Die Chroniken von Enyria – Band 1 – Der Aufbruch des Lichts: High-Fantasy-Abenteuer um ein gestohlenes magisches Prisma - Hans Jürgens - E-Book

Die Chroniken von Enyria – Band 1 – Der Aufbruch des Lichts: High-Fantasy-Abenteuer um ein gestohlenes magisches Prisma E-Book

Hans Jürgens

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Beschreibung

Als das uralte Prisma – Herz des Gleichgewichts von Enyria – aus der Silberkuppel geraubt wird, breitet sich eine alles verschlingende Dunkelheit über Wälder, Wüsten und Himmelinseln aus. Luna, lichtgeborene Aerani, verbündet sich mit Feuermagier Tiko, Heilerin Mira, Schattenelf Nyro und Falkenreiter Avarius, um den gestohlenen Kristall zurückzuholen. Ihre Jagd führt sie durch Illusionsnebel, flüsternde Höhlen und das Sturmreich Nal’Gurak, wo Schattenfürst Vesh’Rar seine Schergen entsendet, das Licht ein für alle Mal zu löschen. Jeder Triumph verlangt Opfer, jede Entscheidung wiegt schwerer als die letzte – bis ein geheimnisvoller Splitter enthüllt, dass das Prisma mehr verbirgt, als irgendwer ahnte. Band 1 der „Chroniken von Enyria“ bietet rasante High-Fantasy-Action, Magie und tiefe Freundschaften – und endet mit einem epischen Cliffhanger, der direkt in Band 2 führt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 452

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hans Jürgens

Die Chroniken von Enyria

Band 1

Der Aufbruch des Lichts

© 2025 Hans Jürgens

Verlagslabel: Aerani-Verlag Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

Außerdem vom Autor:Die Chroniken von EnyriaBreach – Der RissDie Nullglocke

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Hans Jürgens, c/o Block Services Stuttgarter Str. 10670736 Fellbach, Germany. Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Alle Grafiken wurden mit Kling AI erstellt.

Illustration einer Karte von Enyria

Hans Jürgens

Die Chroniken von Enyria

Band 1

Der Aufbruch des Lichts

Für meine geschätzten Leserinnen und Leser

Luna

Vorwort: Schattengeflüster

Kapitel 1 Ein Fest voller Sternenglanzfrüchte

Kapitel 2 Ein Aufbruch ins Ungewisse

Kapitel 3 Durch den Nebelpass

Kapitel 4 Flüsternde Höhlen

Kapitel 5 Im Herzen der Dunkelheit

Kapitel 6 Die Armee des Schattenfürsten

Kapitel 7 Ein zerbrechliches Bündnis

Kapitel 8 Die Reise nach Ar’Thar

Kapitel 9 Stimmen der Surani

Kapitel 10 Verräterische Schatten

Kapitel 11 Die Jorroda

Kapitel 12 Das Erbe der Wasseraerani

Kapitel 13 Licht und Schatten

Kapitel 14 Die Schwebenden Inseln

Kapitel 15 Die Ratsversammlung des Lichts

Epilog: Schatten über Enyria

Glossar Die Chroniken von Enyria, Band 1

Danksagung

Vorwort: Schattengeflüster

Es gibt Geschichten, die flüstern – verborgen in alten Pergamenten, eingraviert in die Mauern zerfallener Ruinen. Und es gibt Geschichten, die rufen. Laut, unaufhaltsam, voller Sturm und Licht.

Dies ist eine solche Geschichte.

Willkommen in Enyria, einem Land, das an der Schwelle eines Zeitalters steht. Ein Ort, in dem das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten nicht nur eine Legende ist – sondern eine Macht, die Welten formt und zerstört.

Seit Jahrhunderten bewahrt das Prisma die Ordnung. Doch nun ist es verschwunden. Gestohlen. Entführt in die Dunkelheit, die ihre Fäden bereits über das Land spinnt. Und mit ihm schwindet die Hoffnung.

Doch noch gibt es jene, die den Mut haben, sich gegen den drohenden Abgrund zu stemmen. Eine junge Kriegerin mit Licht in den Adern. Ein Feuermagier, dessen Herz für Freiheit brennt. Eine Heilerin, deren Kräfte stärker sind, als sie ahnt. Ein Schattenelf, der gegen seine eigene Dunkelheit kämpft. Und ein Krieger der Lüfte, dessen Volk über dem Schicksal der Welt wacht.

Gemeinsam brechen sie auf, ohne zu wissen, ob sie den Sturm überleben werden.

Was würdest du tun, wenn die letzte Hoffnung auf deinen Schultern ruht?

Wenn der Feind in den Schatten lauert – und das Licht selbst zu zerbrechen droht?

Dies ist der erste Schritt in eine Reise voller Geheimnisse, uralter Mächte und Entscheidungen, die Enyria für immer verändern werden.

Die Dunkelheit erhebt sich.

Das Licht formt Helden.

Tritt ein. Die Geschichte beginnt.

Kapitel 1Ein Fest voller Sternenglanzfrüchte

Die ersten Sonnenstrahlen des Frühlingsglanzes krochen sacht durch das dichte Blätterdach des Lichtwaldes und malten wabernde, golden funkelnde Muster auf den weichen Waldboden. Während die Nacht noch in den Ecken des Unterholzes kauerte, zog sie sich nun langsam zurück und gab der Welt Stück für Stück ihre Farben zurück.

Frühlingsglanz – jene Jahreszeit in Enyria, in der die Bäume im Lichtwald zu leuchten beginnen und silberne Pollen durch die Luft tanzen, die nachts in träumerischem Glühen umherirren. Es war eine magische Zeit. Doch an diesem Tag hing eine ganz besondere Spannung in der Luft, ein erwartungsvolles Kribbeln: Das Fest der Sternenglanzfrüchte stand bevor.

Luna erwachte in ihrer Baumhütte, die hoch oben zwischen mächtigen Ästen ruhte und durch ein Netz aus Hängebrücken mit den anderen Behausungen verbunden war.

Sie lag auf ihrem einfachen, weichen Bett aus geflochtenen Blättern und Laubkissen, die mit duftendem Moos gefüllt waren. Als sie die Augen öffnete, spürte sie sofort die belebende Morgenluft, die durch die offenen Fenster strich. Ein sanfter Schimmer zog sich über ihre Haut – diese feinen, kristallinen Adern, die an ihren Schläfen und entlang ihrer Arme sichtbar waren, begannen wie auf einen inneren Impuls hin sachte zu glimmen.

Sie fühlte sich wunderbar leicht, doch eine Spur Unruhe blieb. Ein seltsamer Traum hatte sie in der Nacht verfolgt: Schatten, die lautlos durch einen endlosen Gang glitten, und ein Wispern, das ihr zuflüsterte, sie solle zum Herzen der Welt gehen.

Doch nun, im Morgenlicht, wich die Schwere des Traums. Sie setzte sich auf, fuhr mit der Hand über ihre langen Dreadlocks, die an den Spitzen ein violettes Schimmern aufwiesen, und atmete tief durch.

Irgendwo in der Ferne ertönte ein sanfter Ruf eines Mondhirsches, und das Rascheln von leuchtendem Laub verriet, dass die Lichtfalter bereits unterwegs waren – jene filigranen Schmetterlinge, die die Aerani als Boten der Magie verehrten. Kurz blieb Luna still sitzen, sog die Atmosphäre in sich auf und lauschte den Geräuschen des beginnenden Tages.

Ein paar Schritte entfernt, auf einem kleinen, dicken Ast nahe ihrer Tür, saß Kori, Lunas treuer Gefährte, ein Alyri-Jungtier. Kori war nicht viel größer als eine Katze, hatte weichen, schimmernden Pelz und bernsteinfarbene Augen, die stets wach und fragend in die Welt blickten. Sein Fell glitzerte – als wäre Sternenstaub in jedem seiner Haare eingefangen – besonders im Morgensonnenlicht. Ungeduldig zuckte sein buschiger Schwanz hin und her.

„Guten Morgen, Kori“, sagte Luna mit leiser Stimme, während sie aufstand und zu der kleinen Plattform trat, die den Eingang zur Hütte markierte. Kori quittierte das mit einem Fiepen, sprang flink auf ihre Schulter und schmiegte sich an sie. Sofort spürte sie die Wärme und die Vertrautheit, die dieses junge Alyri-Wesen ausstrahlte. Sie lächelte und spürte, wie etwaige Reste ihres düsteren Traums vergingen.

Luna trat hinaus, tastete mit bloßen Füßen das elastische Holz unter sich. Die Häuser im Lichtwald waren auf natürliche Weise mit den Bäumen verbunden, ohne Nägel oder Metall. Die Aerani besaßen das Wissen, lebendes Holz so zu formen, dass es stabile Plattformen ergab. Zwischen den Ästen waren Stege gespannt, filigran, aber dennoch sicher. Von irgendwo unter ihr hörte sie Stimmen, Gelächter und das Klappern von hölzernem Geschirr. Die Bewohner des Hauptdorfes Elarys waren bereits emsig dabei, alles für das Fest der Sternenglanzfrüchte vorzubereiten.

Dieses Fest – nur alle hundert Jahre gefeiert – war in seiner Magie und Schönheit unübertroffen. Die Sternenglanzfrüchte, die in dieser ganz besonderen Nacht ihre volle Leuchtkraft erreichten, galten als heilig. Wenn sie reiften, war der gesamte Wald in ein sanftes, silbernes Schimmern getaucht, und man sagte, ihre Energie nährte die Balance zwischen Licht und Schatten in Enyria.

Luna spürte ein beunruhigendes Ziehen tief in ihrer Brust. Schon seit Tagen quälten sie seltsame Träume, die sie am Morgen stets mit einem diffusen Gefühl der Bedrohung zurückließen. Ihre Eltern, Serenella und Orion, hatten versucht, sie zu beruhigen, doch Luna konnte sich nicht davon lösen, dass hinter diesen Träumen mehr steckte als nur Nervosität vor dem Fest.

Immer wieder blickte sie gedankenverloren in die Ferne, als erwarte sie dort Antworten auf ihre unausgesprochenen Fragen.

Leise wandte sie sich nach links, trat auf einen geschwungenen Steg und ging in Richtung des großen Versammlungsplatzes. Kori blieb auf ihrer Schulter, rieb seine weiche Schnauze gelegentlich an ihrem Hals. Unter ihr breitete sich ein majestätisches Gewirr aus mächtigen Wurzeln, Farnen und Moosen aus, die heute in der Morgensonne silbrig funkelten – ein Zeichen des Frühlingsglanzes.

Ein Geruch von frisch gebratenen Wurzeln stieg in ihre Nase, vermischt mit süßlichen Duftnoten von Sternenblüten. Sie hörte das Lachen von Kindern, die unten über moosige Lichtungen tobten. Jemand rief ihren Namen.

„Luna! Hier oben!“

Sie drehte sich und entdeckte Tiko, ihren langjährigen Freund, der auf einem benachbarten Ast stand. Tiko war ein Feueraerani aus Ar’Thar, worauf seine kupferroten Haare und bronzefarbene Haut hinwiesen. Schon immer hatte Tiko eine gewisse Rastlosigkeit an sich – ein ewig sprühendes Feuer, das sich in jeder Faser seines Wesens widerspiegelte.

„Kommst du runter? Oder soll ich gleich hier hochspringen?“ rief er grinsend, während er versuchte, einen Pfad über die Hängebrücken zu finden. Tiko trug wie üblich eng anliegende Lederriemen und sein rotes, kurzärmliges Oberteil, das auf der Brust ein gesticktes Flammensymbol zeigte. An seinem Gürtel baumelten einige Wurfmesser, denen man ansah, dass sie vermutlich kleine Feuerüberraschungen enthielten.

„Warte kurz! Ich komme zu dir rüber!“ rief Luna gut gelaunt zurück. Sie setzte sich in Bewegung, stieg eine kleine Holztreppe ab, um dann wieder über einen anderen Steg aufzusteigen. Währenddessen bemerkte sie den zarten Nebel, der durch die höheren Baumwipfel zog. Tatsächlich war es so, dass der Lichtwald niemals ganz stillstand. Die Bäume waren lebendig, atmeten ihre eigene Form der Magie aus, sodass man nie dieselbe Route zwei Mal hatte.

Als sie endlich auf Tiko traf, schenkte er ihr ein breites Lächeln. „Hey, bist du schon auf das Fest vorbereitet? Ich habe gehört, es gibt heute Nacht ein riesiges Feuerwerk.“ Seine Augen funkelten dabei. Tiko war bekannt dafür, dass er gerne mal eigene kleine Pyrotechnik-Shows veranstaltete.

Luna hob Kori von ihrer Schulter und setzte ihn behutsam auf einen Ast neben sich, damit sie besser mit Tiko reden konnte. „Ich freue mich wirklich sehr auf das Fest“, sagte Luna langsam und spielte nervös mit einer Haarsträhne. „Aber dieses Mal fühlt es sich anders an, Tiko. Als würde etwas auf uns zukommen, das größer und gefährlicher ist als alles zuvor.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und ihre Unruhe spiegelte sich deutlich in ihren Augen wider.“

Tiko lächelte unbekümmert, doch seine Stimme wurde ernst. „Ach, Luna, du und deine Vorahnungen. Vielleicht liegst du richtig – aber gerade deshalb bin ich ja hier.“ Er tätschelte demonstrativ seinen Gürtel, an dem die kleinen, funkelnden Feuerdolche baumelten. „Ich lasse dich bestimmt nicht allein, wenn es wirklich heiß hergeht.

Luna lächelte zaghaft. „Stimmt. Vielleicht habe ich einfach zu viel nachgedacht.“

Tiko deutete mit einer raschen Geste auf ihren Arm, auf die zarten Kristalladern, die leicht aufleuchteten.

„Deine Magie reagiert auf das, was im Wald geschieht, oder? Hast du das Gefühl, die Bäume sind nervös?“

Luna blickte nach unten, zu den Wurzeln und Farnen, die leise im Takt des Windes wippten. „Manchmal spüre ich… ich weiß nicht. Vielleicht ist es nur mein eigener Stress. Komm, lass uns runtergehen. Meine Mutter meinte, sie braucht noch Hilfe mit den Fruchtkörben, und dein abenteuerlicher Magen kann bestimmt was abstauben.“

Tiko lachte laut. „Einverstanden! Wenn man mich zum Essen ruft, kann ich nicht nein sagen.“

Die beiden stiegen eine Wendeltreppe hinab, die von dünnen, lebenden Lianen gehalten wurde. Währenddessen erzählte Tiko von seiner letzten Sprengstoff-Improvisation, mit der er beinahe die halbe Schmiede in Ar’Thar in die Luft gejagt hätte – natürlich nur fast, wie er betonte. Luna hörte ihm schmunzelnd zu, dankbar, dass seine fröhliche Art sie auf andere Gedanken brachte.

Unten angekommen, betraten sie die Hauptplattform des Dorfes Elarys, das Herz des Lichtwaldes. Hier bildete ein großer, kreisrunder Platz den zentralen Sammelpunkt. Umgeben von mächtigen Baumstämmen, in die Versammlungsräume oder Hallen hineingearbeitet waren, bot dieser Platz stets einen lebendigen Anblick. Heute war er von geschäftigen Aerani und auch von Besuchern anderer Völker erfüllt. In der Ferne erblickte Luna ein paar Wasseraerani, die sich staunend umsahen. Einige Vogel-Aerani hatten sich auf hohen Ästen niedergelassen, um die Szenerie von oben zu betrachten.

Der Boden war mit magischem Moos bedeckt, dessen sanfter Glanz bei jedem Schritt leuchtete. Es polsterte die Schritte und verbreitete einen angenehmen Geruch, der an Tannennadeln erinnerte. Reihen von Ständen, an denen Früchte, Kräuter, handgefertigte Amulette und andere kunstvolle Dinge feilgeboten wurden, umgaben den Platz.

„Das muss Mira sein!“ rief Tiko plötzlich und zeigte auf eine Wasser-Aerani, die mit silberblauen Haaren und einer luftigen, an den Seiten geschlitzten Robe durch die Menge schritt. Ihr Gesicht trug ein sanftes Lächeln, während sie mit jemandem sprach, der offenbar verletzt war – eine kleine Schnittwunde am Arm. Mira legte ihm sogleich die Hand auf, und ein sanftes Leuchten wie von klarem Quellwasser flammte auf. In wenigen Augenblicken war die Wunde geheilt.

„Lass uns Hallo sagen“, schlug Luna vor und setzte sich in Bewegung.

Mira bemerkte sie schon von Weitem, winkte freundlich und entschuldigte sich bei dem Aerani, dessen Wunde sie gerade geschlossen hatte. Mit gleitenden Schritten kam sie auf Luna und Tiko zu. Ein leichter Duft von Meersalz und Algen umwehte sie; ihr aquamariner Schmuck klirrte leise im Rhythmus ihrer Schritte.

„Luna, Tiko!“, begrüßte sie die beiden. „Wie schön, euch zu sehen. Was für ein herrlicher Tag, nicht wahr? Ich kann kaum glauben, dass das Fest der Sternenglanzfrüchte tatsächlich heute stattfindet. Es ist meine erste Teilnahme, seit ich in Aqualis aufgewachsen bin.“

Tiko grinste breit. „Na, hier wird es weniger nass sein als in deiner Unterwasserstadt. Aber wir haben genug feuchtfröhliche Stimmung, versprochen. Wir feiern die ganze Nacht.“

Mira lachte leise und strich sich eine Haarsträhne zurück. „Allerdings. Das ist heute wirklich etwas Besonderes. Es sind schon so viele Völker angereist. Ich habe sogar gesehen, dass Feueraerani und Schattenelfen gleichzeitig hier sind, ohne sich an die Gurgel zu gehen.“

„Schattenelfen?“ Luna spürte sofort ein kribbelndes Gefühl. Sie musste an Nyro denken, ihren Freund aus Kindheitstagen. Er war anders als andere Schattenelfen – ruhiger, verschlossener, aber von einer stillen Loyalität. Zugleich spürte sie bei ihm immer eine Spur Geheimnis.

Mira nickte. „Ja, sie scheinen abseits zu stehen. Ich nehme an, sie sind als Delegation gekommen. Auch die Vogel-Aerani und die Surani sind da. Sogar ein paar Jorroda aus den Arkanen Dünen habe ich gesehen, was eher selten ist. Es muss wirklich etwas Großes sein, das die Aerani alle hundert Jahre anlockt.“

„Das Fest ist immer etwas Besonderes“, meinte Luna und schaute kurz zu Tiko, der in diesem Moment an einem Stand stehenblieb, wo man geröstete Nüsse in einer leichten Glukruste anbot. Sie lachte, als sie sah, wie er gleich zwei Tüten davon kaufte und begann, sie begeistert in sich hineinzustopfen.

„Wo ist er eigentlich, dein Nyro?“, fragte Tiko kauend, während er herüberkam. Er hatte sich ganz offensichtlich halb verschluckt. „Du hast mir doch erzählt, er wolle auch rechtzeitig hier sein.“

Luna zuckte mit den Schultern. „Ich habe nur gehört, dass er zusammen mit seinem Panther Vael unterwegs sein soll. Wer weiß, wo er gerade steckt.“

„Vielleicht ist er da drüben“, warf Mira ein und deutete auf einen schlank gebauten Schattenelfen in einiger Entfernung, der schwarzviolette Kleidung trug. Ein großes Schwert schien an seinem Rücken befestigt zu sein, doch sein Gesicht war hinter einer Kapuze verborgen.

Sie traten näher, und der Fremde drehte sich herum. Es war nicht Nyro. Der Schattenelf musterte sie kurz mit kühlen, lila-grauen Augen und nickte lediglich. Er wirkte abweisend. Eine leichte Spannung entstand, aber da war auch kein offenes Feindseligkeitszeichen. Dann drehte er sich wieder um und verschwand zwischen den Ständen.

„Tja, dann eben nicht“, meinte Tiko, fügte aber mit einem spöttischen Unterton hinzu: „Die Schattenelfen sind eben immer etwas… speziell.“

Mira verzog leicht das Gesicht. „Ich finde das faszinierend. Wenn sie kommen, bedeutet das oft, dass sie eine wichtige Botschaft haben. Sie reisen selten ohne Grund weit weg von ihren Grenzregionen.“

„Vielleicht geht es um neue Handelsabkommen, wer weiß“, spekulierte Luna. Einen Moment legte sich ein Nachhall ihrer Träume über ihre Gedanken, etwas Dunkles, Ungewisses. Sie spürte, wie Kori, der in ihren Armen hockte, die Ohren aufstellte und neugierig den Kopf drehte.

„Habt ihr Avarius schon gesehen?“ fragte Mira dann.

Tiko schnaufte. „Dieser hochnäsige Vogelkönig? Der kreist bestimmt über uns und beobachtet erst mal die Lage, bevor er sich blicken lässt.“

„Hochnäsig ist er nicht“, widersprach Luna mit leisem Lächeln. „Er ist nur… sehr stolz und ehrenhaft. Eben ein Krieger der Lüfte, das merkt man in jeder Geste.“

Aus dem Augenwinkel sah sie plötzlich einen Schatten, der sich in hoher Geschwindigkeit näherte. Ein stechender Schrei durchschnitt die Luft, und eine mächtige Schwinge fegte über die Baumkronen. Ein stolzer, braun-goldener Falke stieß hinab und landete auf einer dickeren Astgabel unweit des Platzes.

„Sirael!“, rief Luna, während Mira fasziniert die Federn dieses imposanten Raubvogels bewunderte.

Tatsächlich tauchte nun Avarius auf. Groß gewachsen, mit einer dichten, winddurchlässigen Kleidung in dunklen Blautönen, sprang er geschickt von einer hängenden Brücke herab. Seine bernsteinfarbenen Augen spiegelten den Schein der Morgensonne wider, und sein Haar – vom Fluge zerzaust – umspielte seine kantigen Züge. Er lächelte leicht, als er die Gruppe erblickte.

„Grüße“, sagte er mit ruhiger Stimme, in der ein Hauch Waldesrauschen mitzuschwingen schien. „Ich hoffe, ich bin nicht zu spät. Der Wind stand günstig, also konnte ich von den Schwebenden Inseln direkt hierher gleiten.“

Er legte kurz die rechte Hand auf seine Brust und neigte den Kopf. Ein Aerani in der Nähe machte daraufhin respektvoll Platz, da er wohl wusste, dass Avarius ein angesehener Krieger seines Volkes war.

Tiko grinste und warf Avarius eine Tüte gerösteter Nüsse zu, die dieser geschickt auffing. „Zum Willkommensgruß. Hast du unterwegs wieder ein paar Wolken durchstochen?“

Avarius lachte kurz. „Möglicherweise. Ihr glaubt nicht, wie bunt das Wolkenmeer heute Morgen war. Von hier aus ist euer Lichtwald schon beeindruckend, aber von oben betrachtet sieht es aus wie ein grünes Meer, durchzogen von Silberadern.“

„Ganz so friedlich ist es nicht immer“, meinte Luna und spürte erneut, wie sich ein leichter Schatten in ihrem Innern regte. „Aber heute ist ein Tag des Feierns. Komm, wir sollten uns zu meiner Mutter begeben, damit wir gemeinsam helfen können. Sie braucht bestimmt jede Hand für den Festaufbau.“

Die Gruppe wanderte durch das bunte Treiben auf dem Hauptplatz. Überall hingen Girlanden aus Leuchtmoos, geflochtene Bänder aus Lichtseide und kunstvolle Laternen, die später am Abend in unzähligen Farben erstrahlen würden. Junge Aerani spielten auf hölzernen Flöten eine fröhliche Melodie, während der Duft von frisch geröstetem Brot, süßen Früchten und herben Kräuterpfannen durch die Luft zog.

Auf einer kleinen Erhöhung stand ein großer, mit Moos bedeckter Tisch, der vollgeladen war mit Körben, Tonkrügen und Schalen, in denen bereits erste Kostproben des Festmahls gesammelt wurden. Lunas Mutter, Serenella, war gerade damit beschäftigt, einige Sternenglanzfrüchte auf ihre Reife zu prüfen. Ihr Haar war kunstvoll in einem Kranz aus Blättern gebunden, was sie wie eine Priesterin der Natur wirken ließ, während ihre warmen Augen Luna ähnlich schimmerten.

„Luna, ich dachte schon, du würdest dich vor der Arbeit drücken“, rief sie lächelnd, als sie ihre Tochter erblickte. „Wir müssen sicherstellen, dass alle Körbe mit Sternenglanzfrüchten gefüllt sind, bevor der Abend kommt.

Die Früchte werden heute Nacht leuchten wie tausend kleine Monde. Und wer sie isst, dem wird Kraft und Heilung zuteil. Ganz zu schweigen von den Festtänzen, die bis zum Morgengrauen dauern werden.“

Luna lachte und trat näher. „Ich weiß, Mutter. Ich bin extra zeitig aufgestanden, um zu helfen.“

Serenella nickte den anderen zu. „Tiko, du bist auch immer willkommen. Aber bitte, pass auf, dass du nicht mehr Früchte verschlingst, als du trägst!“

Tiko spielte den Beleidigten. „Ich kann mich beherrschen, ehrlich! Nur manchmal… sie riechen so köstlich…“

Die Wassermagierin Mira und der Vogel-Aerani Avarius verbeugten sich leicht vor Serenella. „Wir werden natürlich ebenfalls helfen“, sagte Mira sanft. „Es ist das mindeste, was wir tun können, wo ihr uns so herzlich empfangen habt.“

Serenella lächelte dankbar. „Ihr seid alle Freunde dieses Waldes. Ich freue mich, dass ihr hier seid, um mit uns das bedeutendste Fest der Aerani zu feiern.“

Kori, der Alyri, sprang von Lunas Arm auf den Rand eines Obstkorbes und beschnupperte neugierig eine halb leuchtende Sternenglanzfrucht. Das Wesen schien fast hypnotisch von dem sanften Glimmen angezogen. Sachte tippte Kori mit seiner kleinen Pfote gegen die Schale der Frucht, woraufhin sich ein heller, zarter Schimmer ausbreitete.

Unterdessen schallte plötzlich Jubel vom anderen Ende des Platzes. Ein Trupp Feueraerani war eingetroffen, stolz, laut und farbenfroh, ihre roten Banner flatterten im Wind wie lodernde Flammen. Man konnte förmlich spüren, wie die Temperatur in ihrer Nähe anstieg. Tiko winkte ihnen kurz zu. Offenbar kannte er einige von ihnen aus seiner Heimat Ar’Thar.

„So viele Völker“, meinte Mira staunend. „Dieser Abend wird magisch.“

„Das war er schon immer, seit es das Fest gibt“, bestätigte Serenella. „Doch in diesem Jahr… nun, es heißt, alle hundert Jahre erstrahlt der Lichtwald besonders intensiv. Manche Legenden sagen, das Prisma selbst segne die Bäume, sodass sie eine Art Spiegelung dieses kosmischen Lichts tragen.“

Luna spürte ein Flattern in ihrer Brust, als das Wort „Prisma“ fiel. Das Prisma – jene zentrale Machtquelle Enyrias, die zwischen Licht und Schatten vermittelt. Es war die Essenz, die das Land vor extremen Klimaschwankungen bewahrte und das empfindliche Gleichgewicht sicherte. Alle Aerani waren mit ihm verbunden, doch niemand wusste exakt, wo sich sein Sitz befand, nur dass es in tiefer Symbiose mit der Natur stand.

Trotz ihrer Arbeit huschte Lunas Blick immer wieder über den Platz. Noch war von Nyro keine Spur. Vielleicht kam er später. Ihr Herz schlug etwas schneller bei der Erinnerung an ihr letztes Treffen – vor einigen Monden hatten sie ein Schattenwesen gemeinsam bekämpft, das in den Lichtwald eingedrungen war. Sie wusste noch genau, wie Nyro sich geschmeidig bewegt hatte, lautlos, beinahe eins mit der Dunkelheit, während sie selbst ihr Licht hatte aufleuchten lassen.

Aber heute war ein Tag der Freude. Sie warf die Gedanken an Gefahren und Schattenwesen erst einmal von sich, konzentrierte sich auf das Fest. Während die Stunden vergingen, füllte sich der Platz mit immer mehr Besuchern und Musik. Der Duft nach gebratenem Wild, süßen Backwaren und Kräuteraufläufen mischte sich mit den natürlichen Aromen des Waldes. Die Sonne stieg höher, und ihr Licht fiel durch die unzähligen Blätter, die in leuchtenden Grün- und Silbertönen schimmerten.

Wie vorausgesagt tauchte Avarius zwischendurch ab, um noch einmal mit seinem Falken Sirael eine kurze Patrouille über dem Wald zu fliegen – er mochte die Freiheit der Lüfte. Mira wiederum half fleißig beim Eintreffen diverser Gäste, kümmerte sich um leichte Blessuren, die manche Reisenden nach langen Wegen hatten. Tiko dagegen zischte durch die Reihen der Stände, führte hier und da ein Feuerspiel vor, amüsierte Kinder mit kleinen Funken, die aus seinen Fingerspitzen sprangen, und gönnte sich selbst mehr als einmal eine kulinarische Kostprobe.

Luna sortierte weitere Sternenglanzfrüchte, prüfte vorsichtig ihre Reife. Jede dieser Früchte war von einer dünnen, glitzernden Haut überzogen und strahlte ein schwaches, weiß-blaues Licht aus, das sich unter Sonneneinstrahlung kaum bemerkbar machte, nachts jedoch intensiver wurde. Man sagte, diese Leuchtkraft stamme aus dem Prisma selbst, und wer eine solche Frucht aß, dem verhalf sie zu Heilung und Klarheit.

Sie war gerade dabei, einige besonders reife Exemplare in einen gesonderten Korb zu legen, als ein Schatten auf sie fiel. Sie blickte auf und stieß einen freudigen Laut aus: Nyro stand da, in seiner typisch lautlosen Manier, Vael, der Panther, an seiner Seite.

Der Schattenelf trug eine dunkle Lederkleidung, die mit silbrigen Mustern verziert war. Seine Augen, in denen ein violetter Schimmer lag, musterten sie freundlich, und auf seinen Lippen lag ein kaum wahrnehmbares Lächeln.

„Nyro!“, rief Luna und spürte eine Welle der Erleichterung. „Ich habe dich schon vermisst. Wir dachten schon, du kommst nicht mehr.“

Nyro neigte leicht den Kopf, wirkte dabei immer etwas distanziert, als würde er seine Gefühle zügeln. „Ich bin… etwas aufgehalten worden. Vael und ich mussten noch sicherstellen, dass keine unnötigen Schattenwesen mehr in der Nähe streunen. Außerdem… Menschenaufläufe sind nicht gerade mein liebstes Umfeld.“

Er trat näher, und Vael – das riesige, schwarze Pantherwesen – strich an Lunas Beinen entlang. Für andere hätte das bedrohlich wirken können, doch Luna spürte das unterschwellige Wohlwollen. Vael akzeptierte sie wie kaum jemanden sonst.

„Schön, dass du da bist“, sagte sie leise und meinte es so. Sie deutete mit einer Handbewegung auf den Platz. „Willkommen beim Fest der Sternenglanzfrüchte. Du wirst staunen, Nyro. Dieses Mal ist es größer als je zuvor.“

Nyro ließ den Blick über die Menge schweifen. Seine Tattoos an den Unterarmen, feine, schwarze Linien, schienen leicht zu pulsieren. Er nickte. „Man spürt eine ungewöhnliche Energie. Als könnte jede Faser des Waldes bald zu singen beginnen.“

Sie lachte. „So ähnlich ist es auch. Hast du Tiko gesehen? Oder Mira und Avarius?“

„Tiko habe ich gleich erkannt. Er hat die halbe Bühne in Brand gesteckt, als er eine kleine Show vorführte – natürlich nur beinahe. Dann huschte er irgendwohin. Mira war bei einer Gruppe Wasseraerani, die neu ankam. Und Avarius kreiste über den Baumwipfeln.“

„Genauso habe ich sie in Erinnerung“, meinte Luna schelmisch lächelnd.

Ein leises Kichern entfuhr Tiko, der in diesem Moment tatsächlich direkt hinter Nyro auftauchte. „Alter Schattenelf, immer so leise. Ich werde mich nie daran gewöhnen.“

Nyro zuckte kaum wahrnehmbar, drehte sich aber. „Tiko. Ihr Feueraerani seid nur zu laut, um mich zu bemerken.“

Tiko klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. „Ich seh schon, ihr habt euch nicht verändert.“

Mira gesellte sich dazu, strahlend wie immer. Zusammen mit Avarius, der sogleich ein paar Federn aus seinen Haaren zupfte, damit er nicht ganz so zerzaust wirkte, standen nun alle fünf Freunde vereint. Im Abendlicht, das nun allmählich begann, sich golden über den Platz zu legen, wirkte die Gruppe beinahe wie ein eigenes, in sich geschlossenes Band – einer Familie gleich, die Enyria in ihrer ganzen Vielfalt repräsentierte: Licht, Feuer, Wasser, Luft und Schatten.

Serenella hatte das Nahen der Gruppe bemerkt und winkte ihnen zu. „Kommt, wir wollen gleich einen ersten Tanz beginnen, bevor die Nacht hereinbricht. Dann werdet ihr die ganze Magie des Lichtwaldes sehen.“

Kori, der Alyri, sprang auf Nyros Schulter und begann, mit seiner weichen Schnauze an Vaels Fell zu schnuppern. Der Panther brummte leise, halb geduldig, halb genervt, doch ließ es sich gefallen.

Luna und ihre Freunde stellten die Körbe beiseite. Man hörte das Zupfen von Saiteninstrumenten, einen sanften Trommelschlag. Inmitten des Platzes hatte sich ein Kreis gebildet, in dem junge Aerani tanzten, einige davon mit lumineszierenden Bändern, die sie durch die Luft wirbelten. Die leichte Dämmerung ließ die ersten Sterne erahnen, und genau zu diesem Zeitpunkt zeigten sich die schwebenden Pollen, die im Frühlingsglanz unverwechselbar waren. Sie glommen wie winzige Glühwürmchen, stiegen auf, senkten sich wieder, bildeten leise leuchtende Schleier.

Mit einem Mal füllte sich der gesamte Platz mit diesem sanften Funkeln, als wäre der Wald plötzlich von einem Sternenmeer umgeben. Ein Raunen ging durch die Menge: Einige schauten nach oben, wo sich die Kronen der Sternenglanzbäume in zartem Weißgold verfärbten. Andere waren fasziniert von den Pollen, die anmutig durch den Dunst tanzten.

Serenella trat in die Mitte des Kreises, hob beide Hände, und ein silbriges Licht breitete sich von ihren Fingerspitzen aus, kroch an den Stämmen der Bäume empor, verschmolz mit den Blättern, bis es aussah, als hätten die Bäume selbst Lichtadern.

Ein tiefer Gesang begann, leise, aus vielen Kehlen. Ein Gesang ohne feste Worte, eher ein harmonisches Summen, das die Aerani seit Generationen weitergegeben hatten. Er erzählte vom Werden und Vergehen, vom ewigen Kreislauf und von der Kraft, die in der Natur wohnte.

Luna, Tiko, Nyro, Mira und Avarius traten näher zusammen, ließen sich von der Melodie erfassen. Kori sprang zwischen ihnen hin und her, während Vael sich hinter Nyro auf den Boden legte. Die Musik füllte jeden Hohlraum des Herzens. Es war dieser Moment, in dem man spüren konnte, warum Enyria so lebendig, so gesegnet war.

Doch mitten in dieser Harmonie erfüllte Luna ein kühler Stich. Etwas, ein dunkler Vorahnungsschauer, ließ sie aufblicken. Lyara, der größte Mond, erschien am Horizont, fast silbern. Varin, der rötliche Mond, würde später folgen, und Sira, der kleinste, war wahrscheinlich noch gar nicht aufgegangen. Doch in diesem Augenblick wirkten die Mondlichter schärfer, als würden sie etwas Unheilvolles ankündigen.

Sie spürte Nyros Blick, der sie kurz musterte. Vielleicht hatte er denselben Hauch von Unruhe wahrgenommen. Doch noch waren es nur leise Zweifel, und die Musik wuchs.

Der Tanz begann sich zu beschleunigen, fröhliches Lachen erfüllte die Luft. Tiko und Avarius stürzten sich in den Kreis, formten rasch eine kleine Choreografie: Tiko wirbelte Flämmchen in die Luft, Avarius ließ mit seiner Windmagie einen spielerischen Luftzug entstehen, sodass die Funken umherfegten, ohne Schaden anzurichten. Die Zuschauer klatschten begeistert.

Mira schloss kurz die Augen, hob die Arme und beschwor einen feuchten, klaren Nebel, der sich ringförmig um sie legte und im silbrigen Schein glitzerte. Ein Raunen ging durch die Menge.

Nyro stand seitlich, betrachtete das Geschehen, ein leises Lächeln auf den Lippen. Vael blieb wachsam, scannte die Umgebung.

Luna beobachtete ihre Freunde mit warmer Zuneigung – wie unterschiedlich sie alle waren und doch eine verschworene Einheit bildeten. In diesem Augenblick war sie sicher, dass nichts sie trennen konnte.

Dann ging der Gesang in einen sanften, fast tranceartigen Rhythmus über, der die Anwesenden zum langsamen, kreisförmigen Tanzen einlud. Man reichte sich die Hände, drehte sich, tauschte Plätze, lachte, stieß an, umarmte sich. Die Sternenglanzfrüchte, die nun in manchen Schalen herumgereicht wurden, begannen in der zunehmenden Dunkelheit zart zu leuchten. Immer mehr Fackeln und Laternen entzündeten sich rund um den Platz, sodass ein Flickenteppich aus Lichtern entstand.

Und genau in dem Moment, als sich die Abenddämmerung vollends ins Dunkel neigte und die Nacht begann, da geschah es: Die Sternenglanzbäume rund um den Festplatz erhellten sich in einem fast überirdischen Strahlen. In jeder Krone leuchteten die Früchte wie funkelnde Sterne, hell genug, um die ganze Szene in eine sanfte Aura aus Silber und Weißgold zu tauchen. Die Menschen und Aerani legten staunend den Kopf in den Nacken.

„Das ist wunderschön“, flüsterte Mira. Ihre Augen spiegelten das Glühen wider.

Avarius stand reglos, beinahe ehrfürchtig. „So etwas habe ich von oben noch nie gesehen. Ich wusste, dass es leuchtet, aber diese Intensität…“

Tiko stieß einen erstaunten Pfiff aus, flammte kurz eine winzige Feuerkugel in seiner Hand auf, die sofort unterging in dieser Lichtpracht. „Meine Flamme ist dagegen ja fast nichts! Großartig!“

Nyro dagegen runzelte die Stirn. Er hatte den Blick in eine bestimmte Richtung gewandt, an den Rand des Platzes. „Seht ihr das?“

Noch bevor Luna fragen konnte, was er meinte, vernahm sie ein leises, unheimliches Raunen. Es klang, als träfe Metall auf Stein, begleitet von einem erstickten Röcheln. Rasch wandte sie sich um. War da nicht etwas zwischen den Bäumen?

Ein markerschütternder Schrei durchschnitt abrupt die feierliche Melodie, zerriss die Harmonie und ließ die Instrumente schlagartig verstummen. Ein metallisches Klirren folgte, gefolgt von ersticktem Röcheln, das sich wie ein giftiger Schatten über den Platz ausbreitete. Luna fuhr herum, ihre Finger krampften sich um die Griffe ihrer Dolche, und eine eisige Angst erfasste ihr Herz.

Die Feiernden hielten inne, drehten sich um. Am Rand des Versammlungsplatzes tauchte eine Gestalt auf, schwankend, den Körper gebeugt, als würde sie in jedem Schritt unerträgliche Schmerzen ertragen. Das Licht der Früchte fiel auf einen Aerani in zerschlissener Rüstung. Er war blutüberströmt, schwitzte, rang nach Atem.

Zuerst erkannte niemand ihn, dann stieß ein alter Clanführer ein entsetztes: „Das ist einer unserer Wächter!“ hervor.

Luna spürte, wie ihr Herz schlagartig in die Kehle schnellte. Der Wächter – offensichtlich schwer verletzt – stützte sich auf sein Schwert und stolperte weiter in die Richtung des Platzes, inmitten des Lichtermeeres, in dem eben noch pure Freude geherrscht hatte.

Einige Aerani liefen auf ihn zu, um ihm zu helfen, doch er hob mit letzter Kraft eine Hand, als wolle er sie abhalten.

Ein Schaudern ging durch die Menge. Man hörte, wie der Mann versuchte, etwas zu sagen, doch nur ein Krächzen kam heraus. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner Seite. Als er endlich nahe genug war, dass man sein Gesicht im Schein der Sternenglanzbäume deutlich sehen konnte, stiegen Schreie des Entsetzens auf: Sein linker Arm war von schwarzen Adern durchzogen, die aussahen wie die Spuren einer finsteren Magie.

„Die… Silberkuppel… brennt…“ stammelte er mit schmerzverzerrter Stimme, als jemand ihn stützen wollte. Er ließ sein Schwert klirrend zu Boden fallen. „Das… Prisma…“

Mit letzter Kraft starrte er in die Runde, seine Augen halb weiß, halb glühend vor Entsetzen. Ein Keuchen entrang seiner Kehle.

„Das Prisma… wurde… gestohlen!“

Lunas Herz setzte einen Schlag aus. Sie glaubte, falsch zu hören. Doch augenblicklich breitete sich eine Welle der Panik aus. Ein Murmeln, ein entsetztes Flüstern, das sich rasch steigerte. Das Prisma – Herz Enyrias, Garant für das Gleichgewicht. Gestohlen? Unmöglich, das durfte nicht sein.

Der Wächter sackte in die Knie. Serenella und andere eilten herbei, um ihn zu versorgen. Doch kaum legte jemand heilende Hände auf ihn, zuckten schwarze Blitze über seine Haut. Er bäumte sich auf, spuckte Blut und hauchte seinen letzten Atemzug mit einem schrecklichen Röcheln aus. Eine Schockwelle der Fassungslosigkeit lief durch die Menge.

Luna stand da wie erstarrt. Ihre kristallinen Adern begannen unkontrolliert zu leuchten, reagierten auf ihre innere Panik. Neben ihr verkrampfte Tiko die Fäuste, eine feine Flamme zuckte in seinen Augen. Mira schnappte nach Luft, Tränen der Bestürzung sammelten sich in ihren Wimpern. Avarius wirkte wütend und verletzlich zugleich, seine bernsteinfarbenen Augen flackerten. Nyro presste die Lippen zusammen, und Vael stieß ein leises Grollen aus.

In der Stille, die sich wie eine klamme Hand um alle legte, hörte man nur das Rauschen der Blätter. Die zuvor so festliche Stimmung fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Das Fest der Sternenglanzfrüchte – jener Moment, den man mit so viel Hoffnung, Freude und Licht verband – drohte im Schatten eines unfassbaren Verrats zu versinken.

Luna trat zitternd einen Schritt vor, neigte sich zu dem verstorbenen Wächter, dessen Blut auf dem Moosboden dunkle Flecken hinterließ. Sie sah das Entsetzen, das in seinem toten Gesicht eingefroren war. Was hatte er gesehen? Wer hatte das Prisma gestohlen?

Ihre Eltern knieten neben ihm, tauschten entsetzte Blicke. Andere Aerani redeten durcheinander, suchten Erklärungen, schrien, weinten. Doch niemand konnte begreifen, wie so etwas geschehen konnte.

Ein junger Krieger stammelte: „Das… das Prisma kann doch nicht einfach gestohlen werden. Es ist an die Welt gebunden…“

Doch die Wirklichkeit sprach eine andere Sprache. Irgendwo, in weiter Ferne, stieg eine bedrohliche Wolkenbank auf. Man spürte förmlich, wie sich die Energie in der Luft veränderte. Die Sternenglanzbäume, noch vor einer Minute strahlend wie ein funkelndes Wunder, begannen unruhig zu flackern – als würden sie selbst spüren, dass die Wurzel ihres Lichts in Gefahr war.

Luna schnappte verzweifelt nach Luft, ihr war, als zöge sich ein unsichtbares Band um ihre Brust zusammen. Sie spürte Kori an ihrem Bein, der sich verängstigt duckte, und legte instinktiv die Hand auf das flauschige Fell. Irgendwo neben ihr flackerte eine Flamme in Tikos Handfläche. Miras Augen wurden glasig. Avarius’ Falke Sirael stieß einen Warnschrei aus, und Vael fauchte unruhig.

Ein unerträglicher Verdacht drängte sich Luna auf, schnürte ihr die Kehle zu. Waren ihre Träume mehr als bloße Albträume gewesen? War es möglich, dass sie Warnungen empfangen hatte, die sie ignoriert hatte? Schuldgefühle und eine quälende Unsicherheit ergriffen sie, und sie musste tief Luft holen, um die aufkommende Übelkeit zurückzudrängen.

Wusste der Wald längst, dass etwas Schreckliches geschehen würde? Sie musste einen Moment gegen die Übelkeit ankämpfen, die in ihr hochstieg.

„Wie… wie ist das möglich?“ brachte sie mit zitternder Stimme hervor.

Nyro legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter, doch er wirkte selbst angespannt. Er schloss kurz die Augen, als würde er prüfen, ob im Umfeld Schattenmagie lauerte.

„Wir müssen herausfinden, was geschehen ist“, sagte er leise. „Es darf nicht wahr sein, doch…“

Serenella richtete sich auf und sah ihre Tochter an. Ihre Gesichtszüge waren von Trauer und Schock gezeichnet. Orion, Lunas Vater, stand neben ihr, ballte die Hände zu Fäusten, als könnte er es nicht fassen, dass in dieser heiligen Nacht Blut auf den Boden des Lichtwaldes geflossen war.

„Wir müssen die Hüter in der Silberkuppel verständigen“, sagte Orion rau. „Sie wissen vielleicht, was…“

„Vater, das hat er doch gesagt… die Silberkuppel brennt“, rief Luna, und ihre Stimme klang beinahe flehend.

In den Augen ihres Vaters lag Unglaube. „Das… ist unmöglich… Die Silberkuppel ist seit Jahrhunderten ein Ort des Wissens und der Sicherheit.“

Doch im gleichen Atemzug wusste jeder, dass der sterbende Wächter nicht gelogen hatte. Ein dunkles Grauen kroch in jeden Anwesenden.

Tiko, dessen Leidenschaft sonst im Feuer sprühte, stand mit zusammengebissenen Zähnen und zitternden Händen da. „Wer… oder was… könnte so etwas tun?“

Niemand antwortete. In Lunas Ohren rauschte es, als hörte sie noch immer den letzten keuchenden Atemzug des Wächters. Das Fest war jäh in einen Albtraum gekippt. Der Glanz der Früchte, der eben noch so wundersam war, wirkte nun fast ironisch – das Licht flackerte gegen eine drohende Dunkelheit.

Auf dem Platz war es still, keiner wagte mehr zu tanzen oder zu singen. Nur das Rascheln der Blätter war zu hören, das Klagen des Windes in den höheren Kronen, und hin und wieder ein leises Schluchzen. Fast alle Augen richteten sich auf Luna und ihre Freunde – sie, die in den letzten Monden einige Schattenwesen bezwungen und kleinere Angriffe abgewehrt hatten, galten vielen als Hoffnungsträger.

Luna atmete durch. Sie spürte, wie eine Verantwortung sie erfasste, größer als je zuvor. Das Prisma durfte nicht in Feindeshand bleiben, wenn sie nicht die ganze Welt in Finsternis stürzen wollte.

Die Nacht war endgültig hereingebrochen, und die Mondlichter fielen durch das Blätterdach, als sähen Lyara, Varin und Sira gemeinsam herab auf dieses Drama. In den Gesichtern der Anwesenden spiegelte sich Angst.

Langsam trat Luna vor, legte eine Hand auf den leblosen Körper des Wächters, als könnte sie seinem Geist Respekt erweisen. Ein Krieger der Aerani, der sein Leben gelassen hatte, um diese Nachricht zu überbringen. Ihr Hals fühlte sich zugeschnürt an, doch sie presste die Worte hervor, die in diesem Moment nötig waren.

„Wir müssen herausfinden, was dort geschehen ist“, sagte sie, laut genug, dass die Umstehenden es hörten. „Wir können nicht abwarten, bis die Dunkelheit den ganzen Wald, vielleicht sogar ganz Enyria verschlingt. Das Prisma ist… das Herz unserer Welt. Ohne es werden die Schatten wachsen, die Elemente ins Chaos stürzen. Egal wer es gestohlen hat, wir müssen es zurückholen. Oder…“ Sie schluckte. „…zumindest versuchen, es zu retten.“

Einigen Aerani schien das Hoffnung zu geben, andere blickten zweifelnd drein. In den Reihen gab es jedoch niemanden, der eine bessere Idee hatte.

Serenella trat an Lunas Seite. „Wir werden dir beistehen, aber… wir brauchen Verbündete. Keiner kann das allein schaffen. Das Fest – an dem so viele Völker teilgenommen haben – sollte eigentlich ein Zeichen des Friedens sein. Nun müssen wir diesen Frieden nutzen, um eine Allianz zu schmieden.“

Luna nickte. „Ja. Ich weiß. Ich werde mich mit meinen Freunden auf den Weg machen. Vielleicht…“ Sie spürte einen Kloß im Hals. Vielleicht war es bereits zu spät. Doch diese Worte sprach sie nicht aus.

Tiko verschränkte die Arme. „Ich bin dabei. Klar. Feuer gegen Schatten – das wird interessant.“

Mira, immer noch mit Tränen in den Augen, wisperte: „Ich komme mit. Meine Heilkräfte könnten gebraucht werden. Und… ich möchte verhindern, dass diese Dunkelheit noch mehr Unheil anrichtet.“

Avarius hob das Kinn. „Das ist nicht nur ein Problem der Aerani. Wenn das Prisma verschwunden ist, wird sich das auf ganz Enyria auswirken. Ich fliege nachher noch kurz zu den Schwebenden Inseln, um eine Warnung abzusetzen, aber dann werde ich mich anschließen.“

Nyro sagte nichts, doch man sah an seinem ernsten Blick, wie sehr er dieses Unheil spürte. Sein Panther Vael sträubte das Fell, als ahne auch er, dass eine schwere Reise bevorstand.

Die Lichter des Waldes wirkten nun kühler, fast verunsichert, als ob der Wald selbst zitterte. In der Ferne war ein einzelner Schrei zu hören, vielleicht ein Vogel, der aufschreckte. Irgendwo flackerten ein paar Fackeln. Das Fest war abrupt beendet; die Sternenglanzfrüchte leuchteten wie stumme Zeugen einer Katastrophe.

Nach und nach zogen sich die Bewohner in ihre Hütten zurück oder versammelten sich in kleinen Gruppen, um das Unfassbare zu bereden. Der Tote wurde fortgebracht, und einige Heiler versuchten – vergeblich – herauszufinden, welche dunkle Magie seinen Arm zerfressen hatte.

Luna starrte in den nächtlichen Himmel, wo Lyara klar und dominant leuchtete. Unter anderen Umständen hätte sie diese Nacht in Freude verbracht. Doch nun fühlte sie nur Unsicherheit und einen tief verwurzelten Schmerz. Kori schmiegte sich an sie, als wolle er ihr sagen, sie sei nicht allein.

„Wir brechen am Morgen auf“, flüsterte sie an niemanden Bestimmtes gewandt. Sie spürte den Blick ihrer Freunde. „Früh. Bevor sich die Spur kühlt. Vielleicht gibt es im Lichtwald schon Hinweise. Oder wir reisen direkt zur Silberkuppel, um nach Überlebenden zu suchen.“

Tiko nickte. „Ja. Und wir müssen uns wappnen. Wenn jemand das Prisma gestohlen hat, wird er nicht unbewacht herumlaufen.“

Mira rieb sich fröstelnd die Arme. „Wir sollten keine Zeit verlieren. Ich bin bereit, wenn ihr es seid.“

Avarius strich über die Federn an seinem Gürtel und sagte leise: „Mit der Morgendämmerung. In der Dunkelheit hat jener Feind womöglich einen Vorteil.“

Nyro schloss die Augen. „Wer auch immer das war… er wird sich wünschen, er hätte sich nie mit uns angelegt.“

Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, ein Schweigen, in dem sich ihre Entschlossenheit zu formen begann. Das Fest der Sternenglanzfrüchte war zu einem Vorboten der Dunkelheit geworden. Der Wald strahlte noch immer, doch sein Licht wirkte verletzt, als zöge sich bereits ein Schatten über die Herzen seiner Bewohner.

Luna legte die Hand sachte auf die Silhouette einer Sternenglanzfrucht, die neben ihr im Korb lag.

Ihr Schimmer war ein Symbol für das, was sie retten wollte – die Hoffnung, das Leben, den Frieden, den dieses Land verdiente.

Möge das Licht des Prismas sie leiten, dachte sie mit bebender Stimme in ihrem Inneren, auch wenn es nun entführt war. Sie spürte eine leise Antwort, ein vages Echo, das flüsterte, dass sie sich bereitmachen müsse für eine Reise, die Enyria verändern würde.

Und so endete dieser Tag, der in so strahlendem Glanz begonnen hatte, in einer Nacht, die von einem erschütternden Schicksalsschlag geprägt war. Das Prisma, Herz der Welt, war nicht mehr in seiner sicheren Existenz – es war gestohlen, entrissen aus der Obhut der Silberkuppel. Die Schatten, die in Lunas Träumen herumgeschlichen waren, waren nun über die Schwelle ihrer Realität getreten.

Während die Dunkelheit immer dichter wurde und Varin, der rötliche Mond, am Horizont emporstieg, schwor sich Luna, dass sie nicht ruhen würde, bis diese Katastrophe aufgehalten war. Die Sternenglanzfrüchte flimmerten noch eine Weile wie stumme Mahnmale. Dann sanken die ersten Nebel herab und hüllten den Lichtwald in ein weißes, stilles Tuch.

So begann das, was als Anfang der größten Krise Enyrias in die Geschichte eingehen würde – und keiner konnte ahnen, wie tief die Schatten tatsächlich reichten oder welche Opfer gebracht werden mussten, um das zerbrochene Gleichgewicht wieder herzustellen.

Kapitel 2Ein Aufbruch ins Ungewisse

Die ersten zarten Lichtstrahlen des neuen Morgens drangen sanft durch das noch dunstverhangene Blätterdach des Lichtwaldes, während ringsumher eine ungewöhnliche Stille herrschte. Das allabendliche Fest, das erst wenige Stunden zuvor jäh geendet war, schien weit weg. Was am Vorabend an Tanz, Lachen und glitzernden Sternenglanzfrüchten geherrscht hatte, wirkte nun wie eine Erinnerung aus einem fernen Traum. Und doch lag in der Luft das Drängen, unverzüglich zu handeln, weil sich die Welt mit einem Schlag verändert hatte:

Das Prisma – Herz und Gleichgewicht Enyrias – war gestohlen worden.

Luna saß auf der kleinen Plattform vor ihrem Baumhaus, die Füße über dem Rand baumelnd, und schaute in die Tiefe. Unter ihr wirkte der Lichtwald beinahe friedlich, doch die Bäume verharrten in einer eigentümlichen Starre, als würde auch ihnen erst dämmern, dass die Gefahr real war. Sie hatte kaum ein Auge zugemacht, ständig quälten sie die leblosen, anklagenden Augen des toten Wächters.

Seine letzten Worte verfolgten sie wie ein Echo, das nicht verstummen wollte. Was hätte sie tun können, um dies zu verhindern? Diese Frage nagte an ihr, und ein Gefühl von Hilflosigkeit breitete sich in ihrer Brust aus.

Seine Warnung hallte unablässig in ihrem Geist wider, während im Hintergrund das Fest zusammengebrochen war.

Kori, das Alyri-Jungtier, schmiegte sich eng an Lunas Seite. Seine bernsteinfarbenen Augen blickten in die ungewohnte Stille hinab. Noch vor einem Tag hatte er hier herumgetollt, war von Ast zu Ast gesprungen und hatte spielerisch Jagd auf funkelnde Pollen gemacht. Jetzt lag eine fast spürbare Bangigkeit in seinen zuckenden Ohren; er schien Lunas Gemütszustand zu teilen.

Ein leichter Wind strich durch die Kronen und brachte das Laub zum Rascheln. Der leichte Schimmer, der die Bäume des Lichtwaldes im Frühlingsglanz sonst belebte, wirkte heute matt. Immer wieder hatte Luna in den letzten Stunden darüber nachgedacht, wie man den Verlust des Prismas ungeschehen machen konnte. Doch niemand wusste, wer oder was es geraubt hatte. Doch Luna ahnte, dass die Schatten, vor denen ihre Träume sie warnten, näher waren, als es irgendjemand wahrhaben wollte.

Niemand konnte begreifen, wie ein Artefakt wie das Prisma, geschützt von uralter Magie, gestohlen werden konnte, ohne dass ganz Enyria davon erzitterte.

Die wenigen Worte, die der sterbende Wächter hervorgestoßen hatte – „Die Silberkuppel brennt… das Prisma wurde gestohlen…“ – ließen wenig Zweifel, dass sich dort eine Schlacht ereignet haben musste.

Luna spürte eine Mischung aus Zorn und Angst. Die Nacht über hatte sie mit ihrer Mutter, Serenella, und anderen Heilern noch versucht, wenigstens den Leichnam des Wächters zu untersuchen, um Spuren von dunkler Magie zu finden. Alles wirkte chaotisch: Verbliebene, schwarze Äderchen hatten sich in seine Haut gegraben, als wäre ein machtvoller Schattenfluss durch seine Venen geströmt. Noch immer fühlte Luna, wie ihr Herz sich zusammenzog, sobald sie an den Anblick dachte.

Doch jetzt, mit dem Anbruch des Tages, musste sie handeln. Gemeinsam mit ihren Freunden hatte sie beschlossen, früh aufzubrechen, um zur Silberkuppel zu reisen und Klarheit zu erlangen. Tiko, Mira, Nyro und Avarius waren ihre engsten Vertrauten, seit sie gemeinsam so manche Scharmützel gegen mysteriöse Schattenkreaturen im Wald bestanden hatten. Jede*r von ihnen kam aus unterschiedlichen Ecken Enyrias, aber dieses ungleiche Bündnis hatte sich bereits bewährt.

Sie erhob sich und blickte in Richtung eines weiteren hölzernen Steges, der zu einer benachbarten Baumplattform führte. Dort lag die Schmiede des Dorfes, wenn man es überhaupt eine Schmiede nennen konnte: Es handelte sich um eine halboffene Konstruktion, in der Aerani mit Kristallholz und magischen Runen arbeiteten. Der traditionelle Klang von Hammerschlägen kam allerdings nicht vom typischen Metallbearbeiten, sondern vom Bearbeiten von Lichtstahl, einer besonderen Legierung, die sich nur in Kombination mit der Waldmagie verarbeiten ließ. Luna wusste, dass viele Dorfbewohner damit beschäftigt waren, Waffen und Rüstungen zu inspizieren – für den Fall, dass weitere Angriffe folgten.

Ein Klang von Schritten lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Hauptsteg. Aus dem nahen Astgewirr schälte sich Tiko hervor, der sie mit einem flüchtigen Winken begrüßte. Er wirkte etwas übernächtigt – dunkle Ringe unter den Augen ließen vermuten, dass auch er kaum geschlafen hatte.

„Bist du bereit?“ fragte er. Sein kupferrotes Haar stand wirr in alle Richtungen, was ihm noch einen leicht verwegenen Anstrich gab.

Luna nickte langsam. Sie strich Kori sacht über das Fell und ließ das Alyri-Wesen auf ihrem Arm Platz nehmen. Dann ging sie einige Schritte auf Tiko zu. „Ich wünschte, wir könnten einfach ein wenig mehr wissen, bevor wir uns ins Ungewisse stürzen. Aber wir haben keine Wahl, oder?“

Tiko seufzte und hob die Schultern. „Das Prisma ist fort, und jeder Tag, den wir warten, könnte kostbar sein. Außerdem brennt die Silberkuppel vielleicht immer noch – wer weiß, ob dort überhaupt noch Überlebende sind. Ich habe gehört, mindestens einer aus dem Ältestenrat soll dort gewesen sein, um an den Ritualvorbereitungen teilzunehmen. Wir müssen sicherstellen, dass wir helfen können.“

Luna tat einen tiefen Atemzug. „Wo sind die anderen?“

„Nyro und Vael haben schon das Dorfgelände abgesucht. Er wollte wohl sicherstellen, dass keine weiteren Schattenkreaturen in den Wald eingedrungen sind. Mira hat vorhin im Versammlungsraum mit deiner Mutter gesprochen. Und Avarius…“ Tiko machte ein schiefes Gesicht. „…der fliegt wieder seine Patrouille.“

„Natürlich.“ Luna lächelte trotz der bedrückenden Stimmung. Avarius hätte niemals zu Fuß irgendwohin gehen wollen, wenn er die Alternative hatte, von oben zu spähen.

Doch seine Erkundungsflüge konnten nützlich sein. Vielleicht würde er einen Überblick haben über die Richtung, in der sich seltsame Rauchschwaden zeigten.

Gemeinsam gingen sie über die Stege hinab zur großen Hauptplattform, auf der sich am Vorabend das Fest abgespielt hatte. Was am Abend zuvor noch festlich mit Kränzen, Musik und leuchtenden Bändern geschmückt gewesen war, lag nun in einer Art trostloser Unordnung.

Viele der Aerani waren nach dem Ereignis erstarrt, einige hatten hastig zusammengeräumt und sich dann in ihre Hütten zurückgezogen. Überall standen oder hockten einzelne Grüppchen von Dorfbewohnern, die ins Leere blickten oder leise miteinander tuschelten, offensichtlich ratlos darüber, was als Nächstes zu tun sei.

Auf einer Bank, die aus einem mächtigen, lebenden Wurzelgeflecht geformt war, saß Mira und sprach mit Serenella. Die Wasseraerani sah wie immer anmutig aus, doch in ihrem Blick lag dieselbe Besorgnis, die Luna selbst empfand. Mira hatte offensichtlich ihre wenigen Habseligkeiten schon um die Hüften und Schultern geschnallt – sie trug eine kleine Umhängetasche, darin vermutlich Kräuter, Heiltränke und andere nützliche Dinge, die sie für die bevorstehende Reise brauchen würde.

Als Luna und Tiko sich näherten, erhob sich Mira, verabschiedete sich noch kurz von Serenella mit einer sanften Umarmung und kam dann zu ihnen. „Sie wird uns alle Segnungen mitgeben, die in ihrer Macht stehen“, sagte Mira mit leiser Stimme. „Die Aerani hier sind aufgewühlt, viele fürchten sich.

Aber Serenella sagt, wir sollen keine Zeit verschwenden. Es ist am klügsten, wenn wir uns so schnell wie möglich zum Ort des Geschehens begeben.“

Luna nickte, während sie einen Blick über die zertrümmerte Festdekoration schweifen ließ. „Ich habe das Gefühl, jeder sehnt sich nach einer Erklärung. Niemand hier versteht, wie so etwas passieren konnte. Das Prisma schien unantastbar.“

Tiko presste die Lippen zusammen. „Kann sein, dass wir die Antworten in der Silberkuppel finden. Oder zumindest Hinweise darauf, wer dahintersteckt.“

In diesem Moment stieg Nyro aus einer tieferen Ebene empor. Er schien wie ein Teil des Schattens aus den Wurzeln zu gleiten, Vael, der schwarze Panther, an seiner Seite. Die Anwesenheit des Schattenelfen brachte manche Dorfbewohner dazu, kurzzeitig aufzustarren. Obwohl sich das Verhältnis zwischen Aerani und Schattenelfen in den letzten Jahren leicht gebessert hatte, lastete immer noch ein altes Misstrauen auf diesen Begegnungen.

Nyro kam lautlos näher, Vaels geschmeidige Schritte kaum hörbar. Als der Panther an Tiko vorbeistrich, zuckte Tiko kaum merklich zurück, gefolgt von einem winzigen Lächeln, weil Vaels eindrucksvolle Präsenz ihn stets aus dem Konzept brachte.

„Ich habe den äußeren Bereich des Dorfes gesichert“, erklärte Nyro leise, während sein Blick Luna streifte. „Nichts Ungewöhnliches. Aber die Tiere des Waldes sind unruhig. Die Vögel haben heute früh eine seltsame Flugbahn genommen, als ob sie fliehen wollten.“

Mira legte eine Hand auf Nyros Schulter, was dieser nur stumm zur Kenntnis nahm. „Gut, dass du aufgepasst hast.

Wir wollen in wenigen Minuten aufbrechen. Wir erwarten nur noch Avarius. Ich hoffe, er taucht bald auf.“

Fast in diesem Augenblick zerriss ein hoher, durchdringender Ruf die Stille: Sirael, der Falke, schoss über die hohen Baumkronen hinweg, ließ einen weiteren Schrei erklingen und machte eine weite Schleife, bevor er auf einem Ast an der Hauptplattform landete. Kurz darauf war im Halbdunkel der oberen Äste eine Bewegung zu erkennen, und wie ein Schatten aus dem Morgenlicht glitt Avarius herab. Seine Kleidung in dunklen Blautönen war am Rand vom Tau der frühen Stunden befeuchtet.

Der Vogel-Aerani lief geschmeidig über eine Brücke, sprang das letzte Stück zu Boden und trat zu den Gefährten. Sein Blick war wachsam, in den bernsteinfarbenen Augen flackerte die Anspannung, die alle teilten. „Ich bin die nähere Umgebung abgeflogen und habe in der Ferne Rauch aufsteigen sehen, Richtung Nordwesten. Nicht mehr so dicht, vermutlich brennen dort nur noch Überreste. Das könnte die Silberkuppel sein.

Darüber hinaus war es ungewöhnlich still. Keine größeren Patrouillen, die ich erkennen konnte. Kein offensichtliches Heer. Doch das heißt nichts – wer immer das getan hat, kann sich jetzt irgendwo verbarrikadiert haben.“

Luna atmete durch, sah in die Runde. „Dann steht fest, dass wir dorthin müssen. Meine Mutter hat mir gesagt, sie wird hierbleiben und den Wald beschützen. Die Aerani wollen versuchen, nicht in blinde Panik zu verfallen, solange wir nach Antworten suchen. Wenn nötig, werden sie den Rat der Ältesten der Aerani zusammenrufen und jede Hilfe organisieren, die wir brauchen.“

Nyro zuckte mit den Schultern. „Wir sollten keine Zeit mehr verlieren.“

Tiko, der offensichtlich seine gesamte Tagesration an Verrücktheit zurückhalten musste, versuchte die Situation ein wenig aufzulockern: „Nun, wenn’s brenzlig wird, könnt ihr auf meine Feuerchen zählen. Dann sollte jeder Schattenspuk das Weite suchen.“

Mira schmunzelte flüchtig, doch ihre Augen verrieten, wie ernst sie die Lage nahm. „Hoffen wir, dass wir nicht gleich auf noch mehr Tod stoßen. Das Gestern war schon Schock genug.“ Avarius verstaute seine Dolche in den Schlaufen seines Gürtels. „Lasst uns gehen. Je schneller wir dort ankommen, desto besser.“

Gemeinsam passierten sie eine Brücke, die sich vom Hauptdorf weg in Richtung Westen spannte. Unterwegs sahen sie vereinzelt Aerani-Kinder, die ihnen mit großen, ängstlichen Augen nachsahen. Erwachsene nickten den Freunden zu, ihre Mienen gezeichnet von Schock, aber auch von der vagen Hoffnung, dass diese kleine Gruppe das Unmögliche leisten könnte.

Am äußersten Rand des Dorfes, wo die Baumhäuser sich lichteten und wieder Pfade auf dem Waldboden verliefen, wurden sie von Orion, Lunas Vater, erwartet. Er war ein erfahrener Waldläufer, dessen grüne Rüstung aus einem flexiblen, magisch verstärkten Holzmix bestand. Man sah ihm die Schlaflosigkeit an, doch sein Griff um den Bogen war fest.

„Luna, meine Tochter.“ Er trat zu ihr, legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, deine Mutter und ich können dich nicht aufhalten, und das wollen wir auch nicht.

Das Prisma braucht jeden Mut, den Enyria aufzubringen vermag. Aber sei vorsichtig. Diese Macht… die so etwas zustande bringt… wir haben sie noch nie gesehen.“

Luna nickte stumm, war dankbar für seinen Segen. „Ich werde zurückkommen. Wir alle.“

Orion ließ seinen Blick über Tiko, Mira, Nyro und Avarius gleiten. „Passt auf euch auf. Wer immer das angerichtet hat, hatte nicht nur die Silberkuppel im Visier, sondern sich an der Lebensader unserer Welt vergriffen. Rechnet mit allem.“

Ein kurzer Moment des Schweigens folgte, dann nickten alle. Vael, der Panther, knurrte leise, als würde er Lunas Vater ebenfalls versichern, wachsam zu bleiben. Kurz darauf setzten sie ihren Weg fort.

Der Pfad in den Lichtwald hinein war gerade zu dieser frühen Morgenstunde von Nebelschleiern durchzogen, die in silbrigem Glanz schimmerten. Normalerweise mochte Luna diese Szene – es war, als wandere man durch weiche Watte, während sich gelegentlich Sonnenstrahlen in tanzenden Staubpartikeln brachen. Doch heute lastete eine beklemmende Stille auf allem. Kein Vogel sang, nur hin und wieder huschte ein Eichhörnchen oder ein kleineres Waldbewohnerchen vor ihnen davon.

Luna ging voraus, Kori trabte mit aufgestellten Ohren an ihrer Seite, Tiko und Mira folgten, dann kamen Nyro und Vael, und Avarius hielt sich an den Rand, stets bereit, bei Bedarf abzuheben und die Baumkronen als Aussichtspunkt zu nutzen.

Ihre Reise führte sie über Wurzeln, die wie geschwungene Brücken aus dem Boden ragten. Manche davon waren überzogen mit phosphoreszierendem Moos, das auch am Tag leicht glimmerte. In einer lichten Stelle des Waldes entdeckten sie niedergedrückte Farne, die aussahen, als wären Kämpfe ausgetragen worden – abgebrochene Äste, Fußspuren, tiefe Furchen im feuchten Waldboden. Tiko beugte sich hinab und strich mit den Fingern über die Erde.

„Das ist keine alte Spur“, flüsterte er. „Vielleicht ein Tag alt. Schwerer Kampf… oder etwas Großes, das sich hier hindurchgezwängt hat.“