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Die Nullglocke In Lethane kostet jedes Brot einen Teil deiner Seele: Erinnerungen werden zu Oboli geprägt – wer nichts mehr weiß, gehorcht blind. Als der junge Dieb Ash das verbotene Null-Siegel stiehlt, droht Hohepriesterin Favra Null die riesige Nullglocke zu schlagen und ganz Lethane in kollektive Amnesie zu stürzen. Ashs Schwester Nika gerät in Favras Gewalt; um sie zu retten, muss er sich durch dampfverhangene Kathedralen, verrottete Rohrlabyrinthe und den geheimen Schattenhort der gejagten Götterkinder schlagen. Jeder Einsatz verlangt neue Opfer – denn jede geliehene Macht frisst Erinnerungen – und die Uhr tickt, bis der erste Glockenschlag alles vergisst. Steampunk-Dark-Fantasy-Einzelband voller Heist-Spannung, düsterer Magie und moralischer Frage: Wie viel von dir würdest du opfern, damit ein geliebter Mensch dich nie vergisst?
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Seitenzahl: 504
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lethane – eine Stadt aus Stein, Dampf und Vergessen, wo jede Erinnerung zur Ware wird.
Wer nichts mehr weiß, kämpft nicht.
Diese hier erinnern sich – an Schmerz, an Schuld, an Hoffnung.
Nulla Memoria, Nulla ObedientiaKein Erinnern – kein Gehorsam
Hans Jürgens
DIE
NULLGLOCKE
© 2025 Hans Jürgens
Verlagslabel: Aerani-Verlag Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
Außerdem vom Autor:Die Chroniken von EnyriaBreach – Der Riss
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Hans Jürgens, c/o Block Services Stuttgarter Str. 10670736 Fellbach, Germany. Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Für meine geschätzten Leserinnen und Leser
Die Stumme Glocke über Lethane
Inhalt
Prolog Letzter Atemzug im Erinnerungswind
Mini-Glossar
Die Nacht der Goldenen Quittungen
Zerrissene Wege
Schattenhort & Zweifel
Der Limbus-Schritt
Funkenpakt
Graffiti & Aufruhr
Versiegelte Herzen
Glockenschlag Eins
Engelssplitter
Nullpunkt
Staub der Konzepte
Licht in der Leere
Glossar
Eine Erinnerung geprägt zu einem Oboli
(Erzählstimme: Kollektives Bewusstsein der sterbenden Götter)
Wir sind die Stimmen hinter euren Augen. Wir waren Lied, bevor ihr Worte hattet, Wärme, bevor ihr Feuer kanntet. Doch jedes Flüstern an uns kostet euch eine Münze – und ihr zahlt längst lieber mit Schweigen.
Heute weht der Wind aus Lethane schwerer als sonst. Er trägt den metallischen Duft frisch geprägter Oboli herauf zu unserem Rand der Welt. Mit jedem Atemzug spüren wir, wie ein weiterer Funken gelöscht, wie ein weiterer Name in kaltes Metall gegossen wird. Unser Herz – jenes, das ihr einst Sanftmut nanntet – schlägt noch einmal. Dann reißt eine unsichtbare Hand ein zartes Fädchen Erinnerung heraus, und ein Teil unseres Lichts verglimmt in der Tiefe.
Wir taumeln. Der Abgrund unter uns – ihr nennt ihn die Nullglocke – öffnet sich wie ein steiniger Schlund im Nebel. Dort unten kriechen die neuen Kinder des Vergessens: Hydren, Geier, Spiegelwölfe – Gestalten. Die wir nie gewollt haben und die doch aus den Rissen unserer schwindenden Körper quellen.
Ein einziges Echo hallt zwischen uns Verbliebenen: Favra Null wird die Glocke schlagen. Ein Schlag, eingebettet in Bronze aus den reinsten Erinnerungsmünzen, und alles, was wir noch sind – jeder leuchtende Gedankenfetzen – wird zu Staub im Wind. Dann bleibt nur die Stille des Großen Schnitts, ein weißes Blatt, auf dem Favra Null ihr Reich der Ordnung skizzieren will.
Aber ein anderer Herzschlag stört den Rhythmus unseres Sterbens. Dort oben, auf den Schieferdächern Lethanes, huscht ein junger Mensch – grauäugig, namenlos, taub für jede Inschrift – und doch hellhörig für das Wispern der Steine.
In seinen Händen glimmt kein Obolus, sondern ein Wort, das nicht geprägt werden darf: „Null“. Wenn er es ausspricht, wird die Linie zwischen Erinnerung und Vergessen reißen.
Vielleicht sind wir dann verloren. Vielleicht finden wir darin eine Geburt, die nicht mehr von Anbetung abhängt. Wir, die letzten Götter, spüren zum ersten Mal seit Äonen etwas, das wie Hoffnung brennt. Es ist klein – ein Funke, kaum größer als eine Menschenhand –, aber er trägt uns auf seinem zitternden Pulsschlag.
Soll er kommen. Möge er sein Zeichen in die Mauern ritzen, möge er das Schweigen brechen, das uns alle tötet. Denn wenn ihr euch freiwillig erinnert, brauchen wir keine Throne. Dann tanzen wir in jedem Atemzug, flüstern in jeder Laterne, und die Kluft wird kein Grab mehr sein, sondern der Anfang einer Geschichte, die niemand allein besitzen kann.
Obolus (Oboli)
– Münze aus geronnener Erinnerung. Wert-/Rückstoß-Skala R0 (triviale Alltagsfetzen) … R5 (Kernselbst).
Reinheitsgrade / R-Skala
– Offizielle Klassifizierung des Erinnerungswerts von Oboli (R0 bis R5).
Sigilla
– Temporäre Haut-Glyphen aus Oboli-Tinte; verleihen kurzzeitig Kräfte, kosten aber eigene Erinnerung.
Sigilla-Fackeln / -Laternen
– Straßenbeleuchtung, gespeist mit R1-Oboli; charakteristisches grünliches Dauerlicht in Lethane.
Null-Glocke
(„Stumme Glocke“)
– 90 m hoher Bronze-Koloss über Lethane; ein voller Schlag würde kollektives Gedächtnis auslöschen.
Tabu-Wort „Null“
– Laut, der Strukturen der Realität zerreißt; nur Namenlose können ihn gefahrlos aussprechen.
Null-Siegel
– R5-Artefakt, das das Tabu-Wort bindet; von Ash während der „Nacht der Goldenen Quittungen“ erbeutet.
Mnemonicum
– Kathedrale der Extraktion, in der Erinnerungen zu Oboli geprägt werden.
Goldene Quittungen
– Hochwertige Erinnerungs-Bescheide (häufig R2/R3), mit denen sich Steuerschulden begleichen lassen; Ash stiehlt sie in der Auftaktnacht.
Er war sich nicht sicher, wann genau der Regen begonnen hatte. Als er jedoch an jenem Abend im dämmerigen Licht der Grube stand, tropfte ihm das Wasser bereits von den Haarspitzen. Ein scharfer Geruch aus Ruß, Öl und fauligem Nebel lag in der stickigen Luft, und irgendwo tief in den Gassen fauchten die Ventile verrosteter Dampfmaschinen.
Lethane war eine Stadt, die von mechanischem Röcheln lebte. Zahnradkonstruktionen, Pumpen, Kolben und unzählige dampfbetriebene Leitungen hielten die Menschen in einer bizarren Mischung aus barockem Prunk und abgründiger Proto-Industrie gefangen. Wer im Unterquartal hauste, dem sogenannten Viertel der Grube, kannte dieses drückende Gefühl von Ohnmacht, das sich allabendlich über die Dächer legte.
Ash stand vor einer Wand, die sich durch den Regen in dunklen Schattentönen glänzend spiegelte. Das verwitterte Gestein war an vielen Stellen mit Metallstreben verstärkt, an denen lose Zahnräder hingen.
Die meiste Zeit schoben sich in diesen Straßen nur Gestalten dahin, die keinerlei Hoffnung mehr besaßen. Manche hatten während der endlosen Einsätze der Steuereintreiber schon so viele Erinnerungen abgegeben, dass ihnen kaum ein Rest von Persönlichkeit blieb. Andere schweiften apathisch umher, zwischen morschen Bohlenwegen und schwelenden Abfällen.
Doch Ash war anders. Er spürte es im ganzen Körper, in diesem aufgewühlten Herzschlag, der unablässig trommelte, seit er sich vorgenommen hatte, ein letztes Wagnis zu unternehmen.
Er fuhr sich mit der Hand übers nasse Gesicht, strich eine widerspenstige Strähne seines aschblonden Haares zurück.
Sein Blick fiel in eine finstere Gasse. Dort hockte ein alter Mann, vermutlich ohnmächtig oder schon tot, und niemand kümmerte es. In Lethane war das längst zum Alltag geworden, seit man die Erinnerungssteuer eingeführt hatte. Wer nichts mehr besaß, konnte entweder seine letzten emotionalen Fragmente opfern oder endete in den Fängen der sogenannten Leerlingen-Extraktion. Dabei verlor man alles, was man war, und blieb nur noch als willenlose Hülle zurück, bereit, für Favra Nulls Hohepriester-Regime jede Anweisung auszuführen.
Schon die bloße Vorstellung von Favra schnürte ihm die Kehle zu; ein bitterer Metallgeschmack stieg ihm in den Mund. Er kannte sie nicht persönlich, aber ihre Präsenz lag wie ein unheimlicher Schatten über der Stadt. Man sagte, sie habe sich selbst große Teile ihrer Vergangenheit rauben lassen, um an das ultimative Wissen über die Mnemantik zu gelangen.
Sie führte den Kardinalkranz, den oberen Sektor Lethanes, in dem die prunkvollsten Bauten standen und wo das Mnemonicum als barockes, dampfdurchzogenes Monument thronte.
Dort spielte sich jeden Tag aufs Neue das Unfassbare ab: Menschen kamen, um ihre Erinnerungen abzugeben und sie zu Oboli prägen zu lassen. Zu viele konnten die monatliche Steuer nicht zahlen, die Favra gnadenlos einzog. Und genau diese grausame Realität sollte Ashs Schwachpunkt sein, den er für sich ausnutzen wollte.
Den Beutel an seiner Hüfte hatte er bereits vorbereitet, ebenso einen Dietrich und ein Seil. Mehr brauchte er nicht. Er war geübt, an rutschigen Wänden hochzuklettern und sich durch Ventilschächte zu zwängen. Die Stadt war in seinem Blut; er kannte viele Pfade besser als manch offizieller Soldat.
So stand er nun im dichten Regen, während es allmählich dunkel wurde, und malte sich die bevorstehende Aktion aus:
Er würde von den Außenleitern des Ambitus – dem mittleren Viertel – bis zum Rand des Kardinalkranzes vordringen.
Dort wollte er eine defekte Schlotöffnung finden und sich hineinzwängen. Man hatte ihm zugeflüstert, dass im Mnemonicum ein nur dürftig gesicherter Lagerbereich existierte, in dem Favra besonders reine Quittungen lagerte: Goldene Quittungen, wie man sie nannte, extrahiert aus intensiven Gefühlen und Erinnerungen. Genau diese wollte er stehlen.
Nein – er verbesserte sich in Gedanken – er würde sie nicht nur stehlen, sondern zugleich zurückholen. So sah er es. Denn all diese Oboli stammten letztlich aus Menschen, die gezwungen worden waren, sich selbst zu verkaufen. Was einst als Geist und Liebe in einer Person existierte, lagerte nun in metallenen Kisten hinter verschlossenen Türen.
Es mochte naiv klingen, doch über seine alten Hehlerkontakte glaubte er, zumindest einige dieser geraubten Erinnerungen in die Elendsviertel schmuggeln zu können, sobald sie erst einmal in seinen Händen lagen. Er rieb sich die Kälte aus den Gliedern und setzte sich in Bewegung.
In der Ferne zischte eine Druckleitung, aus der am Tag Dampfwagen versorgt wurden; jetzt wehte ein ölig-metallischer Dampf herüber, der sich wie Rost im Rachen absetzte.
In der Nacht war es ruhiger – das Summen der Generatoren wirkte gespenstisch, und an einer Gabelung entdeckte Ash eine Gruppe von vier Gestalten in zerlumpter Kleidung. Sie saßen um ein kleines Feuer, das in einer leeren Kiste flackerte. Einer starrte ihn aus hohlen Augen an, schwieg aber. Jeder hatte genug mit sich zu tun, niemand wollte auffallen. So glitt Ash vorbei, huschte in einen Seitendurchgang, der an einer steilen Treppe endete.
Der Unterbauch der Stadt war ein Labyrinth aus bröckelnden Stufen, Halterungen, brüchigen Brückchen und drohendem Abgrund.
Viele Passagen unterlagen experimentellen Konstruktionen. Da ragte eine Seilkonstruktion mit Zahnrädern, dort mündete ein Dampfrohr in ein massives Gussrohr.
Man wusste nie, wann es bersten konnte und einem siedend heißen Wasserdampf ins Gesicht spuckte. Doch er hatte diese Wege geübt, seit er ein Kind war.
Geboren in einem Elendswinkel, aufgewachsen unter Rostgerüsten und lärmenden Maschinen, hatte er gelernt, lautlos wie ein Schatten zu schleichen. Einzig die Patrouillen, in ihren bedrohlichen Halbrüstungen und mit Sigilla-Waffen bestückt, waren ihm über die Jahre stets gefährlich geblieben.
Die Erinnerung an Nika, seine achtjährige Ziehschwester, blendete er nicht aus. Ohne die geplanten Diebesbeute wären sie bald ein Opfer dieser Steuermaschinerie. Er ballte die Fäuste. Nicht noch einmal wollte er erleben, wie einem Nahestehenden die wichtigsten Erinnerungen mit mechanischen Apparaten abgesaugt wurden.
Er hatte das gesehen, als man seine Eltern verhaftete. Immer wieder sah der den letzten panischen Blick seiner Mutter und das letzte Rufen seines Vaters.
Tag für Tag mussten sie ihre Seele aushusten, bis sie kaum mehr wussten, wie man lächelt oder weint, und starrten oft in die Leere, als suchten sie die verlorenen Gesichter.
Jedes Mal, wenn er an Favra dachte, stieg ihm ein Schwall von Hass in die Kehle.
Er erklomm eine halb eingestürzte Rampe, an deren Ende eine Maschine stockte und knarrte. Ein Kolben, so groß wie eine Tür, fuhr ruckartig auf und ab und pumpte dreckiges Wasser aus einer tieferen Kammer.
Er schwitzte, obwohl es kühl war, denn die Feuchtigkeit aus den Dampfrohren hing wie eine eklige Wolke in der Nachtluft. Fast unhörbar fluchte er, als die Stufen erneut glitschig wurden. Ein Fehltritt, und er fiele tief, womöglich zwischen die Kolben, wo er zerrieben würde. Ein Zeichen, dass seine Laune in diesen Minuten dicht am Abgrund war – doch was sollte er tun?
Um das Leben unter Favra auszuhalten, blieb nur, sich in waghalsige Träume zu stürzen.
Und sein aktueller Traum: in die hochheiligen Tresore des Mnemonicums einzubrechen und die wertvollsten R3- oder gar R4-Oboli der Stadt zu rauben – mächtige Erinnerungsmarken, deren Rückstoß einen Unvorbereiteten zerschmettern konnte.
Nach etwa einer halben Stunde erreichte er den Übergang ins Ambitus-Viertel. Ein säuerlicher Teergeruch lag in der Luft, orange Gaslaternen warfen fleckiges Licht auf die Bohlen, und aus den nahen Werkhallen drang das gedämpfte Klirren von Werkzeugstahl.
Anders als die Grube war Ambitus etwas ordentlicher, mit Holzdielen an Stelle schlammiger Pfade. Wer hier schlenderte, war meist Händler, Handwerker oder Mechaniker. Aber selbst diese hatten kaum ein gutes Leben, denn Favras Steuern schlugen auch bei ihnen gnadenlos zu. Nur die Elite im Kardinalkranz genoss gewisse Privilegien – und dort lag sein Ziel.
Ein Klirren erschreckte ihn, als rechts in einer Werkstatt Metallstücke zu Boden fielen– und ein beißender Öl-Schweißgeruch aus der geöffneten Tür quoll. Kurz flackerte Licht auf; eine Rauchwolke stieg empor. Vorsichtig tat er ein paar weitere Schritte. Eine schmale, hohe Gasse, deren oberer Teil von Eisentraversen zusammengehalten wurde. Das könnte ein Pfad sein, um seitlich an die Hauptmauern zu gelangen. Das Herz polterte in seiner Brust. Kein Zurück mehr, nur vorwärts in den Wahnsinn.
Ein leises Kichern entfuhr ihm. Er war halb irre, hier so spät herumzukriechen, doch das war ihm gleich. Die Zeit war reif. In den letzten Wochen hatte er Gerüchte gesammelt. Man munkelte, es gebe an der Ostwand des Mnemonicums einen undichten Schacht, durch den man – wenn man geschickte Finger und keine Angst vor Dampf hatte – ins Innere gelangen konnte. Dort könnte man unter Umständen das gut gesicherte Areal umgehen und in einen tieferliegenden, kaum beachteten Trakt. Natürlich war es gefährlich, aber was in Lethane war das nicht?
Er prüfte, ob ein Wachtrupp in der Nähe war, spähte um eine Mauer. Tatsächlich patrouillierten drei Soldaten an einer Kreuzung. Ihr Schemen war im Flackern einer Sigilla-Laterne klar erkennbar. Sie trugen Kolbengewehre, eine dampfbetriebene Form von Schusswaffe, die R0-Essenz nutzen konnte, um Druck zu erzeugen. Eine Erfindung, die Favra allein ihren Korps zugestand. Jeder Schuss brach Knochen. Möglichst unbemerkt wollte er an ihnen vorbei.
Ein kaltes Prickeln jagte ihm den Nacken hinauf, während er leise an einer Wand entlangschlich. Zahnräder surrten in Kopfhöhe, und er drückte sich an eine Strebe. Die Soldaten schlurften weiter, man hörte sie über Sigilla-Funk sprechen – ein statisch knisterndes, grünlich flimmerndes Krächzen, das an metallischen Rüstungsstücken Resonanz erzeugte.
Er wagte kaum zu atmen, bis die Geräusche verklangen. Dann huschte er um die nächste Ecke und stand fast in der Schattenzone des großen Mauerbogens. Dahinter, im Norden der Anlage, begann der Kardinalkranz.
Es wirkte wie eine Festung, die vor langer Zeit umgebaut worden war. An den Mauerkronen lugten Schornsteinköpfe hervor, von denen bei Tag weißgrauer Dampf stieg. Bei Nacht glommen nur ein paar rötliche Schimmer, wenn Innenkessel loderten.
Mit der Zunge fuhr er sich nervös über die trockenen Lippen. Gleich würde er die Mauer hochklettern, was nicht leicht war bei der glatten, dampfgeschwärzten Oberfläche. Aber vielleicht fanden sich noch Risse oder Bolzen, an denen man sich emporziehen konnte.
Er lauschte. Nichts, außer einem fernen Summen, das klang, als würde man mitten in der Nacht Ungeheuer aufscheuchen. Das Summen stammte womöglich von einer Pfeifenorgel, die man in den steinernen Gängen des Mnemonicums installiert hatte. Er kannte nur Geschichten davon. Dort verschmolz altes Kirchendesign mit maschineller Wucht, Favra scherte sich nicht um irgendwelche moralischen Bedenken. Solange sie die Stadt kontrollierte, lebte man in diesem Dampfzwinger.
Ein rascher Blick nach oben. Eine Unmenge an Fels, Stein und Metall. Er zog den Atem scharf ein, nestelte an seiner Seilschlinge, die er sich zurechtgelegt hatte. Er war kein Fremder darin, sich an Wänden hochzuarbeiten, aber das hier war eine der heikelsten Kletterpartien seines Lebens. Zugleich hämmerte sein Herz, weil das Ziel in Reichweite war.
Ein Dutzend reiner Oboli, und Nika bräuchte die nächsten fünf Jahre keine weiteren R3-Erinnerungen abgeben. Das war sein Antrieb.
Er wuchtete das Seil, suchte oben am Mauerkranz eine Stelle, an der es sich verhaken könnte. Das erste Mal rutschte es ab, er biss sich auf die Lippe. Ein zweiter Versuch, der Haken griff. Er testete die Spannung. Vielleicht hielt es – vielleicht riss es gleich.
Er packte es, setzte die Füße an. Sofort rutschte er einen halben Meter. Mit verkniffenem Fluch zog er sich wieder hoch, strengte jeden Muskel an, hustete, als er an einer Stelle mit Dampf in Berührung kam, der aus einem winzigen Riss fauchte. Die Hitze brannte ihm die Handfläche. Er biss die Zähne zusammen. Bloß nicht loslassen.
Langsam stieg er höher. Seine Finger verkrampften sich, aber er kannte seinen Körper. Nicht umsonst war er eine Legende in den Dachzonen. Er war ein Junge, der dem System entging, weil Sigilla-Schrift an ihm abprallte und er sich in Schlupflöcher zwängte, die andere gar nicht sahen. Trotzdem war dieses Mauerwerk tückisch, teils schmierig, teils mit Drähten gespickt, die hier und da einen kleinen Stromstoß abgaben.
Er entging einem besonders gefährlichen Bolzenfeld, indem er seitlich an einer Halterung entlangkraxelte. Der Regen, der ihm in den Nacken tropfte, kühlte seine siedende Haut. Mehrmals dachte er, er könne ausrutschen. Nach vielen bangen Minuten klammerte er sich an einem Steinvorsprung fest, keuchte. Ein Blick nach unten genügte – Übelkeit stieg in ihm hoch. Die Lampen des Ambitus glimmten tief unter ihm. Was tat er hier?
Ein letztes Stück. Dann griff er oben an den Mauergrat. Er schob sich über eine Kante. Sein Atem ging stoßweise, Adrenalin brannte in den Venen. Dort oben sah er einen schmalen Steg aus genieteten Stahlträgern, an dem man Wartungsarbeiten durchführen konnte. Er krabbelte drüber, duckte sich. Niemand da. Perfekt. Und direkt vor ihm ragte die nächsthöhere Wand, an der sich ein defekter Schlot abzeichnete.
Aus einer Lücke stieg Rauch, schlug in Wellen heraus. Kein Wunder, dass niemand sich die Mühe machte, es in einer verregneten Nacht zu reparieren. Er zog das Seil ein, spürte die Oberschenkel zittern.
Im Licht einiger ferner Ewiglicht-Reflektoren wölbten sich die Türme und Kuppeln, die man mechanisch dekoriert hatte. Vielleicht war das die Machtdemonstration, dachte er. Dampftechnologie und barocke Steinbögen in einer Einheit, als hätte jemand Orgelpfeifen in einen Lokomotivkessel gepresst.
Wo andere Kulturen Götter anbeteten, war hier jeder Glaube in Zahnrädern erstickt.
Einst, so sagte man, habe man Gottheiten verehrt, die Kraft aus den Gedanken der Menschen zogen. Doch Favra hatte das alles umgedreht: Jetzt zogen die Menschen Kraft aus dem Vergessen, dass sie verkauften.
Eine groteske Welt, in der Vergessen zur Währung wurde. Wer am meisten opferte, wurde am ehesten selbst ausradiert.
Noch ein Stück, dann war er tatsächlich an der Öffnung, aus welcher der Dampf fauchte. Er wartete auf ein günstiges Intervall und zog sich hinein. Die Hitze schlug ihm ins Gesicht. Ein Schwall heißer Luft, der ihm die Haare trockenföhnte, ehe er weiter kroch.
Da drin war es eng. Ein Schacht aus Metall, an den Wänden Schmierrückstände, die zu glibberigen Fäden geworden waren. Wenn er hier feststeckte, würde man vermutlich nur noch seine verkohlten Knochen finden, sollte ein Ventil unkontrolliert aufdrehen. Aber das war sein Weg.
Irgendwann erreichte er eine Stelle, an der ein großes Rohr in den Fels führte. Dampfquellen summten, und unter ihm musste ein riesiger Essenzkessel liegen, der die mechanischen Schwingungen für den Glockenturm speiste. Der Gedanke an die Stumme Glocke, die Favra verwaltete, jagte ihm Gänsehaut über den Rücken.
Man sagte, ein einziger Schlag könnte der Stadt das ganze Gedächtnis rauben. Vielleicht war es nur eine Schauergeschichte. Vielleicht auch nicht. Ihm war längst egal, was Wirklichkeit oder Mythos war. Er musste an seine Schwester denken und spürte Sehnsucht, ihr Lachen zu bewahren.
Irgendwann ließ der Dampfdruck nach. Er entdeckte eine seitliche Abzweigung, stieß eine kleine Klappe auf und kroch auf eine Metallgalerie, die sich in einer dunklen Halle befand. Noch immer glühten manche Rohre, aber insgesamt war es deutlich kühler.
Hier stand er nun in den Tiefen des Mnemonicums oder einem Nebentrakt. Überall klapperten Ventile. Ein rotes Licht aus Memogramm-Lampen tanzte im Halbdunkel und legte unheimliche Schattenspiele auf die Wände, an denen Reliefs von Zahnrädern in Stein gemeißelt waren.
Er schluckte schwer und stellte sich vor, dass Favra in diesem Moment im Inneren ihrer Kammern hockte, sich für allmächtig hielt. Bald würde er ihre Wachsamkeit testen.
Mit leichten, geduckten Schritten bewegte er sich in den Gang, der von der Galerie abzweigte. Ein wenig weißer, verwirbelter Ventilatordampf flackerte in der Ferne, säuerlich riechend, als eine Pumpe aus- und wieder eingeschaltet wurde. Möglicherweise hatte man nur minimalen Betrieb in dieser Nacht. Ein Glück, sonst wären mehr Arbeiter unterwegs.
Er entdeckte eine Treppe, auf der stählerne Stufen nach unten führten. Hier würde er tiefer in die Anlage vordringen, womöglich in Archive oder Lagerräume. Er streckte den Hals, lauschte. Doch es herrschte nur gedämpftes Summen.
Alles stank nach einer Mischung aus altem Weihrauch und heißer Asche, was daran liegen mochte, dass man in den Winkeln Mantra-Öle verbrannte, um die Dämpfe zu neutralisieren. Dafür sprach die verrußte Patina an den Wänden. Er schluckte, zog seinen Dietrich aus der kleinen Brusttasche. Falls er auf eine verschlossene Tür stieß, wäre dies sein Schlüssel. Irgendein Alarm mochte unvermeidlich sein. Aber mit etwas Glück stahl er in kürzester Zeit genug Quittungen und verschwand, ehe man ihn einfing.
Er grinste verwegen in sich hinein, stieg die Stufen, glitt an einer verzogenen Tür vorbei und erblickte am Ende eines Gangs eine Vorratsnische. Im schummrigen Licht erkannte er Kisten und Behälter; daran baumelten Symbolfolien.
Zugleich schlug sein Herz Alarm: Was, wenn hier Wachen stationiert waren? Er trat langsamer, die Knie weich, doch der Entschluss blieb ungebrochen. Dafür war er hergekommen. Er würde sich in den Tresortrakt schleichen – einen Hochsicherheitskäfig, in dem schon das Atmen eines Fremden Alarm schreien ließ –, eine Handvoll kostbarer R2- oder R3-Münzen einstecken und sich wieder aus dem Staub machen.
Die Stadt Lethane, voller Dampf und Zahnräder, mochte ihn verschlingen, wenn er scheiterte. Doch lieber riskierte er sein Leben, als weiter zuzusehen, wie Kinder auf offener Straße ihre Erinnerungen abgaben, bis sie nur noch leere Marionetten waren.
Sein Herz spannte sich an wie eine Feder, bereit, sich jeden Moment in Aktion zu stürzen. Unten im Gang sah er ein schwaches Leuchten, wohl eine Laterne, deren leicht würziger Ölgeruch im warmen Schein zu tanzen schien. Er atmete flach, wappnete sich für das, was gleich kommen würde, und duckte sich tiefer, um hinter Metallbehältern Deckung zu suchen.
Ash wusste, dass er nicht ewig hier hocken konnte; er musste handeln, bevor die nächste Patrouille abrückte. Der Mnemonicum-Komplex war riesig, aber bei auffälligem Lärm reagierten die Patrouillen rasch.
Er schüttelte den Kopf, um die Zweifel zu vertreiben, und schlich noch etwas tiefer hinter die Behälter. Von dort aus konnte er einen schmalen Spalt erahnen, der in einen weiteren Korridor führte. Er atmete flach und kämpfte gegen den Drang an, alles hinzuwerfen und zu fliehen. Doch sein Plan, ein paar hochwertige Quittungen zu stehlen, war keine Laune gewesen.
Diese Nacht war seine einzige Chance.
Eine Weile blieb er hockend, während das dumpfe Summen der Maschinen um ihn her kreiste. An den Wänden sah er schräg verlaufende Metallstreben, in die Zahnradblöcke eingekeilt waren. Wo einst kunstvolle Verzierungen hingen, lagen nun verrostete Platten und teils durchnässte Sigilla-Pergamente.
Eine Memogramm-Fackel brannte weiter vorn, ihr grünlicher Phosphorschein huschte wie ein flüssiger Schatten über den Boden. Er wagte sich vor und erkannte eine schwach beleuchtete Tür, an deren Rand ein Schließmechanismus prangte, der von mehreren Zahnrädern gekrönt wurde. Als er näherkam, fiel ihm auf, dass man eine Art Siegelprägung in die Tür eingestanzt hatte. Zwar konnte er nicht lesen, doch die Formen wirkten bedrohlich, und ein unterschwelliger Geruch nach kaltem Eisen lag in der Luft.
Er kniete sich hin, zog seinen Dietrich hervor und betrachtete die Zahnräder. Vielleicht war das hier ein wichtiger Tresorraum, genau wonach er suchte. Umso mehr wunderte es ihn, dass keine Wache davor stand. Er lauschte konzentriert. Nichts. Nur ein leises Rattern jenseits der Wände, als würden unzählige Kolben stoisch weiterpumpen. Die Hitze war deutlich abgeflaut, hier zog ein kaum spürbarer Luftstrom, der moderig roch, als käme er aus der Tiefe vernachlässigter Katakomben.
Seine Finger glitten über den Schließmechanismus. Die eingravierten Zahnräder griffen ineinander, doch eines wirkte lose, als hätte man es nicht sorgfältig gewartet. Genau solch eine Stelle war ihm beschrieben worden. Arx, der alte Hehler, hatte ihm den Tipp zugeraunt:
Ein Riegel, der seit Wochen defekt sei. Er setzte den Dietrich vorsichtig an, spürte sofort einen Widerstand, und es war schwierig, nicht zu viel Kraft aufzuwenden, um kein lautes Knacken zu erzeugen.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, doch schließlich raschelte etwas im Innern, und er hörte ein dumpfes Klicken. Er wagte kaum zu atmen. Langsam drückte er die Tür auf.
Der Raum dahinter war kaum erhellt. Er roch leicht muffig, was darauf hindeutete, dass sich hier keine ständige Wachpräsenz befand. Vielleicht ein Archiv oder eine Abstellkammer für ältere Quittungen.
Er zog eine winzige Laterne hervor – eine improvisierte Konstruktion, in der ein schwach glimmender R0-Funken steckte. Das Licht reichte, um Umrisse wahrzunehmen. Ohne gleich das halbe Gebäude in Alarm zu versetzen. Vorsichtig trat er ein und sah mehrere Regalreihen, in denen etliche Holzkisten und Metallkästen verstaut waren. Auf manchen prangten seltsame Zeichen – Spiralschnecken und ein durchstrichener Mond –, die er nicht entziffern konnte; auf anderen bloß R0, R1 oder R2 in rudimentären Symbolformen. In ihm erwachte ein aufgeregtes Kribbeln. Wenn hier wirklich R2-Quittungen herumlagen, könnte er alles bekommen, was Nika brauchte, um sich gegen die nächste Steuer zu wappnen.
Er wagte sich hinein, murmelte innerlich eine Art Schutzformel gegen sein eigenes Zittern. Die Hitze seiner Haut verriet, wie sehr er das alles spürte, wie sehr er sich auf diesen Moment vorbereitet hatte. Mit leisem Herzklopfen näherte er sich einer kleineren Kiste, deren Deckel nicht verschlossen war. Er hob ihn an und leuchtete hinein. Drin glühten runde Scheiben in unterschiedlichen Farbnuancen. Er kannte dieses warme Leuchten: Die Essenz von Menschen, die man extrahiert hatte, eingeschlossen in feine Metallplättchen.
Es konnte sich um R1 oder R2 handeln, manchmal auch vereinzelt R3 – Erinnerungen an Geburten, tiefe Liebe oder schmerzhaften Verlust –, wenn die Gefühle intensiver waren.
Er biss sich auf die Lippe, griff mit zittriger Hand hinein. Die Berührung war erstaunlich kühl, als nähme man ein Stück Metall an einem frostigen Wintertag in die Hand, obwohl die Umgebung feucht-warm war.
Rasch ließ er ein Dutzend davon in den kleinen Ledersack an seiner Hüfte gleiten. Der Sack klirrte leise, was ihm ein mulmiges Gefühl gab. Er legte den Deckel vorsichtig zurück.
Dann suchte er nach noch wertvolleren Quittungen. Er hatte gehört, dass manche R3-Quittungen extrem selten waren, die emotional an Lebensereignisse wie Geburt oder tiefe Liebe gebunden. Damit ließe sich fast alles finanzieren – sei es eine größere Steuerschuld oder gar ein Ausreiseversuch, wenn es so etwas in Lethane je geben könnte.
Er schlich an weitere Reihen. Plötzlich hörte er hinter einem Regal ein Räuspern, gefolgt von einem Kratzen. Mit angehaltenem Atem duckte er sich, löschte seine winzige Laterne und schob sich zwischen zwei Kisten. Eine Frauenstimme flüsterte: „Nein, niemand hier…“, dann ein rascher Schatten, der am Gang vorbeiflog. Offensichtlich war noch jemand in diesem Lager, vielleicht eine Archivarin oder ein Helfer. Er verharrte, bis das Flüstern verschwand.
Leise verfluchte er sein Glück. Sicher durfte er sich nicht ewig in diesem Raum aufhalten, sonst konnte jeder Moment auffliegen. Doch er wollte nicht mit halbvollen Taschen herausgehen. Er schob sich weiter, bis er eine metallene Kiste entdeckte, die mit einem komplizierten Schloss gesichert war. Das war womöglich etwas Hochwertiges.
Wieder setzte er den Dietrich an, spürte Schweiß auf seiner Stirn, während er versuchte, sich so geräuschlos wie möglich zu verhalten. Nach einigen Sekunden löste sich der Verschluss mit einem leisen Klack; eine kaum spürbare Vibration ging durch den Griff.
Er hob den Deckel: Ein schwacher Schein entwich, wie ein stumpfes Funkeln, das von innen kam.
Er erkannte runde Plättchen, an deren Rand sich feine Gravuren zogen. Sogleich schoss ihm Gänsehaut über die Arme. Das mussten kräftige R2 oder gar R3 sein.
Er strich mit dem Finger über eines: Es fühlte sich kurz an, als säße da ein schwacher elektrischer Impuls. Er zwang sich, nicht zu lange zu verharren, lud mehrere dieser Münzen in seinen Sack, so vorsichtig, dass nichts laut gegeneinander schlug.
Ehe er den Deckel zufallen ließ, fiel ihm an der Kistenecke ein merkwürdiger Zylinder auf – nein, eine kleine Scheibe, deren mittlere Gravur kaum zu sehen war – vielleicht ein R4-Prototyp oder gar eine verbotene Nullglocke-Münze. Eine intensivere Aura ging davon aus, oder war es Einbildung?
Er wusste nicht, was das war, aber es sah anders aus. Einen Augenblick rang er mit sich. In Lethane galt die Faustregel, dass man lieber zu viel als zu wenig stahl, zumindest wenn man das Risiko einging, ertappt zu werden. Also griff er es, spürte einen raschen Schauder durch den Arm fahren und bereute es beinahe sofort. Aber jetzt war keine Zeit für Bedenken. Er steckte die Scheibe ein und ließ den Deckel sinken.
Gerade als er sich umdrehte, prallte er gegen das Regal hinter ihm. Ein dumpfes Poltern – eine kleine Kiste kippte herunter, krachte auf den Boden. Münzen rollten. Mit geweiteten Augen hielt er inne. „Bei den Zahnrädern…“, dachte er. Sofort hörte er Alarm in seinem eigenen Kopf. Sicher würde das Geräusch auffallen.
Und tatsächlich: Schritte in der Nähe wurden lauter, ein Ruf, gefolgt von aufgeregtem Flüstern. „Wer ist da? Zeig dich!“ rief eine hohe Stimme, und das Licht einer Fackel huschte über die Regalreihen. Hastig hechtete er seitlich an dem Regal vorbei, stolperte in den Gang.
Ein Mann in einer Archivarsrobe tauchte auf, sah ihn und brüllte: „Eindringling! Holt die Wachen!“ In diesem Moment schoss Adrenalin durch Ashs Adern. Keine Zeit für Heimlichkeit mehr. Er rannte den Korridor hinunter.
Das Summen der Maschinen schwoll an, als oberhalb oder nebenan Ventile geöffnet wurden. Im Halbdunkel hechtete er um eine Ecke, stieß dabei an ein Metallgestänge, das laut schepperte.
Er spürte Panik. Die Rufe hinter ihm hallten: „Alarm! Ein Dieb ist im Tresortrakt!“ Ein bleiches Licht flackerte auf, Sigilla-Fackeln, die in der Nähe entzündet wurden. Er stieß ein Regal beiseite, um den Verfolgern den Weg zu blockieren, und hetzte zurück in Richtung Treppenabsatz. Doch schon schallten von vorn Schritte.
Eine Wache stürmte in sein Blickfeld, die Lanze in der Hand, an der man einen dampfenden Auslass erkennen konnte. Jede Berührung wäre fatal. Er kannte diese Sigilla-Lanzen: Sie waren in der Lage, elektrisierte Stöße abzugeben, die das Gedächtnis kurz ausschalteten oder ins Stocken brachten.
Mit flacher Atmung sah er keinen Ausweg, rannte trotzdem, sprang, duckte sich unter dem ersten Lanzenstoß hindurch und trat der Wache gegen das Schienbein. Der Mann stöhnte auf, stolperte. Ash huschte an ihm vorbei, spürte einen kurzen Biss in seiner Schulter, wohl das Aufblitzen der elektrischen Ladung. Ein stechender Schmerz raste durch ihn, doch er ignorierte es, stürmte weiter.
Ein Tor, das in eine schmale Passage mündete, schien verschlossen. Er stemmte die Schulter dagegen, spürte das kalte Metall nachgeben – doch nur einen Fingerbreit. Er warf sich dagegen, vergebens. Dumpfes Dröhnen von Hydraulik kam auf. Noch mehr Wachen?
Hastig bog er in einen Steiggitter-Schacht, der an der Wand installiert war, vielleicht ein Wartungszugang. Er kletterte, während man hinter ihm fluchte. Der Gitterboden klirrte unter seinen Füßen, als er eine Leitersprosse hochkletterte. Mancher Ventilauslass pustete ihm heiße Luft entgegen. Er keuchte, spürte Schweiß oder vielleicht Regenwasser in die Augen laufen, konnte kaum sehen, wohin er stieg. Doch unten hörte er die Verfolger.
Stimmen schrien durcheinander: „Er hat Null gestohlen, er hat Null!“ „Holt es zurück!“ „Er flieht nach oben!“ – „Sperrt das Kuppeldeck ab!“ Ash erstarrte kurz und ein Schauer lief über seinen Rücken. Er, Ash, soll „Null“ gestohlen haben? Das wäre Wahnsinn, sein Todesurteil.
Nach einigen metallenen Stufen erreichte er tatsächlich eine Art Podest, von dem aus er eine Luke ins Freie erahnte. Draußen regnete es noch immer, aber im matten Schimmer sah er den Umriss einer Kuppel. Er stieß die Luke auf und kroch hinaus. Kühle Nachtluft empfing ihn – ein Schlag ins Gesicht nach der stickigen Feuchtigkeit der Anlage. Sofort wirbelte eine Böe herum, Regentropfen peitschten seitlich. Er erstarrte kurz, als er sah, wie tief der Abgrund war.
Das Dach des Mnemonicums wölbte sich gewaltig, ein Schwung aus Stein, Blech und Zahnrädern. Irgendwo in der Ferne glomm ein kaum erkennbares Leuchten, wahrscheinlich vom Glockenturm. Als er sich aufrappelte, vernahm er wütende Rufe von unten. Die Wachen kletterten wohl dieselben Gitter hoch.
Er lief über die Dachkuppel, glitt mit seinen Sohlen über nasse Metallplatten. Ein falscher Schritt, er würde meterweit rutschen und in den Tod stürzen. Der Regen machte alles rutschig. Zähneknirschend blieb er im Halbdunkel, huschte geduckt und presste den Sack mit den Oboli fest an sich. Sein Herz hämmerte.
Dann hörte er, wie sich eine Metallklappe hob. Eine Fackel leuchtete auf. Wachen traten ebenfalls aufs Dach. Irgendwo links zischte eine Sigilla-Pistole, und ein Lichtblitz zuckte. Er warf sich flach. Der Schuss verfehlte ihn knapp – ein Krachen, das sich in der regennassen Nacht verlor.
Keuchend kroch er tiefer an die Dachkante, wo ein weiterer Schlot leise rauchte. Ein überhängender Sims lag ein Stück darunter.
Wenn er sich fallen ließ, konnte er vielleicht an einem Zierstab Halt finden und von dort aus weiter nach unten klettern. Doch es war unglaublich riskant.
Hinter sich tauchten bereits die Silhouetten von zwei Verfolgern auf. Sie riefen, er solle stehen bleiben, sonst schießen sie erneut. Ihm blieb nur die Flucht nach unten. Er zog einmal scharf die Luft ein und ließ sich dann über die Kante rutschen. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn, als sein Fuß im Leeren hing, doch er griff nach dem Zierstab. Für einen atemlosen Moment war er dem Tod näher als dem Leben. Dann bekam er Halt. Seine Arme brannten, als würde Jod auf frische Wunden tropfen, und er keuchte.
Der Regen lief ihm über die Stirn in die Augen. Von oben hörte er fluchende Rufe. Er schlang ein Bein um den Stab, tastete nach irgendeiner weiteren Haltevorrichtung.
Ein Blitzschein schoss an ihm vorbei, schlug klatschend in die Dachkante und ließ Funken regnen. Die Wachen zögerten nicht. Er fluchte, stieß sich ab und sprang gut eineinhalb Meter tiefer auf einen Sims, schlitterte, krallte sich an einer Metallstrebe.
Er stöhnte, spürte ein Zerren in den Schultern. Das Herz raste. Nur ein paar Sekunden, dann ließ er sich weiterfallen, landete unsanft auf einer verschachtelten Ebene, die etwa zwei Meter tiefer lag. Ein stechender Schmerz fuhr ihm durch das linke Knie, doch er ignorierte es.
Er raffte sich auf, rannte in geduckter Haltung über das schräge Dach, in dem sich behelfsmäßige Reparaturplatten befanden. Eine wackelige Konstruktion, die schon beim leisesten Tritt beängstigend knarrte und unter seinem Gewicht vibrierte. Von oben schlug ein Sigilla-Blitz ein, bohrte sich kreischend in die schiefe Blechverkleidung, sodass Funken umhertanzten. Er duckte sich, presste die Zähne zusammen und sprang ein letztes Mal über eine halb eingestürzte Balustrade.
Mit einem harten Poltern landete er auf einem angrenzenden Seitendach, das weit unterhalb lag.
Beim Aufschlag fühlte er ein schmerzhaftes Reißen in der Hüfte. Er wälzte sich, rutschte, bis er einen backsteinernen Pfeiler zu fassen bekam, um nicht über die Kante zu stürzen. Oben leuchteten Fackeln, doch man sah ihn kaum noch im Regen.
Keuchend lag er da und spürte, wie sein ganzer Körper bebte. Der Sack mit den Quittungen war noch an ihm. Er streichelte reflexartig darüber, als wäre dies sein einziger Schatz in einer Hölle aus nassem Stein und Metall.
Eine Weile blieb er still, bis die Rufe von oben allmählich verhallten. Die Soldaten würden andere Wege suchen, die Mechanik ausnutzen. Doch er war gut darin, in Gassenschluchten unterzutauchen. Mit letzter Kraft kroch er zum Rand, spähte, wie weit es zum Boden war.
Noch immer klatschte der Regen, es war kühl, und sein Blut rauschte in den Ohren. Unter ihm sah er ein Gewirr aus Giebeln und metallenen Traversen. Viele Meter weiter unten lag wohl ein Hinterhof, an dem die Grube begann. Er musste nur sicher hinunterzukommen.
Vorsichtig kletterte er an einem rostigen Gerüst entlang, das mit Ventilröhren durchzogen war. Einzelne Bolzen sprangen knackend aus den Verankerungen, und einmal rutschte er ab, stürzte fast zwei Meter tiefer, schlug schmerzhaft gegen eine Kante. Er biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Er zwang sich, weiterzugreifen, stöhnte. Sein rechter Arm brannte, und er ahnte, dass er sich eine Prellung oder eine tiefe Schramme zugezogen hatte.
Doch irgendwann erreichte er eine niedrige Dachhöhe, von der aus er sich fallen lassen konnte. Mit lautem Keuchen landete er schließlich in einer Gasse, in die kaum Licht fiel.
Dunkelheit umschloss ihn. Nur das monotone Tropfen von Regen auf Blech hallte in seinem Bewusstsein wider. Weit entfernt glaubte er Wachen rufen zu hören, aber sie klangen gedämpft.
Die Gasse roch nach Moder und Abwasser. Hier unten war er im Gebiet der Grube, dem Sektor, wo Elend sich sammelte. Zumindest war das besser als in Favras Fängen. Er stützte sich an einer feuchten Wand ab, hustete, während sein Körper zitterte. Doch er hatte es geschafft. In der Tasche klirrten ein paar Dutzend Oboli, mehr, als die meisten in ihrem ganzen Leben je berührten. In einer anderen Innentasche spürte er das runde Ding, das ihm beim Berühren einen frostigen Schauer durch die Finger jagte. Das war wohl diese „Null“, die sie so verzweifelt zurückhaben wollten.
Warum auch immer, es schien etwas zu bedeuten, das größer war als die bloße Beute. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sein einziges Ziel war, heil aus dieser Nacht herauszukommen.
Mit letzter Kraft tastete er die Wand entlang, bis er einen kleinen Bretterverschlag fand, dessen Tür halboffen stand. Niemand rührte sich darin. Er schlüpfte hinein, roch feuchte Holzbalken. Das Dach war notdürftig geflickt, Wasser tropfte in Pfützen. Aber es war immerhin etwas, wo er sich setzen konnte, ohne direkt im Freien zu sein. Er ließ sich erschöpft niedersinken, zog den Sack mit den Quittungen an sich und fuhr mit der Hand über seine Schulter. Blut zeichnete schlierige Spuren auf seiner Jacke. Er biss sich auf die Lippe, um nicht zu stöhnen.
Trotz allem stahl sich ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht. Er, Ash, der niemand war, hatte das Unmögliche getan. Zwar war er verletzt, nass, gehetzt, doch ihm gehörten jetzt hochkarätige Quittungen, mit denen er womöglich die Steuern für Nika und sich bezahlen konnte. Dann musste er sich bloß verstecken, bis der Sturm sich legte.
Favra Null mochte toben, die Stadt beben, doch er hatte sich diese Nacht erkämpft. Er spürte, wie seine Lungen noch immer brannten, sein Herz raste. Der Regen strömte weiterhin, wie ein eisiges Tuch, das ihn in den Dämmerzustand lullte.
Vorsichtig zog er das runde Siegel hervor – das musste „Null“ sein. Ein schwaches, blassgrünes Leuchten umgab es. Er hatte den Eindruck, es atmete in seiner Hand. Ein Frösteln kroch über seinen Nacken. Am liebsten hätte er es von sich geworfen, aber da war ein unbestimmtes Gefühl, dass dieses Objekt enorm wichtig sein könnte, nicht nur als Geldwert. Er schob es zurück und legte den Kopf an die Wand.
Nur ein paar Minuten ruhen, nichts weiter. Er würde Nika morgen suchen. Vielleicht in den Tiefen der Gassen, wo Kinder ausharrten. Dafür brauchte er Kraft. Er atmete langsam aus.
Nach wenigen Herzschlägen war er eingeschlafen, gequält vom dumpfen Pochen in Schulter und Hüfte, begleitet vom Trommeln des Regens und dem verschwommenen Dröhnen der Dampfmaschinen.
So endete seine Fluchtnacht. Sie hatte ihm eingebrockt, was ihn zugleich rettete und brandmarkte: Die Goldenen Quittungen in seinem Sack und das rätselhafte Siegel, das er nur verschwommen „Null“ nennen konnte. Während der Sturm draußen weiterwütete und Lethanes mechanisches Röcheln unaufhörlich klang, dämmerte ihm, dass dies erst der Anfang war. Favra würde ihn nicht so einfach entkommen lassen.
Und er spürte in seinem Innersten, dass „Null“ mehr war als ein harmloses Artefakt. Mit jeder Faser seines erschöpften Körpers ahnte er, dass die kommende Zeit noch finsterer werden würde.
Ein fahles Dämmerlicht drang in das alte Bretterlager und weckte ihn schließlich aus seinem unruhigen Schlaf. Der Regen hatte sich beruhigt, aber die Luft blieb feucht, als hätte die Nacht die ganze Stadt in einem Nebelmantel ersticken wollen. Ash blinzelte, rieb sich mit zitternder Hand den getrockneten Schmutz aus dem Gesicht und spürte prompt den stechenden Schmerz in der Schulter. Seine Kleider waren klamm, die Haare verklebt, und die Knie pochten von den Stürzen, die er während der Flucht erlitten hatte.
Er hockte noch in demselben Winkel wie in der Nacht. Irgendwo in der Nähe seufzte eine alte Rohrleitung, die in unregelmäßigen Intervallen Dampf abließ. Ein metallisches Fauchen, dem ein klapperndes Gurgeln folgte, als die Ventile gegen den Druck arbeiteten. Dabei stieg ein schmaler weißer Dampfstrahl aus einer Spalte und verlor sich rasch in der Morgendämmerung.
Erschöpft tastete Ash nach dem Ledersack, in dem er die gestohlenen Oboli aufbewahrte. Das fremde, kalte Leuchten des runden Siegels hatte er noch in seiner inneren Jackentasche verstaut, fern genug, dass er es nicht berühren musste, nah genug, dass er es nicht verlor.
Beim Gedanken daran, was er eigentlich gestohlen hatte, drehte sich ihm der Magen um. „Null“, so hatten die Wachen gerufen. Ein Wort, das Angst in ihre Stimmen gebracht hatte. Er kannte genug Gerüchte über Tabu-Artefakte und Sigilla-Rituale, die man im Mnemonicum hütete. Doch keines war je so berüchtigt wie „Null“. Ob es wirklich das Ende aller Erinnerung herbeiführen konnte? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass Favra Null es unbedingt zurückhaben wollte.
Seufzend erhob er sich und zwang seinen schmerzenden Körper in Bewegung. Sein Knie protestierte laut gegen jeden weiteren Schritt, doch Aufgeben kam nicht infrage. Er musste Nika finden. Wer wusste, ob die Soldaten sie gefangen hielten, um ihn aus der Reserve zu locken. Die Patrouillen kannten keine Gnade, wenn es um Druckmittel ging.
Langsam drückte er die morsche Holztür auf und trat in eine Gasse, deren Boden mit Pfützen übersät war.
Die schmierige Brühe stank nach fauligem Öl und Moder, und die Wände trugen Farbe, die man in der Nacht hastig über alte Graffiti gepinselt hatte. Irgendwo lief ein Kind vorbei, barfuß, mit eingefallenen Wangen. An den Ecken sah er Gestalten, die sich in Löcher duckten, ängstlich oder teilnahmslos.
Eine zierliche Frau, vielleicht Mitte vierzig, hockte an einem buckligen Karren und versuchte, einen R0-Tausch für ihre letzte Brotrinde zu verhandeln. „Nur noch eine triviale Erinnerung… ich kann keine Tränen mehr abgeben“, murmelte sie, als ihr Gegenüber unwirsch abwinkte.
Ash schoss ein bitterer Gedanke durch den Kopf: Du könntest ihr helfen, hast ja genug wertvolle R3-Quittungen. Doch er war nicht so naiv.
Ein plötzlicher Reichtum in der Grube weckte sofort die Aufmerksamkeit der Wachen oder der Schlägertrupps. Wenn er sich verriet, würde man ihn lebendig ausweiden, um den Tabu-Fund zurückzuholen.
Keuchend humpelte er weiter, immer darauf bedacht, die Stimme gedämpft zu halten und keinem Soldaten aufzufallen. Nach einigen Gassen erreichte er einen notdürftig gedeckten Platz, auf dem ein paar Brettertische standen. Dort versuchten ältere Leute, Rübenstücke oder gekochte Glimmerkäfer zu verkaufen. Alles wirkte grau und verwittert. Die wenigen Kunden huschten vorbei, starrten in den Regen.
Er sah einen Jungen mit wirrem Haar, der ihm vage bekannt vorkam. Einer von Nikas Bekannten vielleicht? Ash trat näher, nannte leise den Namen Nika. Der Junge wich zurück, wirkte scheu. Dann erkannte er Ash. „Bist du’s?“, hauchte er. „Man sagt, du hättest was wirklich Großes vor…“ Ash rang sich ein Lächeln ab. „Ich suche Nika. Hast du sie gesehen?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein… wir wollten uns vorgestern treffen, aber sie kam nicht. Ich hab gehört, Soldaten schleichen herum, fragen nach ihr…“
Ashs Herz pochte. Soldaten suchten also nach Nika. Ob sie ihr etwas angetan hatten? Er bedankte sich flüchtig, presste dann die Lippen zusammen. Das Knirschen in seinem Schultergelenk machte deutlich, wie schwer ihm jede Bewegung fiel. Er brauchte wenigstens einen groben Plan. Doch in Lethane gab es keine Zeit, sich auszukurieren. Schon gar nicht mit so etwas wie dem Null-Siegel in der Tasche.
Am Ende einer Gasse knatterte ein Dampfwagen vorbei, aus dem zwei Soldaten ausstiegen. Rasch duckte Ash sich hinter einem Stapel Kisten, horchte. „…nichts gefunden, habt ihr?“ fragte der eine mit genervter Stimme. Der andere spuckte aus: „Nur Bettler und leere Hütten. Aber Favra sagt, wir sollen jeden Quadratzentimeter durchkämmen. Der Dieb muss sich irgendwo verbergen.
Vielleicht hat er Verbündete.“ Ein Eiszapfen kroch in Ashs Magen, und seine Finger wurden taub. Sie waren ihm dichter auf den Fersen, als ihm lieb war. Und womöglich hatten sie Listen von Leuten, die infrage kämen, ihn zu verstecken. Er schluckte. Er warf einen unsicheren Blick auf den Lumpensack, in dem er die Quittungen trug. Er fluchte innerlich, wie seltsam ironisch es war, im Moment so reich zu sein und doch so wehrlos durch die Gassen zu schleichen.
Langsam zog er sich zurück, verließ die Gasse in die nächste Seitenstraße, die einen müffelnden Kanal entlangführte. Dort stieg ihm der Geruch nach Fäulnis und Rost in die Nase. Manche Hauswand war hier eingestürzt, Metallverstrebungen hingen lose herum. Es war eine stumme Landschaft aus verkohlten Brettern, die man nicht mehr reparierte. Er fragte sich, ob Nika vielleicht in diesen Ruinen Schutz gesucht hatte. Sie war klein, schlank und raffiniert genug, sich zu verstecken. Aber wie lange würde sie durchhalten?
Seine Knie drohten bei jedem Schritt nachzugeben; ein leises Knacken begleitete jede Bewegung. Er lehnte sich an eine rostige Eisenstrebe und merkte, wie sein Kopf sich benebelt anfühlte, vielleicht von Fieber oder Blutverlust. Die Schulter hatte er notdürftig mit einem Tuch verbunden. Man brauchte eine anständige Wundversorgung; jeder Tag machte es schlimmer.
Doch wer sollte ihm helfen, ohne Fragen zu stellen? Eine Grauzone, dachte er. Vielleicht ein Schmuggler? Kurz dachte er an Celesta, aber sie war nicht gerade diskret und könnte am Ende mehr Probleme anziehen.
Ein kindliches Wimmern riss ihn aus seinen Gedanken. Er wandte den Kopf, sah ein dürres Mädchen, das hinter einem umgekippten Karren kauerte. Einen Moment hoffte er, es sei Nika. Doch bei näherem Hinsehen war es ein fremdes Kind, nicht älter als zehn. Ihre Augen waren gerötet. Als Ash nähertrat, zog sie sich ängstlich zurück.
„Ich tu dir nichts…“, sagte er leise. „Bist du allein?“ Das Mädchen nickte stumm, hüllte sich in ein zerlumptes Tuch. Er erkannte, dass ihre Zähne klapperten und kaum noch Kraft hatte, aufzustehen.
Ein Teil von ihm wollte weitergehen. Er hatte genug eigene Sorgen. Doch sein Herz zog sich zusammen, als er an Nika dachte. Sie war nicht viel älter, und er sah vor sich, wie sie in dieser Lage stecken könnte. Er tastete an seinen Gürtel, griff nach einer kleinen R0-Münze, die er in einer Seitentasche verwahrte – ziemlich wertlos, aber besser als nichts.
Er legte sie neben das Mädchen. „Kauf dir was zu essen“, murmelte er. Sie starrte ihn unsicher an, nahm die Münze dann hastig an sich, als würde sie fürchten, dass er sie sich wieder holte.
Manchmal hasste er diese Stadt so sehr, dass er es kaum in Worte fassen konnte. Er straffte sich, schleppte sich weiter. Hätte er mehr Zeit und Mut, könnte er eine seiner größeren Quittungen opfern, doch das wäre Wahnsinn. Ein R2 in der Grube einzusetzen, machte ihn zur Zielscheibe. So stieß er voran, getrieben von Schmerz und Zorn, bis er endlich an eine alte Lagerhalle kam, die ihm vage vertraut war.
Dort hatte er einst ein paar Nächte verbracht, bevor er bei Nika Zuflucht fand. Vielleicht war die Halle noch leer? Er brauchte dringend einen Ort zum Verschnaufen.
Unter dem zerfallenen Vordach pfiff es dünn, als strich Wind durch ein verbogenes Metallrohr. Er schob die Tür beiseite und fand dahinter nichts als Dunkelheit und Kistenstapel, überzogen von feinem Staub und Spinnweben. Modriger Ölgeruch stieg ihm in die Nase; irgendwo tropfte ein undichtes Ventil. Keine Menschenseele. Perfekt.
Er schlich hinein und prüfte, ob die Hinterwand noch verriegelt war. Über ihr lagen die Reste einer Metallstrebe – ein provisorischer Riegel, den niemand so leicht brechen würde. Ein sicherer Ort, um Zeit zu gewinnen.
Er ließ sich auf einen zusammengestürzten Kistenhaufen sinken; in seiner verletzten Schulter bohrte sich der Schmerz wie glühende Nadeln. Dumpfes Hämmern im Schädel drohte, ihn umzukippen. Bilder der letzten Nacht flackerten auf: das innere Labyrinth, Sigilla-Fackeln, Wachen, die „Null“ schrien. Ein Schauer rann über seinen Rücken.
Er klammerte sich an den Beutel, als hinge sein Leben daran. Darin glommen die goldenen Quittungen.
Doch wozu taugen R2- oder gar R3-Oboli, wenn der eigene Körper versagt? Vielleicht brauchte er wirklich einen Hinterhof-Heiler, jemanden, der gegen Bezahlung behandelte, ohne das Mnemonicum einzuschalten. Riskant, aber weniger tödlich als eine Blutvergiftung. Und ohne Behandlung würde er Nika nie helfen können.
Entschlossen rappelte er sich auf und tastete sich in Richtung der Heiler-Zone. Beim ersten Schritt schwankte er, stützte sich an einer Kiste. Seine Hand strich über die Jacke, in der das Null-Siegel steckte – sofort jagte ein eisiger Krampf durch seine Nerven. Er riss die Finger weg, keuchte, als hätte er glühendes Eisen berührt. Was bei Favra war dieses Ding?
„Verdammt …“ Das Wort kam eher als heiseres Stöhnen. Er taumelte zur Tür; jede Faser schrie nach Rast, doch verweilen konnte er hier nicht. Besser, die Wunde versorgen, dann nach Nika suchen, ehe Favras Schergen sie fanden. Er schob die Tür zu und verschloss sie notdürftig.
Der Regen hatte sich in feines Nieseln verwandelt, das alles in glimmendes Grau tauchte. Abflussventile gurgelten brackiges Wasser in schmierige Rinnen. Er schlurfte los, versuchte, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Gerüchte besagten, Favra setze ein Kopfgeld auf den Dieb, der „Null“ entwendet hatte. Jede weitere Stunde erhöhte das Risiko.
Schließlich öffnete sich vor ihm eine breite Gasse, in der verfallene Holztische ein provisorisches Lazarett bildeten. Hier arbeitete Sorvis – ein zwielichtiger Heiler, der keine Fragen stellte, solange Oboli flossen.
Ash huschte an der Bretterwand entlang, bis kräuteriger Dampf aus einer Nische quoll. Ein Vorhang, dahinter eine Kammer mit einer ölig flackernden Lampe. Sorvis, sehnig und hager, beugte sich über einen Mörser. Er hob den Blick und musterte Ash schweigend.
„Ich … brauche Hilfe.“ Ash deutete auf seine blutverkrustete Schulter. Sorvis’ Miene blieb starr; wortlos griff er nach einem Tiegel, in dem dicke Paste bei einem R0-Docht blubberte.
„Zahlung?“ Die Frage klang sachlich, fast gelangweilt.
Ash schluckte. Er fischte eine R1-Quittung hervor – kein Vermögen, aber genug für einen Spelzenheiler. Kaum berührte er das Papier, überrollte ihn der unvermeidliche kurze Schwindel – der Rückstoß eines R1, wie das Reglement es verheißt. Sorvis’ Augen blitzten.
„Setz dich“, zischte er.
Ash gehorchte, presste die Zähne zusammen, während Sorvis den Stoff zerfetzte und die Wunde freilegte. Der Heiler schwieg, rührte den Mörserinhalt und drückte die Paste in das klaffende Fleisch. Es brannte wie Feuer. Ash biss ein Stöhnen ab.
„Nicht so zaghaft“, murmelte Sorvis. „Sei froh, wenn du den Arm behältst.“
Wenige Minuten lang spürte Ash ein scharfes Pochen, und er glaubte, sein Kopf würde explodieren. Doch dann verklang das Brennen zu einem dumpfen Brodeln, als zöge die Paste Fieber und Eiter aus dem Fleisch. Sorvis verband das Ganze mit einem abgewetzten Stoffstreifen, in den er Sigilla-Muster geritzt hatte.
Kein großes Ritual, aber genug, um die Infektion einzudämmen. Danach schob er ihm die R1-Quittung hin, ohne ein Wort. Ash wusste, dass er nicht mehr verlangen durfte.
„Danke“, keuchte er. „So … belassen wir’s dabei.“
Der Mann gab keinen Mucks von sich, wandte sich seinem Mörser zu. Ash trat hustend zurück, spürte allerdings, dass das Fieber ihn etwas losgelassen hatte. Er tappte durch den Vorhang, blickte in die Gasse. Kein Soldat in Sicht. Er atmete durch, dabei sackte er fast in sich zusammen. Das war verdammt knapp.
Mit etwas klarerem Kopf trat er ein paar Schritte in einen Seitengang, der ins Halbdunkel führte. „Nika … wo bist du?“ flüsterte er. Er hatte Angst, dass sie längst in Favras Fängen war. Vielleicht hatten die Soldaten ihr dieselbe Falle gestellt wie ihm. Die Vorstellung, dass man sie folterte oder ihrer Erinnerungen beraubte, ließ ihn würgen. Eilig schüttelte er den Kopf, wollte nicht schwach werden. Lieber tot als hilflos zusehen.
Nach einer weiteren Stunde Herumirrens hörte er an einer Ecke zwei Leute tuscheln. Eine scheppernde Stimme berichtete einem anderen, dass Favra an ihrer Glocke experimentiere.
–„Noch ein Probeläuten, und wir vergessen wieder die Hälfte der Nebengassen. Hast du nicht gehört, wie sie’s nennt? Den Großen Schnitt.“ –
„Ja, schrecklich. Aber das wird sie nur tun, wenn sie ihre Beute nicht wiederbekommt, heißt es.“ – „Dieser Dieb … wer ist er?“ – „Keiner weiß es. Aber wenn sie ihn schnappen, Gnade ihm.“ Ash krümmte sich an der Wand, das Herz raste.
Favra drohte, die ganze Stadt in Vergessen zu stürzen – Ashs Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken – nur weil er ihr „Null“ entrissen hatte? Er ahnte, dass das kein leeres Gerede war.
Favra scherte sich nicht um Verluste, solange sie am Ende die Oberhand behielt.
Bald spürte er, wie die Erschöpfung sich wieder seiner bemächtigte. Seine Gedanken wirbelten: Er müsste fliehen, irgendwo aus Lethane entkommen – aber wie, bei den gegenwärtigen Sperren und seiner verletzten Verfassung? Außerdem war da Nika; er würde sie niemals zurücklassen. Er merkte, dass er ziellos wurde, den halben Tag verschwendete, ohne wirkliche Spur von ihr. Diese Unsicherheit fraß an ihm.
Am späten Nachmittag, als der Himmel sich in bleiernes Grau färbte, duckte er sich unter ein notdürftig gespanntes Zelttuch, das ein paar Gassenbewohner als Unterschlupf nutzten. Doch es war überfüllt; Kinder und alte Leute lagen beengt, kaum mehr als stöhnende Leiber, denen man jede Hoffnung geraubt hatte. Ein säuerlicher Geruch nach kalter Suppe, Schweiß und feuchtem Stein hing in der stickigen Luft.
Er beschloss, weiterzugehen. Jede Szene war ein Stich ins Herz, doch er durfte nicht selbst zusammenbrechen.
Irgendwo schien eine Gruppe Menschen aufgeregt zu reden. Er vermutete eine Auseinandersetzung, vielleicht Streit um Essensreste. Doch als er sich näher schlich, hörte er das Wort Glockenschlag, gefolgt von fluchenden Stimmen. Zwei ältere Männer sagten, Favra habe den Befehl erteilt, mehr Patrouillen in die Grube zu schicken, um Sündenböcke zu finden – Leute, die womöglich dem Dieb halfen. Ash schluckte. Die Zeit, sich hier frei zu bewegen, lief ab. Er würde die ganze Grube in Mitleidenschaft ziehen, je länger er blieb.
In einer finsteren Gasse, halb von Schutt versperrt, fand er eine Lücke in einem Mauersegment, das in eine Art Katakombenkeller führte. Er kroch hinein, verschaffte sich ein kleines Lager, indem er ein paar Steine beiseite räumte.
Sein Kopf hämmerte, sein Körper flehte um Ruhe. Hier war es moderig und eng, aber sicher vor neugierigen Blicken. Diesmal richtete er den provisorischen Verband sorgfältig, nahm sich Zeit, den Sack mit den Quittungen zu überprüfen. Dutzende R2, womöglich ein, zwei R3 – ein unglaublicher Schatz.
Ein Teil von ihm juckte es, diese Münzen an sich zu drücken und sich damit Sicherheit zu kaufen. Doch er wusste, dass die Stadt Wache stand; irgendwo da draußen würde man ihn sofort melden.
Er seufzte und griff widerwillig in seine Jackeninnentasche. Das Null-Siegel – ein R5-Artefakt mit potenziell tödlichem Rückstoß. Ein starrer, glatter Kreis, auf dem sich keine Schrift befand, nur ein kühles Flimmern, wenn er es schräg gegen das diffuse Licht hielt.
Er spürte wieder diesen eigenartigen Sog. Schon beim Gedanken an die Stumme Glocke in Favras Besitz drehte sich ihm der Magen um. War es möglich, dass dieses Tabu-Artefakt genau der Schlüssel war, um Favra zu einem Massenritual zu drängen? Ein finsterer Verdacht, den er nicht abschütteln konnte.
Mühsam legte er das Ding beiseite und lehnte den Kopf an die kühle Steinwand. Die letzten zwei Tage in Lethane waren die schlimmsten seines Lebens gewesen, dabei hatte er dieses haarsträubende Vorhaben einfach unterschätzt. Statt befreit zu sein, stand er am Abgrund, und Nika war unauffindbar.
Keine Neuigkeiten, außer dem Flüstern, dass Favra sämtliche Kinder in der Grube scannen ließ. Ein Grauen stieg in ihm auf. Aber in seiner Erschöpfung sank er wieder halb in einen Dämmerschlaf, den Kopf dröhnend, den Körper wehrlos.
Einige Stunden später rüttelte ihn Lärm wach: Stimmen, polternde Schritte.
Ein Trupp Wachen zog draußen vorbei, riss wohl die eine oder andere Tür auf und suchte nach Spuren. Ash verharrte im Versteck, presste sich an den Stein.
Seine Schulter tat weh, aber wenigstens hatte er keine offenen Fleischwunden mehr. Er biss sich auf die Lippe und verharrte, bis die Stimmen fern waren.
Langsam schlich er aus der Nische. Draußen war es fast Nacht. Das Zwielicht verwandelte die Gassen in ein schauriges Labyrinth aus Regen und Dampf, aus Zahnrädern und rußigen Wänden. Schwere Nebelschwaden stiegen vom tiefer liegenden Kluftschlund auf.
Er wollte nicht nochmals stundenlang ziellos umherirren. Vielleicht war es an der Zeit, sich versteckt zu halten, bis eine Gelegenheit kam, Gerüchte zu bündeln oder Nika herauszuschmuggeln. Doch jedes Zögern ließ Favra mehr Zeit, ihre Rache zu planen.
Ein letztes Mal stolperte er durch ein Gewirr aus Bretterstegen und Mauerlücken. Er schaffte es, in einem kaputten Areal Unterschlupf zu finden, in dem nur noch verrostete Zahnräder lagerten. Dort zog er zwei alte Bretter zusammen, formte sich ein kleines Lager. Er kroch hinein, erschöpft. Er legte den Sack sorgsam an die Seite, das Null-Siegel in der Jackeninnentasche, und bettete seinen Kopf auf den Arm. Regen tropfte durchs morsche Dach, prasselte in einem Takt, den er beinahe meditativ fand.
Damit schloss sich sein dritter Tag auf der Flucht und in Qual, ohne Nika gefunden zu haben, ohne klare Perspektive, wohin all sein gestohlener Reichtum führen sollte. Was er hatte, war Angst, Verzweiflung und ein seltsames Artefakt, das der halben Stadt das Genick brechen könnte. Er war sich sicher, dass der nächste Morgen nichts Gutes brachte, vielleicht neue Patrouillen oder Schlimmeres. Aber er klammerte sich an den Funken, dass er Nika retten konnte.
Wenn er überlebte – wenn er es schaffte, die Goldenen Quittungen klug einzusetzen, würde er Nika retten können.
Als sich sein Bewusstsein in eine kalte, fiebrige Nacht hinabsenkte, dachte er an Favra Null.
Ihre Glocke, von der man munkelte, ein einziger großer Schlag würde Lethane in eine weiße Stille stürzen, die keinen Namen mehr kannte. Wenn das stimmte, war es nur eine Frage der Zeit, bis Favra es tatsächlich versuchte, wenn sie ihr Null-Siegel nicht zurückbekam. Und niemand, außer ihm, wusste, dass er es in seiner Jacke hütete. So stand er allein an dieser Schwelle. Er hätte schreien mögen, aber der Lärm in seinem Kopf brach ab, sein Körper war zu müde.
Er schlief ein in eine tiefe, traumlose Dunkelheit. Über ihm spannte sich das unbarmherzige Dach Lethanes, zerfressen von Rost und Misstrauen. Es war getränkt in Regen und Dampf – in einer Welt, die Erinnerungen als Münzen tauschte und Gnade verlernt hatte.
Dies war das Ende der ersten Etappe seines verzweifelten Coups: Noch wusste niemand genau, wer der Dieb war, aber die Schlinge zog sich zusammen. Und Ash war bereit, selbst im Morast der Grube zu kämpfen, wenn es sein musste. Er würde Nika finden, würde sie vor Favra schützen – oder beide würden in diesem Albtraum zugrunde gehen.
Doch noch gab es einen Funken Hoffnung in der Dunkelheit, irgendwo, wo Maschinen atmeten und Kinderlachen fehlte. Während er am Boden lag, schlug sein Herz langsamer, der Schmerz in der Schulter war zu einem glühenden Hintergrundrauschen geworden. Er drückte die Lippen aufeinander und fühlte ein letztes Zucken von Wut und Willenskraft, ehe die Erschöpfung ihn forttrug. All das war Teil seines ersten Kapitels in diesem absurden Spiel gegen Favra. Morgen würde eine neue Seite aufgeschlagen werden, mit oder ohne die Hilfe jener Quittungen, die er an sich gerissen hatte.
Und so endete die Nacht. Lethane atmete weiter in rostiger Taktung, Zahnräder klapperten, Dampfschwaden stiegen, Soldaten polterten und riefen in den Straßen. Irgendwo in der Ferne, glomm der Schein einer violetten Sigilla-Fackel.
Ash hörte gedämpfte Alarmrufe, die immer mal wieder aus dem klatschenden Regen auftauchten.
Doch er war zu erschöpft, um noch einmal aufzustehen. Er träumte von einer alten, halbentstellten Kathedrale, in der sich eine riesige Glocke an Ketten wiegte, und spürte kaltes Blut an seinen Händen, während man ihn rief: „Null, Null…“
So blieb nur sein Zittern und die Ahnung, dass Favra näher kam, gleich einem unerbittlichen Pfeil, der von der Spitze her Gift trug. In der Morgendämmerung würde sich diese Stadt anders anfühlen, und er würde sich entscheiden müssen: Fliehen oder kämpfen, verstecken oder versuchen, Nika mit einer Welle aus gekaufter Erinnerung freizukaufen.
Wenn ihm bis dahin noch Zeit blieb.
Der Regen, der in der Nacht wie nadelfeine Schauer über die Dächer gepeitscht hatte, war abgeflaut. Jetzt, im fahlen Morgengrauen, lastete eine bedrückende Schwüle auf dem Elendsviertel der Stadt – der Grube. Hier war Lethane am trostlosesten – ein Wirrwarr aus brüchigen Holzdielen, über denen lose Zahnradkonstruktionen knarrten. Dampf stieg aus unzähligen Löchern auf, als trüge der Untergrund eine fiebrige Hitze in sich.
Ash hatte den größten Teil der Nacht in einem baufälligen Bretterschuppen verbracht. Mehrmals war er aufgeschreckt, weil ihm das ferne Klirren von Marschstiefeln und Waffen in den Ohren hallte – Soldaten, so glaubte er, dicht auf den Fersen. Die Schürfwunden an seiner rechten Schulter pochten; im feuchten Klima brannten sie noch stärker. Doch die eigentliche Last wog unsichtbar: der Sack mit den goldenen Quittungen, den er nach seinem überstürzten Raubzug aus dem Mnemonicum mit sich trug – und das mysteriöse, namenlose Artefakt, das er bloß als „Null-Siegel“ kannte.
Er steckte noch fest in seiner Diebeskluft, die ihm in der Nacht so viel Bewegungsfreiheit ermöglicht hatte. Sein aschblondes Haar hing ihm ins Gesicht, immer noch feucht vom Regen. Während er sich langsam aufrichtete, spürte er jeden Muskel in den Beinen. Er war in der Dunkelheit stundenlang geflohen, hatte kaum Luft geholt, immer in der Angst, die Patrouillen könnten ihn stellen.