Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Von der biometrischen Vermessung zur digitalen Identität Unsere biometrischen Daten werden digital erfasst: Fingerabdrücke, Gesicht, Iris, Mimik, Gestik, Vitalwerte von der Herzfrequenz bis zur Venenstruktur, unsere individuelle Art und Weise der Bewegung - alles wird digitalisiert, gespeichert, analysiert und je nach Umständen für oder gegen uns verwendet. Ob wir unser Smartphone entsperren oder einen Personalausweis beantragen - ohne biometrische Vermessung geht kaum noch etwas heutzutage. Dadurch entsteht im Computer eine digitale Identität, die uns zum Verwechseln ähnlich ist. Die damit verbundenen Gefahren sind enorm. Unsere biometrische Erfassung schafft eine völlig neue Dimension der Abhängigkeit. Unsere unveränderlichen Körpermerkmale werden genutzt, um in den Datensilos eine Schattenidentität für jeden von uns anzulegen. Was kaum bedacht wird: Diese digitalen Identitäten lassen sich ebenso wie PINs oder Passworte stehlen, manipulieren und missbrauchen. Aber wir können unsere Fingerabdrücke, unser Gesicht, unsere Mimik, unsere Gestik, die Art und Weise, in der wir uns bewegen, nicht verändern. Es sind unsere ureigenen körperlichen Charakteristika. Doch es geht nicht nur um die biometrische Vermessung unseres Körpers. Es geht darüber hinaus um zwei weitere Dimensionen: die Erfassung unseres Gehirns, also unseres Denkens, und die allmähliche Verschmelzung von Mensch und Maschine. Im vorliegenden Buch werden alle diese Dimensionen dargestellt und in ihren Auswirkungen analysiert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Digitale Fingerabdrücke
Vom Verbrecher zum Normalbürger
Firmen erfassen unsere Fingerabdrücke
Sieg der Bequemlichkeit
Fehlfunktionen und Missbrauch
Automatische Gesichtserkennung
Unsere Gefühle werden erkannt
Von der Erkennung zur Interpretation der Mimik
Geräte wissen, was wir denken
Digitaler Zugang zu unserer Gefühlswelt
Gesichtserkennung in den Netzen
Datenschutz und Dummdreistigkeit
Facebook erstellt eine Identitätsmarke
Unklarer Umgang mit Fehlerkennungen
Bequemlichkeit siegt
Unser Gesicht öffentlich und privat
Kameras und Mikrofone in den eigenen vier Wänden
Alexa, Alexa, Alexa
Spion zu Hause
Vorboten des Smart Home
Nutzen und Risiken kennen
Gesichtserkennung auf dem Vormarsch
Versuchsprojekt Bahnhof Berlin-Südkreuz
Anwälte bemängeln fehlende Rechtsgrundlage
Tausende von Kameras in Hunderten von Bahnhöfen
Ausweis mit Onlinefunktion
Der Fall Billie Hoffmann
Peng! und Federica Mogherini
Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht
Grundlegende gesellschaftliche Debatte
Für den Bürger unüberschaubare Entwicklungen
Von den Lippen ablesen
Computer lesen besser als Menschen
Stumme Sprache für mehr Sicherheit
Gestensteuerung
Sprach- und Gestensteuerung kombiniert
Was wir meinen, denken und fühlen
Venen im Visier
Vein-ID ist schon patentiert
Erster anerkannter Cyborg der Welt
Überwachung im Schlaf
Wearables überwachen unsere Vitalwerte
Medizinische Massenstudien mit wenig Aufwand
Trügerische Freiwilligkeit
Digitales Gesundheitswesen
Die nächste medizinische Revolution ist digital
Freiwillige Daten für den „Digital-Doktor“
Designerprodukte gegen Bürokratie
Völlig neue Geschäftsmodelle
Unterwäsche mit digitalen Textilien
Apple & Co mit eigenen Krankenhäusern
Der biometrische Ausweis
Biometrisches Passbild ist Pflicht
Strenge Vorgaben für die Biometrietauglichkeit
Selbst der Hintergrund ist wichtig
Hochwertige Fotoqualität erforderlich
Kinder und Babys werden biometrisch erfasst
Personalausweis funkt die Daten
Behördlicher Computerabgleich
Missbrauch ausgeschlossen, oder?
Ausweislesegeräte bei Amazon ab 15 Euro
Alufolie gegen ungewolltes Auslesen
Zerstörung des Chips ist strafbar
Funkchips in unserem Körper
Geldscheine mit Funkchips
Unsere Kleidung funkt
Jeder dritte Deutsche will einen Hautchip
Gefahr des Irrtums
Gefahr des Irrtums ist groß und real
Paradies auf Erden für die Polizei
Allianz von Digitalwirtschaft und Staatsmacht
Smarte Wohnkomplexe in China als Vorbild
Datenbank mit drei Milliarden Personenfotos
Deutschland und der Weihnachtsmann
Grimmiger Gesichtsausdruck enttarnt Terroristen
Terror-Biometrie
Frontex deckt Missbrauch im Schengenraum auf
Größte biometrische Datenbank ist unsicher
Der „Islamische Staat“ formt Fingerabdrücke
Trugschluss der 100-prozentigen Sicherheit
In den falschen Händen für immer verloren
Wo wir sind und wen wir treffen
Gewaltigstes Überwachungssystem der Welt
Apple und Google gegen die Bundesregierung
Wer entscheidet: Konzerne oder Staaten?
Totale Überwachung voraus
Umkehrung der Beweislast
Perfektion wird vorgegaukelt
Social Scoring als Lösung?
Mehr Sicherheit statt Überwachungsstaat
Der Bio-Mensch
Hautchips sind keine große Sache
Drei Wege zum Chip unter der Haut
Vielfältige Einsatzmöglichkeiten für Hautchips
Kontaktlinsen mit Augmented Reality
Das Paradies vor Augen
Das Judas Mandala
Cinema of the Future
Langzeitstudien am Menschen gibt es nicht
Man muss es erleben, um es zu verstehen
Von der Nische zum Massenphänomen
Ein neues Gefühl
Die vierte digitale Revolutionswelle
Von der Brille zur Linse im Auge
Das Auge wird zum Bildschirm umfunktioniert
Von der Horrorvision zur Normalität
Biometrische Identitäten
Identifizierung über alle Grenzen hinweg
Projekt ID2020
Impfnachweis als Vorbote der digitalen Identität
Quantenpunkt-Tattoo
„
The Known Traveller Digital Identity”
Zerrbild des mündigen Weltbürgers
Digitale biometrische Identität auf Lebenszeit
Daten und Denken im Visier
Ausspähen ist strafbar
Datenschutz – was ist das?
Werden die Daten geschützt oder die Menschen?
Grundrecht auf eigene Persönlichkeit
Datenschutz als Rechtslücke im Grundgesetz
Gefahr des Panoptismus
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
Hilflose Gesetzgeber
Daten sind der Rohstoff der Digitalwirtschaft
Plattformkapitalismus und Persönlichkeitsprofile
Spionage als Geschäftsmodell
Von Google zur NSA zum BND
Charta der digitalen Grundrechte
Social Media: Wir werden manipuliert
Mainstream-Medien besser als ihr Ruf
Alternative Wahrheiten
Sternstunde der Storyteller
Dunning-Kruger und Social Bots
„Mit eigenen Augen gesehen“
Geister-Menschen
Überwachung unvermeidbar und unumkehrbar
Intelligente Humanoide im Anmarsch
Roboter mit Künstlicher Intelligenz
Evolution des postbiologischen Lebens
Software und Künstliche Intelligenz
Maschinen denken besser als der klügste Mensch
Software frisst die Welt
Dem Menschen ebenbürtige Intelligenz
Ein Menschheitstraum
Antworten auf die Fragen der nächsten Dekaden
Robotergesetze
Ausblick
Wir gewöhnen uns an alles
Beschleunigungsfaktor Corona
Digitale Disruption voraus
Über die Autoren
Bücher im DC Verlag
Über das Diplomatic Council
Quellenangaben und Anmerkungen
Wer früher seine Fingerabdrücke abgeben musste, wurde eines Verbrechens verdächtigt. Heute geben Millionen von Menschen tagtäglich ihre digitalen Fingerabdrücke ab, um ihr Smartphone zu entsperren. Die meisten von ihnen sind keine Verbrecher, die wenigsten werden eines Verbrechens verdächtigt. Doch es ist längst nicht bei den Fingerabdrücken geblieben.
Wer heute einen Personalausweis oder Reisepass beantragt, muss sich gefallen lassen, dass sein Gesicht in ein sogenanntes biometrisches Foto gepresst wird. Das hat gravierende Auswirkungen: Das biometrische Porträt kann ebenso wie der digitale Fingerabdruck von Computern automatisch gelesen werden. Die automatische Gesichtserkennung auf Ausweisen, beim Entsperren von Smartphones, in sozialen Netzwerken und nicht zuletzt im öffentlichen Raum macht uns alle gläsern.
Die biometrische Erfassung der Menschheit ist in vollem Gange. Unsere Fingerabdrücke, unser Gesicht, unsere Iris, unsere Vitalwerte von der Herzfrequenz bis zur Venenstruktur, unsere Mimik, unsere Gestik, unsere individuelle Art und Weise zu laufen… alles, alles wird erfasst, digitalisiert, gespeichert, analysiert und je nach Umständen für oder gegen uns verwendet.
Wenn wir eine PIN vergessen, ein Passwort verlieren oder uns beides gestohlen wird, lassen wir sie einfach sperren und besorgen uns neue. Aber woher bekommen wir neue Fingerkuppen oder ein neues Gesicht?
Unsere biometrische Erfassung schafft eine völlig neue Dimension der Abhängigkeit, die den meisten von uns gar nicht bewusst ist. Unsere unveränderlichen Körpermerkmale werden genutzt, um in den Datensilos eine Schattenidentität für jeden von uns anzulegen. Was kaum bedacht wird: Diese digitalen Identitäten lassen sich ebenso wie PINs oder Passworte stehlen, manipulieren und missbrauchen. Doch wir können unsere Fingerabdrücke, unser Gesicht, unsere Mimik, unsere Gestik, die Art und Weise, in der wir uns bewegen, nicht verändern. Es sind unsere ureigenen körperlichen Charakteristika.
Doch es geht längst nicht mehr nur um die biometrische Vermessung unseres Körpers, es geht darüber hinausgehend um zwei weitere Dimensionen: die Erfassung unseres Gehirns, also unseres Denkens, und die allmähliche Verschmelzung von Mensch und Maschine. Im vorliegenden Buch werden alle drei Dimensionen dargestellt und in ihren Auswirkungen analysiert.
Andreas Dripke et al.
Im Jahre 1858 wurde die Daktyloskopie geboren, die Lehre von den Fingerabdrücken. Es handelt sich dabei um das älteste biometrische Verfahren zur eindeutigen Identifizierung von Menschen.1 Der britische Kolonialbeamte Sir William James Herschel registrierte in Bengalen (Indien) Zahlungsempfänger anhand ihrer Fingerabdrücke, um Betrug durch Mehrfachauszahlungen zu verhindern. Ihm gebührt also der Verdienst, die erste Fingerabdrucksammlung der Welt angelegt zu haben. Der Mediziner Henry Faulds brachte nach eingehenden Untersuchungen der menschlichen Hautleisten 1880 den Vorschlag, Fingerabdrücke an Tatorten zur Überführung von Verbrechern zu nutzen und dafür alle zehn Finger für die Daktyloskopie zu erfassen.2 Es war der Engländer Francis Galton, der das im Wesentlichen heute noch verwendete Klassifizierungssystem der Daktyloskopie entwickelte, das immer noch bei der Polizei weltweit im Einsatz ist.3
Seitdem war klar: Wessen Fingerabdrücke genommen wurden, der gehörte zumindest zum Kreis der Verdächtigen im Zusammenhang mit einem Verbrechen. Doch darüber sind wir längst hinaus. Heute erfolgt die biometrische Vermessung des Menschen weit über Fingerabdrücke hinaus und losgelöst davon, ob wir Schwerverbrecher oder unbescholtene Bürger sind.
Seit 2010 müssen Einreisende in die Vereinigten Staaten die Erfassung der Abdrücke aller zehn Finger über sich ergehen lassen. 4 Das sei „keine große Sache“, sagte damals Robert A. Mocny, der Leiter des Programms US-Visit im Heimatschutzministerium. Die große Welle der Erfassung biometrischer Daten begann und wird seitdem größer und größer.
Unter biometrische Daten fallen alle äußerlichen Merkmale eines Menschen, die sich nicht oder nur sehr schwer ändern lassen. Dazu gehören nicht nur Fingerabdrücke, sondern beispielsweise auch die Schlüsselmerkmale des Gesichtes wie der Augenabstand und die Iris, also das Innere des Auges.
Waren es früher nur Staaten, allen voran die USA, die Fingerabdrücke im großen Stil sammelten, erfuhr diese Situation im Jahre 2013 schlagartig eine fundamentale Änderung. Apple stellte das iPhone 5s vor, in das ein Fingerabdrucksensor fest verbaut war.5 Wer nicht ständig den PIN-Code zum Entsperren des Gerätes eintippen wollte, erfasste einen oder mehrere seiner Fingerabdrücke und konnte fortab einfach durch Auflegen eines Fingers das Gerät nutzen. Als der US-Konzern Apple mit dem Sammeln von Fingerabdrücken begann, gab es einen kurzen Aufschrei von Datenschutzaktivisten, der jedoch rasch verpuffte. 6 Seitdem werden die Fingerabdrücke von Millionen von Menschen nicht nur von Staaten, sondern auch von Unternehmen erfasst. Auf Apple folgten rasch Samsung, Huawei und sämtliche anderen namhaften Smartphone-Hersteller. Seitdem gilt es als völlig normal, dass unbescholtene Bürger tagtäglich ihre Fingerabdrücke abgeben.
Es siegte die Bequemlichkeit: Schließlich ist es viel einfacher, seinen Finger kurz auf das Gerät zu legen, statt bei jeder Nutzung den PIN-Code eintippen zu müssen. Die Bequemlichkeit stellt beinahe immer einen Erfolgsgaranten dar, wenn es darum geht, an die Daten der Bürger zu kommen – gleichgültig, ob es sich dabei um Regierungen oder um Unternehmen handelt.
Apple behauptet, dass nicht der Fingerabdruck gespeichert würde, sondern lediglich ein Code (eine Prüfsumme), der aus dem Abdruck generiert wird. Dieser Code soll nicht an Apple übermittelt, sondern nur im jeweiligen Gerät in einem SoC-Baustein (System on a Chip) gespeichert werden. Ob das stimmt oder nicht, ist selbst von Fachleuten nur schwer zu überprüfen. Selbst wenn diese Aussage korrekt sein sollte und Apple tatsächlich besonders hohen Wert darauflegt, die Daten seiner Kunden zu schützen, ist das Schutzniveau bei konkurrierenden Herstellern möglicherweise und vermutlich geringer. Unabhängig davon hat die Erfahrung gezeigt, dass einmal erfasste Daten in der Regel weitergereicht und weiterverwendet werden.
Die Fingerabdruckspeicherung verdeutlicht zudem die Problematik von Fehlfunktionen und Missbrauch bei biometrischen Daten. Am 21. September 2013 meldete der Chaos Computer Club (CCC), die Touch-ID-Sicherheitssperre auch ohne einen echten Finger überwunden zu haben.7 Dabei wurde ein auf der Displayoberfläche befindlicher Fingerabdruck gescannt. Anschließend wurde der digital nachbearbeitete Scan auf einem Laserdrucker auf eine Transparenzfolie gedruckt, welche als Maske für die Belichtung einer Leiterplatte diente. Anschließend wurde die mit ultraviolettem Licht belichtete Platine geätzt und mit Grafit besprüht, um die Struktur und Leitfähigkeit des späteren Trägermaterials zu erhöhen. Abschließend wurde eine Fingerattrappe damit versehen und in einem Testversuch nach wenigen (korrekten) Zurückweisungen fälschlicherweise akzeptiert. Natürlich ist diese Vorgehensweise viel zu aufwendig, um „nebenbei“ einen Fingerabdrucksensor zu überlisten. Dennoch zeigt der Vorfall, dass die biometrische Datenerfassung keineswegs die hundertprozentige Sicherheit gewährleistet, wie sie häufig von Unternehmen beworben wird. Es ist offenbar möglich, durch die Fälschung eines Fingerabdrucks die digitale Sicherheitshürde zu überwinden. Das ist kein beruhigendes Gefühl – ganz im Gegenteil.
Die digitale Vermessung der Menschheit im großen Stil hat mit dem Fingerabdruckscanner begonnen, doch schon warten die nächsten Technologien darauf, eingesetzt zu werden. Dazu gehört die automatische Gesichtserkennung, die nicht mehr wartet, sondern längst im Einsatz ist.
Am 12. September 2017 stellte Apple mit dem iPhone X das erste massentaugliche Smartphone vor, das seinen Benutzer erkennt. In der Frontseite des Gerätes ist eine sogenannte True-Depth-Kamera eingebaut.8 Sie bewertet das erfasste Gesicht anhand von 30.000 Bildpunkten und entscheidet, ob es sich dabei um den Gerätebesitzer handelt oder nicht. Face-ID nennt Apple diese Funktion. Der von Apple gewählte Begriff Face-ID ist wohl nur als gezielte Verschleierung zu werten. Es geht nämlich keineswegs nur um die Erkennung eines Gesichts, sondern es steckt viel mehr dahinter.
Was kaum einer weiß: Der Wechsel vom Fingerabdruck zur Gesichtserkennung stellt nicht nur eine neue Methode dar, um eine bestimmte Person zu identifizieren. Vielmehr ermöglicht die auf das Gesicht ausgerichtete Kamera die Auswertung von Mikroausdrücken. Unter diesem Begriff werden Emotionen („Gefühle“) verstanden, die sich für die Dauer von Sekundenbruchteilen auf unserem Gesicht zeigen. Man betrachtet also das Display, um einen Text zu lesen oder ein Bild zu studieren, und die Kamera erkennt, ob man sich darüber freut, ärgert, ob man begeistert oder verängstigt ist. Wer das einmal spielerisch ausprobieren möchte, kann eine App wie „Rainbow“ herunterladen. Beim ersten Mal ist es verblüffend zu erleben, wie sich die Spielfigur verändert, je nachdem, ob man die Augenbrauen erstaunt nach oben zieht oder verärgert zusammenzieht.9
Mag man „Rainbow“ noch als belustigend empfinden, ist die App „AR MeasureKit“ mit ihrer Funktion „Face Mesh“ eher beängstigend.10 „Face Mesh“ demonstriert für jedermann, wie das iPhone das gesamte Gesicht automatisch scannt, daraus eine digitale Gesichtsmaske erstellt und daraufhin 50 verschiedene Gesichtsausdrücke erkennen kann. Mit dem linken Auge blinzeln, die rechte Augenbraue anheben, die Nase nach rechts oder links rümpfen, den Mund verziehen, die Lippen zusammenpressen, Wangenbewegungen und vieles mehr. So werden 50 Muskelbewegungen haarklein beobachtet. Die App zeigt auf die Zehntelsekunde genau an, wie lange welche Muskeln auf welche Art und Weise aktiv sind.
Der Weg von der Erkennung zur Interpretation und Nutzung des Gesichtsausdrucks ist nicht mehr weit. Mit dem iPhone X erstmals eingeführt, hat Apple Face-ID auch in weitere Gerätegenerationen eingebaut. So sind sämtliche seit September 2018 von Apple vorgestellten neuen iPhones und auch die meisten neuen iPads mit Face-ID ausgerüstet. Andere Hersteller folgen.
Es bleibt also nur noch eine Frage der Zeit, bis sich um uns herum sämtliche Geräte automatisch erkennen, wie wir uns fühlen, was wir denken, wie wir reagieren. Wenn wir ein Buch in einem digitalen Bookreader wie Amazons Kindle lesen, können wir uns in Zukunft die Bewertung ersparen – Amazon weiß längst Seite für Seite, was wir mögen und was nicht. Recommendation Engine – Empfehlungsmaschine – heißt die Technologie, mit der Amazon uns immer neue Vorschläge für Bücher unterbreiten wird, die uns aufgrund unseres bisherigen Leseverhaltens vermutlich gefallen werden.
Amazon nutzt diese Technologie schon seit Jahren, um uns anhand unserer bisherigen Käufe nicht nur von Büchern immer neue Produkte gezielt zum Kauf anzubieten. Aber bislang konnte dabei nur unser Verhalten – welche Produktseiten rufen wir auf, wie lange beschäftigen wir uns mit jeder Seite und welche Waren kaufen wir tatsächlich – berücksichtigt werden. Künftig wird unser Gesichtsausdruck mit ausgewertet, und damit verschafft sich Amazon – und viele andere Digitalkonzerne – einen direkten Zugang zu unserer Gefühlswelt. Eine erschreckende Zukunftsvision? Leider nicht, sondern der kommende technologische Schritt.
Bedenken wir: Jedes Smartphone, jedes Tablet, jeder Laptop ist mit einer Frontkamera ausgerüstet. Noch verfügen die wenigsten davon über eine automatische Gesichtserkennung, geschweige denn über eine Gefühlserkennung wie Apples Face-ID. Aber so sicher wie das Smartphone das Mobiltelefon abgelöst hat, so sicher werden künftig immer mehr Kameras in der Lage sein zu verfolgen, was wir denken und was wir fühlen.
Während sich Apple seit dem iPhone X und bei allen Nachfolgemodellen auf das einzelne Gesicht konzentriert, um das Gerät zu entsperren, setzt Facebook schon länger auf die massenhafte automatische Erkennung von Gesichtern.11
2018 nutzte Facebook das Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die uns eigentlich schützen soll, äußerst geschickt dazu, die automatische Gesichtserkennung auch in Deutschland einzuführen. Den Start in Deutschland begründete das Unternehmen damit – man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen – die Privatsphäre der Nutzer besser zu schützen. Der Slogan zur Einführung der automatischen Gesichtserkennung – „Facebook lässt Nutzer jetzt selbst entscheiden“12 – ist an Dummdreistigkeit kaum zu überbieten.
Wer glaubt, dass uns bereits so mancher Politiker mit seiner vieldeutigen und verklausulierten Kommunikationsstrategie für dumm verkaufen will oder zumindest zu verwirren versucht, der sollte erst einmal die Vertragsbedingungen der Digitalkonzerne unter die Lupe nehmen, denen wir bislang allesamt millionenfach zugestimmt haben. Unter vermeintlich langweiligem juristischem Kauderwelsch, verknüpft mit irreführender Marketingsprache, werden wir auf das geistige Niveau von Schafen herabgestuft, die aus Bequemlichkeit einfach alles abnicken oder besser gesagt abklicken.
Die Gesichtserkennung von Facebook ist nur ein Beispiel hierfür: Anhand des vom Nutzer selbst bereitgestellten Profilfotos und allen weiteren Fotos, auf denen er sich selbst markiert hat oder von Freunden markiert wurde, erstellt Facebook eine Art digitale Identifikationsmarke. Anschließend werden alle auf Facebook hochgeladenen Fotos auf Gemeinsamkeiten mit bekannten Bildern hin analysiert und erkannte Personen automatisch markiert. Fantastisch sagen die einen, gespenstisch meinen die anderen.
Welchen Zweck Facebook darüber hinaus mit den Milliarden Fotos verfolgt, verrät der Konzern nicht. Klar ist die aktuelle Rechtslage: Facebook ist ein US-Unternehmen und damit hat die US-Regierung Zugang zu allen Bildern, die von den Nutzern – also von uns – tagtäglich hochgeladen werden.
Völlig unklar ist der Umgang mit Fehlerkennungen. Was passiert, wenn man fälschlicherweise als eine ganz andere Person identifiziert wird? Es geht vielleicht noch als Scherz durch, vermeintlich auf einer Party markiert zu werden, die man niemals besucht hatte – obgleich auch das schon unangenehm sein kann. Stellen Sie sich jedoch vor, auf dieser Party passierte eine Straftat. Spätestens, wenn Ermittlungsbehörden Zugang zu derartigen Bildern erhalten, hört der Spaß auf. Dann läuft nämlich ausnahmslos jedermann Gefahr, durch eine fehlerhafte Bilderkennung in den Kreis von Verdächtigen zu geraten, die im Zusammenhang mit einem Verbrechen gesucht werden. Das einzige „Verbrechen“, das man dazu begehen muss: Man sieht einem anderen Menschen ähnlich.
Um seine Gesichtserkennung am Markt auf breiter Front einzuführen, setzt Facebook übrigens – wie in vielen dieser Fälle – schlichtweg auf die Bequemlichkeit seiner Nutzer. Standardmäßig ist die automatische Erkennung eingeschaltet. Wer die Funktion ausschalten will, muss die „Manage Data Settings“ finden, dort zwei Argumente lesen, warum er besser die Finger vom Abstellen lassen sollte, und kann das Feature erst dann deaktivieren. Zum Aktivieren genügt ein Klick, zum Deaktivieren sind drei Klicks notwendig. Getreu dem Motto: „Facebook lässt Nutzer jetzt selbst entscheiden“.
Auch hier zeigt sich mal wieder, wie sehr unsere Bequemlichkeit dazu missbraucht wird, um möglichst viele Informationen von uns zu erhalten. Das Schlimmste daran ist: Es funktioniert auch noch.
Um das Szenario der automatischen Gesichtserkennung zu Ende zu denken: Auf immer mehr öffentlichen Plätzen, in Stadien, in Gebäuden, in der U-Bahn und bei vielen anderen Gelegenheiten finden wir immer mehr Videokameras. Heute zeichnen sie auf, wer sich wo aufhält und wie er sich verhält. Wer will verhindern, dass sie künftig unsere Gesichter erkennen, unsere Gesichtsausdrücke interpretieren und damit wissen, was wir denken und fühlen?
Den „Höhepunkt“ bilden aber wohl Kameras und Mikrofone, die wir uns freiwillig in unsere eigenen vier Wände holen. George Orwell ging in seinem Roman „1984“ noch davon aus, dass der Staat Kameras in jeder Wohnung installiert, um die Bevölkerung zu bespitzeln. Er zeichnete das Szenario einer Gedankenpolizei, die durch die Fenster die Bevölkerung beobachtet. Die heutige und vor allem künftige Realität ist viel schlimmer: Wir kaufen uns die Geräte, die uns bespitzeln sogar freiwillig und stellen oder hängen sie in unseren Wohnungen auf. Am Ende erfreuen uns sogar noch an den Komfortfunktionen, die sie uns bringen, ohne zu ahnen, wie real damit „1984“ wird.