vorstellung.

„Ich auch nicht. Hoffen wir, dass Kira irgendwie damit zurechtkommt und keinen Schaden nimmt! Und jetzt bringen wir diese verflixte Geburtstagsfeier hinter uns! Es sind doch nur ein paar Stunden“, machte Julia sich Mut.

***

„Kira, Spatz, hör auf zu üben und komm her! Heute ist dein Geburtstag, heute kannst du alles!“, versuchte Bettina Arendt, das neue Kindermädchen, Kira etwas aufzuheitern, aber kein Lächeln erhellte die traurige Miene des Kindes. Mit fiebrigen Augen und vor Aufregung zitternd saß es an seinem Klavier im Kinderzimmer und übte seit dem frühen Morgen.

„Mama sagt, ich bin böse, weil ich ständig falsch spiele. Ich will doch gar keine Fehler machen! Ich will, dass Mama mich lieb hat.“ Tränen rannen über die geröteten Wangen, und wieder verhaspelten sich die Finger auf der Tastatur, und die Verzweiflung kannte keine Grenzen.

„Kleines, deine Mama hat dich lieb, ob du nun die richtigen Tasten triffst oder nicht!“

Bettina Arendt war Mitte fünfzig und hatte selbst drei Kinder großgezogen und als Kindermädchen im Lauf der Jahre viele Kinder und Jugendliche begleitet. Ein Kind wie Kira war ihr allerdings noch nie untergekommen.

Das Mädchen schien mit fünf Jahren schon nahezu erwachsen zu sein. Es wusste nicht mehr, wie man lachte, spielte oder Spaß hatte. Mit einem unglaublichen Pflichtbewusstsein arbeitete es die Aufgaben ab, die seine Eltern ihm unentwegt stellten.

Sascha und vor allem Melissa Schwarz merkten anscheinend nicht, wie sehr sie damit ihr Kind überforderten.

„Schluss! Aus! Du bist spitze! Nachher werden alle klatschen und begeistert sein. Aber jetzt wird nicht mehr geübt. Du bläst jetzt die Kerzen auf deinem Geburtstagskuchen aus, und wir feiern ein wenig, bevor die Meute kommt!“

Bettina zog das Mädchen von der Klavierbank hoch zu dem kleinen Tisch, auf dem ein Rührkuchen mit fünf Kerzen, den sie selbst gebacken hatte, und ein kleines Geschenk für Kira warteten.

„Ist das für mich?“ Kira nahm das bunt verpackte Geschenk, und das erste Mal an ihrem Geburtstag lächelte sie und hatte etwas Kindliches an sich.

Da öffnete sich schwungvoll die Tür des Kinderzimmers, und Melissa Schwarz stürmte, ohne anzuklopfen, herein, wie sie es immer tat.

Bettina hatte jedes Mal das Gefühl, die Mutter kam nur zur unangekündigten Kontrolle und Inspektion. Sie blieb immer nur ein paar Minuten, tadelte, gab Anweisungen, dann stürmte sie wieder hinaus. Liebkosungen oder liebe Worte für das Kind gab es bei diesen Inspektionen nicht.

Obwohl Bettina gerade erst vier Wochen für die Familie tätig war, atmete sie bereits dankbar auf, wenn Mutter und Vater wie meist irgendwo in Europa oder Asien Geschäftsbesprechungen hatten und nicht in der Villa waren. Ohne die Eltern war es leichter, und Kira war deutlich entspannter.

„Du übst nicht?!“, kam es sofort voller Tadel und Vorwurf. „Kannst du die drei Stücke etwa fehlerlos spielen?“

„Mama, ich …“

„Keine Ausreden, kleine Dame! Setz dich ans Klavier und spiele es mir vor! Jetzt!“, befahl die Mutter streng.

Kira legte ihr Geschenk wieder auf den Tisch, ohne es ausgepackt zu haben, und schlich niedergeschlagen zum Klavier. Vor ein paar Tagen hatte sie die drei Stücke recht gut gekonnt. An diesem Morgen aber waren ihr die Noten auf dem Papier völlig fremd, als ob sie noch nie einen Blick darauf geworfen hätte. Ihre Finger wussten einfach nicht, wohin sie sollten.

Das Kind hatte Halsschmerzen und fühlte sich elend, aber das sagte es nicht einmal dem netten Kindermädchen. Kindermädchen bekamen Probleme und wurden entlassen, wenn sie der Mama etwas sagten, was die nicht hören wollte. Es war viel besser, wenn man den Mund hielt und die Dinge alleine mit sich ausmachte.

Es machte Kira Angst, vor vielen Menschen zu stehen, obwohl sie es immerzu tun musste. Irgendwie konnte sie sich nicht daran gewöhnen. Davor ging es ihr nie gut. Ihre Mutter lachte sie nur aus und schimpfte, wenn sie jammerte.

„Wir haben alle unsere Pflichten, die wir erfüllen müssen, Kira. Glaubst du, Papa und ich gehen immer gerne zur Arbeit? Nein, wir würden lieber daheim und im Bett bleiben, aber wir haben Pflichten. Und du hast auch Pflichten.“

Dagegen konnte Kira nichts einwenden. Genau wusste sie nicht, was Pflichten waren und warum die Mama und der Papa nie zu Hause waren. Ihr war nur klar, dass diese Tatsache auch dafür verantwortlich war, dass sie selbst tun musste, was immer ihre Eltern forderten. Es gab keine Entschuldigungen, keine Ausnahmen und keine Pausen.

Kira war entsetzlich heiß und schwindlig, und vor ihren Augen verschwamm alles. Sie konnte die Noten kaum erkennen, aber kein Ton der Klage kam über ihre Lippen. Krankheit war keine Entschuldigung für Saumseligkeit. Das sagte ihre Mama oft.

Saumseligkeit war auch so ein Wort, das Kira nicht verstand, aber darauf kam es auch nicht an. Wichtig war, dass die Mama wütend wurde, wenn sie ihr sagte, dass es ihr nicht gut ging. Nein, es war besser, niemandem davon zu erzählen, wenn etwas wehtat.

„Kiras Stirn ist heiß. Ich fürchte, sie gehört ins Bett und hat Fieber. Am besten hole ich einmal das Thermometer und …“ Bettina war aufgefallen, wie krank das Mädchen aussah.

„Kira hat gleich einen Auftritt“, wurde sie von der Mutter gereizt unterbrochen. „Bist du gesund und erfüllst deine Aufgabe, wie es sich gehört?“, wandte sie sich an ihr Kind.

Die Kleine nickte tapfer.

„Frau Schwarz, Kira ging es schon gestern nicht gut, und ich finde …“

„Frau Arendt, ich habe Ihnen bei unserem Einstellungsgespräch gesagt, wie häufig in unserem Haus die Stelle des Kindermädchens schon neu besetzt werden musste. Ich mag beruflich viel unterwegs sein, aber ich dulde nicht, dass mir jemand die Erziehung meines Kindes aus der Hand nimmt.“ Die Drohung war nicht zu überhören.

„Entschuldigen Sie! Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass …“

Mit einem zornigen Blick brachte Melissa Schwarz ihre Angestellte zum Schweigen. Niemand kannte ihr Kind besser als sie. Schließlich war sie Kiras Mutter.

Kira musste gefordert werden, um zu zeigen, was in ihr steckte. Verzärtelte man sie, dann wurde sie zu einer normalen Fünfjährigen, aber das war sie bei Weitem nicht. Oh nein, sie war etwas Besonderes! Sie war stark und konnte sich selbst beherrschen.

„Spiel mir die Stücke vor!“, befahl die Mutter.

Kira gab ihr Bestes. Da sie die Noten nur erahnen konnte, spielte sie, was ihre Finger spielen wollten. Es klang seltsam, aber sie hörte nicht auf und spielte weiter und weiter. Ihre Mama sollte doch stolz auf sie sein.

„Was machst du da!“, explodierte Melissa, ohne die Verzweiflung des Kindes zu erkennen. „Das sind leichte Liedchen, und du verhunzt sie völlig.“ Sie setzte sich neben Kira und spielte die drei Musikstücke mechanisch und gefühllos auswendig herunter.

„So macht man das! Ich erwarte, dass du deinen Vater und mich später nicht vor unseren Gästen blamierst! Übe!“ Wütend rauschte die Mutter wieder hinaus.

Bettina hatte keine Chance mehr, Kira vom Klavier wegzulocken. In ihrer Not brachte das Kind keines der Stücke mehr zu Ende und musste jedes Mal wieder von vorne anfangen.

Kira liefen Tränen über die Wangen, Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn, aber sie blieb am Klavier sitzen, bis sie sich für das Fest umziehen lassen musste.

Während Bettina den zierlichen Kinderkörper duschte und abtrocknete, beschloss sie, die Stelle von sich aus zu kündigen. Kira war ein unglückliches, kleines Mädchen, und Bettinas Mutterherz hätte sie zu gerne lachen sehen, aber die Eltern würden das kaum zulassen. Stummer Zeuge dieses Elends konnte und wollte sie nicht sein.

Vater und Mutter des Kindes waren unbelehrbar und überzeugt, ihr Kind zu dressieren, sei ihr gutes Recht.

Bettina sah für sich keine Möglichkeit, einen guten Ausgleich für Kira zu schaffen. Besser ging sie gleich und aus freien Stücken, bevor das Kind sich zu sehr an sie gewöhnte und nur noch einmal mehr litt.

Das Kindermädchen nahm sich vor, am nächsten Tag die Kündigung zu schreiben und nur noch zu bleiben, bis Melissa Schwarz eine Nachfolgerin gefunden hatte. Kaum hatte Bettina den Entschluss gefasst, fühlte sie sich gleich viel wohler und atmete befreit durch.

Da entdeckte sie mehrere Hautveränderungen an Kiras Rücken und Brust, die rasch größer wurden. Es sah nicht nach Windpocken oder Masern aus. Die Quaddeln passten in kein Krankheitsbild, das Bettina kannte. Da das Kind Fieber hatte, war sie äußerst beunruhigt.

„Frau Schwarz, Kira entwickelt einen Ausschlag, der sich rasch ausbreitet. Rote Quaddeln am Rücken und auf der Brust“, informierte sie die Mutter telefonisch, bevor sie das Kind anzog. Sie hoffte, Kira ins Bett oder besser noch zu einem Kinderarzt bringen zu dürfen, der Wochenenddienst hatte, aber da hatte sie Pech.

Die ersten Gäste waren eingetroffen, und der festlich geschmückte Speisesaal füllte sich, um den Geburtstag der Tochter des Hauses zu feiern.

Melissa und Sascha begrüßten jeden und wechselten ein paar höfliche Floskeln. Die Mutter ging genervt mit dem Telefon beiseite, um die formelle Begrüßung nicht zu stören.

„Was wollen Sie?“, knurrte sie feindselig und schrieb im Geist die Kündigung.

„Kira ist krank und gehört dringend ins Bett“, drängte das Kindermädchen.

„Hat sie die Quaddeln auch im Gesicht?“, bekam Bettina schnippisch zur Antwort.

„Nein, aber …“

„Dann kann sie auch spielen. Wenn es sein muss, dann bringen Sie Kira eben nur für den Auftritt herunter und nehmen sie anschließend gleich wieder mit hoch. Spielen wird sie – so oder so!“ Melissa beendete das Gespräch und kehrte zu den Gästen zurück.

***

Wie so oft kam es anders, als die Holls geplant hatten. Das gesellschaftliche Zusammentreffen in der Villa der Familie Schwarz erwies sich als wirklich nett und unterhaltsam.

Stefan und Julia saßen am Tisch mit einem Architekten- und einem Anwaltspaar, mit denen sie mehr als nur gut bekannt waren. Man hatte sich lange nicht mehr gesehen, und es gab viel zu erzählen und zu lachen.

„Unfassbar, wie schnell die Zeit vergeht, Stefan!“, rief der Anwalt Hans Maser und schüttelte ein paarmal erstaunt den Kopf. „Drei Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen, und dabei wollten wir unbedingt in dem Sommer noch einmal zusammen grillen. Weißt du noch?“, fragte er.

Ja, die Zeit flog wirklich nur so dahin, dachte Dr. Holl. Seine vier Kinder waren der beste Beweis dafür. Kaum zu glauben, dass Dani und Marc fast erwachsen waren. Wo war nur die Zeit geblieben?

„Ich hatte mir doch damals gerade ganz neu meinen Steingrill mauern lassen und war ganz versessen darauf, ihn ständig anzuwerfen“, fuhr der Anwalt fort, ohne eine Antwort abzuwarten. „Eigentlich schade, dass sich so etwas meist schnell wieder legt. Dieses Jahr haben wir ihn bisher gerade zwei- oder dreimal angeworfen. Bis Sarah und ich abends aus der Kanzlei kommen …“

Seine Frau zuckte mit einem zustimmenden und leicht resignierten Lächeln die Achseln. Die beiden führten eine Kanzlei für Insolvenzrecht und gingen voll und ganz in ihrer Arbeit auf. Für Vergnügen und Freizeit blieb so gut wie kein Raum.

„Der Tag sollte achtundvierzig Stunden haben. Richtig frei haben Hans und ich eigentlich nie. Manche Klienten rufen in ihrer Not und Hilflosigkeit spät am Abend und am Wochenende an“, erzählte Frau Maser nun. „Natürlich könnten wir das unterbinden, aber genau das macht den Unterschied unserer Kanzlei zur Konkurrenz aus.“

Sie betonte, dass ihre Klienten schwere Krisenzeiten durchliefen und so etwas wie einen sicheren Hafen brauchten, wo sie jederzeit Hilfe fanden.

„Wir überlegen immer einmal wieder, noch einen Anwalt ins Team zu nehmen, aber zu zweit bestimmen wir, was uns wichtig ist und wo unsere Prioritäten liegen. Ein angestellter Anwalt könnte Unfrieden in die Kanzlei tragen. Darauf haben wir keine Lust, und es wäre auch keine Verbesserung“, meinte Hans.

Dann sah er Stefan und Julia an und musste lachen.

„Wem erzählen wir das! Stefan, als Klinikleiter weißt du doch auch kaum, wann du einmal definitiv frei hast, oder? Ihr könnt da mit Sicherheit auch ein Liedchen von singen“, vermutete er.

„Sicher können wir nur sein, wenn wir es schaffen, für ein paar Tage wegzufahren“, stimmte Julia anstelle ihres Mannes zu. „Und selbst da ist es schon vorgekommen, dass ich mit den Kindern allein am Urlaubsort geblieben bin. Ist in der Berling-Klinik der Teufel los, dann muss Stefan hin. Ich verstehe das. Die Klinik liegt auch mir am Herzen, aber schön ist es nicht.“

Die Paare plauderten über ihren Alltag, ihr Berufsleben und die Urlaube, die sie sich in der Zwischenzeit gegönnt hatten. Dabei verstrich die Zeit. Da Kira nicht wie sonst am Ende der Tafel saß, vergaß Julia vollkommen den eigentlichen Anlass der Festlichkeit und entspannte sich.

Da wurde der musikalische Auftritt des Geburtstagskindes angekündigt. Die Gäste klatschten, die Blicke wanderten zu der kleinen Bühne, auf der ein wunderschöner, teurer Flügel stand.

Die Holls hatten den Moment verpasst, an dem sie noch hätten unbemerkt verschwinden können.

„Entschuldige!“, flüsterte Stefan seiner Frau ins Ohr, der sein Versprechen nicht vergessen hatte und mit seinem schlechten Gewissen rang.

„Ich habe auch nicht mitbekommen, dass es schon so weit ist. Schicksal. Da müssen wir jetzt durch!“, flüsterte sie zurück.

Kiras kleine Auftritte wurden immer parallel zum Dessert eingeplant und stellten den Höhepunkt des Abends dar.

Melissa hatte für ihre Tochter eine Art Abendkleid ausgesucht, das der Fünfjährigen bis über die Knöchel reichte. Es ließ das Kind wie eine zierliche Frau erscheinen – sehr klein und zerbrechlich und vollkommen erwachsen.

In den Jahren zuvor hatte das Mädchen trotz allem immerhin noch ein Kind sein dürfen, ging es Julia durch den Kopf. Anscheinend war es nun mit der Kindheit vorbei.

In Kira herrschte gähnende Leere. Sie spürte nur ihren Atem, wie er sich in ihrem Zwerchfell sammelte und dann wieder hinausströmte. An diesem Atem klammerte sie sich fest. Einatmen und ausatmen – das war etwas, was sie unter Kontrolle hatte, auch wenn das Atmen ihr schwerfiel, weil der Hals brannte.

Die Bank an dem riesigen Flügel war etwas zu hoch für sie. Damit sie nicht doch noch wie ein kleines Mädchen wirkte und klettern musste, erwartete ihr Vater sie dort und hob sie hoch. Er sagte etwas. Die Gäste lachten.

Kira wusste, dass sie das Gesicht zum Publikum wenden und auch lachen musste. Sie tat es, so gut sie konnte, aber im Grunde zog sie nur die Lippen zurück und zeigte die Zähne.

„Das Kind sieht krank aus“, raunte Julia Stefan zu und wünschte, sie wären pünktlich gegangen. Mitgefühl schnitt ihr ins Herz. Das war kein lächelndes Kind, sondern die Grimasse einer uralten Frau, die sich in den Körper eines Kindes verirrt hatte.

Stefan legte den Arm tröstend um ihre Schulter und sagte nichts. Auch ihm fiel auf, dass Kira im Vergleich zu den vergangenen Jahren keinen frohen Eindruck mehr machte. Sie schien den Spaß daran verloren zu haben, allen zu zeigen, was sie schon konnte, und sich dafür feiern zu lassen.

Unter Umständen ging es ihr aber auch nur an diesem Abend nicht so gut. Stefan war sich bewusst, dass er nur einen Ausschnitt sah und nicht das gesamte Bild. Er hütete sich, darüber eine Bemerkung zu Julia zu machen.

Das Klavierspiel setzte ein. Kira musste die Noten nicht sehen. Ihre Finger wussten genau, was sie zu tun hatten. Sie durfte Mama und Papa nicht blamieren. Wie eine Maschine spielte sie die drei Stücke ohne einen einzigen Fehler herunter. Den Applaus des Publikums hörte das Kind kaum.

„Das hast du gut gemacht, Schatz! Ich bin stolz auf dich!“, lobte ihr Vater seine Tochter.

Kira kam vor Erleichterung und Erschöpfung aus ihrem Atemrhythmus. Ausgerechnet das Atmen war zu ihrem Hauptproblem geworden, und jeder Atemzug bedeutete einen Kampf. In ihrer Kehle wuchs etwas, und die Luft musste sich mühsam einen Weg suchen, um an diesem Etwas vorbeizukommen.

Immer weniger Luft schaffte es, die Blockade zu überwinden. Kira kämpfte verbissen um jeden Atemhauch. Sie weinte nicht, sagte keinen Ton und rang für sich allein, wie sie es gewohnt war. Man jammerte nicht vor Erwachsenen. Dafür wurde man getadelt, und es brachte nichts.

„Papa …!“, stieß sie mühsam hervor und wollte schließlich doch um Hilfe bitten, als es einfach nicht mehr ging. Vor ihren Augen begann sich bereits alles zu drehen, und eine entsetzliche Angst peinigte sie.

„Kira, du musst dich verbeugen!“, unterbrach er sie. „Das haben wir doch geübt!“ Er hatte sie wieder von der Bank gehoben und auf ihre Beine gestellt. Das Lob war vergessen. Kira hatte bis zum Ende zu funktionieren!

Das Mädchen kannte seine Aufgabe und wollte gehorchen. Atemlos beugte es sich nach vorn, sackte in sich zusammen und krampfte.

Noch bevor die meisten Gäste begriffen hatten, dass da tatsächlich etwas nicht stimmte, waren Julia und Stefan Holl schon bei dem zuckenden Kinderkörper.

„Kira, Kleines, alles wird gut! Versuche, ganz ruhig zu atmen! Ich bin ein Onkel Doktor und kann dir helfen. Alles wird gut!“, redete Dr. Holl beruhigend auf das Kind ein und drehte es vorsichtig um, um es besser untersuchen zu können.

„Sie bekommt keine Luft. Ihr Hals ist von innen zugeschwollen“, bemerkte Julia. Sie war Kinderärztin gewesen, bevor sie selbst Mutter geworden war und beschlossen hatte, ihren Beruf nicht mehr auszuüben.

„Hat Kira Allergien? Hat sie ein Notfallset?“, fragte sie den Vater, der hilflos danebenstand und nicht wusste, was er tun sollte.

„Nein! Nein, sie war immer gesund und …“, stammelte er verwirrt.

Stefan und Julia hörten ihm nicht mehr zu. Es ging um jede Sekunde. Kiras Haut begann bereits, sich leicht zu verfärben. Sie bekam eindeutig zu wenig Sauerstoff und konnte kaum atmen. In Windeseile untersuchten sie das Mädchen, um ihm Linderung verschaffen zu können.

„Stefan, sie hat Quaddeln am ganzen Körper und hohes Fieber. Urtikaria und einen starken Infekt, der gerade erst durchbricht“, diagnostizierte Julia Nesselsucht, als sie Brust und Rücken des Kindes gesehen hatte.

„Eine der Quaddeln hat sich im Kehlkopf gebildet und drückt die Luftzufuhr ab“, stimmte Stefan ihr zu und hob den winzigen Körper schon hoch. „Ich habe die Arzttasche mit einem Antihistamin im Wagen! Wir müssen schneller sein als die Schwellung!“

Er stürmte mit Kira los, so schnell er nur konnte. Julia folgte ihm auf dem Fuße. Die Quaddeln der Nesselsucht juckten und brannten und waren unangenehm, wo immer sie sich auch am Körper bildeten. Lebensbedrohlich wurden sie allerdings erst, wenn sie sich im Hals und in der Kehle entwickelten.

„Kira, Schatz, gleich wird es besser! Ich gebe dir etwas, damit du wieder leichter atmen kannst. Gleich wird es besser!“, redete Stefan mit dem Mädchen, das ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte und röchelte.

Julia war dankbar, dass Stefan und sie zur Stelle waren. Sie fragte sich, was bei Kira wohl die Quaddeln hervorrief. Letztendlich waren die genauen Ursachen einer Nesselsucht noch immer nicht schlüssig geklärt. Vermutlich wurde die Bildung der Quaddeln bei den meisten Menschen von einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren ausgelöst.

Die Frage war, wie schnell die Schwellung sich ausdehnte. Konnte das Antihistamin noch rechtzeitig wirken? An die Alternative wollte Julia gar nicht denken. Ihre Gedanken kreisten um das kleine Mädchen. Was Julia nicht gefiel, war der enorme Erfolgsdruck, unter dem Kira stand.

Eine psychosomatische Ursache war bei der Nesselsucht so gut wie sicher, denn viele Patienten entwickelten die Krankheit, wenn sie unter Prüfungsstress standen. Aber auch Infektionen durch Bakterien, Viren oder Pilze, die auf die Immunabwehr einwirkten, konnten zu dieser Hautreaktion führen.

Die Quaddeln bildeten sich, weil Mastzellen der Haut in erster Linie hohe Dosen Histamin ausschütteten. Das Histamin löste juckende und brennende Schwellungen aus. Bei einer allergischen Reaktion geschah Ähnliches, um vermeintliche Fremdstoffe im Körper zu bekämpfen. Bei der Urtikaria lag aber nur in seltenen Fällen eine Allergie vor.

Was immer bei Kira auch auslösend sein mochte, ihr Leben war in Gefahr, weil eine der Quaddeln im Kehlkopf anschwoll, und je größer sie wurde, umso weniger Luft bekam das Kind. Es drohte zu ersticken und brauchte sofort ein Antihistamin.

„Ich wünschte, wir wären schon in der Klinik! Julia, wenn das Medikament nicht rechtzeitig wirkt, kann ein Luftröhrenschnitt erforderlich werden, damit die Kleine nicht erstickt“, nannte Stefan den ungünstigsten Fall, während er ein Antihistamin auf eine Spritze zog und es Kira verabreichte, sobald sie am Auto waren.

„Ich weiß. Hast du alles Erforderliche dabei?“

„Natürlich, aber wenn es irgendwie möglich ist, möchte ich es verhindern. Hoffentlich kommen wir gut zur Klinik durch. Oh Gott, lass das Medikament schnell wirken!“

„Was hat sie denn? Es geht ihr doch gleich wieder gut?“ Melissa und Sascha Schwarz waren gemeinsam mit der Mehrzahl der Gäste hinter Stefan und Julia hergekommen und standen um das Auto herum, auf dessen Rücksitz das Mädchen lag.

„Wir müssen Kira sofort zur Berling-Klinik bringen. Steigen Sie ein, wenn sie mitfahren wollen, aber vor allem schaffen Sie mir diese Menschen aus dem Weg!“, gab Julia klare Anweisungen, die sich ans Steuer gesetzt hatte, damit Stefan seine volle Aufmerksamkeit dem Kind widmen konnte, dessen Kopf er auf seinen Schoß gebettet hatte. Falls ein Luftröhrenschnitt erforderlich wurde, hatte er die praktische Erfahrung.

„Ins Krankenhaus? Aber warum denn ins Krankenhaus? Es ist doch …“ Melissa stand in der offenen Tür und verhinderte, dass Julia losfahren konnte. Selbst in diesem Moment wollte sie die Kontrolle nicht verlieren.

Kontrolle war das Einzige, was Melissa ein Gefühl von Sicherheit gab. Man musste sich, seine Umwelt und einfach alles kontrollieren. Tat man es nicht, konnte das Unfassbare geschehen – etwas, wofür man noch keinen Plan, keine Vorgehensweise hatte. Kontrolle war der einzige Schutz vor der Unberechenbarkeit des Lebens. Kontrolle und Stärke verhinderten, dass man zum Opfer wurde.

„Frau Schwarz, Ihre Tochter droht zu ersticken. Falls das Medikament, das mein Mann ihr eben gespritzt hat, nicht schnell genug wirkt …“

„Wir folgen Ihnen in unserem eigenen Wagen!“ Sascha Schwarz zog seine Frau von der Tür weg und verjagte resolut die neugierigen Gäste. Im Gegensatz zu seiner Frau hatte er den Ernst der Lage verstanden.

Julia fuhr souverän und sicher, aber doch so schnell, dass sie besser in keine Geschwindigkeitskontrolle kamen. Jeder Meter, den sie der Klinik näher kamen, bedeutete für das Kind etwas mehr Sicherheit und eine optimale Behandlung in einem sterilen Umfeld. Die Notaufnahme war informiert, und sie wurden dort schon erwartet.

Stefan redete sanft und leise zu Kira, die ganz ruhig lag und ihn nur mit großen, seltsam verwunderten Augen ansah. Nach wie vor rang sie um Atem, aber es war nicht schlimmer, sondern sogar etwas besser geworden. Das Mittel schlug an, und die größte Gefahr schien überstanden.

„Frau Gasfuß, du kannst etwas langsamer fahren!“, sagte er zu Julia, die sofort die Geschwindigkeit drosselte.

In nur sechs Minuten fuhren sie vor die Notaufnahme der Berling-Klinik. Kiras Atmung war bei Weitem nicht normal, aber doch so gut, dass sie kaum noch röchelte. Stefan trug das Kind in eine der Notfallkabinen. Das war gerade noch einmal gut gegangen.

***

„Und warum sollen wir Kira hierlassen, wenn sie nichts hat und morgen vielleicht sogar schon wieder fit ist?“, fragte Melissa Schwarz ungnädig. Mit dem Haus voller Gäste fand sie es unmöglich, dass Kira solche Umstände machte. Sobald sie einen ruhigen Moment mit ihr hatte, wollte sie ihr die Meinung sagen. So etwas tat man nicht!

„Frau Schwarz, Melissa hat 39,8 Grad Fieber. Sie ist krank“, stellte Dr. Holl geduldig richtig, der mit den Eltern des Kindes in einem Arztzimmer saß, um sie gründlich zu informieren und das weitere Vorgehen mit ihnen abzuklären.

„Aber Sie sagen doch, dass ihr Fieber nicht aussagekräftig ist und …“

„Meli, Dr. Holl hat gesagt, dass bei Kindern Krankheiten oft mit hohem Fieber beginnen. Er kann noch keine genaue Diagnose stellen, weil die spezifischen Symptome für eine bestimmte Krankheit sich erst noch einstellen müssen“, versuchte Sascha Schwarz zu erklären und erntete einen entrüsteten Blick.

„Das habe ich durchaus verstanden, Sascha. Aber warum gibt er Kira nicht einfach ein Medikament, das ihr Fieber senkt, und lässt uns mit ihr zurück zu der Feier? Er weiß, dass unsere Gäste warten.“

„Die Feier ist doch jetzt nicht so wichtig!“, beschwichtigte Sascha Schwarz seine Frau.

„Wie wichtig sie ist, kannst du morgen in jedem Käseblatt der Stadt nachlesen. Kira steht für unsere Marke, unser ganzes Produkt, Sascha. Marketing ist meine Angelegenheit. Davon verstehst du nichts, und daher solltest du dich nicht einmischen!“, wies sie ihn scharf zurecht.

„Das tue ich für gewöhnlich auch nicht, wie du weißt. Aber es geht hier gerade nicht um eine Krise unserer Marketingstrategie, sondern um Kiras Gesundheit“, konterte er und rang darum, gelassen zu bleiben.

„Und wo soll da bitte schön der Unterschied liegen?“, schimpfte sie.

Die Atmosphäre im Raum war geladen. Die Eheleute standen kurz vor einem heftigen Streit, und Stefan Holl verspürte keinerlei Verlangen, bei diesem Streit mit ihnen im selben Raum zu sein. Er war Arzt und nicht Eheberater.

„Frau Schwarz, das Fieber bedeutet, dass die Immunabwehr Ihrer Tochter gegen die Infektion kämpft. Das Fieber ist nicht der Feind, solange es keine gefährliche Höhe für den Körper erreicht. Bei Kira ist das noch grenzwertig, und schon deshalb müssen wir sie im Auge behalten. Was sie vor allem braucht, sind Ruhe und Schlaf“, erläuterte Stefan Holl.

„Morgen kann sie den ganzen Tag im Bett bleiben und schlafen. Heute ist …“

„Meli! Bitte!“, sagte ihr Mann scharf, und sie verstummte verdutzt und sah ihn ungläubig an. Wie konnte er es wagen, ihr den Mund verbieten zu wollen? Wäre er ein Kindermädchen und nicht ihr Mann gewesen, hätte sie ihn entlassen.

Dr. Holl musste seiner Frau allmählich recht geben. Melissa Schwarz hätte besser kein Kind bekommen sollen. Kira tat ihm leid. Viel Liebe hatte sie von dieser Mutter kaum zu erwarten, und der Vater schien zu schwach, um sich wirklich für seine Tochter einzusetzen und sich durchzusetzen.

„Solange nicht feststeht, dass Kira etwas Ernstes hat, finde ich, sollten wir …“ Melissa gab nicht nach, und Stefan Holl riss jetzt endgültig der Geduldsfaden.

„Ihre Tochter hätte an der Schwellung in ihrem Kehlkopf ersticken können. Wären meine Frau und ich nicht unter den Gästen gewesen und hätte ich das entsprechende Medikament nicht im Auto gehabt, dann wäre es knapp geworden. Ist Ihnen klar, dass Sie Ihr Kind hätten verlieren können?“

Stefan Holl machte Eltern in der Regel keine Angst, sondern war eher bemüht, sie zu beruhigen, aber in diesem Fall musste er eine Ausnahme machen. Immerhin blieb die Mutter still und schien zumindest ein wenig beunruhigt.

„Es können sich weitere Schwellungen bilden und unter Umständen wieder im Halsbereich. Ich möchte Kira auf jeden Fall unter Kontrolle haben. Unabhängig davon, welche Krankheit sie gerade ausbrütet, stellt bereits die Nesselsucht ein Risiko dar.“

Sascha Schwarz nickte zustimmend. Die Miene seiner Frau war ausdruckslos, aber sie widersprach nicht.

„Frau Schwarz, Sie können gerne bei Kira in der Berling-Klinik bleiben. Ich habe vorhin auf der Kinderstation angerufen. Wir haben ein Eltern-Kind-Zimmer frei und …“

„Leider habe ich keine Zeit, aber ich werde Frau Arendt schicken. Sie ist Kiras Kindermädchen“, unterbrach ihn Melissa gereizt. Wie konnte er annehmen, dass sie Tage in der Klinik herumsitzen konnte? Wusste er nicht, wie viel Arbeit es war, ein Unternehmen wie das ihre zu führen?

Hatte er denn überhaupt keine Ahnung, was Kiras spektakulärer Zusammenbruch vor geladenen Gästen und mehreren Reportern für sie bedeutete? Ihre Marke war jung, hatte Potenzial und passte voll und ganz in die moderne Zeit – dafür stand eine gesunde, lachende Kira.

Melissa musste irgendwie die Wogen glätten, die diese misslungene Geburtstagsfeier in den Medien auslösen würde. Spott, Schadenfreude und schädigende Überlegungen mussten in den Hintergrund gedrängt werden. Ihr standen harte Tage bevor, und an Kiras Kinderkrankheiten konnte sie da beim besten Willen nicht denken.

Sascha Schwarz sah seine Frau nachdenklich an, aber er blieb still. Melissa konnte auf andere kalt und egozentriert wirken. Vielleicht war sie das auch ein wenig, aber vor allem brauchte sie Ordnung und Struktur. Lief etwas nicht, wie sie es geplant hatte, reagierte sie mit Aggression. Nur er wusste, was sie in ihrer Kindheit durchgemacht hatte, und verstand sie.

„Kira wird jetzt nach oben auf die Kinderstation gebracht. Sie können gerne mit nach oben gehen!“, bot Stefan Holl, diesmal mit Blick auf den Vater, freundlich an.

„Wir müssen zurück zu unseren Gästen. Frau Arendt wird gleich da sein!“, antwortete Melissa für ihren Mann. Sie war wütend auf Kira. Auch ein Kind hatte sich an die Spielregeln zu halten.

„Meli, ich möchte noch einmal kurz bei Kira vorbeischauen und Tschüss sagen!“, bestimmte Sascha Schwarz.

Sie zuckte die Achseln und folgte ihrem Mann und Stefan Holl zurück zu der Notfallkabine.

Julia Holl war bei dem kleinen Mädchen geblieben. Sie hatte Kira mit leiser Stimme Schlaflieder vorgesungen und sie tatsächlich zum Einschlafen gebracht.

„Sie schläft. Das ist gut!“, sagte Julia leise, als Stefan mit den Eltern zurückkam.

„Schlaf gut, mein Spatz! Ich schaue morgen bei dir vorbei!“, sagte der Vater liebevoll, ohne sein Kind zu wecken, und hauchte einen Kuss auf Kiras Stirn. Dann gingen die Eltern. Die Mutter trat nicht einmal an die Liege.

„Bleibt denn keiner von ihnen bei Kira?“ Fassungslos sah Julia den beiden nach. Ein solches Maß an Lieblosigkeit war ihr absolut unverständlich.

„Keine Zeit. Wichtigeres zu tun“, bemerkte Stefan sarkastisch. „Aber das Kindermädchen wird bald da sein und bei Kira bleiben. Wie gut, dass es Kindermädchen gibt.“

Julia schüttelte nur traurig und voller Mitgefühl den Kopf. Der Fieberschlaf des kleinen Mädchens war oberflächlich, und es konnte jederzeit wieder aufwachen – ohne ein vertrautes Gesicht in der Nähe und völlig allein.

„Stefan, ist es für dich in Ordnung, wenn ich bei Kira bleibe, bis ihr Kindermädchen da ist? Ich kann mit einem Taxi heimfahren, falls …“

„Natürlich bleiben wir bei Kira, Julia!“, unterbrach Stefan sie mit einem warmen Lächeln, in dem all die Liebe lag, die er für seine Frau empfand. „Vorhin ist mir einmal mehr klar geworden, was für ein glücklicher Mann ich bin, weil ich die richtige Frau an meiner Seite habe.“

„Oh! So eine unverhoffte Liebeserklärung hört man immer wieder gerne“, erwiderte Julia und gab ihm einen zarten Kuss auf den Mund. „Mir geht es übrigens genauso. Als wir uns gefunden haben, hatten die Götter gute Laune. Gott sei Dank!“

Sie lächelten sich an, und anstatt einen Pfleger zu rufen, schoben sie die Liege mit dem schlafenden Kind selbst zu den Fahrstühlen, um es auf die Kinderstation zu bringen, wo Kira bereits erwartet wurde.

Bettina Arendt war keine zwanzig Minuten später da. Man sah ihr an, wie sehr sie sich beeilt hatte. Ihre Miene entspannte sich, als sie Julia und Stefan bei Kira sitzen sah.

„Danke, dass sie geblieben sind! Ich hatte schon Angst, Kira wäre alleine“, bedankte sie sich und holte eine Stoffpuppe aus der Tasche, die sie in aller Eile gepackt hatte. „Das ist Sophia, Kiras Liebling“, erklärte sie, als sie die Puppe auf das Kopfkissen des Kindes legte.

„Mama?“ Obwohl Bettina geflüstert hatte, war Kira wach geworden und sah sich suchend um. Instinktiv griffen ihre Hände nach der Puppe und drückten sie an sich.

„Deine Mama muss noch arbeiten, Kleines, aber ich bin da und bleibe bei dir!“, sagte Bettina und fuhr ihr zärtlich über die Wange.

„Ist Mama sehr, sehr böse mit mir? Ich war böse.“ Tränen schimmerten in Kiras Augen.

Julias und Bettinas Blicke trafen sich, und die Frauen brauchten keine Worte. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch und wussten, dass sie die Dinge ähnlich sahen. Beruhigt fuhr Julia mit Stefan nach Hause, denn sie wusste Kira in guten Händen.

***

Nach zwei Tagen in der Klinik bekam Kira eine für Scharlach typische rote Zunge, und auch die anderen Symptome von Scharlach stellten sich ein. Der stecknadelkopfartige Ausschlag breitete sich über ihren Körper aus. Die Ursache des Fiebers war damit geklärt, und Kira konnte mit einem entsprechenden Antibiotikum behandelt werden, das gut bei ihr anschlug.

Trotz des Antihistamins machte sich die Urtikaria immer wieder bei ihr bemerkbar. Vor allem auf der Brust, am Bauch und an den Beinen bildeten sich täglich die großen, juckenden Schwellungen und bereiteten ihr zusätzliches Unbehagen. Das Jucken und Brennen brachte sie öfter zum leise in sich Hineinweinen, aber sie blieb stumm und jammerte nicht.

Bettina kannte Kira schon gut genug, um zu erkennen, wann sie litt, und um zu wissen, dass sie nicht gelernt hatte, einfach einmal ordentlich zu jammern, um Aufmerksamkeit und Hilfe zu finden. Das Schweigen des Kindes konnte unter Umständen gefährlich werden. Man musste hellseherische Gaben haben, um zu erkennen, wann es Kira schlecht ging.

„Du darfst sagen, wenn es juckt und wehtut, Schatz! Der Onkel Doktor und die netten Krankenschwestern können dir viel besser helfen, wenn du ihnen sagst, wie es dir geht!“, redete Bettina dem Kind zu, aber Kira sah sie nur mit diesem Unverständnis in den Augen an und schwieg weiter. Ihre Mutter und ihr Vater hatten ganze Arbeit geleistet.

Bettina unterstützte die Krankenschwestern darin, Kira mit lindernden Salben einzucremen, damit sich das Kind keine blutigen Wunden kratzte. Sie fand es auf der Kinderstation angenehmer, sich um Kira zu kümmern, als in der Villa der Familie.

Wenigstens musste sie nicht damit rechnen, dass jeden Moment die Mutter hereinkam, inspizierte, tadelte, Druck und Angst verbreitete und wieder ging.

Sascha Schwarz war am Sonntag für eine Stunde in die Klinik gekommen, und Kira hatte vor Freude gestrahlt. Seitdem hatten die Eltern sich nicht mehr blicken lassen.

Soweit Bettina wusste, waren sie nicht einmal in Deutschland, sondern irgendwo in Europa an Verhandlungstischen unterwegs. Ihr sollte es recht sein.

Bettina hatte die Anweisung anzurufen, wenn sich etwas Grundlegendes änderte. Das bedeutete im Klartext, dass sie die Eltern nicht unnötig belästigen sollte. So hatte Melissa Schwarz sie am Samstagabend angewiesen, und das Kindermädchen hielt sich nur zu bereitwillig daran.

Ohne ihre Eltern um sich blühte das Kind trotz seiner Beschwerden etwas auf und fing tatsächlich an, einem normalen Kind von fünf Jahren ähnlicher zu werden. Bettina schickte ein stummes Dankgebet nach oben, als sie das erste Mal Kiras helles Kinderlachen hörte.

„So ein stilles, liebes Mädchen und das trotz all der Publicity!“, wunderten sich die Krankenschwestern, die sich um Kira kümmerten und bei all der Werbepräsenz in den Medien mit einem verwöhnten Gör gerechnet hatten.

Bettina freute sich für das Kind über das Lob. Der Trubel, der in der Öffentlichkeit um sie gemacht wurde, hatte Kira wie durch ein Wunder nicht geprägt. Ganz im Gegenteil, da sie kaum mit anderen Kindern zusammenkam, war sie sogar scheu und etwas schüchtern.

Sobald der Stationsarzt der Kinderstation keine Ansteckungsgefahr mehr sah, sorgte Bettina dafür, dass Kira Kontakt zu den anderen Kindern auf der Station bekam. Sie ging mit ihr hinaus in die Spielecken, sammelte mehrere Kinder zusammen und regte sie an, miteinander zu spielen, wobei sie sich als Erwachsene herauszog, sobald sich die Gelegenheit bot.

Anfangs war Kira sehr still und zurückhaltend. Sie wusste nicht, wie sie sich den anderen nähern sollte. Mit solchen Berührungsängsten hatten die meisten der anderen Kinder nicht zu kämpfen. Neugierig gingen sie auf Kira zu und bezogen sie mit ein.

„Wie heißt du denn? Ich bin der Thomas“, stellte sich am ersten Vormittag ein Sechsjähriger vor, der Memory spielen wollte und einen Mitspieler suchte.

„Kira“, kam es leise.

„Kannst du Memory spielen?“

Kira nickte.

„Spielen wir?“

Kira nickte.

Bettina zog sich zurück und ließ die Kinder machen. Aus einiger Entfernung hatte sie ihren Schützling aber immer im Blick.

Kira und Thomas spielen fast eine halbe Stunde. Der Junge plapperte unentwegt dabei. Kira schwieg, sah ihn immer wieder erstaunt an und gewann jede Runde, was ihm nicht sonderlich gefiel.

„Ich will auch mal gewinnen!“, schimpfte er irgendwann und warf die Kärtchen zusammen.

Kira war nahe daran wegzulaufen, aber da holte er das „Mensch ärgere dich nicht“ aus dem Regal, und bei dem Spiel gewann er. Die Welt war wieder in Ordnung, und Kira wurde etwas sicherer. Bei anderen Kindern musste man nicht immerzu gewinnen, begriff sie, und die Anspannung ließ nach.

Als Bettina sah, dass auch Kira immer öfter etwas erzählte und lachte, atmete sie auf. Der Aufenthalt in der Berling-Klinik war ein Segen für das Kind, und sie hoffte, dass Kira noch ein paar Tage bleiben durfte.

Da die Urtikaria nicht richtig abklang, wurde ihr Wunsch erhört. Die Ärzte versuchten herauszufinden, ob Kira vielleicht doch auf ein Nahrungsmittel allergisch war. Die Quaddeln mochten sich nicht mehr im Hals gebildet haben, aber das war jederzeit möglich. Die Ursachensuche war daher unumgänglich und verschaffte Kira zudem Zeit, Kind zu sein und dem Druck ihrer Eltern zu entgehen.

Stefan Holl sah jeden Tag einmal für ein paar Minuten vorbei und hatte einen Narren an Kira gefressen, die über das ganze Gesicht strahlte, wenn er ins Zimmer trat. Ganz besonders froh machten Kira aber die Besuche von Julia Holl, die ihre elfjährige Tochter Juju mitbrachte.

Kira fand Juju großartig. Mit einem älteren Mädchen zu spielen, das war eine einmalige Erfahrung, und sie genoss es in vollen Zügen.

„Juju hat eine große Schwester, die heißt Dani, und die hat einen Bruder, der mit ihr zur selben Zeit im Bauch ihrer Mama war“, erzählte sie Bettina vor dem Einschlafen am Abend ganz aufgeregt. „Kann ich auch eine große Schwester haben?“, fragte sie bittend.

Sie stellte es sich toll vor, nicht mehr allein zu sein. Wenn es da eine große und kluge und schöne Schwester gab, dann wäre die Mama zufrieden und hätte ein Kind, wie sie es wollte.

„Eine große Freundin wie Juju, die kannst du haben, aber falls du einmal eine Schwester bekommst, dann wird sie jünger sein als du. Du bist dann die Große. Das ist doch auch schön, oder?“

Das Kind überlegte, aber so ganz gefiel ihm diese Lösung nicht. Der Traum von der großen Schwester war geboren, und auch wenn Kira keine große Schwester haben konnte, fand sie auf der Kinderstation ein Mädchen, das in kürzester Zeit zur großen Schwester für sie wurde.

***

Sabine war elf und litt an einer tödlichen Erbkrankheit, die ihre Muskeln nach und nach erstarren ließ. Seit ihrer Geburt verbrachte sie immer wieder Monate auf der Kinderstation der Berling-Klinik. Es war ein Wunder, dass sie noch am Leben war, und ihre Eltern dankten den Ärzten für jedes Jahr, dass sie mit ihrem Kind erleben durften.

Obwohl sie inzwischen in einem hoch technisierten Rollstuhl saß, den sie über ihr Kinn steuern konnte, und keine Kontrolle mehr über ihre Beine und Arme hatte, verbrachte Sabine viel Zeit draußen auf dem Flur mit den anderen Kindern. Sie liebte es, mit ihnen zu singen oder ihnen vorzulesen. Meist scharte sich ein kleiner Haufen der Jüngeren um sie, die selbst noch nicht lesen konnten.

Kira zog es magisch zu Sabine hin. Heimlich, still und leise zog sie sich einen Schemel neben den Rollstuhl des Mädchens und hörte andächtig zu, wenn Sabine vorlas. Anfangs fiel sie Sabine kaum auf, weil sie nicht sprach, aber irgendwann wurde sie ihr besonderer Liebling.

„Kira, was soll ich euch denn vorlesen? Suchst du ein Buch aus und legst es auf meinen Ständer?“, bat Sabine, wenn ein paar der Kinder anfingen, sie um eine Lesestunde zu bitten.

Für Kira gab es immer nur ein Buch. Es erzählte die Geschichte eines kleinen Elefanten, der nicht so herrlich grau wie die anderen Elefantenkinder war, sondern gelbe Streifen hatte wie ein Tiger. Dafür wurde er schrecklich ausgelacht, und keiner wollte mit ihm spielen. Nicht einmal seine Mama hatte ihn gern. Sie schämte sich, weil er nicht war, wie sie ihn haben wollte.

„Ach nö!!! Das haben wir doch erst vorhin gelesen!“, konnten die anderen Kinder schimpfen, wenn Kira Sabine wieder das Buch des gelb gestreiften Elefanten hinlegte. „Das ist langweilig!“

Manchmal blieben die zwei Mädchen alleine übrig, und die anderen suchten sich etwas Spannenderes, um sich die Zeit zu vertreiben. Das mochte Kira ganz besonders. Dann kuschelte sie sich an Sabines Beine, machte die Augen zu und lauschte.

Der kleine Elefant war sehr traurig, weil niemand ihn lieb hatte, und er weinte, weil er seine Mama nicht blamieren wollte. Auf unterschiedliche Weisen versuchte er, die schrecklichen gelben Streifen loszuwerden. Aber sie ließen sich nicht wegkratzen oder übermalen. Was er auch tat, die Streifen blieben.

Da hörte er von Amerika. Amerika war ein großes Land am anderen Ende des Regenbogens. Dort durfte jeder sein, wie er war. Dort gab es alle Arten von Elefanten, und keinen scherte es. Alle waren lieb zueinander, und niemand musste Dinge tun, die er nicht tun wollte. In Amerika, da war gut leben, hieß es in dem Buch mehrmals, und Kira sprach es sehnsuchtsvoll mit, wenn Sabine an die Stelle kam!

Der kleine Elefant war Kiras Held, denn er ging eines Nachts einfach fort und war entschlossen, den Weg über den Regenbogen zu finden.

Kira lauschte selbstvergessen. Wie gerne wäre sie mit ihm losgezogen! Ihr ging es doch genau wie ihm. Auch sie hatte ihre Mama blamiert und konnte nicht so sein, wie die Mama es von ihr wollte. Sie konnte nicht Klavier spielen und tanzen und all die Dinge tun, die andere Kinder taten – wie ihre Mama sagte.

Nein, Kira machte immer alles falsch, und die Mama war böse und enttäuscht. Besser war es, wenn Kira gar nicht mehr da war. Dann musste die Mama sich nicht mehr schämen, und vielleicht suchte sie sich ein anderes Kind, das besser war und alles richtig machte.

Der Gedanke setzte sich in Kiras Herz fest. War sie nicht mehr da, dann ging es der Mama besser und alles war gut. Wie aber fand man den Weg über den Regenbogen? Das machte Kira noch Angst. Voll Konzentration lauschte sie, wenn der kleine Elefant sich auf die Suche machte. Ihr Entschluss, es ihm irgendwann gleichzutun, stand fest.

Er fragte den Mond, die Sonne und die Sterne nach dem Weg und stand irgendwann an einem riesigen, großen Meer. Ein Walfisch kam und trug ihn mit sich fort bis an den Fuß der Regenbogentreppe. Die musste er mühsam erklimmen, um dann auf der anderen Seite herunterzurutschen – mitten ins Herz von Amerika hinein.

„Sabine, glaubst du, der Walfisch kommt auch, wenn ich ihn rufe?“, fragte Kira an einem Nachmittag verträumt. Sie sollte bald entlassen werden und hatte Angst vor zu Hause und vor dem Abschied von ihren kleinen und großen Freunden, die sie in der Klinik gewonnen hatte.

„Der Walfisch kommt zu jedem, glaube ich“, überlegte Sabine. „Es ist seine Aufgabe, uns an den Fuß des Regenbogens zu bringen, und er freut sich, wenn wir ihn rufen und keine Angst vor ihm haben.“

Sabine sagte es sehr ernst. Ihr Zustand hatte sich in den letzten Tagen verschlechtert, und sie ahnte, dass auch sie sich bald auf eine lange Reise über den Regenbogen machen musste. Ihr Lesen wurde immer stockender, und sie brauchte immer längere Pausen. Das Atmen bereitete ihr zunehmend Mühe.

Die Ärzte hatten ihre Eltern darauf vorbereitet, dass sie vermutlich bald intubiert und künstlich beatmet werden musste, weil es ihr an der Kraft fehlte, weiterhin eigenständig zu atmen. Natürlich waren ihre Eltern überzeugt, dass Sabine von alldem nichts wusste.

Sabine ließ sie in dem Glauben und war dankbar, dass sie mit dem Stationsarzt, Dr. Schuster, offen reden konnte. Ihm konnte sie sagen, dass sie bereit war zu gehen und wie sehr sie sich davor fürchtete, nicht mehr selbst atmen zu können.

„Ich habe keine Angst vor dem Tod. Was immer dann kommt, wird besser sein als das hier. Ich mag nicht mehr sitzen und warten, dass ich keine Luft mehr bekomme. Aber meine Eltern kommen alleine nicht klar. Wenn ich sterbe, dann weiß ich nicht, wie es mit ihnen weitergeht.“

Erst am Morgen hatte sie dem Arzt ihre Ängste anvertraut.

„Mama ist ständig bei mir. Sie weint, sobald sie vor die Tür geht, und glaubt, ich bekomme es nicht mit. Papa und sie reden kaum noch. Sie sind so traurig, weil ich krank bin, und ich wünschte, ich könnte für sie gesund sein. Aber das kann ich nicht. Wenn ich beatmet werde, dann kann ich nicht mehr reden und den anderen Kindern nicht mehr vorlesen.“

Sabine schwieg einen kurzen Moment und fügte dann noch etwas hinzu.

„Dann liege ich nur noch hier und … Mama und Papa brauchen mich, aber ich bin so schrecklich müde.“

Dr. Schuster hatte ihr Mut zugesprochen und ihr gesagt, dass ihre Eltern erwachsen wären und dass sie an sich denken dürfe. Er hatte gesagt, ihre Eltern würden weinen und trauern, aber mit der Zeit klarkommen – ohne sie.

Sabine hoffte es, denn sie hatte keine Kraft mehr, um für ihre Eltern zu kämpfen. Auf ganz andere und doch verwandte Weise träumte auch sie von der Regenbogenbrücke und der Freiheit und Leichtigkeit auf der anderen Seite, wenn sie dabei auch an kein geheimnisvolles Amerika dachte.

„Aber wie soll ich denn nur an das große Meer kommen?“, überlegte Kira bange. „Kommst du mit mir, Sabine? Gehen wir zusammen nach Amerika?“

„Das wäre schön, Kira! Es wäre herrlich, sich zu zweit auf den Weg zu machen, aber das geht nicht. Deine Mama und dein Papa wären dann sehr, sehr einsam. Du gehörst doch zu ihnen und kannst nicht einfach fortgehen. Die Mama des kleinen Elefanten hat ihn überall gesucht, bis sie ihn in Amerika gefunden hat.“

Sabine erinnerte das Mädchen an das Ende der Geschichte, in der die Elefantenmama und der Elefantensohn wieder vereint waren und sich vor Freude und Glück lachend in die Arme fielen.

„Meine Mama sucht mich bestimmt nicht.“ Kira schluckte tapfer die Tränen weg. „Dafür hat sie keine Zeit. Sie ist nämlich wichtig und erfolgreich, und sie hat ganz viele Pflichten. Pflichten sind wichtig. Sie sucht mich nicht.“

„Und ob sie dich suchen wird, Kira. Mamas suchen ihre Kinder immer und haben sie lieb!“, erklärte Sabine resolut. „Weglaufen ist immer eine dumme Idee!“

Kira sagte nichts mehr, denn sie wollte das ältere Mädchen nicht ärgern, aber ihren Plan gab sie nicht auf.

In der Klinik mit Bettina und den Kindern war es schön, und sie wäre zu gerne geblieben. Zu Hause warteten der Flügel, vor dem Kira sich fürchtete, und all die Pflichten, die man einhalten musste, ohne zu verstehen, warum.

Zu Hause sah die Mama sie enttäuscht an, und was immer sie auch tat und sosehr sie sich auch bemühte, nie konnte sie etwas gut machen und wie die Mama es wollte. Nein, ihre Mama kam sie nicht suchen, sondern freute sich, wenn sie fort war. Daran bestand für Kira kein Zweifel.

Nach zehn Tagen in der Berling-Klinik waren alle Tests gemacht. Die Urtikaria war durch das Antihistamin abgeklungen, das Kira noch mindestens zwei Wochen einnehmen musste. Die genaue Ursache für die Quaddeln hatte allerdings nicht geklärt werden können.

Der Verdacht, dass es sich bei Kira um eine Stressreaktion ihres Körpers handelte, lag nahe. Der Stationsarzt hatte die Eltern des Kindes nicht einmal gesehen und sich die ganze Zeit über mit Bettina Arendt unterhalten.

„Glauben Sie, es ist machbar, dass Kiras Eltern oder zumindest ein Elternteil morgen vor der Entlassung zu einem Gespräch vorbeikommt?“, fragte er das Kindermädchen.

„Kiras Vater ist in Asien unterwegs auf Geschäftsreise. Ihre Mutter ist zwar in München, aber sie ist beruflich stark eingespannt und kann leider nicht kommen. Können Sie nicht alles mit mir besprechen, und ich gebe es an die Eltern weiter?“, bot Bettina an.

„Kira sollte nicht mehr unter einen derartigen Druck gesetzt werden. Auch wenn die Nesselsucht momentan ausgeheilt ist, kann sie jederzeit wieder ausbrechen, wenn es dem Kind zu viel wird. Ich werde Ihnen ein Notfallset mitgeben für schnelle Hilfe, wenn sich eine Quaddel im Halsraum bildet, aber das kann zum Beispiel auch nachts passieren, wenn niemand dabei ist.“

Der Arzt erklärte Bettina ganz genau, wie wichtig es war, Stress auszuschalten, denn das schien ihm bei Kira der Auslöser der Erkrankung zu sein.

„Eine Fünfjährige sollte ohnehin nicht unter Stress stehen, schon um eine gesunde Entwicklung von Körper und Geist nicht zu behindern“, fuhr er fort. „Für Kira kann Stress lebensbedrohliche Konsequenzen haben. Das ist es, was ich den Eltern ans Herz legen möchte. Können Sie das an meiner Stelle tun?“, fragte er skeptisch.

„Ich denke nicht, dass sie es hören werden. Ähnliches sage ich, seit ich Kiras Kindermädchen bin, und sich stoße immer auf taube Ohren. Das Einzige, was ich damit erreiche, ist meine Kündigung. Bevor Kira zusammengebrochen ist, wollte ich von mir aus kündigen, aber das Mädchen braucht eine Konstante in seinem Leben. Ich werde versuchen zu bleiben. Wenn ich Ihren Rat allerdings weitergebe, dann liegt das nicht mehr bei mir“, antwortete Bettina ehrlich.

„Das habe ich befürchtet“, gestand der Arzt ernst.

„Darf ich eine andere Lösung anregen, die etwas diplomatischer ist und vielleicht sogar Aussicht hat, etwas zu ändern?“, fügte sie nach kurzem Nachdenken an.

„Sehr gerne!“

„Dr. Holl und seine Frau verkehren im Haus von Kiras Eltern. Die beiden haben sich rührend um Kira bemüht in den vergangenen Tagen und sie ins Herz geschlossen. Wenn Dr. Holl mit den Eltern sprechen könnte, dann …“ Sie ließ das Ende offen.

„Die hohe Kunst der Diplomatie!“ Der Stationsarzt lachte leise. „Kira hat einen guten Schutzengel – das ist viel wert. Ich hoffe, Sie können die nächsten Jahre auf sie aufpassen.“

„Schauen wir mal, was Melissa Schwarz dazu sagt. Ich gebe auf jeden Fall mein Bestes.“

„Und ich werde mit Dr. Holl reden. Ich bin sicher, er wird sich für Kira einsetzen und als diplomatischer Botschafter an die Front gehen. Betrachten wir das Ganze als eine kleine Verschwörung zu Kiras Gunsten.“

Lächelnd reichten sich die zwei Verschwörer die Hände.

***

Sascha Schwarz hätte seine Asienreise gerne abgesagt, um Kira im Krankenhaus besuchen zu können, aber das ging nicht. Er reiste durch unterschiedliche asiatische Länder mit einem engen Zeitplan und traf sich mit den Großen und Wichtigen der Textilbranche.

So eine Tour erforderte eine langfristige Planung. Die Kontakte mussten sorgfältig gepflegt und am Leben gehalten werden. Sagte er kurzfristig ab, empfanden seine Geschäftspartner dies als Zurücksetzung, und das nahmen sie nicht gut auf.

Billige Produkte erforderten eine billige Produktion und billige Materialien. Um auf dem Markt in Europa die Billigsten zu bleiben, musste man immer am Puls der neuesten Entwicklungen sein. Wurden die Lohnkosten in einem Land zum Thema, musste man rechtzeitig Kontakte zu einem Land knüpfen, in dem Frauen und Kinder noch günstiger arbeiteten.