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Eine Kleinstadt irgendwo in Böhmen, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die Moderne hat auch in der Provinz schon Einzug gehalten mit Filmvorführungen, den ersten Automobilen und sogar Flugzeugen. Der junge, geckenhafte Kaufmannssohn Kamil, der schon mal die Luft der Großstadt geschnuppert hat, kann sich gar nicht genug tun, die Moderne gegen diese altmodische Provinz auszuspielen. Denn hier geht noch alles seinen gewohnten Gang: Da waschen die Wäscherinnen noch am Fluss, da sitzen die Männer im Kaffeehaus, da promenieren die Honoratioren und die Töchter der Handwerker und dazwischen die Juden, da kommen mal Komödianten und mal Soldaten, mal feiert man den Abgeordneten, mal brennt das Freudenhaus ab – viel mehr passiert nicht. "Sie schläft, die Bezirksstadt" – bis die Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers in Sarajewo eintrifft: Dann konnte man hören, "wie jemand in der Stadt ein Fenster zuschlug". Ein liebevoll-satirischer Roman aus dem Böhmen der K.-u.-k.-Zeit, humorvoll und sprachlich elegant erzählt, mit einem Schuss Absurdität. Antonín Brousek, der Übersetzer des "Švejk", hat diesen Roman aus dem Jahr 1936, dessen Autor in Tschechien so bekannt ist wie Hašek, Hrabal oder Kundera, kongenial neu übersetzt. Eine Entdeckung für deutsche Leser.
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Seitenzahl: 504
Karel Poláček
Die Bezirksstadt
Aus dem Tschechischen übersetzt und herausgegeben von Antonín Brousek
Reclam
Tschechischer Originaltitel:Okresní město
Die Arbeit an der Übersetzung wurde mit Mitteln des Kultusministeriums der Tschechischen Republik (Ministerstvo kultury ČR) gefördert.
2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: © akg-images
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961396-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011183-3
www.reclam.de
Am äußersten Rande der Stadt, inmitten von baufälligen Häusern mit zerzausten Dächern, stand das Armenhaus der Gemeinde. Es war aus dem Vermächtnis eines örtlichen Wohltäters errichtet worden, der wohlbedacht seine irdischen Güter gemehrt hatte und sich Gott, in der Vorahnung, dass sein Lebensende nahte, mit einer guten Tat gewogen machen wollte. Aus seinem Vermögen erwuchs ein steinernes Gebäude mit grüner Fassade, das einer Festung glich. Sein Mauerwerk war von zahnartigen Zinnen gekrönt und trug an der Hauptfront in Frakturbuchstaben die Aufschrift »Pivodas Armenanstalt«. Das Haus war in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gebaut worden und wirkte durch sein wildes, grimmiges Aussehen auf jedermann abstoßend. Im Erdgeschoss fanden sich große Fenster mit Spitzbögen, aus dem ersten Stock aber schauten kleine Fensterchen herab, die an Schießscharten erinnerten. In der Vorstellung des Baumeisters, der dieses Haus errichtet hatte, gab es keinen Unterschied zwischen Armen und Verbrechern. Deswegen hatte er die Fenster mit massiven Gittern versehen lassen, als ob er die Insassen an der Flucht hindern wollte. Auch bei größter Hitze wehte aus dem Gebäude eine Grabeskälte, und im Inneren herrschte fortwährend Schatten. Der Eingang glich einem gähnenden Mund, und der lange und tiefe Flur schien mit Schall angefüllt zu sein. Nicht nur Lausejungen, sondern auch manch ein Erwachsener, dem jede Art von Unfug eigentlich fernlag, blieb hier öfter stehen, blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um und brüllte dann in die Tiefe des Ganges hinein: »Hoho – hoo!«, und die aufgescheuchten Schatten antworteten mit einem vielfachen Echo.
Zum Armenhaus gehörte auch ein Garten, der von einem gusseisernen Gitterzaun umgeben war. Auch diesem Garten sah man an, dass er keiner Privatperson gehörte, sondern einer frommen Stiftung. Es gab dort kein Gartenhäuschen mit kleinem roten Dach, keine albernen Glaskugeln, wie sie Rosensträucher zu zieren pflegen, und auch keine Gartenzwerge aus Gips, die aus dem Gebüsch hervorlugen. Die Beete waren gleichmäßig durch Sandwege unterteilt wie die Fächer einer Registratur, und auf ihnen wuchsen schüchterne und verängstigte Vergissmeinnicht sowie samtene Stiefmütterchen, deren Blüten an die bösartigen und neidzerfressenen Gesichter alter Jungfern erinnerten. Eine düstere Esche streckte ihre Äste über den Zaun, und man konnte auch wehmütige, verstaubte Pflaumenbäume und verkrümmte Äste von Birnbäumen sehen, die im Herbst schwer waren von glänzenden Früchten. Der größte Teil des Gartens aber war als Gemüsegarten angelegt. Es herrschten hier Ruhe und unerbittliche Ordnung; auch ein Vogel, der sich hierher verirrte, piepste einmal schüchtern und flog bald davon, als hätte er das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben.
Das Armenhaus war eigentlich für verarmte, aber ehrbare Bürger der Stadt bestimmt. All die Jahre gab es jedoch keine Gemeindeangehörigen, die unverschuldet ins Elend geraten wären, so dass das Gebäude nur Bettler beherbergte. An lauen Abenden saßen auf der steinernen Freitreppe vor dem Haupteingang lispelnde alte Weiber und verhutzelte Greise mit eingefallenen Mündern, deren lahme Glieder an krumme Wurzeln erinnerten. Der Zutritt zum Garten war ihnen verwehrt, da über die Vergissmeinnicht, Stiefmütterchen, Büsche und Obstbäume der Verwalter Wagenknecht herrschte, der peinlich genau darauf achtete, dass ihm auch ja nicht einmal ein Stück Fallobst verlorenging. Er war ein muskulöser Mann mit kurzen Beinen und kurz geschorenem Kopf, rege und eifrig, da der Wunsch nach ständigem Gewinn und Vorteil ihn ununterbrochen in Bewegung hielt. Über seine linke Gesichtshälfte lief ihm eine furchterregende Narbe, die leicht mit Blut anlief. Er bewachte auch die Obstbaumalleen der Bauern und legte sich dafür mit einem Sacktuch zugedeckt in eine Strohhütte. Auch als Nachtwächter war er bestellt worden, und man konnte, wenn alles still wurde, die schweren Schritte seiner eisenbeschlagenen Schuhe hören. Im Sommer war er Aufseher in der Badeanstalt, und seine Narbe färbte sich beim Anblick der tobenden Jugendlichen rot vor Blut. Wohlgesinnt war er nur denen, die Mohnbrezeln kauften, die seine Frau gebacken hatte. Regelmäßig sah man ihn bei Feierlichkeiten, Umzügen und Versammlungen, wo es nötig wurde, Befehle zu erteilen und die Menge zu ordnen oder zu vertreiben. Aus seinem stets geöffneten Mund kam dann ein heiseres Gebrüll; über seinem Kopf schwenkte er wie Rübezahl einen schweren Knotenstock. Scharf wie ein Wachhund, schlief er niemals; immer war er auf dem Sprung, jemanden zu erwischen und am Schlafittchen zu packen. Sein andauerndes Gewinnstreben bestärkte ihn noch in seiner Grobheit.
Zu seinen Schützlingen gehörte die Bettlerin Glatte Ančka; vor vielen Jahren hatte sie Frau Kafuňková geheißen und war die Gattin eines vermögenden Tuchhändlers gewesen. Einst hatte Frau Kafuňková einen Wachtraum gehabt. Den hatte sie sich deuten lassen und dementsprechend in der Prager Lotterie beim Lotteriekollektanten Gustav Štědrý auf drei Nummern gesetzt. Sie hatte dann auf Terno gewonnen und setzte von da an so lange, bis sie sich in die Glatte Ančka verwandelt hatte. Aber auch jetzt noch hielt sie sich für eine reiche Frau; ständig wurde sie von Wachträumen heimgesucht, die, in Zahlen ausgedrückt, ein Vermögen bedeuteten.
Der Bettler Maryčka Gib’s! erhielt Almosen, weil er leicht Wutanfälle bekam und dann in einer Art Versgesang stundenlang schimpfen konnte. Amtlich hieß er Emanuel Pěchota; allerdings kannte niemand in der Bezirksstadt seinen Namen und jeder rief ihm »Maryčka Gib’s!« hinterher, um seine obszönen Verse hören zu können.
Der schwachsinnige Hynek unterhielt die Bürger durch seine fehlerhafte Aussprache. Er hatte eine gottesfürchtige Seele, nahm an allen Prozessionen teil und verfiel beim Singen von Kirchenliedern in süße Verzückung.
Der Athlet züchtet seine Muskeln, eine Dame pflegt ihren Teint, und ein Bettler muss auf seine Magerkeit achten. Der Bettler Chleboun, »Majorchen« genannt, war ein dürres, mit Lumpen behängtes Gerippe. Seine Magerkeit war das Aushängeschild seines Gewerbes; hoch aufgeschossen, die Füße in Sacktuch gewickelt, streifte er durch die Bezirksstadt und klopfte mit einem Stock aufs Pflaster wie ein Blinder. Sein grauer Schnurrbart bewegte sich ununterbrochen; der eingefallene Mund käute Gebetsworte wieder. Unter den Bewohnern des Armenhauses genoss er Ansehen, da er unzusammenhängende, wirre Sätze in prophetischem Ton vortrug. Er hatte eine kleine Gemeinde um sich geschart, die in seinen Worten einen geheimen Sinn suchte.
An jenem Tag machte sich Majorchen auf den Weg zum Bahnhof. Schon viele Jahre lang stellte er sich zweimal täglich bei der Ankunft des Zuges ein, als ob er Besuch erwarten würde. Natürlich kam niemand; er hatte weder Verwandte noch Freunde; Leere umgab ihn wie einen Despoten.
Hoch aufgeschossen, mit hervorstehenden Schulterblättern, ging er seines Weges, das Gesicht mit grauen Stacheln bedeckt, einem Bettlervollbart, der nie wächst. Seine triefenden Augen blickten starr vor sich hin; der grünliche Schnauzbart bewegte sich auf und ab. Die weiße Morgensonne leuchtete ihm auf den Weg. Er ging mitten auf der Straße, denn die Bürgersteige waren für die wohlhabenden Leute errichtet. Hinter ihm her zog ein dumpfer Gestank, der die Hunde zur Raserei brachte.
Auf dem Bahnhof saß eine Frau vom Lande auf einer Bank und hielt ein Baby im Arm; das Kind wimmerte, und die Mutter murmelte »Husch, Kusch, Husch, Kuschkusch«, um es zu beruhigen.
Ein Herr im Touristenanzug schaute sich die Fotografien an, die an den Wänden hingen. Ein junger mit Kalk bespritzter Mann, der eine Papiermütze auf dem Kopf trug, kam aus der Amtsstube und schleppte eine Leiter. Als er den Bettler sah, drehte er sich um und stieß diesem wie zufällig mit der Leiter in den Bauch. Majorchen trat beiseite, brummelte etwas, und der Arbeiter lachte.
In der Ferne erscholl gedämpft das Pfeifen des Zuges. Der Bettler bemerkte den Kaufmann Štědrý und zog seinen Hut. Der Kaufmann tippte an den Rand seiner Melone. Er stand da, gestützt auf seinen Sonnenschirm aus Mohair, und glich mehr einem Beamten als einem Kaufmann. Auch sein langer, schwarzer Gehrock, der schon ins Grünliche verschossen war, erinnerte an einen Kanzlisten im Ruhestand. In seinem Gesicht erkannte Majorchen Aufregung; er wusste, dass den Kaufmann die Ankunft eines Zuges stets beunruhigte.
Das Pfeifen des Zuges erklang jetzt lauter, und dieses Geräusch zerschellte an einem Abhang, der mit Akazien und Nussbäumen bewachsen war. Aus der Amtsstube trat ein Herr mit roter Kappe und nahm seinen Zwicker ab. Der Kaufmann strich sich über seinen gelben Schnauzer. Die Dampflok stampfte mit Keuchen in den Bahnhof ein.
Der Bettler erblickte einen jungen Mann, der einen zimtfarbenen, glockenförmig geschnittenen Raglan trug und sich mit tänzelndem Schritt dem Kaufmann näherte. Der Kaufmann ging ihm entgegen und breitete seine Arme aus. Seine Augen wurden feucht: Mit dem Alter war er rührselig geworden und neigte zu Tränen. Der junge Mann nahm mit einem preziösen Griff seinen glänzenden Zylinder ab und küsste den Kaufmann auf die Wange. Der grünliche Schnäuzer des Bettlers fing an, sich zu bewegen, und aus seinem eingefallenen Mund kamen Worte.
– Ach so … Sieh mal einer an … Der Kamil ist gekommen, der Sohn des Kaufmanns Štědrý …
Er beobachtete, wie der junge Mann dem Vater liebkosend über den Rücken streichelt und beide den Bahnhof verlassen. Er schlich hinter ihnen her und spitzte die Ohren, denn er war neugierig wie ein Huhn. Er wusste, dass auch seine Gefährten aus dem Armenhaus begierig auf Neuigkeiten waren und er ihnen Nachrichten mitbringen musste.
– Sieh da, der Kamil ist gekommen, der Sohn des Kaufmanns Štědrý … Na was denn, was denn? Freut sich der Papa? Freut er sich über den Sohn?
Er blickt auf den gekrümmten Rücken und den zerfurchten Nacken des Kaufmanns, kann so aber nicht ergründen, ob dieser sich über die Ankunft des Sohnes freut. Misstrauisch schaut er auf die zitronengelben Halbschuhe, den glänzenden Zylinder und darauf, wie der junge Mann einen silberbeschlagenen Rohrstock schwingt.
– Warum ist er gekommen?, überlegt der Bettler, Pfingsten ist doch vorbei. Es ist doch jetzt keine Zeit für Besuche. Er hätte dort bleiben sollen, wo er war …
Er blieb stehen, da er bemerkte, wie der Kaufmann seinen Schritt verlangsamte und heftig gestikulierte. Er hörte ihn sagen: »Mit einem Zylinder darfst du mir hier nicht herumlaufen.«
Der junge Mann wollte etwas einwenden, der Vater wiederholte aber störrisch: »Das ist mir egal, was man im Ausland trägt. Zu Hause darfst du mir damit nicht herumlaufen.«
– Gut so, lobt der Bettler, du bist kein solcher Großkopferter, dass du mit einem Zylinder herumlaufen könntest. Für mich bist du ein Rotzlöffel …
Aus dem Tor des Spediteurs Wachtl fuhr ein schwerer Wagen, der von Pferden mit glänzenden Hinterteilen gezogen wurde. Der Kutscher glotzte mit dumpfem Erstaunen auf den Zylinder, den glockenförmigen Raglan und die gelben Halbschuhe.
Und der Kaufmann, auf das bleiche, verlebte Gesicht seines Sohnes zeigend, sagt entrüstet: »Und was ist das?«
»Das sind Koteletten«, antwortet Kamil eitel.
»Das muss runter«, befiehlt der Vater drohend.
»Bei uns in Olmütz …«, will der Sohn einwenden.
»Kein Wort mehr! Du gehst gleich zum Sedmidubský, dass er dir das abnimmt. Mit Pejes will ich dich nicht sehen. Das ist mein letztes Wort!«
Unter dem graugrünen Schnäuzer kommen Worte hervor: – Recht so … Meine Rede … Dem haben Sie’s richtig gegeben. Die würden sich sonst heutzutage viel zu viel erlauben …
Der Kaufmann trippelt unsicher auf seinen wackligen Beinen, die zitronengelben Halbschuhe aber tänzeln kokett übers Pflaster, und der Rohrstock wirbelt zwischen den Fingern. Kamil dreht sich von einer Seite zur anderen; er will der Bezirksstadt imponieren mit seinem Raglan und dem glänzenden Zylinder. Aber die Stadt liegt schweigend da; hier und da sind wegen der Sonnenglut die Rollos herabgezogen, an anderer Stelle sieht man eine Katze, die sich zwischen Hortensien sonnt.
Der Bettler konnte hören, wie der junge Mann sagte: »Wie ich sehe, hat sich hier nichts verändert.«
Der Kaufmann blieb stehen und zeigte mit dem Sonnenschirm auf den Neubau des Finanzamtes.
»Was heißt, nichts verändert?«, wandte er ein. »Schau doch mal dieses Gebäude da, das ist doch wohl eine Errungenschaft.«
Kamil verzog den Mund: »Errungenschaft! So was nennt man hier wohl ein Ereignis. Bei uns in Olmütz hingegen …«
Der Kaufmann hört es nicht gern, wenn jemand die Bezirksstadt herabsetzen möchte. Es empört sich in ihm der Stolz des Alteingesessenen.
»Im Ausland sollen die machen, was sie wollen«, knurrt er, »wir hier wissen uns schon zu helfen.«
Ihm missfiel das Grinsen des jungen Mannes, und er donnerte los:
»Die Pejes müssen runter! Du gehst gleich zum Friseur! Nicht, dass ich es zweimal sagen muss.«
– Gut so! So muss man mit dem Jüngelchen umgehen, lobt Majorchen.
»Aber klar doch«, brummt Kamil niedergeschlagen, »wenn ich dann nur meine Ruhe hab’.«
Aus einem Haus stürzte plötzlich ein Herr, als ob er nur darauf gelauert hätte, dass der Vater mit dem Sohn vorbeikommen würde. Er hatte stark gerötete Wangen, als ob er ständig ein Lachen unterdrücken müsste. Seine kleinen Äuglein bewegten sich unentwegt hin und her wie die Blase in einer Wasserwaage. Kamil zog mit dem Zylinder einen eleganten Bogen, und der Vater tippte an den Rand seines Hutes.
Ungern sah er Herrn Raboch, diesen heimtückischen Schwätzer.
– Zylinder, Raglan, Koteletten, beunruhigte er sich, das wird ein Gerede geben …
»Ach, herzlich willkommen, Herr Kamil«, rief Herr Raboch überlaut, »dann sind Sie also gekommen, um uns auch mal zu besuchen?«
Kamil verbeugte sich und drückte Herrn Raboch die Hand.
Herr Raboch fuhr mit seinen bösartigen Äuglein abschätzig über Zylinder, Raglan und die zitronengelben Halbschuhe. Sein Gesicht lief vor unterdrücktem Lachen rot an.
»Na, was denn, was denn?«, stieß er nach. »Sind Sie etwa für länger gekommen?«
»Nur für kurz«, antwortete statt seines Sohnes der Kaufmann.
Kamil zwirbelte seinen rötlichen kleinen Schnurrbart und bemühte sich, das Selbstbewusstsein eines unabhängigen Mannes von Welt auszustrahlen. Er fühlte vor dem Herrn mit dem geröteten Gesicht eine große Unsicherheit. Er erinnerte sich, wie ihn Herr Raboch vor Jahren einmal auf der Straße ergriffen, nach Hause geschleppt und dort seinen dreckigen Hals vorgeführt hatte. »Schauen Sie nur, Frau Štědrá, der Junge kann sich nicht mal richtig waschen. Nehmen Sie doch mal eine Scheuerbürste und schrubben ihm den Hals. Wie sieht denn das Dreckschwein aus?« Herrn Raboch fällt alles auf, nichts bleibt seinen beweglichen, bösartigen Äuglein verborgen. Unwillkürlich fuhr Kamil sich mit der Hand über den Nacken.
»Nur für kurz, also, nur für kurz … Auf Urlaub etwa?«, attackierte Herr Raboch.
»Auf Urlaub«, bestätigte Kamil.
Herr Raboch wurde nachdenklich und wiederholte langsam: »Auf Urlaub …«
Der Bettler, der die Unterhaltung aus einiger Entfernung mitgehört hatte, sprach den Gedanken des Herrn Raboch laut aus:
– Ist denn jetzt eine Zeit für Besuche? Das kannst du jemand anders erzählen. Nach Hause fährt man nur über die Feiertage.
»Also viel Spaß noch, Herr Kamil«, zwitscherte Herr Raboch und verschwand hinter seiner Tür.
Der Kaufmann atmete auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und brummelte: »Dass es nur kein Gerede gibt. Ich will meine Ruhe haben.«
»Was hast du denn die ganze Zeit?«, wimmerte der Sohn.
»Nichts … nichts … ich meine ja bloß …«, murmelte der Kaufmann, »und was den Raglan angeht … es ist jetzt warm, und du kannst ohne Mantel herumlaufen.«
– Hier herrscht einfach keine Kultur, dachte Kamil niedergeschlagen.
Und der Bettler konnte beobachten, wie der Zylinder, der glockenförmige Raglan, die zitronengelben Halbschuhe und der Pensionistengehrock, der ins Grünliche spielte, in der Tür eines Hauses verschwanden.
Frau Štědrá begrüßte sie in der Tür, riss die Arme hoch, in ihrem Gesicht spiegelte sich Erstaunen. Die Ankunft eines Gastes rief bei ihr immer eine besondere Aufregung hervor, und im Körper spürte sie eine Anspannung wie ein Akrobat vor einem gefährlichen Auftritt. Sie wünschte sich, dass Kamil ihr die Hand küssen möge. (– Nicht wegen mir, ich brauche das nicht, es gehört sich aber so.) Der Sohn allerdings nahm nur den Zylinder vom Kopf, verbeugte sich umständlich und gab ihr die Hand.
Sie setzten sich an den gedeckten Tisch. Der Kaufmann hatte zugunsten des Gastes auf seinen Ehrenplatz verzichtet. In der Küche zischte und dampfte es. Kamil atmete schwer, denn sein Hals wurde von einem hohen, gestärkten Kragen eingezwängt.
»Benimm dich ganz wie zu Hause«, sagte der Kaufmann und befahl Kamil, das Jackett auszuziehen. Der Sohn weigerte sich und legte nur seine violett gestreiften Manschetten ab. Aus der Küche hörte man: »Ich muss noch zwei drei Stück Kohlen nachlegen.« Frau Štědrá hatte die Angewohnheit, am Herd Selbstgespräche zu führen. Der Esstisch war klein, deswegen hatte man für Viktor, den anderen Sohn, am Schreibtisch gedeckt. Ohnehin sah man ihn nur ungern an der gemeinsamen Tafel, vor allem wenn ein Gast anwesend war. Er stank nach Öl und Rauch. Sein Benehmen regte den Vater auf. Er hatte grobe, schwielige Hände, in die sich Lack und Ruß eingefressen hatten; außerdem waren zwei Finger durch einen Unfall entstellt. Den Vater störten sein runder Kopf, sein kurzer, herabhängender Schnurrbart und das blaue Arbeitshemd. Er schmatzte und schnaufte beim Essen, verschlang es gierig wie einer, der durch schwere Arbeit entkräftet ist. Viktor war es egal, dass man ihn aus der Gesellschaft ausgeschlossen hatte. So konnte er beim Essen das Buch »Fünf Wochen im Ballon« lesen, etwas, das der Vater an der gemeinsamen Tafel nicht geduldet hätte.
»Und in die Suppe kommt noch eine Prise Salz. Über den Braten gießt du noch etwas Bratensaft«, murmelte Frau Štědrá.
Neben dem Vater saß der jüngste Sohn Jaroslav. Er war ein schweigsamer Junge, hatte dieses Jahr die Matura abgelegt und war sich nicht sicher, ob er Medizin oder Jura studieren sollte. Das Antlitz des Vaters lächelte, und seine Augen glänzten vor Zärtlichkeit, wann immer er auf den Studenten schaute.
Die Mutter brachte eine Suppenschüssel und goss zuerst ihrem Ehemann ein. Der Kaufmann zog die Augenbrauen in die Höhe, schlürfte kurz kostend vom Löffel und sagte dann: »Die Suppe, Mutti, ist delikat. Selbst Seine Majestät der Kaiser könnte sie essen.«
Frau Štědrá atmete so erleichtert auf wie ein Mensch, der einer großen Gefahr entronnen ist. Ständig rannte sie zwischen Küche und Esszimmer hin und her. Dem Kaufmann missfiel das, und er äußerte den Wunsch, sie möge sich zu ihnen setzen. Um ihm einen Gefallen zu tun, setzte sie sich für einen Augenblick auf den Rand eines Stuhls. Sie pickte aus dem Teller wie ein Vogel, wischte den Bräter mit einer Brotrinde aus und rannte dann wieder mit einem angespannten, sorgenvollen Gesichtsausdruck davon. Essen war nichts für sie; ihr stand es nur zu, die Speisen zuzubereiten; die Mannsbilder waren dann verpflichtet, eindeutig kundzutun, dass es ihnen schmeckte. Dem Kaufmann und der übrigen Familie legte sie das Besteck geradezu zeremoniell vor; auf den Schreibtisch hingegen warf sie die Teller, dass es nur so klirrte, und brummte dazu: »Schlag dich nur voll, du Ferkel!« Viktor achtete nicht darauf; auf irgendwelche Förmlichkeiten kam es ihm nicht an, nur auf gutes Essen. Zuerst zerschnitt er das Fleisch, dann ergriff er mit der ganzen rechten Hand die Gabel, stach Bissen für Bissen auf und schaute dabei in das aufgeschlagene Buch.
Wann immer der Kaufmann auf Kamils Teller eine Lücke erblickte, legte er ihm nach. Der junge Mann stöhnte, er könne nicht mehr. Ein gebildeter Mensch könne doch nicht so schlingen wie ein Bauer. Mit dem verwöhnten Ausdruck eines Kulturmenschen, dessen Magen durch erlesene Genüsse verdorben ist, lehnte er es ab, weiter zu essen.
»Essen muss man«, erklärte der Vater, wobei er genüsslich einen Knochen abnagte, »ohne Essen kann kein Mensch und auch sonst kein Lebewesen existieren. Auch Jaroušek hat nur wenig gegessen.«
»Jaroušek hat nur wenig gegessen!«, wiederholte die Mutter erschrocken.
»Ich hab genug«, erklärte der Student.
»Du musst viel essen«, ermahnte ihn der Vater. »Du arbeitest, strengst deinen Kopf an, dann musst du auch dem Körper geben, was ihm zusteht. Ja, ja, die Studien, die Studien«, seufzte er.
»Den da drüben«, er zeigte in Richtung Schreibtisch, »den muss man gar nicht erst auffordern. Der spachtelt ganz von allein.«
Die Mutter räumte die leeren Teller ab, und man begann zu plaudern. Kamil fragte den Vater nach seinem Befinden. Der Kaufmann seufzte. Auf dem Marktplatz habe sich ein Konkurrent niedergelassen, der die Kunden mit süßlichem Geschwätz anlocke. Er begleite die Kundschaft bis auf die Straße hinaus und führe dabei laute Reden. Ein schädlicher Mensch! Er wolle in der ganzen Stadt der Größte sein, er inseriere sogar in der Zeitung.
Kamil vertrat die Meinung, dass der moderne Handel solche Dinge erfordere, und tadelte den Vater für seine altmodischen Ansichten. Ihr Geschäft in Olmütz solle er mal sehen. Große Schaufenster. Ständig klingele das Telefon. Die Handlungsgehilfen würden nur so um das Verkaufspult herumflitzen. Die Tür gehe in einem fort auf und zu; wie in einem Bienenstock sei das.
»Ich bin, wie ich bin«, wandte der Vater ein; »ihr könnt es einmal weiter bringen. Deswegen habe ich euch ja etwas lernen lassen.«
»Und einen Haufen Geld habt ihr dabei gekostet«, schloss sich die Mutter an.
»Manche davon haben da noch mehr gekostet«, brummte Kamil.
Zum Ausklang des Mittagessens schenkte Frau Štědrá schwarzen Kaffee ein. Kamil hielt die geblümte Tasse in der Hand, indem er anmutig seinen kleinen Finger ausstreckte, der mit einem langen Nagel verziert war, und redete prahlerisch den Laden seines Vaters schlecht. Er riet ihm, sein Geschäft mit Schaufenstern auszuschmücken und die Kunden mit Reklamen anzulocken. Auf dem Pult wollte er eine Registrierkasse sehen; beim Anblick einer solchen Maschine wäre die Kundschaft ganz baff. Der Kaufmann hörte dem Geschwätz unaufmerksam zu und ließ seinen Blick nicht vom überlangen Fingernagel weichen. Plötzlich unterbrach er Kamil mit einem wütenden: »Was sehe ich denn da?«
Kamil verstand nicht. »Der Fingernagel, der Fingernagel«, brüllte der Vater.
Der Sohn blickte mit Wohlgefallen auf seinen kleinen Finger. »Was hat du denn gegen meinen Fingernagel? Das ist jetzt große Mode.«
»Sofort abschneiden! Und zwar plötzlich!«, brauste der Vater auf.
»Aber Papi!«
»Wenn der Papa das wünscht, dann muss der Nagel runter«, schritt die Mutter ein.
Der junge Mann wurde traurig. Er würde auf seinen Schmuck verzichten müssen, den er doch mit einer solchen Liebe herangezogen hatte. Wehmütig dachte er sich nur:
– Es hat alles keinen Sinn. In dieser Stadt gibt es einfach keine Kultur.
Das Mittagessen war zu Ende. Viktor erhob sich, griff nach seiner Ledertasche, in der die Metallwerkzeuge klimperten, und rannte davon. Der Vater schaute ihm hinterher und brummte feindselig: »So einer hat mir noch gefehlt. Der ist wirklich wohlgeraten, dieser Sohnemann.«
Die Mutter seufzte nur.
Die Häuser auf dem Marktplatz waren dickleibig wie Buchteln auf einem Backblech. Ihr Ehrgeiz drängte nicht in die Höhe, sie waren zufrieden mit ihrer Fülligkeit. Nur das Gebäude der Bezirkshauptmannschaft war zweistöckig. Auf dem Dach trug es eine Aufschrift aus hellen Schieferziegeln: »Erbaut A. D. 1902«. Alle Gebäude aber überragte das Rathaus mit seinem Turm, auf dem das Wappen der Stadt abgebildet war.
Die bläuliche Abenddämmerung hüllte die Häuser mit ihren Laubengängen, das Rathaus und das Gebäude der Bezirkshauptmannschaft ein. Der Sommerabend roch erregend nach blühendem Weißdorn, warmem Roggenbrot und mit Wasser besprengtem Straßenstaub. Über die Straße fuhren mit Heu beladene Leiterwagen, beim Hydranten hatten sich die Dienstmädchen versammelt, Kinder kreischten herum, und zwischen ihnen liefen fröhlich Hunde umher, deren Schwanz verdreht war wie eine Uhrfeder.
Der Kaufmann Štědrý stand vor seinem Laden und sog an seiner Pfeife, auf deren Porzellankopf der Landesherr in Jägertracht abgebildet war. Unfroh blickte er nach gegenüber, wo der Kaufmann Zoufalý seinen Laden hatte. Alle Geschäfte hatten schon geschlossen, nicht jedoch das des Kaufmanns Štědrý und das seines Konkurrenten. Zwischen beiden Unternehmen herrschte ein verborgener, aber bitterer Kampf. Štědrý wollte nicht eher zumachen als Zoufalý; der Konkurrent wiederum wollte es mit gleicher Münze heimzahlen. Zoufalý kapitulierte schließlich und machte zu. Štědrý tat es ihm nach und befahl dem Dienstmädchen, Stühle vor das Haus zu stellen. Es stellte sich auch Herr Raboch ein, mit seinen bösartigen kleinen Äuglein, die alles und jeden sahen, und machte den zufriedenen Eindruck eines Menschen, der ausgesorgt zu haben meint. Aus seinem Mund hing schief eine Zigarre, und er klimperte in seiner Hosentasche mit Kleingeld herum. Begleitet wurde er von seiner Gattin, die Vorsitzende des Vereins »Cercle français« war. Sie setzten sich auf die Stühle neben dem Ehepaar Štědrý. Sie blickten nach vorne und führten zähflüssige Gespräche. Frau Rabochová und Frau Štědrá sprachen davon, dass man eine Familie mit Rindfleisch am besten versorgen könne und dass Chlorkalk der Wäsche schade. Die Männer sprachen über öffentliche Angelegenheiten: über die Gewalttaten der streikenden Winzer in Frankreich, darüber, dass es auf dem Balkan Unruhen wegender Stadt Skadar gäbe, dass Blériot den Ärmelkanal überflogen habe und dass der Spediteur Wachtl damit drohe, aus dem Feuerwehrverein auszutreten, weil man ihn nicht zum Vorsitzenden gewählt habe.
Auf dem Marktplatz wurden zwei Bogenlampen angezündet. Die Promenaden rauschten. Auf der Nordseite promenierten die Beamten der Bezirkshauptmannschaft, die Richter und die Advokaten; man konnte unter ihnen die Uniform des Postbeamten mit seinen weißen Hosen sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite fand die geräuschvolle Promenade der Handwerker, Handlungsgehilfen und Studenten statt. In der Mitte des Platzes über die gepflasterte Diagonale gingen schaukelnd die israelitischen Kaufleute auf ihren Plattfüßen spazieren. Jedes Mal, wenn bei ihnen die Rede auf geschäftliche Probleme und Familienangelegenheiten kam, verfielen sie ins Deutsche.
An der Ecke des Platzes stand Kamil. Über den Rücken hatte er den zimtfarbenen Raglan geworfen; auf dem Kopf trug er eine Reisekappe. Er rauchte eine Zigarette mit Bernsteinmundstück, fuhr mit seinem silberbeschlagenen Rohrstock durch die Luft und hielt Ausschau in Richtung der Promenade auf der Nordseite. Herr Raboch entdeckte ihn und fragte Herrn Štědrý gleich, wie lange Kamil sich noch in der Stadt aufzuhalten gedenke. Der Kaufmann antwortete unbestimmt; Raboch blinzelte mit seinen bösartigen Äuglein. Als es vom Rathaus zehn Uhr schlug, standen sie auf und verabschiedeten sich voneinander. Frau Štědrá begleitete Frau Rabochová noch ein Stück des Weges. Der Kaufmann Štědrý packte den Kater, der sich gerade an der Haustür ableckte, und schloss ihn im Laden ein, damit er dort für Unruhe unter den Mäusen sorge. Herr Raboch begab sich auf einen Rundgang durch die Stadt und schaute in die erleuchteten Fenster, um festzustellen, wer zu lange aufbleibe, wer Ärger mache und wer sein Geld rausschmeiße.
Der Kaufmann Štědrý und seine Gattin setzten sich an den Tisch. Frau Štědrá fing an, Strümpfe zu stricken, und kratzte sich dabei ab und zu gedankenverloren in den Haaren. Aus dem Mund des Kaufmanns hing eine Pfeife; er paffte vor sich hin und las den Roman »Fünf Wochen im Ballon«. Man konnte hören, wie im Gasthaus »Auf dem Rasen« das Orchestrion rasselte. Im Laden wehklagte der Kater. Er verstand nicht, warum man ihn einsperrte, und sehnte sich nach seinem nächtlichen Herumstreunen.
Der Kaufmann blickte von seiner Lektüre auf, nahm den Kneifer ab und brummte: »Ein schlechter Kater. Hat keinen guten Charakter. Du kannst sagen, was du willst, Mäuse fangen will der nicht.«
Seine Frau war derselben Meinung.
»Wann es aber Zeit zum Mittagessen ist, das weiß er nur zu gut«, fügte sie an, »o ja, das ist ein ganz berechnendes, ausgebufftes Tierchen.«
»Er muss mir aus dem Haus«, verhärtete sich der Kaufmann. »Ich will ihn hier nicht haben. Jeder muss seine Pflichten erfüllen.«
Er legte die Pfeife ab und nahm einen Schluck Wasser. Dann schlurfte er in die Küche, um zu prüfen, ob sich die Dienstmagd nicht draußen herumtreibe. Das Mädchen schlief in seiner gestreiften Bettwäsche, und ihr roter Zopf hing über den Bettrand. Der Kaufmann überzeugte sich davon, dass alle Türen ordnungsgemäß vor den Angriffen schädlicher Menschen verschlossen waren. Laut gähnend zog er sich aus und legte sich hin. Seine Frau breitete zahlreiche Unterröcke aus und löschte dann das Licht. Das Öllämpchen auf dem Schrank blakte vor sich hin, und über die Decke liefen unruhige Schatten.
Frau Štědrá unterbrach die Stille.
»Hat er nichts gesagt?«
»Was hätte er sagen sollen?«, brummte der Kaufmann. »Geredet hat er eine Menge, aber auf diese Weise hat er gerade nichts gesagt.«
»Warum ist er gekommen? Auf Urlaub oder nur so? Und wie lange will er zu Hause bleiben?«
»Weiß ich nicht«, sagte müde und langgezogen ihr Mann.
– Wer aber sollte das wissen? Warum sagt keiner ein Sterbenswörtchen? Bin ich etwa so schlecht, dass mit mir keiner reden will?
Im Herzen von Frau Štědrá nagte innere Verletztheit. – Kommt plötzlich angefahren, so als ob nichts wäre, nimmt den Zylinder vom Kopf und begrüßt sie wie eine Fremde. Ich denke, es würde sich wohl ein Handkuss schicken, so wie es andere Kinder machen. Das habe ich mir doch wohl verdient, oder? Ich möchte nur zu gerne wissen, ob sich auch eine andere so aufgeopfert hätte …
Sie hatte einen Witwer mit drei Kindern geheiratet. – Och, ich habe ja nicht geahnt, in was ich mich da hineinbegebe, ich dummes, dummes Ding … Tja, und gleich den zweiten Tag nach der Hochzeit … Sie sieht das, als sei es gestern gewesen. Sie sitzt mit ihrem Mann beim Frühstück. Da kommen die zwei Jungs, Kamil und Viktor, und stellen ihre zwei Kaffeebecher vor sie hin. Sie blicken verstockt. Was ist los? Die junge Frau bekommt einen Schrecken. Was ist passiert? Die Jungs jammern: Den Kaffee wollen wir nicht, da schwimmt Milchhaut oben drauf … Oh! … Oh! So eine Ungehörigkeit! So eine Beleidigung ist ihr in diesem Hause gleich in den ersten Tagen ihrer Ehe widerfahren. Stiefmutter – das sagt sich dann so leicht …
Jawohl, diese zwei Jungen waren schon immer gegen sie. Haben Grimassen hinter ihrem Rücken gezogen, ganz besonders der Viktor. Beschimpfungen hat er sich gegen sie ausgedacht. – Ich weiß es nur zu gut, rede nur nicht drüber. Nur der Jaroušek … Ja, Jaroušek, der ist ganz anders, ein goldiges Kind … Damals war er noch ganz klein, hatte gerade Scharlach. Lag in seinem Bettchen, glühte vor Fieber und weinte. Sein kleiner Körper war ganz abgemagert, und seine Händchen waren dünn wie zwei Spinnen. Aufgepäppelt hat sie ihn, und er ist gesund geworden. Nachts hat er gestöhnt und nach der Ersten gerufen, nach seiner verstorbenen Mutter. Wenn er rief, dann kam sie immer zu ihm, hat sich zu ihm gelegt und ihn mit ihrem eigenen Körper gewärmt. Deshalb gehört er jetzt ihr, er ist ihr eigenes Kind. Keiner darf behaupten, sie sei nur seine Stiefmutter. Für sie ist es so, als ob sie selbst ihn geboren hätte. Dem würde sie es zeigen, der ihr den Jaroušek wegnehmen wollte. Sie hat doch niemand anderen. Ein braver Junge, ist immer aufrichtig und respektvoll zu ihr …
Die Pendeluhr an der Wand schlägt die Stunde. Sie hat eine ernste, tiefe Stimme, als ob sie sagen wollte: Gedenke, o Mensch … Im Gasthaus klirrt immer noch das Orchestrion. Frau Štědrá seufzt unter dem Eindruck ihrer Erinnerungen tief auf. Damals, als Jaroušek so krank war, kam immer der Doktor Vinklář zu ihm. Machte ein hämisches Gesicht und brüllte furchtbar herum. Er pflegte Patienten durch Anschnauzen zu heilen. Die Leute haben ihn verehrt wie einen Zauberer. Dieser Arzt hat es verdient, dass sie für ihn betet, weil er den Jaroušek gerettet hat. Brüllte, schrie, tobte so lange, bis er den Tod aus der Tür gejagt hatte …
»Ich habe ihm untersagt«, sagt der Kaufmann brummig, »in diesem Raglan auf der Straße herumzulaufen. Das will ich nicht, habe ich gesagt, in unserer Stadt gehört sich so etwas nicht. Er sieht darin so aus, als ob er aus einem Zirkus entlaufen sei. Und dieser Zylinder … Ich dulde keinen Zylinder. Erlaube ich nicht. Raboch hat schon das Gesicht verzogen, als er Kamil ansah, das habe ich nur zu gut beobachtet …«
»Jeder macht nur das, was er will«, beklagt sich die Mutter, »die fragen einen ja nicht einmal.«
Der Kaufmann seufzte, weil ihn sein juckender Ausschlag beunruhigte.
»Kratz mich da mal«, stöhnte er.
Seine Frau fing an, seinen Rücken zu kneten, und dachte dabei gedankenverloren: – Den grauen Hahn sollte ich endlich schlachten.
Die Stadt kam zur Ruhe, aber der Bettler Chleboun, genannt »Majorchen«, irrte immer noch durch die Straßen. Er brummelte vor sich hin, als ob man einen verlorenen Gegenstand sucht; weich trat er auf mit seinen in Sackleinen eingehüllten Füßen, und sein Stock klopfte auf das Pflaster. Die erleuchteten Fenster des Restaurants »Nationalhaus«, aus denen er Gelächter und Stimmen hören konnte, zogen ihn an.
Er drückte die Nase an die Fensterscheibe und blickte starr und triefäugig in den Gastraum. Er sah, wie Kamil, der Sohn des Kaufmannes Štědrý, um den Billardtisch herumlief. Er spielte eine Partie gegen einen jungen Mann, der eine gestickte Hemdbrust trug. Der Handlungsgehilfe hatte sein Jackett abgelegt und stolzierte in einem violettgestreiften Seidenhemd umher. In der Ecke saßen vier Stiernacken über ein Kartenspiel gebeugt. Kamil spielte mit einem gezierten Gesichtsausdruck; jedes Mal, wenn er einen Stoß verfehlte, breitete er die Arme aus und schüttelte ungläubig den Kopf. Der picklige Kellner schaute dem Spiel zu. Vier Herren schlugen ständig mit ihren Fingerknöcheln auf den Tisch und brachen zuweilen in polterndes Lachen aus.
Das Licht teilte den Bettler in der Mitte. Er glich einer silbernen Büste in einem Schaufenster. Er schaute unentwegt, und sein graugrüner Schnauzbart bewegte sich auf und ab. Mächtig zogen ihn die Orte an, wo sich die Herren zu ihrem Vergnügen versammelten.
Er murmelte: – Ihren Spaß haben sie … Billard spielen sie … Geld schmeißen sie raus … gönnen sich alles … Ach was, Herrschaften, Herrschaften, Herrschaften … und junge Herren, junge Herren … Einer ist Herr, ein anderer Bettler … Ordnung oben, Ordnung unten …
Aus der Ecke, wo die vier Kartenspieler saßen, hörte man: »So, meine Herren, für mich die letzte Runde. Da kann man nichts machen, ich muss morgen früh den Zug nehmen!«
Der picklige Kellner erblickte den Bettler; er drohte ihm mit der Faust und rief: »Schleich dich!« Majorchen zuckte wie ein Pferd, das einen Hieb in den Unterleib erhält. Ganz langsam schritt er an den Gartenzäunen entlang, wo berauschend die Reseda duftete. Die Hunde rochen, dass er da war, und zerrten wütend an ihren Ketten. Das Stadtviertel »Am Sand« stank nach warmem Dung und frisch gemähter Luzerne. In den Ställen muhten traurig die Kühe, in den Pferdeställen stampften die Pferde und klirrten mit ihren Ketten. Die Häusler saßen an den Türschwellen und hatten die Hände in den Schoß gelegt. Der Bettler hörte Stimmen. Er wusste, dass sich an der Schwelle des Hauses der Weber Nobilis zusammen mit dem Seilermeister Mejtský niedergelassen hatte. Nobilis ist ein Greis mit buschigen Augenbrauen und einem strengen Prophetenvollbart. Majorchen war bekannt, dass der Alte ein ganz verbissener protestantischer Schafbock war und unermüdlich versuchte, den Seiler zu überreden, bei ihnen in die Gemeinde einzutreten. Mejtský ist zwar Katholik, der Glaube der Böhmischen Brüder zieht ihn jedoch an. Am meisten gefällt ihm, dass die Pfarrer der Brüder heiraten dürfen, während die der Katholiken im Zölibat leben müssen, was aber gegen die Natur ist. Er streitet sich mit Nobilis, kneift ein Auge zu und stellt ihm hinterlistige Fragen. Der Weber jedoch steht fest im Glauben und antwortet auf jeden Vorhalt mit einem Zitat aus der Heiligen Schrift. Der Seiler wäre schon längst bei den Brüdern eingetreten, er wartet aber darauf, dass seine Frau stirbt, die an Schwindsucht erkrankt ist. Sie würde sehr darunter leiden, im Himmel nicht mit ihrem Mann zusammenzutreffen.
Majorchen hört dem Gespräch eine Weile zu und mahlt wütend mit dem Kiefer. Er missbilligt, dass Nobilis den Seiler überreden möchte, vom Glauben abzufallen. Was katholisch ist, sollte katholisch bleiben. Alles möge seinen angestammten Platz behalten.
– Den Behörden sollte man das melden … So etwas darf man nicht dulden, ereiferte er sich, einsperren sollte man dich, Nobilis, damit du aufhörst und andere nicht verführst …
Aus der Dunkelheit ragen die zahnartigen Mauerzinnen des Armenhauses der Gemeinde empor. Über dem mächtigen Gebäude wölbt sich der dunkle Himmel mit seinen eiskalten Sternensplittern. Der abnehmende Mond gleicht einem angeschnittenen Brotlaib. Majorchen trat zwischen die Bettler, die sich auf der Freitreppe versammelt hatten wie Hühner auf einer Hühnerleiter. Sie stammelten mit lautlosen Stimmen Worte ohne Sinn, verstummten, sobald sie Majorchen erblickten, und machten ihm Platz. Der Bettler Chleboun maß mit heroischem Blick seine Gefährten, setzte sich behäbig zwischen sie und begann:
»Tja, Kamil, der Sohn des Herrn Štědrý, des Kaufmanns, ist gekommen. Und alle fragen sich, warum das Jüngelchen gekommen ist. Das weiß keiner. Und er hatte so eine Art Hopsasa-Frack an und auf dem Kopf so ein Ofenrohr. Der Papa, also der Herr Štědrý, der Kaufmann, hat das nicht gern gesehen. Weil er zu sehr angibt. Das gehört sich nicht. Lauf lieber herum wie alle anderen Leute …«
»Lauf herum wie alle anderen Leute«, pflichtete der schwachsinnige Hynek bei.
»In der Stadt, wo er sich aufgehalten hat, hat er sich zu viel erlaubt … und … und … vielleicht sogar, dass er sich mit leichten Weibsbildern … wie sagt man … vergnügt hat.«
»Mit leichten Weibsbildern hat er sich vergnügt …«, wiederholte einfältig Hynek.
»Alle fragen sich, warum er gekommen ist. Die Feiertage sind vorbei, warum also bleibst du nicht, wo du warst? Das deutet auf nichts Gutes hin, sondern auf etwas Schlechtes. Aber anstatt dem Papa eine Freude zu machen und mit ihm zu reden, geht er ins Wirtshaus … spielt Billard.«
Der Bettler verstummte und fuhr dann wieder mit seiner düsteren Prophetenstimme fort: »Es war einmal vor vielen Jahren ein sehr reiches Jahr. Eine Unmenge Getreide war gewachsen. Da wurden die Menschen frevelhaft und stolz, vernachlässigten die Gottesdienste … und … und … den Arsch wischten sie sich mit den Getreidegarben ab und lachten laut dabei. Es könne ihnen ja nichts passieren, dachten sie sich. Aber der Herrgott sah alles … und … und … wie man sich denken kann … in ungeheurer Wut schickte er den Menschen eine Hungersnot … es erhob sich ein großes Wehklagen, aber was half das alles …?«
Aus der Dunkelheit tauchte der Verwalter Wagenknecht auf. Er fuchtelte mit dem Knotenstock durch die Luft, öffnete weit seinen Mund und begann zu brüllen: »Was sehe ich da? Ich dulde keine Versammlungen! Ab ins Bett, verdammtes Gesindel! Sonst werde ich euch …!«
Die Bettler stoben auseinander.
Der Bettler Chleboun, genannt »Majorchen«, machte sich auf den Weg, die Häuser seiner Wohltäter abzuklappern. Im Stadtviertel »Am Sand« machte er nicht halt, denn in diesen krummen Häuschen mit ihren zerzausten Dächern wohnten Menschen, die durch ihre schwere Arbeit verhärtet waren; sie hatten selbst einen allzu hungrigen Magen, und ihre Herzen waren mit Blech beschlagen. Ihre Rücken waren vom ständigen Bücken gekrümmt, und auf ihren missmutigen Gesichtern war die Wut über ihr mühseliges Leben zu sehen. Aber selbst wenn er sich dort in einen Garten getraut hätte, wäre er von einem misstrauischen Hund nicht durchgelassen worden, der in dem Alten mit seiner geflickten Kleidung einen Dieb witterte.
Also blieb er an den solide verputzten Steinhäusern stehen, zog am Klingelgriff und wartete, auf die schlurfenden Schritte im Inneren lauschend, an der Tür. Sobald er bemerkte, dass der Türspion sich öffnete und dahinter ein argwöhnisches Auge auftauchte, begann er, mit seinen eingefallenen Kiefern zu mahlen und unter dem graugrünen Schnauzbart die Worte des Vaterunsers hervorzubringen. In Häusern, wo hinter dem Fenster Spargel oder Fuchsien blühten, bekam er einen Kanten Brot. Fromme Witwen, Pensionärswitwen von Staatsbeamten und alte Jungfern gaben ihm gewöhnlich eine Tasse mit Suppe oder dünnem Milchkaffee, der nach Zichorie schmeckte. Vor der Tür stehend trank er seinen Kaffee und aß auf der Treppe sitzend seine Suppe; bis er alle Häuser abgeklappert hatte, war er ganz aufgedunsen, da er so angefüllt mit Kaffee und Einbrennsuppe war. Er konnte es sich jedoch auf keinen Fall erlauben, in der Schüssel auch nur einen winzigen Rest zurückzulassen, weil seine Wohltäter das als Lästerung empfunden hätten. Für einen Bettler gehört es sich, immer hungrig zu sein, gierig zu essen und nach dem Essen das Haupt aller wohltätigen Menschen zu segnen. Die Brotkanten versteckte er unter seinem Hemd und warf sie dann im Wald weg. Die Arbeiter, die aus den Dörfern zur Schicht in die Fabrik gingen, sammelten das Brot auf und schimpften auf denjenigen, der so sündhaft Essen vergeudete. Sie fütterten mit dem Brot zu Hause das Vieh. Hausfrauen gaben dem Bettler manchmal etwas zu essen, die Männer gaben ihm zuweilen etwas Kleingeld oder aber jagten ihn mit Geschrei aus dem Haus. Wenn Chleboun auf Bettelzug unterwegs war, klopfte er niemals mit seinem Stock auf das Pflaster, vielmehr schwang er ihn hinter seinem Rücken hin und her, als ob er hinter sich einen tollwütigen Hund vermuten würde.
An der Hauptstraße befindet sich eine Konditorei, vor deren Schaufenster der Bettler immer eine längere Zeit stehen blieb. Wenn er die mit Cremerollen, Mandelhörnchen und Torten beladenen Platten ansah, begannen seine eingefallenen Kiefer noch schneller zu arbeiten, und sein Schnauzbart hob und senkte sich. Er blickte auf die aufgehäuften Leckerbissen wie ein Raubfisch, der im Wasser steht und, mit seinen Flossen wedelnd, seinen gierigen Blick auf ein Opfer geworfen hat. Er betrat den Laden in der Hoffnung, der Konditor würde ihm ein Stück Torte schenken, der Konditor aber griff in die Schublade und gab ihm einen Dreier. Er verließ den Laden mit trödelndem Schritt und drehte sich noch in der Tür um. Draußen blieb er wieder vor dem Schaufenster stehen und brummte: – Süßkram … Süßkram … So was ist nur für die Herrschaften. Ich könnte mir damit auch den Wanst vollschlagen. Ja, das will ich wohl meinen …
Dann riss er sich fort und lief weiter, seinen missgestalteten Schatten hinter sich her schleppend. Auf dem Marktplatz erblickte er den Kaufmann Štědrý; er stand vor dem Haus und rauchte aus einer Pfeife, auf deren Porzellankopf der Landesherr in Jägertracht abgebildet war. Der Kaufmann trat einige Schritte zurück, um einen Blick auf sein Haus nehmen zu können. Er schaute gerne auf dieses Gebäude, das zu den größten in der Bezirksstadt gehörte. Es war ein einstöckiges Haus mit acht Fenstern, die auf den Marktplatz blickten. Jeweils zwei Fenster waren durch eine mit Sgraffito bemalte Fläche miteinander verbunden. Ein Bild stellte einen bärtigen Mann in griechischer Tunika dar, der an einer Kiste stand und einen kleinen Hammer in der Hand hielt. Im Hintergrund war ein Segelschiff zu sehen. Auf der zweiten Fläche war eine Frau mit entblößtem Busen aufgemalt. Im Arm hält sie ein Zahnrad. Die dritte und vierte Fläche waren leer, der Bettler wusste, dass Herr Štědrý den Maler seine Arbeit nicht hatte beenden lassen, weil er die Kosten fürchtete. Er hatte den Maler zwingen wollen, seinen Lohn in Waren anzunehmen, was der Handwerker jedoch ablehnte, so dass sie im Streit auseinandergegangen waren.
Plötzlich aber sah er Kamil an der Ladentür und öffnete verwundert seinen Mund. Der fesche Handlungsgehilfe hatte sich verändert. Er trug eine blaue Schürze, und seine Füße steckten in ausgetretenen, geflickten alten Latschen. Der Bettler bemerkte, dass der junge Mann rote Ohren hatte und sein Bärtchen an einer Seite mit der Spitze nach unten hing. Der Kaufmann trieb den Handlungsgehilfen gerade mit einer drohenden Faustbewegung in das Gebäude zurück.
Der Bettler blieb stehen und dachte nach. Wo ist denn der hohe, steife Kragen hin? Wohin sind denn die zitronengelben Halbschuhe verschwunden? Warum ist der Kaufmann Štědrý so wütend?
– Und … und … so … so …, brabbelte er vor sich hin. Hat sich nicht benehmen können, das Söhnchen. Hat den Kopf zu weit oben getragen. Hätte gar nicht kommen sollen. Ist jetzt nicht die Zeit für Besuche. Hat hier nichts zu suchen. Hat nichts Gutes mitgebracht …
Er näherte sich dem Kaufmann und brummelte ein paar Gebetsworte. Er wusste, dass dieser ihn vertreiben würde; in all den Jahren, die er bettelnd um die Häuser zog, hatte er von Štědrý noch nie ein Almosen bekommen, weil der Kaufmann umherziehendes Volk verabscheute. Dennoch führte Chleboun seine Bettelgänge mit bürokratischer Pedanterie durch und ließ auch das Haus der Štědrýs niemals aus.
Er blieb stehen, berührte seinen Hut und fing an, mit seinem Kiefer zu mahlen. Der Kaufmann herrschte ihn an: »Hier gibt es nichts. Gehen Sie in Gottes Namen weiter!«
Der Bettler murmelte einen Gruß, zog den Rotz in der Nase hoch und entfernte sich einige Schritte. Der Kaufmann schaute ihm feindselig hinterher, und ganz plötzlich, als ob ihm etwas eingefallen wäre, rannte er ins Haus. Chleboun aber bog um die Ecke und schlich sich dann zurück zum Haus, neugierig, zu erfahren, was dort drinnen jetzt geschehen würde.
In dem Augenblick schlug das Dienstmädchen die Tür zu, und in der Wohnung hörte man das Getrappel hastiger Schritte. Immer wenn in der Familie Štědrý ein Krawall bevorstand, wurden alle Fenster und Türen geschlossen, damit zu den Nachbarn kein Geräusch dringen konnte. Dennoch konnte der Bettler jedes Wort hören und stellte sich die Szene vor, die sich jetzt hinter der verschlossenen Tür abspielte. Er kannte die Familiengeheimnisse der dickwandigen Häuser.
Er hörte die Stimme des Kaufmanns: »Wo ist dieser Vagabund? Hierher! Zu mir! Ich habe mit ihm mal ein Wörtchen zu reden!«
»Vati, reg dich doch nicht so auf!«, schluchzt Frau Štědrá.
Der Bettler spitzte die Ohren. Was war passiert?
Da flog die Tür auf, und das Dienstmädchen kam herausgelaufen, ganz rot vor Verlegenheit. Chleboun kaute Gebetsworte, das Mädchen aber beachtete ihn nicht, lief auf den Hof und machte sich an der nassen Wäsche zu schaffen. Es war ihr peinlich, dass man den jungen Herrn tadelte, als ob er ein kleines Kind sei. Dabei war er doch ein achtundzwanzigjähriger Mann, dessen Haar sich bereits an zwei Ecken zu lichten begann.
Durch die halboffene Tür sah Chleboun, wie der Handlungsgehilfe vor dem Vater stand und mit dem Ellbogen sein Gesicht verdeckte.
»Nimm den Arm runter!«, brüllte der Kaufmann. Kamil gehorchte und blinzelte zur Seite, wie es Kinder machen, die etwas angestellt haben.
»Schau mir in die Augen!«
Kamil schaut, allerdings nicht in die feuchten Greisenaugen, sondern auf die schweren, faltigen und mit Sommersprossen besäten Tränensäcke.
»Warum haben die dich rausgeschmissen? Rede!«
Der Handlungsgehilfe bedeckt wieder sein Gesicht mit dem Ellbogen. Er erinnert sich an seine Kindheit, wie ihn der Vater geschlagen hat, sehr schmerzhaft geschlagen hat. Einmal war die Tante zu Besuch gekommen und hatte ein Märchenbuch mit einem prächtigen roten Einband mitgebracht, das zahlreiche bunte Bilder enthielt, mit Feen, Prinzen und Prinzessinnen. Der Vater schätzte dieses Geschenk besonders, weil die Tante aus Wien angereist gekommen und ihr Mann Inspektor der Staatsbahnen war. Kaum dass sie weg war, hatte allerdings jemand den Feen, Prinzen und Prinzessinnen mit einem Buntstift Bärte angemalt. Der Vater hatte über das verdorbene Buch getobt und den Jungen mit allem geprügelt, was ihm in die Hände gekommen war. Damals hatte Frau Štědrá ihren Stiefsohn mit ihrem eigenen Körper beschützt.
Kamil weiß, dass Viktor das Buch kaputtgemacht hat, dieser dicke Junge mit den roten Bäckchen, ein ganz Heimtückischer, der gern alles durcheinanderbrachte und sich dann über die Missverständnisse freute.
»Heraus mit der Sprache!«, drängt der Vater.
»War ich nicht, das war Viktor«, murmelte Kamil unbeholfen.
»Was? Wie? Versteh ich nicht.«
Kamil schwieg.
»Ich werde dich wohl … Kannst du denn nicht sprechen? Warum hat man dir gekündigt?«
»Ich … ich … ich hab gesungen«, stotterte Kamil.
»Was? Weil du gesungen hast? Verstehe ich nicht. Also, wirst du reden oder nicht?« Der Vater machte eine Bewegung, als ob er den Schürhaken, der am Herd stand, ergreifen wollte.
Der Handlungsgehilfe begann zu erzählen. Er stammelte, suchte nach Worten und schielte angstvoll zur Seite. In Olmütz war es zu einem Streik der Handlungsgehilfen gekommen. Eine Demonstration hatte stattgefunden, und die Handlungsgehilfen waren vor jedem Laden stehen geblieben und hatten herumgebrüllt. Sie hatten einen arbeitsfreien Sonntag und eine Verkürzung der Arbeitszeit gefordert. Als sich alle der Demonstration angeschlossen hatten, war Kamil auch mitgegangen. Er kümmerte sich nicht um Politik, aber die jungen Fräulein hatten sie beobachtet, und Kamil in seinem glockenförmigen Raglan hatte sich aufgeplustert und dafür gesorgt, dass man ihn hören und sehen konnte. Sein Arbeitgeber aber hatte ihn deswegen fortgejagt.
»Wir sind herumgegangen und haben gesungen«, sagte Kamil zum Schluss.
»Was habt ihr gesungen?«
Kamil schwieg.
»Ich habe gefragt, was ihr gesungen habt?«, lärmte der Vater. Kamil senkte den Kopf.
»Sing mal, damit ich weiß, was das war«, setzte der Vater nach.
Kamil schluchzte auf. Der Vater packte ihn an der Schulter und fing an, ihn zu rütteln.
»Na los, sing! Sing nur, du Lump! Oder …!«
»Dann sing doch, wenn der Vati das möchte«, redete ihm Frau Štědrá gut zu.
Plötzlich hub der Handlungsgehilfe mit weinerlicher Stimme an: »Lasst die Geschäfte zeitlich sperren zum Nutzen uns und der Herren …«
Das Dienstmädchen kam mit einem Holzzuber in der Hand vom Hof und schlug die Tür zu. Der Bettler lauschte der Melodie des »Liedes der Arbeit«, die plötzlich von schallenden Ohrfeigen unterbrochen wurde. Anstelle des Gesangs erklang jetzt Geschrei, und Chleboun machte sich über die Straße davon.
Er wusste alles. Er trat das Pflaster mit seinen in Sacktuch eigehüllten Füßen, fuchtelte hinter seinem Rücken mit dem Stock, seine eingefallenen Kiefer mahlten, und aus dem graugrünen Schnauzbart erklangen Worte.
– Was verpasst haben diese dem jungen Herrn, grunzte er wohlgefällig, so richtig gezeigt haben die’s dem Schönling. Singen wolltest du … so etwas singen? Tja, mein Lieber, das ist nicht erlaubt … das haben die Herren nicht gern … denen ist nicht nach Singen. Mit dem Ofenrohr auf dem Kopf herumlaufen, in feinem Fummel herumstolzieren … so was … so was könnte ich auch. Was ist das schon? Unsereiner aber stinkt nur in seinen Lumpen herum … und … und darf an gar nichts anderes denken. Aber jetzt sind für dich die schönen Tage vorbei, und du wirst in einer blauen Schürze dem Papa aushelfen müssen. Verhauen hat er das Söhnchen, um ihm den Übermut aus dem Leib zu treiben …
Der Bettler bog in die Seitengasse ein, wo der Friseur Sedmidubský seinen Laden hatte.
»Jenda Sedmidubský, Herren- und Damenfriseur« stand auf dem Ladenschild. Im Schaufenster konnte man einige buntfarbige Feinseifen, aufgetürmt zu einer Pyramide, Gläschen mit Birkenwasser, Bartriemen, Hühneraugenpflaster, Mitesserlotion sowie Mittel zur Brustvergrößerung sehen; außerdem gab es ein Plakat mit einem Herrn, der ungewöhnlich üppiges Haar und einen malerisch gedrehten Schnurrbart hatte, daneben einen Aushang des Gemeindeamtes über die Kontumation von Hunden.
Der Bettler blieb an der Schwelle stehen, berührte seine Mütze und fing an, mit seinem Kiefer zu mahlen. Der Friseur war gerade über einen eingeseiften Kopf in einem weißen Umhang gebeugt; er erblickte den Alten, holte hinter einer spanischen Wand eine Münze hervor und gab sie ihm. Chleboun nahm das Almosen entgegen und entfernte sich, mit seinen triefenden Augen starr vor sich hinblickend. Der Friseur hingegen trat, noch das Rasiermesser in der Hand haltend, aus dem Laden und blickte gedankenverloren den in Sacktuch gehüllten Füßen hinterher. Er hatte lange Haare, die in feinen Löckchen herabwallten. Vor kurzem erst hatte er sich von seinem Krankenlager erhoben, auf dem er den ganzen Winter über gelegen hatte, da an seinen Lungen eine unheilbare Krankheit nagte. Auf seinen Wangen waren rote Rosen aufgeblüht, ja, zuweilen sah er sich selbst umgeben von flackernden Leuchtern auf einem Katafalk liegen und atmete gierig den faden Geruch der Wachskerzen und Kränze ein, lauschte mit wehmütiger Freude den Klängen des Trauermarsches. Lang, allzu lang wird der Trauerzug sein, und die Bezirksstadt wird begeistert sein von dieser einzigartigen und erhebenden Aufführung. Am Friedhofstor sammeln sich die örtlichen Bettler. Er konnte den graugrünen Schnauzbart sehen, der sich auf und ab bewegte. Die Glatte Ančka nickt wie ein Automat mit dem Kopf, und auch das Lästermaul Maryčka Gib’s! bleibt ganz ernst, während der schwachsinnige Hynek kindisch ein frommes Lied anstimmt. Der Tote hat zum Zeichen des Friedens gekreuzte Arme und bedauert die Menschen, die noch eine unendliche Reihe von Tagen werden leben müssen auf dieser Welt, in der die Maschinen rattern und die nach Gewinn gierenden Menschen herumbrüllen.
In diese Welt war er jetzt nur ungern zurückgekehrt. Er seufzte und begann, sich mit dem eingeseiften Kopf in dem weißen Umhang zu beschäftigen. Dieser gehörte Julius Wachtl, dem Spediteur und Kohlenhändler. Das war ein gedrungener Kerl, ebenso kräftig wie seine Pferde. Er mochte es nicht, wenn jemand in ihm den Juden erkannte. Deswegen trank er Bier, lärmte in Wirtshäusern herum, prügelte sich gern und sang Bass, nur um einem Christen zu gleichen. Im Laientheaterkreis pflegte er Offiziere zu spielen, Banditen, strenge Väter missratener Töchter, Verschwörer und Kalixtiner, die für ihren Glauben leiden.
Der Friseur hingegen vertrat auf der Bühne des Laientheaters die komischen Figuren; an den Wänden des Ladens hingen Fotos von schmachtenden Liebhabern mit langen Koteletten, Rittern mit ungeheuren Schnurrbärten, Polizisten mit roter Nase und Bauern in Stulpenstiefeln. Er begeisterte das Publikum mit lustigen Gesängen, und wenn ihn die Leute auf der Straße erblickten, blieben sie bei ihm stehen, gaben ihm Stupse in den Bauch und lachten um die Wette in der Erwartung, dass der beliebte Komiker einen Spaß zum Besten geben würde.
Er versorgte jetzt den Kunden, bespritzte das purpurrote Gesicht mit Kölnisch Wasser; der Spediteur erhob sich vom Stuhl, kramte in der Geldbörse und brummte mit seiner scheppernden Stimme: »Also Tschüsschen, Jenda, ich wünsch dir was!« Er setzte sich den Hut auf und entfernte sich, wobei er mit den eckigen Bewegungen eines Kraftmeiers um sich warf, mit dem man sich besser gutstellen sollte. Der Friseur schob den Korallenvorhang zur Seite, der den Eingang verdeckte, trat nach draußen und versank wieder in Träumereien. In seinen Ohren erklangen die klagenden Töne des Sterbeglöckchens, und seine schwärmerischen Augen sahen den langen, allzu langen Trauerzug vor sich. Der Zug hatte das Vestibül des Nationalhauses verlassen und überquerte schaukelnd den Marktplatz. Vornweg schreitet ein Junge im Chorgewand und trägt ein in schwarzen Flor gehülltes Kreuz. Hinter ihm die Kapelle, piepsige Klarinetten, krakeelende Trompeten, Waldhörner und eine dröhnende Bass-Tuba. Tradadadaa – tatadaa – bum! Der Friseur summt vor sich hin und gibt mit der Hand den Takt vor. Kann es einen schöneren Anblick geben als ein solches Begräbnis?
Die Leute gehen vorüber und rufen dem Friseur etwas zu. »Habe die Ehre, gehorsamster Diener, Gesundheit wünsch ich, und geht’s gut?« Der Friseur, aus seinen Gedanken gerissen, antwortet höflich. Er mag diese Störungen nicht. Die zudringlichen menschlichen Stimmen stören den Trauerzug und bringen Unordnung in die Trauerrituale. Was weiß denn schon die lärmende Menge von der Erhabenheit des Todes und der Poesie eines so herrlichen Konduktes?
Der Friseur bewegt die Lippen und schaut dem Spediteur so lange hinterher, bis dessen resolut eingedrückter Hut in der Apotheke verschwunden ist.
Die Apotheke »Zum barmherzigen Bruder« hat ein schwarzes, strenges Portal mit reichhaltigen Schnitzereien in Form antiker Gottheiten. Die Schaufenster sind leer; es steht dort nur die Skulptur einer lockigen Frau in Tunika, die einen Kelch in der Hand hält. In der Apotheke herrscht ein Halbdunkel, in dem matt die Porzellantiegel mit ihren lateinischen Aufschriften blinken. Ein Besucher, der die Apotheke betritt, nimmt unbewusst den Hut vom Kopf, wie in einer Kapelle. Auf dem Pult steht ein gläsernes Kolbengefäß voll rosafarbener und weißer Bonbons. Über der verschwiegenen Stille schwebt ein berauschender, durchdringender Duft. Hinten befindet sich das Labor, in dem der Prinzipal die ärztlichen Schmierereien entziffert und danach die Medikamente zusammenstellt, die Krankheiten vertreiben sollen.
Hier treffen sich jeden Tag einige Bürger, und der Apotheker, ein höflicher Mann mit einer braunen Perücke, pflegt ihnen Rosoliolikör in viereckige Gläschen einzugießen. Der Vertreter Raboch bringt den neuesten Klatsch mit. Er stromert den ganzen Tag durch die Stadt, da für ihn der Absolvent der Handelsakademie Růžička arbeitet. Der Postmeister im Ruhestand, Herr Pecián, kommt immer mit seinem alten Freund, dem Schlosskastellan Vepřek. Eingehüllt in Capes, sitzen sie am Pult, nippen an den Gläschen und reden über längst vergangene Zeiten. Ihr Blick war in die Vergangenheit gerichtet. Dort entdeckten sie die schöpferische, der Menschheit gegenüber unendlich freigebige Natur, gesunde und kraftvolle Männer, Nächstenliebe und Heldentaten. Über die Gegenwart aber sprachen sie nur mit verzogenem Gesicht; alles Gegenwärtige war schlaff, unehrlich, unfruchtbar und krankhaft. Ihre Jugend war schon lange dahin; sie sprachen über vergangene Zeiten und nickten elegisch mit dem Kopf. Das waren wunderbare Zeiten! Wozu noch darüber reden …
Waren alle örtlichen Angelegenheiten abgehandelt, begann man für gewöhnlich, über das Herrscherhaus zu sprechen. Der pensionierte Postmeister war in alle Geheimnisse des Wiener Hofes eingeweiht und wisperte die ganze Zeit mit gedämpfter Stimme, wobei er immer wieder ängstlich einen Blick zur Tür warf. Er tadelte die Kaiserin Elisabeth, deren Verschwendungssucht ja bekannt war, und führte dazu aus, dass sie sich einmal Spitzen für zwei Millionen Gulden gekauft habe. Alle staunten. Zwei Millionen Gulden! Was für ein Vermögen! Herr Pecián weidete sich an ihrem Erstaunen und fügte hinzu, dass Seine Majestät der Kaiser den Betrag bezahlt habe, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
»Zwei Millionen Gulden!«, staunte der Apotheker.
»Zwei Millionen Gulden … wie leicht sich das so sagt«, sann Herr Raboch vor sich hin.
»Für Spitzen«, betonte Herr Pecián.
»Einfach so … für Spitzen«, wiederholte Herr Raboch.
»Sie war keine gute Frau«, seufzte Herr Pecián auf, »die Kaiserin Elisabeth war dem weisen alten Monarchen keine gute Ehefrau. Sie stand nicht an seiner Seite, war ständig nur auf Reisen. Der Kaiser hatte eigentlich nichts von ihr.«
Herr Raboch, der pikante Histörchen liebte, fing davon an, dass die Kaiserin etwas mit dem Grafen Esterházy gehabt habe, wie man sich so erzählt. Der Kastellan protestierte. In seiner Anwesenheit kein Wort davon! So etwas könne er aus Rücksicht auf Seine Majestät den Kaiser nicht ertragen. Der Herrscher verdiene es nicht, dass die Leute schlecht über ihn redeten. Seine Majestät gebe doch all ihren Dienern Brot.
Der pensionierte Postmeister schloss sich dem an. Es steht uns nicht zu, über jene erhabene Frau zu urteilen, selbst wenn sie gesündigt haben sollte. Sie selbst habe doch ihre furchtbare Strafe durch die Hand des italienischen Anarchisten Lucheni erfahren.
Der Schlosskastellan vertrat die Meinung, der Genfer Attentäter sei nur ein Werkzeug der internationalen jüdischen Weltverschwörung gewesen. Der pensionierte Postmeister lebte jedes Mal auf, wenn die Rede auf die Juden kam. Er wusste, dass das Weltjudentum in einer geheimen Vereinigung, Sanhedrin genannt, zusammengeschlossen war. In diesem Verein wurden Pläne zur Vernichtung der christlichen Welt geschmiedet. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft, zischte heftig, und sein falsches Gebiss zitterte. Er wusste das alles, weil er ständig über Büchern saß und zu Hause eine Unmenge von antisemitischer Literatur hatte.
Herr Raboch stieß ihn aber in die Seite, denn in diesem Moment betrat die Apotheke der Spediteur Wachtl. Pecián verstummte und fing an, mit seinem eckigen Gläschen zu spielen. Wachtl war Mitglied dieser Gesellschaft und freute sich darüber. Er war hier auch beliebt, da er immer mit irgendetwas zur Unterhaltung beizutragen wusste. Er war der Erste, der sich in der Stadt ein Grammophon angeschafft hatte, sobald diese Erfindung das Licht der Welt erblickte. Er hatte auch als Erster eine neu eingeführte Banknote in der Hand und wusste gleich einen Witz dazu, weil es immer irgendwelche Witze über neue Banknoten gibt. Diesmal sorgte er mit einem Spielzeug für Spaß, das er aus der Tasche gezogen hatte. Das Spielzeug stellte einen Mann und eine Frau dar; wenn man aber an einer Strippe zog, dann machten die kleinen Figuren unanständige Bewegungen. Das Spielzeug ging von Hand zu Hand, die Herren wieherten, lachten Tränen und hielten sich vor Lachen die Seiten. Der Spediteur war stolz darauf, diese Gesellschaft, die ihn als ihresgleichen anerkannte, belustigt zu haben. Die Unterhaltung nahm jetzt einen spaßig ungezwungenen Charakter an, und der Spediteur gab einige Anekdötchen zum Besten.
In der Tür tauchte ein Gesicht mit einem schimmligen, nie wachsenden Stoppelfeld auf. Der Bettler Chleboun zog den Hut vom Kopf, vermengte den säuerlichen Bettlergestank mit dem edlen Wohlgeruch der Arzneistoffe und begann, vor sich hinzukauen. Die ganze Gesellschaft lebte erheitert auf. Der Apotheker zwinkerte den Gefährten zu und rief: »He, Majorchen, hast du denn auch schon eine Braut?«
»’ne Braut, bitte sehr, gnä’ Herr, hab ich noch nich.«
»Und warum hast du denn keine Braut, Majorchen?«