Die bewusst herbeigeführte Naivität - Bernd Niquet - E-Book

Die bewusst herbeigeführte Naivität E-Book

Bernd Niquet

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Beschreibung

Die meisten Zusammenhänge in unserer modernen Welt sind so komplex, dass kaum noch jemand in der Lage ist, sie zu begreifen. Ihre Grundlagen entpuppen sich hingegen als vergleichsweise einfach und leicht verständlich. Doch es ist immer erst eine bewusst herbeigeführte Naivität, die uns den Zugang ermöglicht. Bernd Niquet ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Schriftsteller und Journalist. Er wurde 1956 geboren und lebt in Berlin. Zuletzt ist von ihm die dreibändige Entwicklungssaga »Jenseits des Geldes« erschienen.

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Seitenzahl: 351

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Bernd Niquet

Die bewusst herbeigeführte

Naivität

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Meinem geliebten Großvater Fritz Schippers (1886-1972) gewidmet, der in beiden Weltkriegen zu den Waffen musste und trotzdem alle Verwerfungen der Geschichte erfolgreich überstehen konnte.

“(T)he children know the way

That's why the child is the father to the man.”

Brian Wilson, Van Dyke Parks,

“Surf´s Up”

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

(Erster Abschnitt) Euroland – Vaterland

(Zweiter Abschnitt) Das große Tor von Kiew

(Erster Abschnitt)

Euroland – Vaterland

Es ist wunderbar, in der heutigen Zeit zu leben. Wenn das in einem westlichen Industriestaat ist. Denn hier kann uns ja nicht mehr viel passieren. Es wird bei uns keinen Krieg mehr geben, die Wirtschaft läuft, das Geld und die Finanzen sind sicher, unser Eigentum ist geschützt, Verbrechen werden bekämpft und sogar die meisten Krankheiten sind heute heilbar.

Das Schlimme ist nur: Jeder von uns bekommt heute das gesamte Unglück und alle Ungerechtigkeiten dieser Welt gleichsam live mit, ist jedoch nicht in der Lage, etwas dagegen tun. Das hat es vorher noch nicht gegeben. Hier befinden wir uns in einer völlig neuen Situation ohne jeden historischen Vergleich.

Begonnen hat die hiesige Geschichte für mich so: Auf einmal waren da diese überdimensionalen Hände. In diesem Moment bekam ich zum ersten Mal richtig Schiss. Natürlich habe ich unsere Kanzlerin sofort erkannt, aber das war ja von ihr auch beabsichtigt. Was dann jedoch daraus geworden ist, hat sie sicherlich nicht gewollt. Jedenfalls nicht so, wie es sich bei mir entwickelt hat.

Mein erster Gedanke war: Will man jetzt auch bei uns einen Gottesstaat errichten? Geht es ab jetzt nur noch um den Glauben und nicht mehr um das Wissen?

Vorher bin ich immer für unsere Kanzlerin gewesen. Ja, ich fand, sie hat uns gut vertreten und immer Profil gezeigt, bei der Bankenrettung und beim Euro auch. Doch jetzt sehe ich nur noch diese Hände.

Es trifft mich wie ein Schlag. Anscheinend stimmt es also doch: Diskussionen oder Auseinandersetzungen sind nicht vorgesehen, Inhalte stehen nicht auf der Tagesordnung. Wir sollen nur still absegnen, was uns da von oben vorgebetet wird. Viele Leute haben das ja schon immer gesagt. Doch ich habe nicht zugehört. Jedenfalls ist nichts davon wirklich angekommen bei mir. Meine Güte, wie konnte ich nur so dumm sein?

Jetzt sieht das allerdings völlig anders aus. Plötzlich wird mir klar: Diese Frau kann ich jetzt nicht mehr wählen. Ich will es nicht und es ginge auch gar nicht mehr. Ich werde wohl völlig umdenken müssen. Vielleicht muss ich überhaupt erst einmal anfangen, meinen Kopf in diesen Dingen richtig zu benutzen.

Ich bin ganz schön konsterniert. Schließlich halte ich mich doch ansonsten für einen durchaus reflektierten Menschen. Doch warum habe ich mir dann hier so lange so viel vormachen lassen? Ich bin ja wohl wirklich total benebelt gewesen.

*

Ein kluger Mann hat einmal gesagt: „Wenn Sie sehr dumm sind, wie können Sie dann herausfinden, dass Sie sehr dumm sind? Sie müssten nämlich relativ intelligent sein, um zu bemerken, dass Sie sehr dumm sind.“

Neue Forschungen würden nämlich zeigen, dass wir, um zu wissen, wie gut wir in einer Sache sind, genau dieselben Eigenschaften benötigen, um in eben dieser Sache selbst gut zu sein. Was wiederum bedeutet, dass wir dann, wenn wir einen Themenbereich absolut nicht beherrschen, auch exakt die Fähigkeit vermissen lassen, die wir benötigen, um herauszufinden, dass wir diesen Themenbereich eben absolut nicht beherrschen.

Doch so schnell gebe ich nicht auf.

*

Am wichtigsten ist für mich derzeit das Eurothema. Große Teile unserer wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Zukunft sind mit dem Schicksal des Euros verknüpft. Und ich vermisse momentan nichts mehr als eine Diskussion über diese Fragen.

Seit ihrem Amtsantritt zeichnet unsere Kanzlerin für ein Fünftel aller Staatsschulden seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich, und das in der Hauptsache für die Banken- und die Eurorettung. Ein Fünftel in so wenigen Jahren! Da können wir doch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Doch im Wahlkampf für die anstehende Bundestagswahl kommt der Euro überhaupt nicht vor. Sowohl die Regierung aus CDU und FDP als auch die SPD als größte Oppositionspartei halten dieses Thema konsequent aus der Diskussion heraus. Es wirkt fast wie eine abgesprochene Aktion. Das darf doch alles nicht sein.

Anstelle dessen zeigt uns die Regierung lieber die Hände der Päpstin. Sie wird es schon machen. Es liegt alles in ihren Händen. Der Wähler muss gar nichts verstehen, er soll nur glauben. Vor allem aber soll anscheinend öffentlich nicht gestritten oder gar der Status quo infrage gestellt werden.

Abseits des Wahlkampfes dreht sich derzeit jedoch beinahe alles um den Euro. Ich bin immer für den Euro gewesen, genauso wie ich immer für die Kanzlerin gewesen bin. Doch jetzt denke ich plötzlich auch beim Euro, meine Güte, was ist da mit mir gewesen? Schließlich bin ich doch Volkswirt. Hätte ich die Schwierigkeiten, in denen wir jetzt stecken, nicht vorher sehen müssen? Doch haben wir denn überhaupt eine Alternative zum gegenwärtigen Szenario? Aber jetzt rede ich schon selbst wie die Kanzlerin.

Auf jeden Fall muss dieses Thema auf den Tisch. Wie wollen wir denn weitermachen mit unseren Staatsfinanzen? Und was passiert, wenn wir die Probleme in den südlichen Euroländern nicht in den Griff bekommen? Das darf doch nicht alles totgeschwiegen werden.

Es geht doch letztlich um nichts Geringeres als um den Zusammenhalt von Europa und unsere Zukunft. Da können wir doch nicht die Autobahnmaut oder das Betreuungsgeld für Eltern zu den Hauptthemen des Bundestagswahlkampfes machen.

Genau das passiert aber. Die Politik hat aktuell tatsächlich etwas Kirchliches an sich. Man ergeht sich in Ritualen, doch das, was wirklich unter den Nägeln brennt, wird überhaupt erwähnt.

*

Mein persönliches Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa. Und der Euro ist ein wichtiger Baustein dafür. Vom ersten Tag an fand ich daher die Entscheidung für den Euro richtig. Wie hätten wir denn ansonsten dem Dollar Paroli bieten können? Ein großes und mächtiges Europa muss eine große und mächtige Währung besitzen. Nur so können wir eigenständig agieren. Die D-Mark hätte diese Rolle niemals ausfüllen können.

Andere haben das von Anfang an anders gesehen. Für sie waren die binnenwirtschaftlichen Fragen wichtiger. Das ist mir nicht verborgen geblieben, denn schon früh hatte Kontakt zu den Eurokritikern. Wilhelm Hankel, einen der Professoren, die gegen die Euroeinführung vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt haben, kenne ich von der Universität her sogar persönlich. Doch warum habe ich hier nicht auf die kritischen Stimmen gehört? Warum habe ich nicht realisiert, in welche Schwierigkeiten uns die Währungsunion zwangsläufig führen würde?

Heute muss ich mir zugestehen: Die Eurogegner haben wohl in beinahe allen Punkten Recht gehabt. Als internationale Reservewährung ist der Euro zwar durchaus erfolgreich, doch die wirtschaftlichen Probleme innerhalb der Europäischen Union sind haargenau so eingetroffen, wie die Kritiker dies vorher prognostiziert hatten. Doch ich habe ihr Szenario schlichtweg nicht für voll genommen.

In der Krise war es dennoch richtig, den Euro zu verteidigen. Davon bin ich auch heute noch überzeugt. Mit allen Mitteln und koste es, was es wolle. Wir hätten uns doch unsere Währung nicht von Spekulanten zerstören lassen dürfen. Die Angriffe auf die Südflanke der EU, auf Griechenland, Spanien, Portugal und Italien, also die PIGS-Staaten, das war doch wie ein Krieg. Hätten wir da ein Land fallen gelassen, wäre es mit der Idee des Einstehens füreinander in Europa vorbei gewesen. Und damit auch mit den Gemeinsamkeiten und dem Zusammenwachsen.

Ich frage mich sowieso, wer in Wirklichkeit hinter den Spekulationsattacken stand, mit denen die Kurse der Staatsanleihen der Südländer des Euroraumes in den Keller geprügelt wurden und damit die Zinsen sprunghaft anstiegen. Es heißt immer, das waren angloamerikanische Hedgefonds. Das mag sein, vielleicht ist das jedoch nicht unbedingt die ganze Geschichte.

Denn es passt doch einfach zu gut zusammen: Da ist der Euro gerade dabei, dem US-Dollar den Status als Leitwährung der Welt streitig zu machen, und just zur selben Zeit beginnen die Angriffe der Spekulation auf diese Währung und wollen sie zerschlagen. Wir Berliner sagen in solchen Fällen: Nachtigall, ick hör dir trapsen. Und wir haben schon ganz anderes erlebt.

Die Abwehr der Spekulationsattacken hat natürlich viel Geld gekostet. Allein die Stützung Griechenlands schlägt bisher für die Gemeinschaft mit 380 Milliarden Euro in Form von Direkthilfen und Krediten sowie für Bürgschaften und einen Schuldenerlass zu Buche. Für die Bundesrepublik Deutschland liegt der Anteil an allen Rettungsschirmen insgesamt bei 392 Milliarden Euro, den Hauptteil davon allerdings vorerst in Form von Garantien und Bürgschaften.

Doch die Gefahr lauert nicht nur in den Staatshaushalten, auch die Europäische Zentralbank (EZB) hat sich durch die Rettungsaktionen Risiken in ihre Bilanz eingekauft, schließlich besteht mittlerweile ein relevanter Prozentsatz ihrer Vermögenswerte aus Anleihen von Ländern mit zweifelhafter Bonität.

Wird es im Endeffekt gutgehen mit der Rettung und Sanierung der südlichen Eurostaaten, werden die staatlichen Bürgschaften und Garantien nicht gezogen und es gibt keine Bilanzprobleme der EZB. Dann haben wir alles richtig gemacht und gewonnen. Doch wenn es nicht so kommt, oh weh. Was ist dann? Dann müssen wir zahlen, und zwar mit richtigem Geld. Doch woher dann das nehmen? Vor allem, wenn unsere Notenbank, die EZB, sich als überschuldet erweisen würde?

Die Kritiker sagen heute, früher oder später werden wir unter der Last der Eurostützung zusammenbrechen, denn das können unsere Staatshaushalte nicht stemmen. Jeder Blick auf unsere heimische Staatsverschuldung ist in der Tat schockierend: Im Jahr 2005 lag sie sich noch unter 1,5 Billionen Euro, bis zum heutigen Tag ist sie jedoch bereits deutlich über die 2- Billionen-Marke in die Höhe geschnellt. Und rechnet man die Pensionsverpflichtungen und die zu bildenden Rücklagen für zukünftige Rentenzuschüsse hinzu, sind es wohl sogar mehr als 6 Billionen Euro.

Eigentlich kann es so nicht weitergehen. Und trotzdem scheint genau das zu passieren. Ich nehme noch einmal das Buch von Paul C. Martin „Wann kommt der Staatsbankrott“ aus dem Jahr 1983 zur Hand. Erstaunlich! Dafür, dass uns schon damals die Pleite sicher sein sollte, haben wir in den letzten dreißig Jahren eigentlich wunderbar gelebt. Und konnten zudem noch ganz nebenbei die Deutsche Einheit finanzieren.

Warum sollte also die Zukunft völlig anders werden als die Gegenwart? Die größte Gefahr liegt in dem mittlerweile bereits angehäuften Bestand an Staatsschulden, der uns extrem anfällig macht in Krisenzeiten. Und es ist diese generelle Vorgehensweise, beinahe alles, was unangenehm ist, einfach in die Zukunft zu schieben, finanziell wie ökologisch.

Doch andererseits: Als ich als Kind in West-Berlin aufgewachsen bin, war die Welt zwischen Ost und West geteilt und wir ringsherum von einer Mauer und Stacheldraht umgeben. Das ist viel beklemmender gewesen. Nicht nur für uns in Berlin. Dagegen ist die heutige Situation weit ungefährlicher.

*

In meinem Postfach finde ich eine Mail, die mich nichts Gutes erwarten lässt. Im Absenderkästchen springt mir sofort der Name meiner Ex-Frau ins Auge, und in der Betreffzeile steht: „So nicht!“ Ach du Scheiße, denke ich sofort, was ist denn jetzt schon wieder? Im Text lese ich dann, ziemlich schludrig geschrieben: „Als deine Exehefrau möchte ich dich bitten, unsere Tochter nicht weiter gegen mich aufzuhetzen - ansonsten sehen wir uns vor Gericht. Was du mit ihr treibst ist nicht normal!“

Ich kann es kaum glauben. Das ist nun wirklich nicht ihr Stil. Vor allem, wo wir doch gerade tatsächlich vor Gericht gewesen sind und seitdem wieder ganz miteinander können. Das passt alles irgendwie nicht zusammen. Ich maile Sie daher gleich an und schreibe: „Ist die Mail, die ich gestern gegen 18 Uhr bekommen habe, von dir? Was ist denn los? Ich weiß von gar nichts.“

Sie antwortet postwendend: „Welche Mail?“ Daraufhin rufe ich sie an, und es stellt sich heraus, die Mail ist wirklich nicht von ihr. Da hat sich also jemand mehr als einen üblen Scherz erlaubt. Doch ihr Mailkonto ist nicht geknackt worden, die Mail stammt gar nicht von ihrer gewohnten Mailadresse. Anscheinend hat jemand bei einem anderen Mailprovider ein Konto auf ihren Namen eingerichtet. Aber wer macht denn so etwas?

Plötzlich fällt mir etwas auf: So, wie diese Mail geschrieben ist, das kenne ich! Keine Anrede und nur so ein, zwei schludrig dahingehuschte Sätze. Vor allem aber die Form: Nach dem Punkt und dem Komma fehlt das Leerzeichen, dafür jedoch taucht ein Bindestrich auf, und beim Bindestrich findet sich dann sowohl davor als auch dahinter das ansonsten fehlende Leerzeichen.

Das ist ein deutliches Charakteristikum, ein klares und unverwechselbares Merkmal. So schreibt mein Freund Götz immer. Das ist mir schon seit jeher aufgefallen. Und stets habe ich mich gewundert, wie jemand, der doch eigentlich über einen gewissen Bildungshorizont verfügt, so ein schlechtes Bild von sich abgeben kann.

Ich kontrolliere auch die Form noch einmal nach, und es stimmt tatsächlich. Alle Mails, die Götz an mich geschrieben hat, weisen diese formale Eigenart auf. Nach Punkt und Komma kein Leerzeichen, doch in jeder Mail mindestens ein Bindestrich, und dort jeweils Leerzeichen. Ich mache auch noch die Gegenprobe und schaue sämtliche Mails durch, die ich in den letzten Jahren von Freunden, Bekannten und Lesern bekommen habe. Dort allerdings taucht dieses Schreibmuster nicht ein einziges Mal auf. Auch nicht in Ansätzen.

Kann das Zufall sein? Das scheint mir sehr unwahrscheinlich zu sein. Vor allem, weil außer Götz nur zwei weitere Menschen aus meinem Umfeld von den vergangenen Streitigkeiten mit meiner Ex wissen. Damit ist der Täterkreis eigentlich abgesteckt. Ich bin wirklich Spürhund, denke ich. Vielleicht gäbe ich ja einen guten Profiler bei der Verbrechenbekämpfung ab?

Doch wie soll ich jetzt mit diesem Wissen umgehen? Ich entscheide mich für den direkten Weg, rufe Götz an und frage ihn, ob er mir etwas zu beichten habe. Als er verneint, erzähle ich ihm, was passiert ist und dass ich mich deswegen jetzt an die Polizei wenden werde. Und wenn das ein Scherz von ihm war, dann sei das zwar ein sehr schlechter Scherz, doch es wäre trotzdem besser, es jetzt zuzugeben, bevor die Polizei ein Ermittlungsverfahren in Gang setzt.

Doch Götz streitet entschieden ab, mit dieser Geschichte etwas zu tun zu haben. Was soll ich daraufhin machen? Ich sage ihm: „Gut, wir kennen uns so lange, wenn du mir das sagst, dann will ich das glauben.“ Und das tue ich auch.

Allerdings nur bis zum nächsten Tag. Denn da finde ich eine Mail von Götz in meinem Posteingang mit der Mahnung eines Inkassobüros. Dazu seine Anmerkung im Betrefftext: „Das ist lustig!“ Ich klingele sofort bei ihm durch und raune ihn an: „Du hast sie wohl nicht mehr alle?! Ich finde derzeit an gefälschten Mails wirklich nichts lustig!“

Als ich mir schließlich die Mail genauer ansehe, die er mir da geschickt hat, merke ich, dass anscheinend er selbst das Inkassobüro ist, denn die Mailadresse des Inkassobüros entspricht seiner eigenen. Die Zahlungsaufforderung, die ich von ihm bekommen habe, wurde zudem vorher von ihm selbst an jemand anderen versandt, der sie mit der Bemerkung „Hoi, hoi“ an ihn retourniert hat. Und nun bekomme ich das Ganze von Götz geschickt, als Illustration dafür, wie er mir am Telefon erklärt, was so alles im Netz herumschwirre.

Als ich ihm erläutere, was hier aus meiner Sicht der Fall ist, begreift er das anscheinend nicht. Oder er will es nicht begreifen. Ist er so dumm oder tut er nur so? Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder er hat tatsächlich bewusst fingierte Rechnungen verschickt oder jemand hat sein Mailkonto geknackt. Doch davon müsste es Spuren geben. Und er hätte weitere Vorfälle bemerken müssen.

Ich überlege, ob ich Götz jetzt überhaupt noch trauen kann. Ich sage ihm, dass sich durch diese Inkassosache die Dinge für mich geändert hätten. Mein Freispruch habe daher keine Gültigkeit mehr. Wenn ich ihm auch weiterhin glauben solle, müsse er mir gegenüber offenlegen, was mit seinem Mailkonto passiert ist. Doch es geschieht nichts. Er reagiert nicht.

*

Der Bundestagswahlkampf tritt in seine entscheidende Phase, und mir geht das Riesenplakat mit den Händen der Kanzlerin nicht mehr aus dem Kopf. Im Internet suche ich Material dazu und finde ein Filmchen, in dem der CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe dieses Plakat offiziell vorstellt.

Ausgerechnet Gröhe, denke ich. Hermann. Ich weiß, ich tue ihm Unrecht, doch bei ihm muss ich immer an die führenden Nazis denken. Es ist auch nur die äußerliche Ähnlichkeit, doch für meine Befindlichkeit reicht das. Auf dem Plakat steht: Deutschlands Zukunft in guten Händen. Ich kann gar nicht hinschauen, weder auf Gröhe noch auf das Plakat. In diesem Jahr werde ich zum Protestwähler werden.

Daran, wie meine Wahlentscheidung schließlich konkret ausfällt, ist mein Zahnarzt schuld. Hätte es nämlich keine derart erkennbar lange Wartezeit gegeben, die ich mit meiner Ungeduld niemals überstanden hätte, dann wäre ich auch nicht unverrichteter Dinge wieder nach Hause gefahren und hätte daher niemals diesen Weg genommen, um den Nachmittagsstau zu umgehen, auf dem mir dann das Plakat der AfD, der Alternative für Deutschland begegnet ist, auf dem für den Abend ein Vortrag im Ratskeller bei mir um die Ecke angekündigt wurde.

Ratskeller?! Darauf springe ich natürlich sofort an. Wie oft habe ich daran gedacht, dass Adolf Hitler in seiner Anfangsphase immer in Bierkellern geredet und dort die Unzufriedenen um sich versammelt hat. Und wie gerne hätte ich da einmal hineingeschnuppert. Heute nun ergibt sich die Chance, etwas Ähnliches selbst zu erleben. Die große Wut am Biertisch. Diese Gelegenheit will ich auf keinen Fall verstreichen lassen.

Angekündigt ist mit dem Berliner Spitzenkandidaten der AfD, Joachim Starbatty, ein weiterer der Wirtschafts-Professoren aus der Gruppe um Hankel, die gegen die Euroeinführung geklagt haben. Vor dem großen Saal im Ratskeller ist ein Bierausschank aufgebaut, und drinnen gibt es hinten sogar Stehtische, zu denen ich mein Bier mit hineinnehmen kann. Authentischer geht es nicht.

Leider beginnt die Veranstaltung dann mit einem Einspielfilm, der mich mächtig wütend macht, weil er nur die übelsten Klischees abhandelt. Das ist eine Stimmungsmache der billigsten Art, in der es heißt: „Wir wollen, dass Griechenland den Euro verlässt, damit wir unser Geld sinnvoll einsetzen können.“

Ich will aber keinen Film sehen, schon gar nicht so einen. Ich will vielmehr Bierkellergepolter und mich dabei in eine ferne Vergangenheit hineinversetzen. Ich ärgere mich dermaßen, dass ich kurz davor bin, mein Missfallen laut herauszurufen. Doch bevor ich das machen kann, greift noch einmal das Schicksal ein, denn plötzlich klingelt mein Handy, das ansonsten niemals klingelt, und treibt mich aus dem Saal, denn es muss wichtig sein.

Als ich das Telefonat beendet habe, ist der Film vorbei und der Vortrag beginnt. Normalerweise wäre der Abend jetzt für mich bereits beendet gewesen, denn nach meinem Protest wäre ich sicherlich sofort gegangen, wenn man mich nicht ohnehin hinausgeschmissen hätte. So jedoch beginnt der Abend jetzt für mich völlig neu.

Starbatty beginnt mit ein paar persönlichen Bemerkungen. Als er das erste Mal in Italien gewesen sei, hätten 1.000 Lire 6,70 D-Mark gekostet. Kurz vor der Umstellung auf Euro musste man für dieselben 1.000 Lire hingegen nur noch 98 Pfennige bezahlen, also gerade einmal ein Siebtel des früheren Wertes. Und auch beim Französischen Franc habe es ein vergleichbares Bild gegeben, mit einem Wertverlust um etwa drei Viertel.

„Und warum war das so?“, fragt er in den Saal. „Weil sich in den unterschiedlichen europäischen Ländern unterschiedliche Produktivitätsentwicklungen, unterschiedliche Lohnentwicklungen und unterschiedliche Inflationsraten in den Wechselkursen ausdrückten. Die Wechselkurse waren also so etwas wie Ventile für unterschiedliche Entwicklungen.“

Das jedoch ist heute nicht mehr möglich. Denn im Euroraum sind die Wechselkurse auf Dauer festgeschrieben und herrscht zudem ein in allen Ländern identisches Zinsniveau, womit unterschiedliche Wirtschaftspolitiken, bei denen der eine bremst und der andere Gas gibt, nicht mehr möglich sind. „Und so hat die Politik derzeit mit Problemen zu kämpfen“, schließt Starbatty, „die es ohne den Euro gar nicht gäbe.“

Er geht sogar noch einen Schritt weiter und sagt, er habe das Gefühl, dass Europa durch den Euro eher auseinandergetrieben werde als weiter zusammenwachse: „Dabei ist der Euro doch eigentlich eingeführt worden, um Europa weiter zusammenzuführen.“

Tja, da kann man nicht widersprechen, denke ich. Und was noch schlimmer ist: Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um nichts anderes als um das kleine Einmaleins der Ökonomie. Warum ist mir das nur vorher nicht klar gewesen? Warum habe ich das immer weggeschoben?

Bin ich beim Euro also einem Traumbild aufgesessen? Habe ich mir selbst die ganze Zeit über etwas vorgemacht? Vor allem aber: Warum kippe ich jetzt plötzlich um? Woher kommt mein Wankelmut? Bin ich so leichtgläubig, dass mich jede Brise umweht? Oder ist das eher positiv zu sehen, dass ich anscheinend offen für einen Meinungswandel bin?

*

Bei diesen Fragen denke ich dann auch wieder an Götz. Denn wie kommen wir eigentlich alle zu dem, was wir glauben und was wir sind? Diese Frage ist für mich heute noch wichtiger als die reinen Wirtschaftsthemen. Und ich merke sehr deutlich, dass ich erst durch mein eigenes Involviertsein einen wirklichen Zugang zu einigen Fragestellungen bekomme: Warum ist der eine für und der andere gegen den Euro? Und was könnte Götz motiviert haben, mir solche Knüppel zwischen die Beine zu werfen?

Mittlerweile bin ich mir sicher, dass die gefälschte Mail an mich tatsächlich von Götz stammt, trotz seines entschiedenen Dementis. Denn nur mit Götz habe ich die Probleme, in die er sich einhakt, ausführlicher besprochen. Den anderen beiden Freunden habe ich das nur am Rand angedeutet. Und von meiner Ex kommt da niemand infrage. Inhaltlich und formal passt das auch alles perfekt auf Götz.

Wenige Tage später erreicht mich eine weitere Mail, erneut von demselben erschwindelten Mailaccount. Dieses Mal lautet der Text: „ser geerter Exx Du hasst mich schon betrogen als unsere tochter ser klein war das wirt bestrafft“. An dieser Mail fällt mir eine Menge auf: Erstens tauchen die formalen Besonderheiten, auf die ich Götz hingewiesen habe, allesamt nicht mehr auf. Es gibt keinen Bindestrich und alle Leerzeichen sind korrekt vorhanden. Und zweitens wirkt der Text auf mich, als habe sie jemand geschrieben, der der deutschen Rechtschreibung nur bedingt mächtig ist.

Interessant ist das besonders deswegen, weil Götz mich in unserem Telefonat nach der ersten Mail darauf hingewiesen hat, dass diese ja auch vom Lebensgefährten meiner ehemaligen Frau stammen könnte, der nicht aus Deutschland stammt und zwar sehr gut Deutsch spricht, aber eben auch mit Fehlern. Und der überdies auch noch Wirt ist. Das „wirt bestrafft“ trifft hier gleich doppelt.

Und auch wenn diese Deutung vielleicht etwas zu weit geht, so lässt sich dennoch unschwer resümieren: Alles, was ich mit Götz nach der ersten Mail besprochen habe, taucht entweder in der neuen Mail auf oder es wird vermieden. Da ist doch eigentlich kein Zweifel an der Urheberschaft von Götz mehr möglich. Das ist für mich so deutlich, dass es mich fast anschreit.

Ganz langsam beginnt sich denn jetzt auch die Enttäuschung in mir ihren Weg zu bahnen. Vorerst betrifft das jedoch nur den Verstand. In mir ergeht das rationale Urteil, dass das ja ganz schön gemein ist. Doch fühlen tue ich derzeit nichts. Wahrscheinlich noch nicht. Das ist interessant. Es ist anscheinend tatsächlich so, als ob ich hier das Verdrängen gleichsam live beobachten könnte.

Meine Güte, ich kenne Götz seit über vierzig Jahren. Wir haben eine Menge zusammen erlebt und sind sogar ein oder zwei Mal gemeinsam mit anderen in Urlaub gefahren. Da ist das jetzt wirklich ein herber Schlag. Zudem ich sowieso nicht mehr so dick mit Freunden und Bekannten gesegnet bin, so dass mich das jetzt besonders heftig trifft.

Ich versuche, die verstreut in mir herumschwirrenden Dinge, die ich über Götz weiß, zu einer Erklärung zusammenzusetzen. Obwohl ich Götz sehr lange kenne, hatte ich immer ein distanziertes Verhältnis zu ihm. Denn er konnte sich niemals auf etwas wirklich einlassen und war bei allen Treffen immer nur auf einen Sprung dabei. In den letzten Jahren habe ich zudem sehr deutlich gespürt, wie frustriert er ist.

Das ist hauptsächlich eine sexuelle Frustration, denke ich. Er sitzt in der Houellebecqschen Falle. Sein Trieb hat in den Jahren anscheinend nicht nachgelassen, doch mittlerweile muss er feststellen, dass er bei den jungen Mädchen, nach denen er sich sehnt, keine Chance mehr hat. Und es ist nicht nur das, es ist noch weit schlimmer: Denn parallel dazu realisiert er anscheinend, dass er sich nicht nur heute in dieser Hinsicht nicht richtig ausleben kann, sondern das auch früher nicht getan hat. Er merkt, dass sein Leben den Zenit bei Weitem überschritten hat, ihm die Befriedigung aber bisher verwehrt wurde. Und die Chancen darauf täglich kleiner werden.

In so einer Situation trifft er dann nach langen Jahren, in denen wir keinen Kontakt hatten, wieder auf mich, der in dieser Hinsicht in der Vergangenheit ordentlich zugeschlagen hat, heute aber nicht vom Trieb gesteuert wird. Und als er schließlich darüber hinaus noch merkt, dass ich es sogar schaffe, das sich andeutende große Zerwürfnis mit meiner Ex-Frau abzuwenden, könnte das natürlich etwas in ihm ausgelöst haben. Ich finde zwar nicht, dass es in meinem Leben in Hinsicht auf die Frauen besonders gut gelaufen ist, doch anscheinend hat es trotzdem dafür gereicht, dass Götz sich dadurch zurückgesetzt fühlt.

Für mich stand Götz schon seit geraumer Zeit stets kurz vor der Explosion. Wenn ich von irgendeinem Sexualverbrechen in der Nähe gehört hätte, hätte ich dabei ganz sicher an Götz gedacht. Doch die Geschichte mit den Mails ist natürlich etwas anderes. Ich frage mich zudem, wo hier eigentlich die Befriedigung liegen könnte? Dass ich dadurch vielleicht aus dem Takt gerate und anschließend mit meinen Dingen ebenso wenig zurechtkomme wie er mit seinen?

Oder es ist ganz einfach der Neid auf eine Unabhängigkeit, die er selbst nicht hinbekommt. Möglicherweise gesellen sich da auch noch finanzielle Aspekte hinzu, und dann mischt sich das beides und schaukelt sich gegeneinander auf.

In finanzieller Hinsicht hat sich Götz in der letzten Zeit extrem gewandelt, wie ich beobachten konnte. Plötzlich war er freigiebig geworden, lud mich zu Getränken ein, und gönnte sich selbst Wassersporturlaube auf Mallorca, wohingegen ich ihn vorher immer als finanziell extrem zurückhaltend erlebt habe. Da hatte er oft nicht mehr als einen Zehn-Euro-Schein in der Hosentasche, wenn wir uns abends trafen.

Das Geld für diesen Wandel scheint er seinem Vater abzuzocken, der mittlerweile dement ist und das nicht mehr merkt. Ich glaube, durchaus zu verstehen, was sich da derzeit in Götz abspielt. Das wird sein wie bei mir als Kind, als ich meinem geliebten Großvater Geld aus dem Portemonnaie stibizt hatte. Das war zwar plötzlich eine ganz neue Freiheit. Doch richtig wohl habe ich mich darin nicht gefühlt, denn noch heute spüre ich Schuldgefühle von damals sehr gut. Götz hingegen wird so etwas sicher eher nicht haben.

Ich glaube, Götz vereinnahmt das Geld auch deswegen, weil da noch ein Kind seines verstorbenen Bruders existiert, und er mit allen Mitteln verhindern möchte, dass der Pflichtteil einmal eine relevante Größe darstellen wird. Deswegen schafft er jetzt alles zur Seite, was geht, so dass es nicht in die offizielle Erbmasse fallen wird.

Es gibt aber auch noch eine weitere Entwicklung hinsichtlich des Geldes, die ich bei Götz beobachtet habe. Ich weiß nicht, über welche Vermögenswerte er verfügt, ein kleines Depot hatte er jedoch bei der Bank. Dann allerdings ließ er plötzlich seine gesamten Wertpapiere auf seine Freundin übertragen. „Warum das?“, habe ich ihn damals gefragt. Und er hat geantwortet: „Weil es besser ist, nichts zu haben. Denn dann ist bei mir auch nichts zu holen.“

Dahinter stand wohl die Angst vor dem Fiskus, die jedoch kaum real gewesen sein dürfte bei den niedrigen Einkünften, die er als Freiberufler erzielt. Da machen dann auch ein paar Vermögenserträge nicht sonderlich viel aus.

Ich weiß noch, wie sehr ich mich damals gewundert habe, dass er anscheinend keine Bedenken besaß, seine Wertpapiere einfach so zu übertragen. Zwischen den beiden war zwar abgemacht, dass diese auch weiterhin ihm gehören und die Erträge deshalb ihm zustehen würden, doch was wäre, habe ich gefragt, wenn die andere Seite sich nach einem Streit nicht mehr daran hält? Aber das wollte er nicht gelten lassen. „So ist die nicht“, hat er da im Brustton der Überzeugung gesagt.

Irgendwie spielten da bei Götz anscheinend auch andere, nicht greifbare Motive mit. Ich hatte zudem auch nicht das Gefühl, dass es da eine wirkliche Beziehung mit seiner Freundin gegeben hat, denn alles, was er mir erzählte, klang immer eher nach Bruder und Schwester.

Heute sehe ich allerdings noch etwas ganz anderes, was mir vorher keinesfalls klar gewesen ist: Anscheinend war Götz schon von jeher von der Furcht besessen, in irgendwelchen Fällen regresspflichtig werden zu können. Heute überlege ich mir deshalb, ob er vielleicht bereits damals die Grundlage für ein Szenario gelegt hat, das sich erst jetzt gerade zu realisieren beginnt?

Hat er also bewusst sein Geld bei jemand anderem weggeschlossen, damit dann, wenn er einmal durchdreht, bei ihm nichts zu holen ist? Und weil er sich dadurch völlig ungeniert gehen lassen kann, wenn er in dieser Hinsicht nichts mehr zu verlieren hat?

*

Als ich über Wilhelm Hankels aktuellen Vorschlag zur Eurorettung in Form eines Parallelwährungssystems lese, maile ich meinen alten Studienfreund Hanno an, der Hankel ebenfalls kennt, und frage ihn, was er denn davon hält.

Seine Antwort erstaunt mich nicht nur sehr, sondern tritt bei mir regelrecht eine Lawine los. Sie lautet: „Zu Hankel fällt mir irgendwie nichts ein. Wer will denn den Euro abschaffen?“ Anscheinend hat die Einschlaftaktik der Kanzlerin mittlerweile sogar im akademischen Milieu gefruchtet. Denn Hanno ist ein promovierter Wirtschaftswissenschaftler und kennt sich extrem gut in ökonomischer Theorie aus. Und wenn jetzt sogar solche Leute weder Kritik noch Alternativvorschläge mehr mitbekommen, was soll denn dann werden?

Ich antworte: „Wer den Euro abschaffen will? Liest du keine Zeitung mehr?“ Er entgegnet, Eurokritiker wie die AfD könne doch niemand ernst nehmen, und meint: „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Hankel sich denen verbunden fühlt, und es gibt aus meiner Sicht kein Mitgliedsland, das ohne Euro einen Vorteil hätte, ich weiß also nicht, was Hankel mit dem Thema will. Altersstarrsinn?“

Altersstarrsinn, dass Hankel gegen den Euro ist? Und für alle Euroländer ein Vorteil? Wenn ich bisher umnachtet war, wie soll ich dann seinen Zustand beschreiben? Ich schreibe zurück: „Ich muss gestehen, dass ich über deine Antwort so baff bin, dass ich gar nichts mehr zu sagen vermag.“ Und dann ist erst einmal Funkstille.

Ich kenne Hanno mittlerweile schon ziemlich lange und denke, ihn ganz gut zu verstehen. Deshalb bekomme ich meine Verblüffung auch bald in den Griff. Denn Hanno pickt sich immer etwas heraus, auf dessen Basis er anschließend eine komplette Theorie zaubert, dabei aber alles Drumherum komplett unbeachtet lässt und ausklammert. Kritisiert man dann jedoch seine Theorie, hat er meistens eine Pointe zur Abwehr bereit. Dieses Mal zitiert er dazu eine englische Kriminalschriftstellerin: „Fakten sind wie Kühe. Wenn man sie nur scharf genug ansieht, laufen sie im Allgemeinen weg.“

*

Erneut trifft eine Mail von dem widerrechtlich eröffneten Mailkonto bei mir ein, die mich dann doch etwas mehr aufschreckt als die anderen vorher. Sie lautet: „du hast mich schon belogen als unsere tochter klein war dafuer nehme ich dir dein wertvollstes.“ Das ist nun in der Tat schon etwas gruselig, finde ich. Ich entscheide mich daher, dass das jetzt der richtige Moment ist, zur Polizei zu gehen.

Gleich im Anschluss an die erste Mail hatten meine Ex und ich bereits versucht, über die Internetwache der Berliner Polizei Anzeige zu erstatten, doch die wollte man dort nicht annehmen und teilte uns vielmehr mit, dass es nicht möglich sei, den Schreiber dieser Mails zurückzuverfolgen, da hier der Datenschutz im Wege stehe. Das alles summierte sich in dem schönen Satz: „Datenschutz ist Täterschutz.“

Als ich jetzt jedoch persönlich auf dem Polizeirevier bei mir um die Ecke vorstellig werde, sieht es auf einmal ganz anders aus. Denn hier findet man es richtig, dass ich gekommen bin und nimmt die Anzeige bereitwillig auf, sogar gleich in doppelter Version, nämlich einmal wegen Bedrohung und ein weiteres Mal wegen Nötigung. Das beruhigt mich erst einmal. Danach fühle ich mich besser.

*

Alles, was ich gegenwärtig aus der Schule höre, grenzt beinahe an Wahnsinn. Wir sind ein wohlhabendes, aber rohstoffarmes Hochlohnland, das zum großen Teil von der Technik lebt und eine schrumpfende Bevölkerung aufweist. Diese Konstellation stellt eine außerordentlich schwierige Melange dar für die Sicherung unserer Zukunft, weshalb wir eigentlich alles daran setzen müssten, um unsere Kinder und Jugendlichen perfekt auszubilden. Keiner darf uns verloren gehen, ansonsten ist der Wohlstand nicht zu halten.

Doch wie sieht die Realität aus? Die Schulgebäude rotten vor sich hin, und die Kinder werden von alten und wenig motivierten Lehrern unterrichtet, die kaum mehr jemanden für etwas begeistern können. Gegenüber der Zeit von vor einem halben Jahrhundert, als ich aufs Gymnasium kam, hat sich nichts, aber auch gar nichts geändert. Und wenn, dann sogar zum Negativen.

Denn heute dreht sich alles noch stärker um Noten als zu meiner Zeit. Das Pensum ist weit größer geworden und muss in kürzerer Zeit bewältigt werden, so dass die Inhalte kaum mehr Bedeutung erlangen. Und immer noch regiert das Prinzip des Nürnberger Trichters aus dem 17. Jahrhundert.

Manchmal habe ich den Eindruck, die Zeit in der Schule gehe weitgehend für Tests und Klassenarbeiten drauf, so dass die Kinder sich den Lehrstoff in der Hauptsache in Form von Hausaufgaben selbst erarbeiten müssen. Für die Leistungskontrollen lernen sie den geforderten Stoff auswendig, hinterher ist dann jedoch alles sofort wieder vergessen. Doch ob man im Internetzeitalter mit dem Auswendiglernen für die Zukunft gerüstet ist?

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Als ich anlässlich einer weiteren Drohmail ein paar nähere Einblicke in die Details der Polizeiarbeit bekomme, wird mir klar, dass es auch hier nicht zum Besten bestellt ist.

Die neue Mail besteht aus der rätselhaften Mitteilung: „du hast leider nicht kooperiert wir haben dir mitgeteilt das du als IM LEDER geführt wirst das teilen wir jetzt deinen Freunden und geschaeftspartnern mit.“ Doch was kann das bedeuten, „im Leder geführt“?

Leder ist etwas Totes, ist tote Haut. Habe ich vielleicht bisher alles total falsch eingeschätzt und hinter den Drohungen steht nicht Götz, sondern ich bin irgendwie in die Fänge der Mafia geraten? „Im Leder geführt“ also verstanden als „tot zur Schau gestellt“? In diesem Moment wird mir zum ersten Mal richtig mulmig zumute.

Als die Mail mich erreicht, bin ich bereits auf dem Sprung, um meine Tochter von der Schule abzuholen. Doch ich fahre vorher noch schnell bei der Polizei vorbei, zeige dem diensthabenden Beamten dort den Mailausdruck und frage ihn, was das denn wohl mit dem Leder bedeuten könne. „Woher soll ick dat denn wissen?“, antwortet er in breitem Berlinerisch. Ich sage: „Ich dachte, das wäre möglicherweise ein gängiger Ausdruck.“ Er schaut mich gereizt an, und ich merke, dass er sich von mir gestört fühlt. Um dennoch weiterzukommen, frage ich: „Können Sie nicht bitte jemanden fragen?“ Daraufhin er: „Wen soll ick denn da fragen?“

Was für eine Scheißsituation: Es könnte sein, dass mir jemand, den ich nicht kenne, ans Leder will, ich fühle mich bedroht und machtlos, doch nicht einmal bei der Polizei versteht das jemand, geschweige denn, dass man überhaupt geneigt ist, mir in irgendeiner Weise zu helfen.

Ich bin total sauer. In mir fällt in diesem Moment eine Schranke. Ich drehe mich auf dem Absatz um, gehe hinaus, schmeiße die Tür, rufe „Arschloch!“ und laufe zu meinem Auto und fahre davon. Bisher habe ich mich so gut bei der Polizei behandelt gefühlt, da war das ein Halt, doch solche Leute wie eben sollte man wirklich nicht auf Publikum loslassen.

Unterwegs googele ich den Begriff „im Leder“ auf meinem Smartphone, erziele dabei allerdings nicht einen einzigen Treffer und bin dadurch sehr erleichtert. Meine Angst, dass es sich hierbei um einen gängigen Ausdruck wie beispielsweise „die Haut abziehen“ handelt, ist damit weg.

Doch was kann das ansonsten bedeuten? Alte Bücher sind in Leder gebunden, wenn also jemand im Leder steht, kann das heißen, dass er in den Büchern vermerkt ist. Ein Schuldschein? Kaufmännische Bücher? Ich frage in meinem Bekanntenkreis herum, ob jemand sich darauf einen Reim machen kann oder ob einer einen Draht zu einem alten Kaufmann besitzt, der hierzu vielleicht etwas sagen könnte. Doch das bleibt erfolglos.

Am nächsten Tag gehe ich noch einmal zur Polizei. Ich habe mir überlegt, wenn ich mich jetzt mit denen überwerfe, dann macht das die Situation für mich nur noch schlimmer. Und ich habe Glück, denn ich gerate an einen sehr netten Polizisten mit viel Verständnis, der überdies seinerseits das Bedürfnis zu besitzen scheint, einmal ein paar Dinge über die Frustrationen des Polizistendaseins loszuwerden.

Er erzählt mir, dass sie kaum noch Sachbearbeiter auf der Wache hätten, da die meisten heute irgendwo zum Schutz von Politikern eingesetzt werden würden. Auch bräuchte die Polizei mittlerweile für jede Kleinigkeit einen richterlichen Beschluss und der wäre beispielsweise bei einer Trunkenfahrt in der Nacht gar nicht so leicht zu bekommen. Es sei alles extrem schwierig geworden. Facebook zum Beispiel dürfe die Polizei gar nicht benutzen, selbst wenn es darum ginge, einem konkret Verdächtigen nachzuspüren.

Dass es im Computerbereich bei der Polizei nicht zum Besten steht, ist mir schon beim Aufgeben der Anzeige klargeworden, als der Beamte sich damals laut selbst fragte, wie er das denn überhaupt machen solle, die Drohmails, die bei mir angekommen sind, nachzuverfolgen. Mit großer Mühe war es ihm dann jedoch im Verlauf der nächsten Tage gelungen, herauszubekommen, dass es dafür ein Spezialteam gibt. Es besteht aus zwei Mann – für ganz Berlin.

Die Situation ist wirklich beklemmend. Das Verbrechen rüstet weltweit massiv auf, die Ausstattung der Polizei ist hingegen vollkommen unzureichend. Und die Rechte der Polizisten werden immer weiter beschnitten. Es kommt mir vor, als würde die Ordnungsmacht versuchen, auf der Autobahn mit einer Postkutsche einen Rennwagen zu stellen.

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Ich konnte ihn eigentlich niemals leiden, Old MacSchnapsnase, besonders zu seiner Zeit als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Doch als ich jetzt noch einmal in die Welt der Bierkeller gerate, entwickele ich zum ersten Mal so etwas wie Sympathie für ihn.

Auf YouTube finde ich das Video eines Vortrages von Hans-Olaf Henkel im Rahmen einer Wahlveranstaltung der AfD im Münchner Augustiner Keller. Ich bin sehr angetan. Besonders gefallen mir die Passagen, in denen Henkel eigene Fehler zugibt. Er sagt: „Ich habe meine Meinung geändert. Es gibt eine Menge von Punkten, die ich hätte wissen müssen und auf die andere Ökonomen auch aufmerksam gemacht haben.“ Und: „Ich muss heute selbstkritisch sagen, dass ich einige Dinge hätte wissen müssen.“

Wo gibt es denn heute so etwas sonst noch? Ich finde das überragend, öffentlich eigene Fehler und Versäumnisse zuzugeben. Und ich denke, mir gefällt das vor allem deswegen, weil es genau das widerspiegelt, was sich derzeit auch in mir selbst abspielt. Denn auch ich hätte es doch eigentlich viel früher viel besser wissen müssen.

Ich schäme mich jetzt fast, mir selbst gegenüber zugeben zu müssen, nicht einmal mitbekommen zu haben, was Henkel jetzt sagt, nämlich dass die Kalamitäten mit dem Euro nicht erst vor Kurzem, sondern bereits lange vor der Finanzkrise begonnen haben und ihre Ursache in den Überinvestitionen in den Südstaaten finden.

In der Hauptsache führt er dazu den Immobilienboom in Spanien an, von dem er behauptet, er habe sich als extremer herausgestellt als derjenige in den USA. Und ich denke: Meine Güte, bezüglich der Immobilien in den USA bin ich so kritisch und sensibel gewesen, da habe ich tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben alle meine Aktien verkauft. Bei Spanien hingegen habe ich nur auf die tollen Wachstumszahlen geschaut und mich gefreut. Da habe ich nicht einmal an die Möglichkeit gedacht, dass sich dahinter etwas ganz anderes verbergen könnte.

Jetzt jedoch begreife ich das alles sehr klar: Durch die Euroeinführung herrschten in Spanien plötzlich so niedrige Zinsen, wie das zu Zeiten der Peseta niemals möglich gewesen wäre. Dadurch stiegen die Investitionen sprunghaft an, und es ergab sich ein Wachstum, mit dem das der Länder des Nordens nicht mithalten konnte. Aus diesem Grunde haben die Anleger aus den wachstumsschwächeren Ländern des Nordens viel Kapital in den Süden transferiert, um ebenfalls von der Entwicklung in Spanien profitieren zu können.

Dadurch wurde der Boom richtig angeheizt oder überhaupt erst möglich gemacht. Hätte es jedoch weiterhin in jedem Land eine autonome Notenbank gegeben, dann hätte die Spanische Notenbank sofort die Zinsen angehoben, um den inflationären Boom zu brechen. Damit wäre im Endeffekt nichts passiert. Doch mittlerweile gab es ja den Euro, und das bedeutete, dass die EZB ihre Geldpolitik an den Belangen aller Länder ausrichten musste. Hier machte allerdings die Wachstumsschwäche in den großen Ländern Deutschland und Frankreich mehr Sorgen als das Wachstum im Süden. Und das sprach für niedrige Zinsen.

Damit geriet der Boom im Süden völlig außer Kontrolle. Als schließlich im Jahr 2008, verursacht durch die Finanzkrise, die Kapitalzuflüsse stoppten, passierte, was immer und überall in solchen Fällen passiert: die Gewinne verwandeln sich urplötzlich in Verluste und das Ganze bricht in sich zusammen. Eigentlich war das glasklar zu sehen, denke ich. Ich hätte nur hinschauen müssen.

Im Anschluss daran geht es in Henkels Vortrag um die wiederholten Verstöße gegen die Richtlinien des Maastricht-Vertrages, auch und gerade durch Deutschland, ohne dass das jemals die im Vertrag genannten Sanktionen ausgelöst hätte. Was für ein fatales Zeichen das gewesen ist, jetzt sehe ich das. Vorher habe ich auch hier die Augen geschlossen gehabt.

Henkel erklärt, seine Geduld endgültig in dem Moment verloren zu haben, als unsere Kanzlerin im Mai 2010 auf französischen Druck hin einer Abschaffung der No-Bailout-Klausel zugestimmt hat, die verbot, dass man einem in Not geratenen Land finanziell hilft.

Auch das habe ich damals nicht wirklich mitbekommen, denn anscheinend war ich zu dieser Zeit ganz auf die Griechenland-Rettung fokussiert, und dafür schien mir jedes Mittel recht zu sein. Doch dass es sich bei diesen Maßnahmen um einen gravierenden Verstoß gegen den Maastricht-Vertrag gehandelt haben soll, das war mir nicht klar und ist es das auch jetzt noch nicht.

Henkel vergleicht dieses Beistands-Verbot mit einer Brandmauer, die errichtet worden sei, um die deutschen Steuerzahler vor den Ansprüchen ausländischer Politikern zu schützen, von denen man schon damals glaubte, dass sie vielleicht etwas großzügiger mit dem Geld umgehen als das bei uns der Fall wäre. Dann jedoch wurde diese Brandmauer plötzlich eingerissen, und von da an war der Zugriff frei.

Diese Ausführungen mögen zwar durchaus etwa populistisch sein, doch ich spüre eine Menge Aufrichtigkeit. Es sei ja auch wirklich eine schreckliche Situation, so Henkel weiter, in der wir uns durch die Währungsunion heute befinden, denn kein Land könne heute mehr unabhängig agieren. Da der Wechselkursmechanismus zum Ausgleich der Ungleichgewichte nicht mehr existiert, fänden wir uns in einer Situation wieder, in der jedes Land den anderen Ratschlägen erteilt, was sie zu tun hätten.