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In den schwebenden Docks von Arkopolis kämpft die junge Hexenschülerin Ellie Ashcroft um Freiheit, Anerkennung – und ein Geheimnis, das ihr Leben verändern wird. Zwischen dampfenden Maschinen, geheimen Zauberstudien und der ständigen Überwachung durch die Geheimpolizei MI 13 führt sie ein Doppelleben: tagsüber Dockarbeiterin, nachts rebellische Runenforscherin. Als die alte Taschenuhr ihres verschollenen Vaters zu pulsieren beginnt, entfesselt sie unbeabsichtigt ein uraltes, außerweltliches Artefakt – den Crown-Seed. Bald wird Ellie von Hexenzirkeln, Spionen und rivalisierenden Mächten gejagt. Doch sie ist nicht allein: Ein biomechanischer Scout-Drache aus einer fernen Welt hat ihre Spur aufgenommen – und in seinem Blick liegt mehr als bloße Neugier. „Funkennacht“ ist der atemberaubende Auftakt einer Steampunk-Fantasy-Saga voller Magie, Maschinen, Geheimnissen – und der Frage, wie viel Mut es braucht, um die eigene Bestimmung zu ergreifen.
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2025
FUNKENNACHT
Die Drachenfunken-Saga
Episode 1
Hans Jürgens
7th-Realm-Verlag
© 2025 Hans Jürgens
Hochauflösende Artworks, Karten & Making-of-Notizen findest du jederzeit unter https://7threalm.online/projekte/drachenfunken/
Die Werkstätten von Arkopolis stehen dir offen.
Diese Geschichte gehört dir
ja, genau dir,
die*der du gerade umblätterst.
Inhalt
Prolog – Das Funkenherz im Eis
Kapitel 1 – Zwischen Dampf und Wolken
Kapitel 2 – Über Schwerkraft und Schwindel★
Kapitel 3 – Kohleschwestern★
Kapitel 4 – Coven und Cola★
Kapitel 5 – Sirenen im Aether
Kapitel 6 – Kamien erwacht★
Kapitel 7 – Symbiose-Funken★
Danksagung
Charakter-Glossar (Episode 1)
Impressum
Stadtansicht von Arkopolis und London
EPISODE 1 von 6
Prolog – Das Funkenherz im Eis
Gideon Ashcroft hörte den Wind klagend über das Eis fegen, während er durch den Schnee stapfte und seine Füße kaum noch spürte. Seit Wochen lebte er in dieser unbarmherzigen Polarwelt. Die Hunde waren erschöpft und der Stahlbeschlag einer Schlittenkufe unter einem heimtückischen Schneekamm geborsten. Die Sonne am Horizont schimmerte müde und das Weiß der Gletscher verschluckte jeden Sinn für Weite.
Er war ein hochgewachsener Mann mit drahtiger Statur und wettergegerbtem Gesicht, dessen Bartstoppeln von Eis kristallin überzogen waren. Sein Parka aus dickem Leder, mehrfach geflickt und mit Fellen verstärkt, bot nur bedingt Schutz vor den klirrenden Böen. Doch Gideon war nicht der Typ, der sich von Kälte und Sturm abschrecken ließ.
Seine Mission, veranlasst vom Hermetic College und einigen königlichen Stellen, bestand darin, in dieser entlegenen Region nach ungewöhnlichen Aetherium-Vorkommen zu suchen, deren Energie Luftschiffe über halbe Kontinente treiben könnte. Gerüchte hatten besagt, in der Tiefe der Gletscher schlummerten besondere Kristalle, die vielleicht dem Empire neue Energiequellen liefern könnten. Doch Tag für Tag hatte Gideon nichts entdeckt außer Fels, Schnee und schneidendem Wind.
Gerade wollte er umkehren, da fiel sein Blick auf einen eigenartigen Schimmer, der von einer aufgebrochenen Eiswand ausging.
In dieser Umgebung wirkte schon ein matter Lichtreflex wie ein Versprechen. Also stemmte er sich gegen das Pfeifen des Sturms und trat an die Stelle heran, wo grüne und goldene Reflexe im Eis tanzten.
Mit klammen Fingern und einem einfachen Taschenmesser begann er, das gefrorene Geröll abzukratzen. Sein Atem fraß sich in weißen Schwaden durch den Stoff vor seinem Gesicht. Er kniete sich auf den harten Boden, der unter einer dünnen Schicht Pulverschnee verborgen war, und stocherte vorsichtig weiter. Da, zwischen den trübblau schimmernden Eisschichten, erkannte er etwas Rundes: ein glattpolierter Stein? Ein Kristall? Er wusste es nicht genau, doch er sah eine grüne, leicht transluzente Oberfläche, durchzogen von feinen Goldadern wie ein filigranes Wurzelwerk.
Sachte legte Gideon mehr frei. Im Schein seiner Stirnlampe zeigte sich ein ovales Objekt, kaum größer als eine große Walnuss, aber von seltsamem Gewicht, als er es endlich in seine Hand nahm. Der Stein wirkte beinah warm, was in dieser klirrenden Umgebung unmöglich schien. Gideon runzelte die Stirn, spürte ein leichtes Prickeln in den Fingerkuppen. Er war kein Hexenmeister, aber er hatte schon genug Aetherium-Proben gesehen, um zu wissen, dass dies hier anders war. Es fühlte sich… lebendiger an.
„Was zum Teufel bist du?“ Seine Stimme kam heiser über die spröden Lippen, fast verschluckt vom Tosen des Sturms. Er hatte schon viel Seltsames gefunden auf seinen Reisen, doch dieses Fundstück besaß eine beinahe unheimliche Schönheit.
Viel Zeit zum Grübeln hatte er nicht, denn der Schneefall wurde stärker, und ein unangenehmes Ziehen in seinen Gliedern sagte ihm, dass die Temperaturen weiter fielen. Ehe er sich in die Basis zurückzog, wickelte er den Kristall provisorisch in ein Tuch und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke.
Später, als er fröstelnd in der notdürftig beheizten Zeltbaracke saß und die klammen Lederhandschuhe zum Trocknen über den Kanonenofen gehängt hatte, betrachtete er das Objekt im warmen Schein einer Petroleumlampe genauer. Es war nicht so groß, aber schwer in seiner Handfläche, als läge dichte Substanz darin. Wenn er es leicht kippte, glühten die Goldadern im Inneren wie heiße Drähte. Ein Hauch von Energie pochte darin. Gideon konnte es nur ahnen, aber irgendetwas in ihm sagte, dass dieser Fund auf keinen Fall ein simpler Eisbrocken war.
Gideon zügelte seine Neugier nur mühsam, doch er hatte auch gelernt, seine Entdeckungen zu schützen. Deshalb nahm er seine alte Messing-Taschenuhr hervor, ein Erbstück von seinem eigenen Vater. Die Uhr lief längst nicht mehr, ihre Zeiger standen seit Jahren auf 2Uhr, und der Boden war zerkratzt.
Mit einem kleinen Schraubenzieher, den er stets bei sich trug, nahm er das Rückgehäuse ab, bastelte die kaputten Zahnrädchen heraus und schuf einen ausgehöhlten Raum. Der grün-goldene Kristall passte erst nach kurzem Nachfeilen exakt hinein.
„Da soll mir einer sagen, das sei Zufall“, murmelte er, als er den Boden zudrückte und die Uhr wieder schloss. Einen kurzen Moment meinte er sogar, ein sachtes Pulsieren durch das Messing zu spüren, so als hätte sich das Fundstück an sein neues Gehäuse gewöhnt. Aber Gideon war zu erschöpft, um sich in Vermutungen zu verlieren.
Später, als der Kanonenofen nur noch glühte und der Wind an der Zelthaut zerrte, klappte er sein zerfleddertes Feldjournal auf und schrieb mit stockender Tinte:„Expeditionstag47–14.November1891– 67°19'S, 30°08'W. Grünes Kernfragment, warm trotz –41°C. Pulsfrequenz ca.3Hz, reagiert auf Hautkontakt. Probenanalyse im College zwingend.“Die letzte Zeile brach ab, als die Feder hart aufs Papier stieß; ein klecksiger Punkt, der wie ein eingefrorenes Fragezeichen wirkte. Er wollte nur noch schlafen und träumen, vielleicht davon, wie er bald in Arkopolis ankäme und dem Hermetic College dieses rätselhafte Relikt präsentierte.
Doch Gideons Rückkehr nach Arkopolis sollte nie erfolgen. Nur drei Tage nach seinem Fund brach er – begleitet von zwei erfahrenen Schlittenführern – zu einer letzten Sondierungsfahrt auf, als ein unerwarteter Polarblizzard das Lager verschlang. »Ashcroft, der Grat bricht!« brüllte einer der Schlittenführer, während der Sturm alles verschlang. Suchtrupps berichteten später von grellgrünen Entladungen, die über dem Eis zuckten, gefolgt von einem dumpfen Grollen, als eine Gletscherbrücke barst und Schlitten, Hunde und Männer in die aufgerissene Tiefe riss.
Tage später, im aufgeweichten Schnee der Randmoräne, fand man nur zersplitterte Holzkufen und einen einzigen, verstörten Hund. Von Gideon fehlte jede Spur. Die Krone erklärte ihn offiziell für verschollen, das Hermetic College beklagte den Verlust seines brillantesten Feldforschers, und bald kursierten Gerüchte, er sei einem „Aetherlicht-Gewitter“ zum Opfer gefallen.
Rücktransport 1892
Seine spärliche Habe fand erst nach vielen Monaten den Weg nach Victoria Arkopolis. Darunter jene scheinbar wertlose Taschenuhr, die irgendwann in den Besitz seiner damals noch jungen Tochter überging. Das Mädchen, das Gideon kaum gekannt hatte, hütete die Uhr zunächst nur als Andenken, unwissend, was darin verborgen lag.
Zwölf Jahre verstrichen seit jener Nacht im Eis.
In der Gegenwart, etliche Hunderte Meilen entfernt von jeder Polregion, sah Ellie Victoria Arkopolis über dem dunstigen Themse-Becken schweben. Vier riesige Aetherium-Säulen, die in Kupferstrebwerken eingefasst waren, hielten die Plattform in der Höhe, während dampfende Maschinen und schimmernde Antriebsringe an den Rändern die Stadt stabilisierten. Von unten sah es aus, als würde ein gewaltiges Metallschiff reglos in den Wolken hängen, gekrönt von Kuppeln, Türmen und etlichen Dockanlagen, die wie hölzerne Ausleger aus dem Rumpf ragten.
Diese Stadt war das Herz des britischen Aether-Imperiums: ein Ort, an dem Dampf, Magie und Fortschritt sich zu einem einzigartigen Schaubild vereinten. Auf dem oberen Crown-Deck thronten viktorianische Villen, das Parlament, die Abteilungen des Hermetic College und die Regierungsbüros. Tiefer unten, in den Schattenschichten der Plattform, drängten sich Maschinenhallen, Fabriken und Arbeiterquartiere. Dort paarten sich Funkenregen aus Schmiedeblöcken mit dem Ruß der Kesselanlagen.
Noch weiter hinaus, an der Westflanke, lagen die gewaltigen Sky-Docks. Hölzerne Stege und Verladekräne reihten sich aneinander, teils an Seilen aufgehängt, teils auf eisernen Streben verankert. Luftschiffe kamen und gingen, brachten Waren aus den Kolonien oder vom Festland, beförderten Beamte, Forscher und Händler. Für Außenstehende wirkte das Treiben in den Sky-Docks wie ein waghalsiges Ballett über dem Abgrund, denn ein Fehltritt konnte einen Hunderte Meter tief in die Wolken stürzen.
Ellie Ashcroft, heute einundzwanzig Jahre alt, war hier zuhause. Sie lebte in einem winzigen Schlafraum eines rostigen Containerhauses, das am Rand der Dock-Ebene hing. Der Ausblick aus ihrem schmalen Fenster war atemberaubend, wenn auch oft von Nebel oder Rußschwaden getrübt. Dass die Plattform unter ihren Füßen irgendwann versagen könnte, hatte sie nie beunruhigt; sie kannte es nicht anders.
Man sah ihr auf den ersten Blick an, dass sie ein Kind dieses Ortes war. Sie hatte eine schmale, zähe Figur, wache grüne Augen und kupferrote Locken, die sie nur mühsam unter einer alten Dockmütze zu bändigen versuchte. Sommersprossen zierten ihre Nase und die Wangen, was sie jünger erscheinen ließ, als sie wirklich war. Statt feiner Kleider trug sie robuste Hosen und ein eng geschnürtes Lederkorsett, das sie meist mit einer kurzärmeligen Jacke kombinierte. Und um ihren Hals, an einem einfachen Lederband, hing stets die alte Taschenuhr ihres Vaters, deren Zeiger reglos auf 2Uhr standen.
Wenn man Ellie in einem ruhigen Moment fragte, warum sie diese kaputte Uhr immer trug, zuckte sie meist mit den Schultern. Es sei ein Andenken an ihren Vater, erklärte sie dann, und mehr wollte sie nicht preisgeben. Ein aufmerksamer Beobachter hätte aber gemerkt, dass Ellie ab und an spürbar an dieser Uhr fasste, als spüre sie heimlich irgendeinen Puls, ein Vibrieren oder eine Restwärme. Sie selbst spielte das meist herunter: Sicher nur Einbildung, wenn sie unter Stress stand.
Tagsüber arbeitete Ellie in den Sky-Docks. Man sah sie häufig an einem der Holzanleger, wo sie als Ankerhelferin Seile fixierte, Kisten stapelte oder beim Löschen von Fracht half. Sie bewegte sich geschickt über die schmalen Stege, beinahe wie eine Gauklerin, der die tiefe Fallhöhe keine Angst machte. Ihre Fingerkuppen waren vom Tauwerk rau, und an den Knöcheln trug sie ein paar alte Schrammen, die sie sich bei Kletterunfällen zugezogen hatte.
Manchmal verfluchte sie dieses anstrengende Leben, doch gleichzeitig liebte sie die Freiheit, in den Wind über dem Abgrund zu spucken und die Wolken unter sich treiben zu sehen. Nach der Schicht besuchte sie gelegentlich Kurse am Hermetic College, weil sie das Privileg besaß, eine Hexenlehre zu durchlaufen– eine Ausbildung, die Arkopolis zur Sicherung seiner schwebenden Energienetzwerke dringend brauchte. Das allerdings war ein zweischneidiges Schwert: Arkopolis hatte strenge Regeln für magische Begabte, und MI13, eine Art Geheimpolizei, behielt Hexen stets im Auge.
Ellie konnte ihre Kräfte in den Vorlesungen des Colleges zwar entwickeln, doch sie durfte sie nicht einfach nutzen, wann immer sie wollte.
An den Abenden saß sie oft mit Freunden in rußigen Werkstattecken zusammen, in der Hand vielleicht einen dampfenden Tee mit Schuss. Oder sie ließ sich in den Gassen des Foundry-Decks blicken, wo der Boden warm war von den schwelenden Öfen und Funkenregen niederprasselte wie silbrige Glühwürmchen. Sie liebte die Kühle der Nachtluft über den Docks, wo man die Lichter der Stadt auf der Plattform sehen konnte, und darüber das gläserne Leuchten der Kuppeln.
Das war ihr Arkopolis, so rau und faszinierend zugleich.
Ellie wusste, dass die meisten Menschen in einer schwebenden Stadt kaum Natur vermuteten; dennoch liebte sie es, das Gegenteil zu beweisen. Sie hatte Ecken entdeckt, wo sich Moospolster an Stahlträgern klammerten und winzige Schmetterlinge um die schwach strahlenden Lampen tanzten, als lausche selbst der Stahl der Stimme des Lebens. Es gab in manchen Zonen des Oberdecks kleine Glashäuser, in denen Zitruspflanzen gediehen. Woanders wuchsen an Regenrinnen Algen und Pilze, die sogar essbar waren, wenn man sie denn zu kochen wusste. Auch Vögel nisteten teils an den Rändern der Plattform, Möwen und Tauben, ja sogar ein paar seltenere Greifvögel, die den Luftaufwind nutzten.
Der Großteil der Nahrung kam allerdings von außen: jeden Tag segelten Transportballons heran und brachten Fleisch, Getreide und Fisch von den Küsten. In Arkopolis wurde nicht viel angebaut. Doch Ellie hatte gehört, dass drüben im Crown-Deck so mancher Aristokrat Wintergärten mit tropischen Palmen besaß, geheizt durch geheime Aether-Technik. Ellie hatte nie ein solches Palmenhaus gesehen, aber sie stellte es sich märchenhaft vor.
Heute, an einem windigen Morgen, war Ellie schon früh auf den Beinen. Sie hatte kaum vier Stunden geschlafen, weil sie nachts noch in einem Buch über Runenstudien geblättert hatte. Es war ein Lehrbuch vom Hermetic College, halb konfisziert, halb geliehen. Vor dem Spiegel in ihrem spartanischen Zimmer – eigentlich nur ein Metallspind, ein Bett und ein Stuhl – flocht sie sich das kupferrote Haar so gut es ging und band es mit einem Lederriemen fest. Dann zog sie ihr Dock-Outfit an, setzte die Mütze schief auf und griff nach ihrer Ledertasche, in der sie ein paar Bissen Brot hatte.
Schon auf dem Weg hinaus spürte sie den vertrauten Zug an ihrem Hals, als die Uhr baumelte. Manchmal hatte sie den Eindruck, sie könnte auf die Uhr wie auf ein Schutzamulett zählen. Doch sie wusste nicht recht, wovor sie diese Uhr schützen sollte. Vielleicht vor dem harten Alltag, vielleicht vor ihrer eigenen Ungeduld, endlich etwas Größeres aus ihrem Leben zu machen.
Draußen pfiff der Wind über die Stege, und ein raues Hämmern dröhnte von einer Krananlage. Die Morgensonne beleuchtete rostige Seilrollen, die sich im Takt der Maschinen drehten. Ein Arbeiter in fleckiger Latzhose winkte ihr zu: „Ellie, wir müssen diese Ladung Fässer entladen, es eilt!“ Sie winkte zurück, sprang auf das schwankende Gerüst und half beim Abhaken der Kette, die die Fässer anhob.
Zwei Stunden später schmerzten ihr die Arme, und sie wischte sich mit dem Handrücken Ruß von der Stirn.
Da rief jemand „Kontrollposten!“ Ein MI13-Agent in blauschwarzem Mantel – das Emblem zeigte ein mechanisches Auge aus poliertem Messing, dessen Iris von einem gezackten Aetherblitz durchbohrt wurde – trat auf den Steg. „Dockausweis“, befahl er, ohne seinen Atemschutz abzunehmen.
Ellie zog ihren abgewetzten Lederpass hervor und spürte den bohrenden Blick des Mannes, als taste er nach einer unsichtbaren Aura. Einen Herzschlag lang flackerte etwas in ihrer Uhr, und sie glaubte ein einzelnes Tick zu hören. Der Agent tippte mit einem Stift auf ein Klemmbrett, nickte knapp. „Schon gut. Weiterarbeiten.“ Erst als er fort war, merkte Ellie, dass sie die Luft angehalten hatte. „Manchmal frage ich mich, wie ich das durchhalte“, murmelte sie. „Aber was bleibt mir anderes übrig?“
Ein Kollege grinste: „Ohne uns würde das Empire keine Luftschiffschraube bekommen. Wir sind unersetzlich, Mädchen.“ Doch Ellie nickte nur abwesend. Sie wusste, dass ihr Leben am Dock nicht ewig so weitergehen konnte. Sie besaß schließlich magisches Talent – nicht sonderlich präzise, aber sie spürte, dass sie mehr lernen konnte, mehr sein konnte, wenn sie sich traute.
Nach einem kurzen Essen in der Dock-Kantine – ein Eintopf aus Bohnen und einer undefinierbaren Brühe – machte sie sich auf den Weg in Richtung Foundry-Deck, das zwischen den Docks und dem Oberdeck lag. Dort war es heiß und lärmend. Dampf stieg aus Metallröhren auf, Funken wirbelten aus Schmelzöfen, wo Kupfer und Eisen gegossen wurden. Straßenlampen, die mit Aethergas betrieben wurden, erleuchteten die Gänge, in denen unzählige Arbeiter herumliefen. Manche grüßten Ellie, andere raunten ihr zu, ob sie heute wieder „diese Magieschule“ besuchen würde.
Man sprach im Foundry-Deck mit einer gewissen Scheu von Magie. Viele hielten Zauberei für etwas Elitäres, das in den Kuppeln der Reichen ausgeübt wurde. Ellie gehörte jedoch zu einer neuen Generation: Sie war weder eine geleckte Aristokratin noch eine ganz einfache Arbeiterin. Irgendwie stand sie zwischen den Welten.
Während sie durch einen Seitengang eilte, der nach oben zu den Aufzügen führte, spürte sie erneut dieses leichte Vibrieren an ihrem Hals, dass sie früher nie beachtet hatte. Sie legte eine Hand auf die Uhr. „Was ist nur mit dir los?“ flüsterte sie. Doch die Uhr schwieg reglos. Nur ihr Herz klopfte in der Brust, als wüsste sie, dass irgendetwas in ihrem Leben bald eine Wendung nehmen würde.
Auf dem Weg nach oben, wo das Crown-Deck lag, blieb sie kurz stehen, um über eine Balustrade in die Tiefe zu blicken. Der Anblick war atemberaubend. Durch Gitterschatten sah sie die Nebelschwaden, die sich um die unteren Strukturstreben rankten. Weiter draußen, am Horizont, konnte man das graue Band der Themse erkennen, die unter der Stadt hindurch floss. Jemand hatte hier ein paar Blumenkübel aufgestellt, in denen zähe Kräuter wuchsen. Ein schwaches Grün in all dem Stahl und Dampf.
Ein mechanischer Lift – eine hölzerne Plattform mit seitlichen Zahnrädern – ratterte heran. Ellie stieg auf, und das Gefährt zuckelte nach oben, mit lautem Knarzen. Ein Windstoß ließ ihre Locken flattern, und sie musste sich am Geländer festhalten. Auf dem Crown-Deck wirkte alles gleich viel nobler, beinahe wie in einer anderen Welt. Saubere Straßen, viktorianische Fassaden, glänzende Aether-Laternen, in denen violette Flämmchen ruhten. Ein Polizist mit Stechschritt patrouillierte an einem verzierten Tor vorbei.
Ellie hatte selten Zeit, sich die Oberstadt anzusehen, denn in Wahrheit war sie nur als „Studentin“ für Magie anerkannt, was ihr Zugang zum Hermetic College verschaffte, aber kein Recht, hier großartig herumzuspazieren. Manchmal spürte sie die Blicke der feinen Damen, die auf sie herabsahen, als sie sahen, wie rußgeschwärzt ihre Kleidung war. Doch Ellie scherte sich nicht darum. Sie mochte ihre rauen Dockstiefel viel zu sehr.
Heute fand kein Unterricht statt, darum überlegte sie, ob sie kurz bei einer Bekannten im Coven vorbeischauen sollte. Doch ihre Gedankenspiele wurden von einem lauten Dampfpfiff unterbrochen: Ein Luftschiff passierte majestätisch die Oberstadt. Aus seinen Ventilen strömte weißer Nebel, sein bauchiger Ballon war mit dem königlichen Wappen geschmückt. Ellie blieb stehen und verfolgte den Anblick mit leuchtenden Augen. Luftschiffe faszinierten sie. Jedes Mal dachte sie, sie würde gern selbst eines lenken, weit weg ins nächste Land reisen, irgendwohin, wo man sie nicht ständig in enge Regeln presste.
Als sich der Lärm legte, wandte sie sich ab und schlenderte durch eine Arkade, in der einzelne Händler Stände aufgebaut hatten. Hier gab es feinen Tee aus Indien, mechanische Haushelferchen, Taschenuhren aus Messing – in jenem Moment fiel ihr Blick natürlich auf ihre eigene Uhr. Sie klopfte kurz dagegen, als könne sie sie zum Ticken bringen, doch der Zeiger verharrte stumm auf 2Uhr. Ganz unvermittelt glaubte sie ein einzelnes Tick zu spüren – kaum hörbar, eher ein Echo in ihrer Brust als ein Geräusch –, doch als sie das Gehäuse ans Ohr hielt, herrschte wieder Stille.
Erst am späten Nachmittag, nachdem sie ein paar Besorgungen gemacht hatte, stieg Ellie wieder hinab zu den Docks. Ein Teil von ihr war erschöpft, ein anderer aufgewühlt. Sie hatte das Gefühl, in dieser Stadt in einem Übergang zu leben, als warte etwas Großes darauf, sie zu verschlingen oder zu befreien. Sie wollte größer zaubern, mehr lernen, wollte die Kraft, die in ihr brodelte, auskosten. Doch MI13 und die starren Regeln hemmten sie wie eiserne Fesseln.
Ein Dockläufer, ein Junge mit zerfetzten Klamotten, grüßte sie hastig und rannte dann weiter, da er zu einer Auslieferung musste. Hier war jede Minute Arbeit kostbar. Ellie lachte kurz in sich hinein. Dieses Lachen allerdings blieb ihr im Hals stecken, als sie an die nächste Gassenkreuzung kam und dort zwei Männer in dunklen Mänteln sah, die ein Metalllogo am Kragen trugen – eindeutig Agenten von MI13.