Die besten Ärzte - Sammelband 75 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 75 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1839: Erbin unter Verdacht
Notärztin Andrea Bergen 1318: Das Kleid, das ich nie tragen werde
Dr. Stefan Frank 2272: Ein Baby für Dr. Bruckmann
Der Notarzt 321: Ein falscher Griff ins Regal ...


Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 256 Taschenbuchseiten.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 479

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 75

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2015/2017/2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © lightwavemedia / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-8177-0

https://www.bastei.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 75

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1840

Unter Schock

Die Notärztin 1319

Dr. Bergen und die Hoffnungslose

Dr. Stefan Frank 2273

Irgendwann verlässt du mich

Der Notarzt 322

Ein Vater zum Verlieben

Guide

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Contents

Unter Schock

Wer hat die Verletzte vor die Notaufnahme der Berling-Klinik gelegt?

Von Katrin Kastell

Nach dem Tod seiner Mutter vor fünfzehn Jahren ist Marvin Landmann regelrecht abgestürzt und hat in seinem Leben nichts mehr auf die Reihe bekommen. Natürlich sind immer die anderen schuld daran. An erster Stelle der feige Autofahrer, der damals Unfallflucht begangen und seine Mutter hilflos am Straßenrand hat liegen lassen.

Seinen Bruder Philipp, dem alles zu gelingen scheint, hasst Marvin geradezu. Aber heute will er es sich mal richtig gutgehen lassen. Er klaut seinem Bruder das Portemonnaie und das Auto, fährt in seine Stammkneipe und lässt sich volllaufen.

Marvin ist sturzbetrunken, als er beschließt, noch eine kleine Spritztour zu machen. Es macht einen Heidenspaß, zwischen den Bäumen der Allee Slalom zu fahren. Doch dann taucht plötzlich wie aus dem Nichts ein Schatten vor dem Wagen auf …

„Amelie, kommen Sie in der Pause, bitte, kurz in mein Büro!“, bat der Intendant der Kleinbühne in München eine seiner besten Nebendarstellerinnen, während die Probe noch lief. Alle hörten es und warfen ihrer Kollegin bedauernde Blicke zu.

Vermutlich bedeutete es das, worüber man nie sprach und das jedem von ihnen zu jeder Zeit passieren konnte. Kaum einer hatte eine Festanstellung. Die Verträge liefen von Spielzeit zu Spielzeit. Wurde jemand nicht mehr gebraucht, musste er sehen, wie er wieder an Arbeit kam.

Die Probe forderte den Schauspielern wie immer alles ab. Musical bedeutete Tanzen, Singen und Spielen. Es war harte Arbeit, war man talentiert und dazu bereit, alles zu geben, dann machte es große Freude.

Amelie liebte es und wollte nichts anderes tun. Mit neunundzwanzig zählte sie allerdings bereits zu den Älteren. Ihr lief die Zeit davon, wenn sie noch Karriere machen wollte.

Nach der Aufforderung des Intendanten konnte sie sich nicht mehr voll und ganz auf die komplizierten Tanzschritte der Einlage konzentrieren, die gerade geprobt wurde. Der Regisseur warf ihr mehrere ungehaltene Blicke zu, sagte aber nichts. Im Normalfall war sie seine beste Tänzerin.

Er war Perfektionist und hatte schon in Tränen aufgelöste Schauspieler von der Probebühne gejagt, wenn sie seinen Anforderungen nicht gerecht wurden. Seine Nachsicht erschreckte Amelie noch mehr.

Bisher hatte es geheißen, dass ihr Engagement auf jeden Fall noch um eine Spielsaison verlängert wurde. Hatte sich daran etwas geändert? Stand sie zum Ende dieser Saison in gut zwei Monaten auf der Straße, obwohl die Spielzeit des Musicals noch einmal verlängert worden war?

Bange ging sie im Geiste die letzten fünf, sechs Vorstellungen durch. War sie schlechter gewesen als gewöhnlich? Hatte sie sich mehr Fehler geleistet? Ihr war nichts aufgefallen. Im Gegenteil, sie war recht zufrieden mit ihren Leistungen gewesen, aber das musste schließlich nichts heißen.

Für eine Schauspielerin war es hart, sich über Wasser zu halten. Der Traumberuf erforderte erbarmungsloses Training, ließ so gut wie keine Freizeit und wurde erbärmlich bezahlt, wenn man nicht zu den Glücklichen gehörte, die sich einen Namen gemacht hatten. Sie gehörte zu denen, die mit jedem Cent rechnen mussten und dennoch kaum über die Runden kamen.

Amelie hatte Angst. Sie hatte ihrem Vermieter gesagt, dass sie die Wohnung noch für ein Jahr mieten wollte, und einen entsprechenden Vertrag unterschrieben. Verlor sie ihr Engagement, hatte sie keine Ahnung, wohin es sie verschlug. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in München bleiben konnte, war dann eher gering.

Die schlimmste Möglichkeit war streng genommen, dass sie in München bleiben musste, weil sie bei keinem anderen Theater in Deutschland unterkam. Ein Rauswurf so kurz vor Spielzeitende war eine Katastrophe. Sie hätte sich längst nach einer neuen Stelle umsehen müssen.

Wie sollte sie ohne Arbeit durchkommen? Sie musste sich eben wieder einmal ein paar Jobs als Kellnerin suchen, aber dafür war die Miete für die zwei mickrigen Zimmer deutlich zu hoch. Konnte sie vielleicht ihr zweites Zimmer untervermieten? Es waren immer Kolleginnen auf der Suche nach Möglichkeiten, günstig unterzukriechen. Es ging vielen wie ihr.

Amelie atmete auf, als endlich das Pausenzeichen gegeben wurde und sie von der Bühne eilen konnte. Rasch zog sie sich einen leichten Pulli über und ging auf direktem Weg zum Büro des Intendanten. Es war besser, es gleich hinter sich zu bringen.

Dann wusste sie, was Sache war, und konnte anfangen, konkret über weitere Schritte nachzudenken. Den Kopf in den Sand zu stecken hatte ihr noch nie geholfen, und sie hatte es sich auch nie leisten können. Ungewissheit war immer am schlimmsten.

„Amelie, setzen Sie sich!“ Der Intendant bot ihr einen Stuhl an und zeigte sein väterlich freundliches Gesicht.

„Danke!“ Amelie ließ sich davon nicht täuschen. Er war ein knallharter Rechner, und wenn er den Rotstift ansetzte, dann war es ihm vollkommen egal, wen seine Kürzungen um die Existenz brachten. Sie gestand ihm zu, dass er seinen Job gut machte, aber das änderte nichts daran, dass sie ihn nicht mochte.

„Wir hatten Besuch in der letzten Vorstellung“, begann er. „Rainer Klausensteiger war da, um sich die Vorstellung anzusehen. Er wollte sich, ohne dass jemand aus dem Ensemble es erfährt, unvoreingenommen und ohne im Vorfeld für Aufregung zu sorgen, einen Eindruck verschaffen.“

Rainer Klausensteiger – Amelies Herzschlag beschleunigte sich. Der Talentsucher war in der Branche gefürchtet, aber er war auch die große Hoffnung der Ehrgeizigen. Erklärte er jemanden für gut, dann standen ihm alle Türen offen. Er machte Stars, und er holte sie auch wieder vom Himmel und ließ sie in der Versenkung verschwinden, wenn sie zu alt geworden waren oder nicht brav in der Spur liefen und die Dinge nicht so machten, wie es von ihnen erwartet wurde.

„Amelie, Sie sind ihm aufgefallen. Eine der Inszenierungen, für die er das Casting macht, geht für ein Jahr auf Tournee durch Europa, und hinterher ist eine Tour durch Amerika angedacht. Ihm fehlt noch die Hauptdarstellerin. Sie sind im Rennen, wenn Sie das wollen“, informierte sie der Intendant sachlich.

Er deutete ihr Schweigen und ihren fragenden Blick richtig, denn Amelie wunderte sich in der Tat über das tolle Angebot.

„Nein, ich stelle Ihnen keine Falle!“, beteuerte der Intendant. „Was hätte ich davon? Selbstverständlich liegt es in meinem Interesse, dass Sie hier bei uns im Ensemble bleiben. Ich biete Ihnen eine deutliche Aufbesserung Ihrer Gage, sollten Sie in München bleiben. Aber ich stehe Ihrer Karriere auch nicht im Weg und lasse Sie am Ende dieser Spielzeit gehen, falls Sie das wünschen.“

Amelies Misstrauen vertiefte sich noch. Gutmenschen hielten sich nicht in dieser Branche. Sie war für Haifische gemacht.

„Rainer und ich sind an diesem Punkt keine Konkurrenten. Ich habe Ihnen hier am Haus keine Daueranstellung zu bieten, und wenn das Musical ausläuft, werden wir vorerst kein neues ins Programm nehmen. Sie sind eine gute Schauspielerin, aber Ihr Schwerpunkt liegt auf Gesang und Tanz“, fuhr er fort.

Amelie hatte ihm nachdenklich zugehört. Das klang sehr fair und freundlich, aber sie wäre jede Wette eingegangen, dass es für den Intendanten dabei etwas zu gewinnen gab. Was ihm Klausensteiger auch im Gegenzug geboten haben mochte, ihr konnte es einerlei sein. Das war die große Chance, auf die sie lange hingearbeitet und gewartet hatte.

„Sind Sie interessiert?“

„Ja!“ Amelie nickte, hielt sich aber mit ihrer Begeisterung weiterhin zurück.

„Das dachte ich mir. Ich kann es Ihnen nicht verdenken“, meinte er. „Die Guten wollen ganz nach oben und gehen. So ist das immer.“ Er lächelte sie an – ganz wohlmeinende Frustration.

Amelie wollte sich freuen, sich entspannen, Dankbarkeit zeigen, aber etwas an diesem Lächeln jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Wann kam der Haken? Wo lag der Haken versteckt, den sie bisher nicht entdecken konnte? Sie hatte ein ungutes Gefühl.

„Rainer ist noch für ein paar Tage in der Stadt. Es gibt kein offizielles Casting für die Rolle. Er möchte Sie gerne unverbindlich kennenlernen und ein Vorgespräch mit Ihnen führen. Falls es passt und die Chemie stimmt, haben Sie die Rolle und bekommen den Vertrag.“

Das Vorgehen war unüblich. Amelie fragte sich, warum Grund zu dieser Eile bestand. Sie war vertraglich noch für zwei Monate an die Kleinbühne gebunden.

„Weiß er, dass ich noch für zwei Monate hier bin?“, wollte sie wissen.

Der Intendant nickte.

„Ich habe gesagt, dass ich Sie nur zur Not vorher freigeben kann. Das ist alles Verhandlungssache. Die Proben für die Tournee laufen in München. Vielleicht ist es möglich, dass Sie hier noch die Aufführungen machen, aber tagsüber schon mitproben. Das wird man sehen!“, sagte er und stellte eine ungewöhnliche Kompromissbereitschaft in Aussicht.

Äußerst nachdenklich und mit der mobilen Telefonnummer von Rainer Klausensteiger in der Tasche verließ Amelie das Büro. Noch bestand die Möglichkeit, ihr Engagement in München zu verlängern. Der Intendant hatte das vor ihrem Gehen extra noch einmal betont und ihr ein durchaus lukratives Angebot gemacht.

Nahm sie es an, konnte sie sich ganz normal nach einem neuen Engagement an einer anderen Stadtbühne umsehen, wenn das Musical aus dem Programm genommen wurde. So oder so stand sie gut da, und allmählich machte sich Feierlaune in ihr breit.

Vielleicht nahm ihr Leben nun eine entscheidende Wende und wurde etwas einfacher. Sie arbeitete gerne und klaglos Tag und Nacht, aber die finanziellen Engpässe und das endlose Sparen waren kräftezehrend.

***

„Bald kennen wir einen internationalen Musical-Star und bekommen für alle Aufführungen weltweit kostenlose Karten in der ersten Reihe!“, freute sich Dani Holl.

„Die Flugtickets und Hotelzimmer bekommen wir natürlich auch noch gratis dazu, Amelie, oder?“, fragte ihr Zwillingsbruder Marc Holl unschuldig.

„Aber selbstverständlich!“, antwortete die Schauspielerin heiter. „Gegen eine Selbstbeteiligung von hundert Prozent bin ich geneigt, euch den Rest zu sponsern. Kein Problem!“

„Wie großzügig!“, meinten die Holls, und alle lachten.

„Schwesterherz, du bist geradezu verboten geschäftstüchtig. Alles, was mit Geld zu tun hat, muss eindeutig an Genen liegen, die du ganz alleine für dich behalten hast!“, neckte Marc seine Schwester und ignorierte hoheitsvoll den leichten Faustschlag gegen den Oberarm, den ihm Dani zur Strafe verpasste.

Die Zwillinge waren zwanzig und studierten in München. Nach wie vor wohnten sie in der großen, gemütlichen Villa ihrer Eltern am Rande Münchens, die inmitten eines schönen parkähnlichen Gartens lag. Beide liebten Musicals. Ein- oder zweimal im Jahr besuchten sie meist eine der teuren Aufführungen, die überall in ganz Deutschland liefen. Wollte man ihnen eine Freude machen, kam man mit Musicalkarten immer gut bei ihnen an.

Dr. Stefan Holl, der Leiter der Berling-Klinik in München, und seine Frau Julia hatten neben den Zwillingen noch zwei jüngere Kinder. Chris steckte mitten in der Pubertät und konnte unausstehlich sein, dann aber wieder verschmust und verspielt wie ein Junge.

Er himmelte Amelie Endres den ganzen Morgen schon schwärmerisch an und errötete, sobald sie das Wort an ihn richtete. Er selbst hatte noch kaum einen Ton von sich gegeben. Alle am Tisch ignorierten es und bemühten sich redlich, nicht zu zeigen, wie süß sie ihn in seiner Unbeholfenheit fanden. Liebe war schließlich eine durch und durch ernste Angelegenheit.

Juju, das Nesthäkchen der Familie, war elf und verfügte über einen Charme, der ihr die Welt zu Füßen legte. Nach Amelies Besuchen überlegte sie jedes Mal, ob sie nicht vielleicht auch Schauspielerin werden wollte, aber da gab es noch so viel anderes, was sie reizte. Bisher hatte sie den Gedanken immer recht schnell wieder verworfen.

„Juju, lass dir Zeit herauszufinden, was du mit deinem Leben anfangen möchtest!“, meinte ihr Vater hin und wieder humorvoll. „Außerdem wirst du sowieso der erste weibliche Präsident von Amerika.“

„Papa, dafür muss man doch Amerikaner sein!“, stellte sie dann pikiert richtig, denn wenn es um ihre strahlende Zukunft ging, kannte sie keinen Spaß.

„Ich weiß, aber von solchen Kleinigkeiten lässt sich meine Tochter doch nicht aufhalten, oder?“

Juju kicherte jedes Mal wieder, obwohl es sich am Familientisch um einen altbekannten Scherz handelte. An diesem Sonntagvormittag saß die komplette Familie nach dem behaglichen Frühstück noch mit Amelie Endres zusammen. Man plauderte und lachte, und natürlich wurde die große Chance, die sich Amelie zu bieten schien, von allen Seiten betrachtet.

Die Schauspielerin aß meist einmal im Monat bei den Holls. Oft kam sie schon zum Frühstück und blieb bis zum Kaffeetrinken an einem ihrer vorstellungsfreien Sonntage. Sie genoss die Stunden in dem heiteren Familienkreis immer in vollen Zügen, denn sie hatte selbst keine Familie mehr und stand allein in der Welt.

Amelies Mutter war Ärztin gewesen, und Julia Holl hatte sich in ihrer Assistenzarztzeit mit ihr angefreundet. Im Gegensatz zu Maria Endres hatte sich Julia Holl als Mutter von vier Kindern irgendwann entschieden, nicht mehr als Kinderärztin zu praktizieren. Voller Liebe ging sie in der Rolle als Mutter und Gefährtin auf und bedauerte es nicht, sich beruflich zurückgezogen zu haben.

Dr. Maria Endres hatte bis zu ihrem Tod vor drei Jahren ihre eigene Praxis in Nürnberg gehabt. Sie war sehr schnell an einem aggressiven Krebsleiden gestorben, nachdem sie bereits ihren Mann an diese Krankheit nur wenige Jahre zuvor verloren hatte.

Julia war erschüttert gewesen und selbstverständlich zu der Beerdigung gefahren. Dort war sie nach Jahren wieder einmal auf Amelie getroffen, die sie immer besonders gerne gehabt hatte. Julia bewunderte die junge Frau dafür, wie zielsicher und kompromisslos sie ihren Weg ging.

Schon als kleines Mädchen hatte Amelie immerzu gesungen und getanzt und jedem erzählt, dass sie einmal eine ganz furchtbar schrecklich berühmte Schauspielerin sein würde. Brav hatte sie ihr Abitur gemacht, wie es der Wunsch ihrer Eltern gewesen war, aber dann hatte sie sich umgehend bei verschiedenen Schauspielakademien beworben und unter mehreren Zusagen wählen können.

Auch wenn der Ruhm sich bisher nicht in dem Maße eingestellt hatte, spürte man Amelie an, wie zufrieden sie mit dem war, was sie tat. Sie lebte ihren Traum und klagte nicht, dass dieser Traum auch seine Schattenseiten hatte.

Als sie vor fast zwei Jahren ein Engagement in München bekommen hatte, war sie gleich nach Unterzeichnung des Vertrages zu den Holls gefahren, um mit ihnen zu feiern. Für Amelie war es besonders schön, in München tatsächlich über etwas Ähnliches wie Familienanschluss zu verfügen.

Für die Holl-Kinder gehörte sie irgendwie dazu. Sie war fast so etwas wie eine adoptierte ältere Schwester. Stefan Holl schätzte sie und unterhielt sich gerne mit ihr. Die Holls waren für Amelie ein Stück Heimat, und das tat gut.

„Ich wusste schon, dass ich bei dem Beruf kaum als Krösus sterben werde, als ich mich auf der Schauspielschule beworben habe. Geld in der Hinterhand ist beruhigend, und es wäre herrlich, wenn es von nun an auch in der Hinsicht etwas leichter für mich werden würde, aber Geld ist nicht alles“, sagte Amelie nachdenklich.

„Hey, mit dem Sparen ist es von nun an endgültig vorbei! Du schaffst das! Dieser Klausensteiger hat dich doch auf der Bühne gesehen und war begeistert von dir, oder? Sonst hätte er doch nicht mit deinem Intendanten geredet und würde sich nicht unbedingt mit dir treffen wollen.“ Dani war voller Zuversicht und sah den Himmel voller Engel, die natürlich alle Harfe spielten und Amelie tatkräftig unterstützten.

„Schauen wir mal!“, meinte Amelie diplomatisch.

„Warum bist du so verhalten und freust dich kaum über die Chance?“, fragte Julia, als Amelie es sich nicht nehmen ließ, ihr in der Küche bei der Vorbereitung des Mittagessens etwas zur Hand zu gehen.

„Ich möchte keine Unke sein, aber bis ich keinen entsprechenden Vertrag sicher in der Tasche habe, klingt mir das alles viel zu traumhaft. Eines habe ich in meinem Beruf gelernt: Es ist definitiv nicht alles Gold, was glänzt“, erwiderte Amelie.

Sie war schon oft auf falsche Versprechungen hereingefallen, und das sagte sie Julia auch.

„Es ist besser, ohne gar zu große Erwartungen in das Abendessen am Montagabend hineinzugehen. Dann ist der Absturz nicht ganz so tief, falls sich alles als Luftblase erweist. Er wollte unbedingt, dass wir in seinem Hotel essen. Das Restaurant gilt als auserlesen, und im Grunde ist daran nichts auszusetzen, aber …“

„… es ist sein Hotel, in dem ihr euch trefft, und sein Hotelzimmer liegt sozusagen gleich um die Ecke. Hältst du ihn für derart primitiv, dass er sich so eine umständliche Geschichte einfallen lässt, nur um dich in sein Bett zu kriegen? Ziemlich viel Aufwand, oder?“, überlegte Julia skeptisch.

Amelies Bedenken kamen ihr doch etwas übertrieben vor. Sie wäre auf solche Gedanken gar nicht gekommen.

„Ich dachte, dieser Klausensteiger hätte unter Schauspielerin einen so guten Ruf. Das passt doch nicht zusammen, finde ich. Hätte er den, wenn er so simpel und charakterlos wäre? Darüber würde doch unter den Kolleginnen geredet, oder nicht?“, fragte Julia Holl.

„Klausensteiger ist ein viel beschäftigter Mann, und ich nehme ihm durchaus ab, dass wir uns dort treffen, weil er keine Zeit damit vergeuden möchte, irgendwohin zu fahren. Das ist sogar sehr wahrscheinlich der Grund, aber trotzdem …“ Amelie zuckte hilflos mit den Schultern.

Sie hatte ein komisches Gefühl, und das ließ sich auch durch sachliche Argumente nicht vertreiben

„Julia, ich bin unmöglich, aber das Ganze riecht förmlich nach einer irgendwie nicht koscheren Geschichte. Ich bin gut. Da habe ich keine falsche Bescheidenheit. Ich liege weit über dem Durchschnitt und verdiene diese Chance.“ Sie verstummte.

„Aber?“, hakte Julia nach.

„Keine Ahnung! Warum macht er kein Casting, wie es üblich ist? Warum dieses Gemauschel hinten herum über den Intendanten? Warum diese Heimlichtuerei, um was für eine Rolle es sich eigentlich handelt? Das wollte der Intendant mir nämlich auf Biegen und Brechen nicht verraten. Ist es nicht eigentümlich, dass ich nichts über eine geplante Tournee gefunden habe? Müsste sie nicht längst irgendwo angekündigt sein?“

Amelie konnte ihr Unbehagen an nichts Bestimmtem festmachen, aber das Ganze gefiel ihr nicht.

„Da stimmt einfach etwas nicht. Das muss nicht einmal etwas direkt mit mir zu tun haben. Was ich mir vorstellen könnte, ist, dass er mich nur als Druckmittel einsetzen möchte, um bessere Bedingungen bei einem der Stars auszuhandeln, für die er die Rolle tatsächlich plant. Alles möglich, Julia.“ Amelie fand immer neue Gründe, die dafür sprachen, dass sie sich auf jeden Fall nicht zu früh freuen sollte.

„Das wäre wirklich gemein! Dann würde er dich einfach nur benutzen und dir derart falsche Hoffnungen machen. Unglaublich! Das ist eine verdammt harte Welt, in der du dich da behauptest“, stellte Julia betroffen fest.

„Man zahlt einen hohen Preis, wenn man etwas zu naiv an die Dinge herangeht. Das ist alles. Ich bin vorsichtig geworden. Unter Umständen rufe ich dich am Dienstagmorgen an und schwärme von dem tollen Abendessen und der genialen Rolle, die ich mir schon immer gewünscht habe. Ich hoffe, so kommt es, dann darfst du mich eine alte Unke nennen und ordentlich über mich lachen.“

„Wird gemacht!“, versprach Julia.

„Toi, toi, toi!“, wünschten die Holls, als Amelie sich nach dem Essen verabschiedete.

„Wir sind deine treusten Fans und glauben felsenfest an dich!“, rief Dani ihr winkend nach.

„Ihr seid spitze!“, rief Amelie und winkte lachend zurück.

***

„Falls Sie den Erker doch lieber an einer anderen Stelle möchten, kann ich ihn jederzeit noch im Plan verschieben, aber …“ Philipp Landmann hörte, wie etwas Gläsernes gegen die Glastür seines kleinen Architekturbüros knallte, und fuhr erschrocken hoch, um nachzusehen, was da los war. Noch hatte er keine Sekretärin, aber in absehbarer Zeit wollte er so weit kommen, sich eine Bürokraft leisten zu können.

Sein Büro lag im siebten Stock eines Hochhauses in einem angesehenen Geschäftsviertel Münchens. Obwohl er nur zwei Räume angemietet hatte, war die Miete horrend, aber eine gute Adresse zahlte sich aus. Allein durch Mundpropaganda zufriedener Kunden hatte er jetzt schon fast mehr Aufträge, als er allein bewältigen konnte, und dabei war er erst ein gutes Jahr selbstständig.

Mit dreißig Jahren war er dabei, sich in München einen Ruf als exzellenter junger Architekt aufzubauen. Demnächst musste er einen Architekten ins Boot holen. Bisher lief alles prächtig, und das harte Arbeiten zahlte sich aus.

Philipp kannte kein Wochenende mehr und keine Feiertage, seit er seine Stelle bei einem renommierten Architekten aufgegeben hatte, um sich selbst etwas aufzubauen. Er war immer mit seiner Arbeit beschäftigt und schlief mehrmals in der Woche im Büro, weil er keine Lust hatte, extra in seine kleine Wohnung zu fahren, die etwas außerhalb lag. Noch war das alles kein Problem, da er alleinstehend war und aktuell auch keine Freundin hatte. Die Arbeit war ihm wichtiger.

Wieder schlug etwas gegen die Glastür, und diesmal konnte Philipp sehen, was es war. Sein jüngerer Bruder Marvin stand mit einer fast leeren Schnapsflasche davor und begriff anscheinend in seinem betrunkenen Zustand nicht, dass er klingeln musste, da die Tür sich nur von innen öffnen ließ.

„Lass mich rein! Ich brauch Geld!“, grölte der Betrunkene und polterte ein drittes Mal gegen die Tür, die Philipp rasch öffnete, damit sie nicht doch noch Schaden nahm.

„Wie kannst du in diesem Zustand in meinem Büro auftauchen!“, empörte er sich. „Das schlägt dem Fass den Boden aus! Hau sofort ab, und lass dich nie wieder hier blicken!“

„Ich besuche meinen großen Bruder, wann immer ich meinen großen Bruder besuchen will!“, erklärte ihm der Betrunkene mit schleppender Stimme. „Du kannst mir gar nichts verbieten!“

„Marvin, ich arbeite hier und habe Kunden im anderen Zimmer. Verschwinde!“, forderte Philipp ihn noch einmal mühsam beherrscht auf.

„Ich brauche fünfhundert Euro, dann bist du mich los, Bruderherz. Nur fünfhundert Euro, und dein peinlicher Versager-Bruder macht sich wieder unsichtbar.“ Marvin hielt ihm fordernd die offene Hand hin und taumelte dabei leicht von einem Bein aufs andere.

„Nein!“ Es war eine spontane Entscheidung. „Nein, du bekommst keinen Cent mehr von mir! Marvin, es wird Zeit, dass du dein Leben endlich selbst in die Hand nimmst! Ich bin dein älterer Bruder, aber ich bin nicht bereit, für den Rest meines Lebens die Verantwortung für dich zu tragen.“

„Ich brauche Geld!“, lallte Marvin Landmann und starrte seinen Bruder aus rotunterlaufenen, leicht gläsernen Augen verständnislos an. Philipp gab ihm doch immer etwas. Was war mit ihm los?

„Das brauchen wir alle, um unsere Unkosten zu decken. Arbeite dafür und lass das Saufen sein – nur ein kleiner, gut gemeinter Rat von mir, und jetzt hau ab!“

„Das kannst du nicht machen! Du kannst mich nicht einfach im Stich lassen wie Mama! Du kannst mich nicht alleinlassen und …“, jammerte der siebenundzwanzigjährige Marvin los, wie er es nicht anders von ihm kannte. Marvin wusste noch immer nicht, was er mit seinem Leben beginnen sollte.

Er hatte das Abitur nach zwei Anläufen nicht geschafft und hinterher drei Lehrstellen begonnen und wieder abgebrochen. Immer gab es da etwas, was ihn störte, immer fühlte er sich schlecht behandelt, ausgenutzt und überfordert. Seit drei Jahren schlug er sich mit unterschiedlichsten Gelegenheitsjobs durch, und natürlich waren auch daran alle anderen schuld nur nicht er.

Mindestens einmal im Monat tauchte er unverhofft bei seinem Bruder zu Hause oder in dessen Architekturbüro auf und bettelte um Geld. Bisher war er zumindest immer nüchtern gewesen, auch wenn seine Fahne für Nicht-Alkoholiker zum Teil schon toxisch gewesen war.

Philipp hatte ihm immer gegeben, was er brauchte, ohne noch lange zu argumentieren. Mit den Jahren hatte er es sich weitgehend abgewöhnt, Marvin ins Gewissen zu reden. Dabei kam nichts heraus. Marvin sah sich als armes, einsames Opfer und hatte sich in dieser Rolle gut eingerichtet.

„Mama ist gestorben, als du elf warst, Marvin. Wir haben sie alle schrecklich vermisst. Lili war damals neun, und sie geht ihren Weg, ohne sich die ganze Zeit zu bedauern oder Alkoholikerin zu werden. Sie steckt gerade in ihren letzten Prüfungen und wird dann an einer Grundschule in Erding unterrichten.“

„Was geht mich Lili an?“, blaffte Marvin, der keinen Kontakt zu seiner jüngeren Schwester pflegte. Von seinem Vater und seinem Bruder holte er sich regelmäßig Geld, aber Lili hatte selbst nicht viel, und daher interessierte sie ihn nicht.

„Nichts. Und was gehst du mich an?“, konterte Philipp.

Marvin begriff den Zusammenhang in seinem Zustand nicht und stierte ihn nur geistlos an.

„Selbst Papa hat es geschafft, neu anzufangen und …“, fuhr Philipp fort. Ihm waren seine Kunden im Augenblick vollkommen egal. Falls sie sich daran störten, etwas warten zu müssen, oder falls sie lauschten und hinterher Klatsch verbreiteten, ließ sich das nicht ändern. Er hatte zu lange geschwiegen und sich von Marvin ausnutzen lassen, aber damit war nun Schluss!

„Papa?! Papa! Dieser Idiot! Erben wird sie unser Geld, die Schlampe, und das steht ihr nicht zu und …“ Marvin steigerte sich in seine Wut auf den Vater hinein, der mit fünfundsechzig Jahren noch einmal geheiratet hatte.

„Du bist so voller Gift und Galle! Gift und Galle, das ist alles, über was du noch im Überfluss verfügst. Papa hat wieder eine Partnerin, und die beiden kommen gut miteinander klar. Das ist schön für ihn, denn im Alter sollte man nicht allein sein“, unterbrach Philipp ihn genervt. „Reiß dich endlich am Riemen und werde erwachsen!“

„Du hast leicht reden! Dir ist doch alles in den Schoß gefallen – das Studium, jetzt der Erfolg. Du bekommst, was du willst, und du weißt nicht, wie das ist, wenn nichts klappt und man überall auf Ablehnung stößt. Du hast doch keine Ahnung!“, empörte sich Marvin und geriet völlig außer sich.

„Ich habe gelernt und parallel nachts gearbeitet, um so weit zu kommen, wie ich bin. Mir sind die Tauben nicht in den Mund geflogen. Das tun sie bei keinem, Marvin. Jeder von uns muss manchmal die Zähne zusammenbeißen und sich bemühen. Keinem wird etwas geschenkt.“

„Und ich bin der Schwächling und der Versager. Das ist es, was du mir sagen möchtest, oder? Ich bin das schwarze Schaf der Familie. Du hast studiert, Lili schließt ihr Studium gerade ab, und ich bin der, der von der Hand in den Mund lebt und nichts auf die Reihe bekommt. Herrlich, dass du so über mich denkst. Klasse! Das tut gut! Das baut auf! Da fühle ich mich gleich besser!“, schimpfte Marvin wehleidig und kämpfte dabei mit den Tränen.

Auch das kannte Philipp zur Genüge von seinem Bruder. Fasste er ihn einmal etwas härter an, flossen Tränen des Selbstmitleids, und spätestens dann hatte man ihn zur trösten. Diesmal funktionierte es nicht. Philipp konnte und wollte nicht mehr mitspielen.

„Keine Ahnung, wie du dich fühlst, und keine Ahnung, wie du dich siehst, Bruder. Das ist deine Sache! Ich bin auf jeden Fall nicht mehr bereit, deinen Alkoholkonsum zu finanzieren. Wenn du saufen willst, dann arbeite dafür, dir das Zeug kaufen zu können. Ich bezahle nicht mehr den Schnaps, mit dem du dich umbringst“, erklärte er ihm klipp und klar.

Allmählich hatte Philipp wirklich die Nase gestrichen voll. Irgendwann war es genug.

„Es ist das Letzte, dass du stockbetrunken in mein Büro getorkelt kommst. Du hast keinerlei Achtung vor mir, und ich sehe nicht ein, warum ich dich weiterhin finanzieren sollte.“

„Du bekommst jeden Cent zurück, jeden Cent! Das weißt du genau! Ich zahle meine Schulden zurück!“ Marvins Gesicht war hochrot geworden, und die Zunge wurde ihm offensichtlich immer schwerer.

„Wunderbar! Inzwischen schuldest du mir grob zwanzigtausend Euro, und bei Papa sind es sicher auch über zehntausend Euro. Lass dich nicht abhalten, deine Schulden zu begleichen!“

Marvin blieb Philipp eine Antwort schuldig. Jedes Mal sprach er davon, sich nur vierhundert Euro oder fünfhundert Euro kurzfristig von ihm zu leihen. Zurückgegeben hatte er ihm noch nie auch nur einen Cent, und das erwartete er auch nicht. Hätte Marvin das Geld genutzt, um seine Miete bezahlen zu können, wäre ihm nie eingefallen, den Geldhahn zuzudrehen. So aber sah er es nicht länger ein.

Philipp hatte keine Ahnung, was da passiert war mit Marvin. Er war ein lustiger, lebensfroher Elfjähriger gewesen, aber nach dem Unfalltod der Mutter hatte er sich verändert und den Boden unter den Füßen verloren. Aus irgendeinem Grund war es ihm nie gelungen, wirklich im Leben anzukommen. Er war so unreif wie ein sehr, sehr unglücklicher Elfjähriger geblieben.

Es war ein Trauerspiel, dass Marvin es einfach nicht schaffte, etwas aus seinem Leben zu machen. Philipp hielt seinen Bruder für äußerst talentiert. Ohne zu lernen oder sich auch nur im Geringsten darum zu bemühen, flogen Marvin Sprachen nur so zu. Er unterhielt sich ein paarmal mit einem Fremdsprachler, und schon konnte er sich mit ihm austauschen. Es war faszinierend.

Aber Talent alleine genügte leider nicht im Leben. Man musste gewillt sein, etwas aus sich zu machen. Marvin fehlte es an jeglichem Ehrgeiz und Biss. Er war immerzu gekränkt und das ewige Opfer. Falls sich daran nichts änderte, würde er sein Leben damit verbringen, andere zu beneiden und ein bitterer, engstirniger Mensch bleiben.

Philipp bedauerte das zutiefst, aber er hatte getan, was ihm möglich war, um das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen seines Bruders zu stärken. Gedankt hatte Marvin ihm das nie, und geholfen hatte es ihm auch nicht. Es war an der Zeit, andere Saiten aufzuziehen. Er wollte auch mit seinem Vater reden, dass er Marvin nichts mehr gab.

„Gib mir etwas!“, forderte Marvin noch einmal fassungslos.

„Nein!“ Philipp nahm ihm die fast leere Flasche ab, damit er nicht auf dumme Gedanken kam, und stellte sie hinter sich auf die Annahme.

Marvin nutzte diesen Moment, in dem sein Bruder nicht aufmerksam war, und griff in ein Fach hinter der Annahme, in dem Philipp, wie er wusste, alles Wichtige ablegte, auch seine Geldbörse. Marvin bekam die Geldbörse und den Autoschlüssel zu fassen und schob beides rasch und unbemerkt in seine Jackentasche.

Ha, er hatte nicht vor, sich abservieren zu lassen! Oh nein! Philipp war sein Bruder und hatte ihm zu helfen! Er würde sein geliebtes Geld zurückbekommen. Irgendwann. Marvin würde es ihm vor die Füße werfen und ihm sagen, was er von ihm hielt. Jawohl! Genau so würde es kommen, und dann würde er mit hoch erhobenem Kopf davongehen und seinen hochnäsigen Bruder nie wiedersehen!

Müde und frustriert sah Philipp Marvin nach, bis sich die Fahrstuhltür hinter ihm schloss. Ob er es noch schaffen würde, sein Leben in den Griff zu bekommen? Er wünschte es ihm so sehr! Nachdem er ein paarmal tief durchgeatmet hatte, kehrte er zu seinen Kunden zurück, die ihn neugierig musterten, aber keine Bemerkung machten.

Niemand konnte etwas für seine Familie. Hatte man Pech, musste man sich irgendwann irgendwie von der schlimmsten Last befreien und alles hinter sich lassen. Das Paar in Philipp Landmanns Büro wusste selbst genau, wie schwer das sein konnte. Der junge Architekt tat ihnen leid, aber sie ließen sich nichts anmerken. Das war eine Privatangelegenheit.

***

Rainer Klausensteiger saß an der Bar und nippte genussvoll an seinem dritten oder vierten Weinbrand, als Amelie kurz vor zwanzig Uhr am Montag das Hotelfoyer betrat. Begegnungen wie diese gehörten zu seinem Alltag, und er hasste seinen Alltag. Er hatte den Eingang im Blick und sah sie kommen. Ohne von seinem Barhocker aufzustehen, winkte er sie zu sich heran.

Amelie bemerkte ihn sofort und ging zu ihm. Sie kannte ihn nur von Bildern. Er war älter geworden, sah aber noch immer gut aus. Anfang fünfzig, agil, eher klein für einen Mann und mit schneeweißen Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Alles an ihm zeugte von der Kombination aus Stil, Geschmack, sehr viel Geld und einer zynischen Langeweile.

Amelie war sich in seiner Gegenwart etwas zu bewusst, dass sie ein Kleid von der Stange trug. Er stand nicht auf, um ihr die Hand zu reichen, sondern betrachtete sie wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. Sie war eine Ware, bei der er offensichtlich noch nicht entschieden hatte, ob er sie kaufen wollte. Adam Graf, der Intendant der Kleinbühne, hatte entweder etwas falsch verstanden oder übertrieben.

„Guten Abend, Frau Endres! Es ist schön von Ihnen, dass Sie sich Zeit für dieses Treffen mit mir nehmen!“, sagte er zur Begrüßung und lächelte auf eine widerliche Weise, die sehr deutlich machte, wer hier wem die Ehre erwies.

„Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Es gibt kaum einen Schauspieler in Deutschland, der sich nicht wünscht, von Ihnen zur Kenntnis genommen zu werden“, antwortete Amelie sachlich, und damit traf sie den Nagel auf den Kopf.

„Sie sind gut. Tänzerisch überragend. Vor allem Ihre enorme Bühnenpräsenz hat mich beeindruckt. Während der Aufführung haben Sie an einigen Stellen die Aufmerksamkeit des Publikums vom Hauptgeschehen abgezogen“, kommentierte er ihr Spiel und deutete auf den Barhocker neben sich.

Amelie blieb lieber stehen. Der Gedanke, ihm körperlich so nahe zu kommen, war unangenehm.

„Das ist nicht unbedingt ein Kompliment“, stellte sie fest, denn es kam auf der Bühne immer auf die Gesamtwirkung an und nicht darauf, ob sich ein einzelner profilierte. Schauspieler, die sich unangemessen in den Vordergrund spielten, konnten ein Stück ruinieren.

„Nein, aber der Tadel gilt nicht Ihnen, sondern einem Regisseur, der Sie an zweite Stelle setzt. Er hat Ihr Potential nicht erkannt.“ Klausensteiger merkte, dass etwas nicht ganz so lief, wie er es gewohnt war. Sie schmeichelte ihm nicht, ließ sich nicht einwickeln. War etwas mit ihr nicht in Ordnung?

Amelie sagte nichts darauf und wartete ab.

„Hätten Sie gerne einen Aperitif, bevor wir hinüber an unseren Tisch gehen zum Essen? Das lockert Sie vielleicht ein wenig auf. Ich habe ungern mit Frauen zu tun, die steif wie ein Stockfisch vor mir stehen“, brummte er unwillig.

„Nein danke!“, lehnte Amelie ab, ohne sich zu erklären. Sie trank nur Alkohol, wenn es sich nicht vermeiden ließ, und außerdem fand sie es unerhört von ihm, ihr vorzuwerfen, dass sie nicht locker genug für einen Abend mit ihm war. Wie locker hatte er es wohl im Sinn?

„Gut!“ Er leerte seinen Weinbrandschwenker mit einem Schluck, und sie gingen gemeinsam zum Restaurant.

„Graf hat mir versichert, dass Sie eine ausgezeichnete Gesangsstimme haben. Sie hatten zu wenige Solopassagen, um mir darüber einen schlüssigen Eindruck verschaffen zu können“, sagte Klausensteiger, sobald sie sich gesetzt hatten, und sein Ton war nun spürbar bissiger und kühler.

„Ich habe eine klassische Gesangsausbildung und nehme nach wie vor Unterricht“, antwortete Amelie knapp. Ging es bei dem Treffen vielleicht doch um eine Rolle, die er ihr anbieten wollte?

Er nickte und musterte sie nachdenklich. Der Kellner brachte die Speisekarte, und beide ließen sich Zeit bei der Auswahl. Am Tisch herrschte eine eigentümliche Spannung. Sie waren sich auf dem falschen Fuß begegnet, und es drohte zu kippen. Erst nachdem die Bestellung aufgegeben war, unterhielten sie sich weiter.

„Herr Graf hat mir nicht gesagt, um welche Rolle es eigentlich geht“, wagte Amelie sich weiter vor.

„Darum hatte ich ihn gebeten, denn das ist ein sensibles Thema.“ Offenbar wollte er die Information nicht einfach so preisgeben.

„Da nirgendwo eine Tournee angekündigt wird, nehme ich einmal an, dass die Tournee eine Art Köder für mich war.“

„Köder? Müssen Sie denn geködert werden? Da wären Sie eine rühmliche Ausnahme. Die meisten wollen unbedingt mit mir zusammentreffen und tun alles, absolut alles, damit ich sie in die engere Auswahl nehme für was auch immer.“ Er lachte boshaft.

Dieser Mann hatte ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, stellte Amelie fest.

„Ich reise seit geraumer Weile inkognito, weil ich es leid bin, von mehr oder weniger untalentierten Künstlern belagert zu werden. Früher fand ich das lustig, aber mit den Jahren wird es langweilig.“

Es schwang so viel Arroganz und Verachtung in seiner Stimme, dass es Amelie ganz anders wurde. Um was es hier auch gerade wirklich ging, war ihr allmählich egal. Sie wollte nur noch, dass der Abend schnell vorbei war. Was wollte er von ihr? War sie tatsächlich so gut, dass er sich extra Zeit für dieses Gespräch nahm?

„Sind Sie eine Ausnahme? Haben Sie etwa Charakter und sind keines dieser billigen Flittchen, die sich mir immerzu an den Hals werfen?“, provozierte er sie und überschritt endgültig jede Grenze des Anstandes.

Amelie lauschte in sich hinein. Hatte sie ausreichend Charakter? Sie musste an ihre Mutter denken. Kind, vergiss nie, wer du bist! Das hatte Maria Endres kurz vor ihrem Tod zu ihrer Tochter gesagt. Hatte sie Charakter?

„Wusste ich es doch!“, meinte er herablassend, weil er ihr Schweigen falsch deutete.

„Seltsam, dass Sie das nötig haben!“ Amelie sah ihm gelassen und kühl in die Augen.

„Was meinen Sie?“, fragte er und hob verwundert eine Braue.

„Billige Machtspiele, Demütigungen – wer Macht hat, wirklich Macht hat, der braucht so etwas nicht. Nein, ich bin keine Ausnahme! Ich bin Künstlerin und brauche gute Rollen, gute Stücke, ein gutes Ensemble, um meine Kunst leben zu können. Das bringt mich in eine Art Abhängigkeit, wenn Sie so wollen, aber das bedeutet nicht, dass ich mir alles gefallen lasse. Noch einen schönen Abend!“ Sie stand auf und nahm ihre Tasche.

„Wollen Sie mich hier etwa allein am Tisch sitzen lassen? Wir haben bestellt und werden zusammen essen!“, befahl Klausensteiger fassungslos. So etwas war ihm in all den Jahren seiner Tätigkeit noch nie untergekommen.

„Ich pflege nur in guter Gesellschaft zu essen. Guten Appetit!“ Amelie wandte sich zum Gehen.

„Halt!“, donnerte er. „Setzen Sie sich gefälligst hin! Ich kann etwas aus Ihnen machen auf der Bühne, und ich kann auch dafür sorgen, dass Sie nicht einmal am kleinsten Provinztheater noch Karten an der Abendkasse verkaufen können. Ich …“

„Sie haben zu viel getrunken, und das halte ich Ihnen zugute. Für mich ist es, als ob dieser Abend nie stattgefunden hätte.“

„Flittchen!“, zischte er. „Mich behandelt keine Frau auf diese Weise! Das werden Sie noch bereuen und …“

Amelie achtete nicht auf die Drohungen, die er ihr nachrief, und eilte aus dem Hotel. Erst als sie draußen in der kühlen Abendluft stand, wurde ihr wieder etwas wohler. Ein paarmal atmete sie tief durch, dann schüttelte sie sich wie ein Hund, der in den Regen gekommen war. Das Unbehagen fiel von ihr ab.

Wunderbar, sie hatte eben den Schlussstrich unter ihren Traum von einer nennenswerten Karriere gezogen. Sie hatte alle Chancen, die noch hätten kommen können, in einem Moment vertan. Charakter? Dummheit? Unangemessene Empfindlichkeit? Vielleicht spielte von allem etwas mit, aber sie hätte keine Minute länger mit diesem Menschen an einem Tisch sitzen mögen.

Nachdenklich ging sie hinunter zur Isar und lief am Fluss entlang. Sie achtete nicht auf die Richtung, sondern ging einfach los. Nach dem, was sie eben erlebt hatte, musste sie sich erst einmal abreagieren, und diese körperliche Betätigung würde ihr dabei helfen. Ein flotter Spaziergang half ihr immer, wieder bei sich anzukommen, wenn sie etwas aus der Bahn zu werfen drohte.

Hatte sie Charakter gezeigt oder den Fehler ihres Lebens gemacht? Die Frage ging ihr durch den Kopf. Oder hatte das gar nichts mit Charakter zu tun? Sie hatte alles getan, um auf die Bühne zu kommen, weil es nichts Schöneres für sie gab als Schauspiel, Gesang und Tanz. Sie hatte geträumt vom Erfolg wie wohl jede Schauspielerin.

Wäre es richtig gewesen, sich von diesem Sadisten quälen zu lassen? Wieder musste Amelie an ihre Mutter denken. Nein, kein Mensch hatte das Recht, sie zu demütigen und kleinzumachen. Kein Mensch hatte das Recht, einen anderen Menschen so zu behandeln.

Sie wollte diesem Mann nichts schulden, und wenn sie dadurch Nachteile in Kauf nehmen musste, dann war das so. Ganz dunkel dämmerte ihr, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Seit sieben Jahren stand sie auf unterschiedlichen Bühnen, und es machte Spaß. Sie hatte viel ausleben können. War sie nun bereit, sich von der Bühne zu verabschieden?

Der Gedanke kam und überraschte sie, aber er fühlte sich seltsam stimmig an. Mit knapp dreißig musste sie für ihr weiteres Leben Entscheidungen treffen. Tanz war Hochleistungssport, den man ab einem gewissen Alter nicht mehr leisten konnte. Wollte sie verstärkt ins Schauspielfach wechseln, oder hatte sie ihren Traum gelebt, und es war an der Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen?

Amelie hatte bisher immer nur an ihre Arbeit gedacht. Nach dem Besuch bei den Holls war ihr das erste Mal der Gedanke gekommen, wie schön es sein musste, eigene Kinder, eine richtige Familie zu haben und einen etwas weniger stressigen Alltag.

Kurz nach zweiundzwanzig Uhr und einige Kilometer weiter wurde Amelie ruhiger. Sie hatte gehandelt, wie es ihr entsprach, und hätte sie noch einmal die Möglichkeit bekommen, wäre die Begegnung nicht anders verlaufen. So wichtig ihr Beruf auch für sie war, so bedeuteten ihr Stolz und ihre Würde mehr für sie.

Im Frieden mit sich selbst machte sie sich auf den Heimweg. Bis zu ihrer Wohnung war es relativ weit, und so wählte sie alle Abkürzungen, die sie kannte, und kam dabei in Straßen, die um diese Uhrzeit ganz verlassen waren. Verwaltungsgebäude, Ämter und Behörden lagen nebeneinander in einer relativ breiten Allee.

Nach einem guten Kilometer hätte sie es geschafft, und dann würde sie sich erst einmal ein ausgiebiges Bad gönnen. Am anderen Tag musste sie mit dem Intendanten sprechen und ihn fragen, ob sein Angebot noch stand. Von der angebotenen Erhöhung ihrer Gage ging sie eher nicht mehr aus, aber sie hoffte, dass er sie für eine weitere Spielzeit einsetzte und sich nicht von Klausensteiger beeinflussen ließ.

Das musste sich alles zeigen. Sagte er Nein, war es vielleicht an der Zeit, sich bei keiner anderen Bühne mehr zu bewerben und stattdessen zu studieren. Warum nicht? Ihr Abitur öffnete ihr alle Türen. In ihre Gedanken versunken, strebte Amelie ihrer Wohnung entgegen, als ein unglaublicher Lärm einsetzte und sich ihr rasch näherte.

***

Marvin hatte sich eigentlich nur am Bargeld seines Bruders bedienen und die Börse dann in seinen Briefkasten unten im Foyer des Hauses werfen wollen. Als er dann aber die Kreditkarten und den Autoschlüssel, mit dem er sich Philipps Auto für eine Spritztour ausleihen konnte, in den Händen gehalten hatte, hatte er die guten Vorsätze gleich vergessen und war mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage gefahren.

Betrunken, wie er war, hätte er sich nie und nimmer hinter das Steuer setzen dürfen, aber Philipp hatte ihn geärgert. Er hatte ihn gedemütigt und ihn wie einen unmündigen Schuljungen behandelt. Warum sollte er Rücksicht auf ihn nehmen? Wer so dumm war, seine Börse mit allen Karten immer an dieselbe Stelle zu legen, der wollte es doch so! Und auch noch den Autoschlüssel dazuzulegen … Philipp war selbst schuld!

Was war schon dabei, wenn die Karre ein oder zwei kleine Kratzer abbekam? Das hatte sein großer Bruder mit seiner Hartherzigkeit mehr als verdient. Marvin wollte sich das Auto nur leihen und üppig mit den Karten seines Bruders einkaufen gehen. Das schien ihm Strafe genug.

Er kannte Philipp. So wütend sein Bruder, wenn er den Diebstahl entdecken würde, auch auf ihn sein mochte, würde er nicht die Polizei einschalten. Dafür bedeutete ihm dieses ganze verlogene Familiengetue viel zu viel. Marvin lachte oft über diese Idioten – seinen Vater und seinen Bruder –, zugleich war er absolut davon überzeugt, dass sie es ihm schuldig waren zu helfen. Schließlich hatte er seine Mutter verloren, und Philipp und sein Vater hatten es nicht verhindert!

Philipp wusste genau, dass Marvin wegen Trunkenheit am Steuer den Führerschein für ein Jahr verloren hatte. Wurde er dabei erwischt, wie er ohne Führerschein fuhr, konnte das happig werden. Nein, Philipp würde nichts unternehmen, und das verschaffte Marvin herrlich viel Zeit mit einem Auto, das sich beladen ließ.

Zuerst fuhr er zu einem großen Getränkemarkt und deckte sich mit so viel Bier, Wein und Schnaps ein, wie er auf den Einkaufswagen bekam. Scheinbar lässig zückte er die Kreditkarte seines Bruders an der Kasse und zahlte anstandslos damit. Es war so einfach! Das Herzklopfen, das er gehabt hatte, war ihm hinterher nahezu peinlich.

Er fuhr zu seiner Wohnung, die in einem heruntergekommenen Viertel lag und mehr oder weniger nur aus einem versifften Zimmer bestand, und lud aus. In seinem Kaufrausch und Glück war er nahezu nüchtern geworden. Umgehend zog er wieder los und kaufte weiter ein.

Marvin kaufte, was ihm in die Hände fiel, Unsinniges, Dinge, die er nie brauchen würde, wie eine Angelausrüstung für Profis, aber auch teure Lebensmittel, die er sich sonst nicht leisten konnte. Als das Auto ein zweites Mal voll beladen war, lud er alles aus und wollte ein drittes Mal los, aber da bekam er Durst.

Es war schon nach neunzehn Uhr, und warum sollte er sich keine Pause gönnen? Er fuhr zu seiner Stammkneipe. Mit der EC-Karte war es ihm gelungen, in einem Laden an Bargeld zu kommen, mit dem er dem Wirt vor der Nase herumwedelte, der ihn seit einer Weile nicht mehr anschreiben ließ, weil seine Schulden zu hoch angewachsen waren.

„Ich zahle meine Schulden! Jawohl! Marvin Landmann zahlt seine Schulden! Immer!“, triumphierte er.

„Das wollte ich dir auch geraten haben!“, brummte der Wirt.

Er nahm Marvin das gesamte Geld aus der Hand und zählte ab, was ihm zustand. Es blieb tatsächlich noch ein ansehnlicher Betrag übrig.

„Bist du in eine Bank eingebrochen?“, fragte er, aber im Grunde war ihm die Antwort einerlei. Marvin war zumindest an diesem Abend ein Gast, der zahlen konnte, und so bekam er, was immer er wollte.

„Eine Runde für alle!“, bestellte Marvin und mauserte sich im Handumdrehen zum Liebling der Kneipe. Er trank mit seinen wunderbaren, neuen Freunden, bis der Wirt abwinkte, weil der Geldsegen aufgebraucht war.

„Bleib mir mit diesen Kreditkarten vom Leib! Damit will ich nichts zu tun haben. Deine sind das eindeutig nicht, und wem sie auch gehören, der wird sich sein Geld irgendwann wiederholen. Nur Bares ist Wahres, aber für heute hast du mehr als genug, Marvin. Verschwinde! Geh heim!“, sagte der Wirt und warf ihn hinaus.

Es war nach zweiundzwanzig Uhr. Draußen war es dunkel geworden. Hätte der Wirt geahnt, dass der Betrunkene, der nicht mehr geradeaus gehen konnte, ums Eck einen Wagen geparkt hatte, wäre alles anders gekommen. Er hätte Marvin den Autoschlüssel abgenommen und dafür gesorgt, dass er den knappen Kilometer zu seiner Wohnung zu Fuß ging. Leider ahnte er es nicht, und so ließ er Marvin mit dem Schlüssel seine Kneipe verlassen.

Marvin war noch nicht danach, diesen herrlichen Abend schon zu beenden. In seinem Rausch fühlte er sich großartig und unbesiegbar. Geld zu haben und damit um sich werfen zu können, das war ganz nach seinem Geschmack. Er beschloss, noch eine kleine Spritztour durch München zu machen und sich dann eine andere Kneipe zu suchen, wo man ihn nicht kannte und er mit den Kreditkarten zahlen konnte.

Keine Sekunde zweifelte er an seiner Fahrtüchtigkeit oder dachte darüber nach, ob er eine Gefahr für andere darstellte. Er fühlte sich wie der Herr der Welt, und so benahm er sich auch. Obwohl er nicht schnell fuhr, kam es ihm vor, als ob er einen Düsenjäger durch die Nacht jagen würde. Er war selig.

Als er die Fahrspur verlor, über einen Bordstein holperte und um einen Baum herumfuhr, der da plötzlich in seinem Weg stand, dachte er sich nichts dabei. Im Gegenteil, er fand es lustig. Slalomfahren machte Spaß, und so fuhr er links und rechts an den Bäumen vorbei und lachte dabei lauthals vor Vergnügen.

Er merkte in seinem Zustand nicht, dass er zum Teil an Ästen oder Pfosten entlangschrammte. Das Auto sah längst nicht mehr wie neu aus, sondern so, als ob er es sich vom Schrottplatz für seine Spritztour geholt hätte.

In der Straße, durch die er auf diese Weise fuhr, lagen vor allem Verwaltungsgebäude und Behörden. Zu der späten Stunde waren die Bürgersteige leergefegt, und der Lärm, den er verursachte, fiel niemandem auf, und so wurde auch nicht die Polizei informiert.

Marvin war in seinem Rausch an einem Punkt angelangt, an dem er völlig in seiner Welt lebte und innen und außen nicht mehr miteinander in Verbindung bringen konnte. Er glaubte zu fliegen, und dabei fuhr er zum Glück sehr langsam. Als er vor sich eine menschliche Gestalt ausmachte, blitzte sein Verstand auf, und sein Körper reagierte nach einer Schrecksekunde umgehend.

Marvin machte eine Vollbremsung und kam auf dem Bürgersteig zum Stehen. Sein Herz schlug so heftig, dass er glaubte, der Donnerschlag würde ihn in Stücke reisen. War da wirklich ein Mensch gewesen? Hatte er sich das nur eingebildet? Er wusste es nicht.

Wo war die Gestalt geblieben? Etwa eine Minute blieb er vollkommen reglos hinter dem Steuer sitzen, und plötzlich war er hellwach und absolut nüchtern. Er erfasste, dass er mit dem Wagen mitten auf dem Bürgersteig stand, auf dem er definitiv nichts verloren hatte. War da ein Fußgänger unterwegs gewesen? Hatte er einen Menschen überfahren?

Ein erster Impuls war es, den Rückwärtsgang einzulegen, ein paar Meter zurückzusetzen und dann Gas zu geben und wegzufahren. Er wollte nicht wissen, ob da ein Mensch vor seinem Auto lag und unter Umständen nicht mehr lebte. Der Gedanke war einfach zu entsetzlich, zu unvorstellbar. Er wollte flüchten und sich einreden, dass nichts geschehen war, aber das konnte er nicht.

Man hatte damals seine Mutter am Straßenrand gefunden. Fahrerflucht. Jemand, der nie ermittelt worden war, hatte sie mit dem Auto von ihrem Fahrrad gedrängt und dann hatte er sie dort liegen lassen. Sie war innerlich verblutet, und wäre sie in ein Krankenhaus gebracht worden, hätte man sie vermutlich retten können.

Das war es, womit Marvin als Elfjähriger nie klargekommen war. Jemand hatte seine Mutter einfach auf der Straße liegen lassen. Jemand hatte sie sterben lassen und dafür gesorgt, dass er ohne sie aufwachsen musste. Und dieser Jemand war straflos davongekommen.

Mit wie viel Hass und Abscheu hatte Marvin diesen anonymen Täter immer bedacht! Wie oft hatte er den elenden Mörder seiner Mutter verflucht, der nicht nur ihr, sondern auch ihm alles genommen hatte. Mit dem Tod seiner Mutter war auch sein Leben zerstört gewesen. Er hatte das nicht verkraftet.

In Marvins Welt trug dieser Täter die Schuld an absolut allem, was in seinem Leben aus dem Ruder gelaufen war. Ihm hatte er es zu verdanken, dass er seinen Platz in der Gesellschaft nicht fand und zu viel trank. Dieses Schwein war an allem schuld und …

Sein Gedankenstrom setzte aus. Wenn er Gas gab und wegfuhr, dann war er nicht besser als dieser Mensch. War er besser als dieser Mensch? Mit Selbstverachtung begriff er, wie fahrlässig es gewesen war, derart betrunken ins Auto zu steigen. Wie hatte ausgerechnet er so handeln können? Scham und Schuldgefühle schlugen über ihm zusammen.

Er hatte Angst, entsetzliche Angst, was er da draußen finden würde, aber er zwang sich, die Wagentür zu öffnen und auszusteigen.

„Gott, ich weiß nicht, ob es dich gibt, und ich habe dich immer wütend ignoriert, aber bitte, lass nicht zu, dass ich jemanden getötet habe! Bitte, lass nicht zu, dass da jemand war und dass ich …“, flehte er, aber sein Gebet wurde nicht erhört.

Es war eine junge Frau. Er musste sie mit dem Kotflügel gestreift haben. Sie lag quer neben dem Wagen und war nicht bei Bewusstsein. Überrollt hatte er sie nicht. Das war gut, aber wie schwer sie verletzt war, konnte er nicht sagen. Sie atmete. Sie lebte. Darauf kam es an.

Auch seine Mutter hatte geatmet und gelebt, aber keiner hatte ihr geholfen. Marvin überlegte nicht lange. Die Frau brauchte Hilfe. Er nahm sie auf die Arme und hob sie vorsichtig auf die Rückbank des Wagens. Ohne lange zu überlegen, fuhr er direkt zu der nahe gelegenen Berling-Klinik.

Erst als er dort vor der Notaufnahme angekommen war, setzte das Gedankenkarussell ein. Die Verletzte hatte ein paarmal leise gestöhnt, war aber nicht zu sich gekommen. Sie hatte ihn nicht gesehen. Brachte er sie in die Notaufnahme, ließ der Zustand seines Wagens keinen Zweifel daran, wer ihr das angetan hatte.

Marvin spürte den Alkohol zwar nicht mehr durch den Schreck und das Adrenalin, das durch seinen Körper jagte, aber er wusste, dass er stockbetrunken war. Würde ein Bluttest gemacht werden, dann würde man ihn für lange Zeit aus dem Verkehr ziehen und ins Gefängnis stehen.

„Zu Recht!“, hielt er sich vor. „Das hast du verdient! Du hast dein Leben in den Sand gesetzt.“

Dann kam die Wut auf Philipp und seinen Vater. Hatten sie ihn so weit bringen müssen? Warum hatte er das Auto überhaupt aus der Tiefgarage geholt? Hätte Philipp ihm das Geld einfach gegeben, dann wäre nichts passiert.

Marvin war es gewohnt, die Schuld immer bei anderen zu suchen und keine Verantwortung zu übernehmen. In seinem Kopf herrschte Chaos. Er wollte nicht ins Gefängnis. Nein, da wollte er nicht hin! Er wollte aber auch nicht, dass die Verletzte starb, weil er ihr nicht half. Er wollte nicht so ein Mensch sein wie der Mörder seiner Mutter.

Sein Kampf dauerte nicht lange. Er hielt ein Stück von der Notaufnahme entfernt am äußersten Rand des Klinik-Parks an. Dort stand eine Bank, auf der Ärzte und Schwestern der Notaufnahme manchmal eine Zigarette rauchten in ihren Pausen, oder wenn die Nächte besonders lang und endlos waren.

Im Moment saß oder stand keiner bei der Bank. Marvin hob die Verletzte aus dem Wagen und legte sie dorthin, dann wendete er und fuhr weg, ohne dass er in den Sichtbereich der Glastüren und Glasfronten der Notaufnahme gekommen war. Sobald er einige Kilometer entfernt war, wählte er den Notruf und gab durch, wo man die Verletzte finden konnte.

Geistesgegenwärtig nahm er dann die Karte aus seinem Kartentelefon, machte es kaputt und warf es in einen Mülleimer am Straßenrand. Dann fuhr er den Wagen vorsichtig in einen industriellen Stadtbezirk, in dem er schon in einer der Fabriken am Band gearbeitet hatte.

Dort kannte er einen großen Schrottplatz, der etwas abseits lag und nachts nicht verschlossen war. Er stellte das Auto zwischen den verrosteten Autowracks ab, wo es kaum auffiel. Bevor er ging, montierte er die Nummernschilder ab und nahm sie mit.

Es war ein langer Rückweg zu Fuß, aber er hütete sich, ein Taxi zu rufen. Als er an die Isar kam, warf er die Nummernschilder und den Autoschlüssel hinein. Nach dem Morgengrauen kam er völlig erschöpft in seiner Wohnung an. Erledigt fiel er, wie er war, in sein Bett und schlief sofort ein.

***

Amelie wurde nach dem Eingang des Notrufs sofort gefunden und in die Notaufnahme gebracht. In ihrer Handtasche, die neben ihr auf der Bank gelegen hatte, fanden sich ihre Ausweispapiere und auch, wer im Notfall informiert werden sollte, falls etwas mit ihr war.

Obwohl es bereits auf Mitternacht zuging, rief der behandelnde Notarzt bei Dr. Stefan Holl zu Hause an, denn seine Frau war die angegebene Kontaktperson. Bei den Verletzungen der Patientin durfte er nicht bis zum Morgen warten. Es bestand die Möglichkeit, dass die Patientin den Morgen nicht erlebte. Ihr Zustand war äußerst ernst.

„Notfall?“ Stefan Holl nahm ab und gähnte. Er hatte schon geschlafen, aber etwas in ihm rechnete immer und zu jeder Zeit damit, dass sein Telefon klingelte und ihn in die Berling-Klinik rief. Als Klinikleiter gab es für ihn im Prinzip keinen richtigen Urlaub und keine wirklich freien Tage. Er war in gewisser Weise immer im Dienst.

„Ja, Doktor Holl, aber ich rufe eigentlich nicht Sie an, sondern möchte gerne mit Ihrer Frau sprechen. Entschuldigen Sie die späte Störung. Die Patientin, um die es sich handelt, heißt Amelie Endres und ist nicht bei Bewusstsein. Sie hat Ihre Frau als einzigen Familienkontakt angegeben, der bei einem Notfall informiert werden soll.“

„Amelie? Mein Gott! Ja! Natürlich! Sie gehört für uns zur Familie.“ Stefan Holl war schlagartig hellwach. „Was ist mit Amelie?“

„Sie war in einen Unfall mit Fahrerflucht verwickelt und wurde bewusstlos bei uns vor die Notaufnahme gelegt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Täter sie zumindest zur Klinik gebracht, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. Wenigstens das!“

„Was ist mit Amelie?“ Julia hatte mitbekommen, um wen es ging, und war schon auf dem Weg ins Badezimmer, um sich anzuziehen.

Ihr Mann bedeutete ihr, erst einmal ruhig zu bleiben, damit er sich informieren konnte. Er stellte dem Notarzt einige Fragen.

„Es liegen noch nicht alle Untersuchungsergebnisse vor, aber wir haben oben auf der Chirurgischen Bescheid gegeben. Sie haben einen Operationssaal geöffnet und ein OP-Team zusammengerufen“, sagte der Notarzt.

Er informierte Dr. Holl genau über seine Diagnose.

„Frau Endres wurde angefahren. Sie hat starke innere Blutungen und muss operiert werden. Milz und Leber sind betroffen. Da ist extrem viel Blut im Bauchraum, Doktor Holl. Der Ultraschall stößt an seine Grenzen. Man wird erst während der Operation entscheiden können, ob sich die Milz retten lässt.“

„Haben Sie ausreichend Blutkonserven geordert?“, fragte der Klinikleiter besorgt.

Unfallopfer zu betreuen gehörte zu seinem Berufsalltag, aber es war etwas anderes, wenn man den Menschen, der da gleich auf dem OP-Tisch liegen würde, persönlich so gut kannte.

„Frau Endres hat eine eher seltene Blutgruppe, und wir haben die Blutbank informiert. Weitere Blutkonserven sind auf dem Weg zur Berling-Klinik, und wir müssten mit dem, was wir vorrätig haben, zurechtkommen.“

„Gut!“, stellte Dr. Holl erleichtert fest.

„Was mir Sorge macht, ist die starke Gehirnerschütterung, die sich Frau Endres zugezogen hat. Ihr Gehirndruck steigt noch immer kontinuierlich an trotz der Medikamente. Die Schwellung könnte lebensbedrohlich werden. Bisher hat keine Gehirnblutung eingesetzt, aber das kann jederzeit passieren.“

„Haben Sie einen Neurochirurgen eingeschaltet?“, wollte Stefan Holl wissen.

„Doktor Münzer ist unterwegs. Wir brauchen unbedingt einen Neurochirurgen am Tisch, falls eine Gehirnblutung einsetzt oder der Gehirndruck den kritischen Punkt erreicht und operativ gesenkt werden muss. In ungefähr zwanzig Minuten müsste er in der Klinik sein.“

Dr. Holl war wie immer äußerst zufrieden mit dem Team, das in seiner Klinik Hand in Hand arbeitete. Der Notarzt hatte an alles gedacht, und Amelie war in den besten Händen, das wusste er. Mehr, als seine Leute bereits taten, konnte man nicht tun.

„Meine Frau und ich werden in einer halben Stunde da sein“, teilte er dem Notarzt mit.

„Das ist gut. Die Polizei ist auch unterwegs und wird einige Fragen an Sie haben“, antwortete der Notarzt.

„Natürlich!“

Julia hatte sich in der Zwischenzeit fertig angezogen und kam aus dem Bad, woraufhin ihr Göttergatte darin verschwand.