Die City - Hannelore Schlaffer - E-Book

Die City E-Book

Hannelore Schlaffer

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Beschreibung

City – das ist kein modischer Anglizismus zur Benennung dessen, was einmal Altstadt oder Innenstadt hieß. City ist ein Lebensstil. Er hat sich in der Nachkriegszeit, vor allem aber in den letzten dreißig Jahren, im Zentrum der deutschen Städte ausgebildet. Hier wird er stoßweise erfahrbar: durch Pendler- und Besucherströme aus dem Umland, Anwohner sind kaum noch zu finden. Die Resultate einer verfehlten Baupolitik vor Augen, wenden Stadtplaner sich wieder dem Zentrum zu. Gegenwärtige Abhandlungen über die Stadt beschäftigen sich deshalb auch eingehend mit der Frage, wie urbanes Leben wiederherzustellen und zu lenken sei. Hannelore Schlaffer, Liebhaberin und Chronistin städtischen Straßenlebens, hat über Jahre hin beobachtet, wie die 'gelenkten' Bürger mit Häusern, Plätzen und Gastlichkeiten in der City umgehen. pointiert beschreibt sie, wie sie sich bewegen, sich für den Stadtbesuch herrichten, sich miteinander gehaben, und liefert damit zugleich eine Theorie moderner Lebensformen.

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Seitenzahl: 162

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Reihe zu Klampen Essay Herausgegeben von Anne Hamilton

Hannelore Schlaffer,

geb. 1939, lebt als freie Schrift- stellerin und Publizistin in Stuttgart. Von 1976 bis 1978 war sie Lektorin in Paris, seit 1982 hat sie eine außerplanmäßige Professur für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Freiburg und München inne. Sie schreibt regelmäßig für Tageszeitungen und Rundfunkanstalten und hat Bücher und zahlreiche Aufsätze vor allem zur Literatur der deutschen Klassik und Romantik sowie mehrere Essaybände vorgelegt. Von ihr sind zuletzt erschienen »Mode, Schule der Frauen« (2007) und »Die intellektuelle

HANNELORE SCHLAFFER

Die City

Straßenleben in der geplanten Stadt

zu KlampenEssay 2013

Inhalt

Cover

Titel

Vorwort und VorgeschichteDie sprechende, die erzählte und die nichtssagende Stadt

City – was ist das?

City, das gut geführte Unternehmen

Das City-Center

Stundenplan, Stadtplan

Keine Politik, wenig Geschichte

Das Gesamtkunstwerk City

Die kulinarische Demokratie

Die Natur des Städters

Von der bedrohlichen Masse zur friedlichen Menge

Ausklang und Zukunftsmusik

Impressum

Vorwort und Vorgeschichte

Die sprechende, die erzählte und die nichtssagende Stadt

Die Stadt ist, wie der Stamm, die Familie, die Kultgemeinschaft, eines der grundlegenden und die Zeiten überdauernden Ordnungsmuster der menschlichen Gesellschaft. Man trug den Namen der Stadt so gut wie den seines Heiligen und seiner Familie, hieß Cusanus, da Vinci, de Poitiers, von Gandersheim. Noch heute schätzt sich ein Mensch anders ein, je nachdem ob er ein Berliner, ein Münchner oder ein Stuttgarter ist. Zumindest gibt es noch heute Städte, die eine »gute Adresse«, und solche, die eine »schlechte« sind. In Wolfgang Braunfels’ Buch »Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana« (1953) erfährt man, dass in dieser frühen Epoche die Stadt wie ein Haus verstanden wurde, an dessen Errichtung alle Bürger mitarbeiteten, so wie Familienmitglieder heute bei einem Umzug anzupacken haben. »Die Vorstellung sah in ihr [der Stadt] zu jedem Zeitpunkt ein einheitlich errichtetes, hochaufragendes Bauwerk, in dessen planvoller Gestaltung sich ein hoher und ideeller Gedanke spiegelt.« Das Stadtgebilde war so kompakt, dass es, wie Siena, einem Heiligen in die Hand gegeben werden konnte. »Haec est civitas mea« – lautete die Unterschrift unter den Tafeln solcher Stadtheiligen. Noch auf den Stichen von Matthäus Merian nehmen sich Städte aus wie Dinge, die durch die Mauer definiert sind, wie die Nuss durch die Schale, der Mensch durch seine Haut. Bis in die jüngste Gegenwart reicht dieses Wissen von der Bedeutung der Stadt für die menschliche Existenz. »Zu den ältesten Ruhmestaten des Menschen gehört, dass er ein Stadtgründer ist. […] auf Münzen wird oft der Herrscher als solcher dargestellt. Dies also war gleich wichtig wie die Veranstaltung einer Feldschlacht.« (Wolf Jobst Siedler, »Die gemordete Stadt, Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum«, 1964)

Keine Stadt von heute wäre noch einem Heiligen in die Hand zu legen, und nicht etwa deshalb, weil aus Gotteskindern Stadtkinder geworden sind. Der Fall der Stadtmauer bewirkte die Säkularisation der Stadt. Mit ihr verliert sie ihre dingliche wie ihre spirituelle Wesenheit. Sie kann nicht mehr als Haus, sie muss als soziales Gebilde beschrieben werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich von der gebauten Stadt, die Symbol und Machtzentrum war, auf die Bewohner. Von nun an ist die Stadt die schönste, von der am meisten erzählt wird.

Diese Stadt ist Paris. Ein heftiger Kampf tobte um seine Mauern. Sie waren jedoch nicht etwa gegen bewaffnete Feinde zu verteidigen. Zuwanderer vielmehr, die sich in der Stadt Erlösung von ihrer Armut erhofften, sprengten sie. Die Mauern wurden immer weiter hinausgeschoben, es wurden neue errichtet, und endlich fielen sie ganz. Heute erinnern nur noch die Boulevards (der Begriff leitet sich von »Bollwerk« her) an diese Epoche, in der sich die Stadt als Haus zur Stadt ohne Tür und Tor verwandelte. Dieses Gebilde war nicht mehr mit einem Blick zu erfassen, sondern nur noch durch viele Worte zu beschreiben. Louis-Sébastien Mercier (1740 – 1819) schuf eine neue Gattung der Literatur, Notizen über das städtische Leben, vergleichbar dem Notebook des heutigen Ethnologen, die er 1781 als »Tableau de Paris« publizierte. Er entdeckte den Menschen als soziales Wesen und die Stadt als soziale Organisation. Die Ethnologie begann im Innern der Gesellschaft, auf dem Terrain der Stadt, wo sich Einwohner, Zuwanderer und Besucher zu einer bis dahin unbekannten Einheit vermischten, die es zu studieren galt. Von da an bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein wurde die Stadtbeschreibung ein wesentlicher Bestandteil des metropolitanen Selbstbewusstseins, auch in Deutschland, wo Literaten Städte wie München und Berlin nach dem französischen Vorbild darzustellen suchten. Die Stadt ohne Mauern wurde zur Stadt mit dem interessanten Straßenleben.

Mercier, der erste Memoirenschreiber der Stadt, erklärt es ausdrücklich zu seiner Absicht, gelebtes Leben der Nachwelt zu überliefern: »Ich werde von Paris reden, nicht von seinen Bauwerken, nicht von seinen Tempeln und Monumenten, seinen Sehenswürdigkeiten etc.: genug andere haben darüber geschrieben. Ich werde von den öffentlichen und privaten Sitten sprechen, von den herrschenden Ideen, von der gegenwärtigen geistigen Situation, von allem, was mich in diesem seltsamen Durcheinander von absonderlichen oder vernünftigen, aber immer wechselnden Gewohnheiten frappiert hat.« Sein »Tableau de Paris« erreichte die für jene Zeit unglaubliche Auflage von 100 000 Exemplaren. Mercier begründet die Großstadtreportage, indem er Mensch und Umwelt, architektonische Struktur und lebendige Bewegung darin miteinander verband. Dabei lässt er kein ruisseau, keinen Rinnstein, keine latrinepublique aus, beschreibt ebenso die Geruchsbelästigung für den Passanten wie Farbenpracht oder Elend ihrer Erscheinung. Die auf die Revolution zustrebende Gesellschaft verschlang diese neue Art von Literatur, denn sie hatte den Blick von den Herrschenden, von König und Kirche, ab- und dem Alltagsleben, also sich selbst, zugewandt. Die anekdotischen Feuilletons über die Stadt, die im 19. Jahrhundert aus Merciers Entdeckung hervorgingen und die Leser der Zeitungen auf unterhaltsame Weise mit sich selbst bekannt machten, haben den historisch bedeutsamen Ursprung dieser Gattung vergessen gemacht: ihr Bündnis mit Aufklärung und Revolution und ihren Beitrag zur Entwicklung eines demokratischen Selbstbewusstseins.

Dennoch hat die Erzählung die Stadt vom Lebensraum, wie Mercier ihn entdeckte, zum Lebenstraum werden lassen, den die Schriftsteller verklärten und den noch heute Touristen suchen. Seit dem 19. Jahrhundert war die Stadt literarisches Faszinosum und realer Schrecken zugleich. Die einen beschrieben den anonymen Passanten in der Masse, die Entwurzelung des Menschen in der Stadt, die Stadt als Moloch und Oger, als Sündenbabel und Börsenplatz. Andere wieder, und das waren nicht wenige, begeisterten sich für das Abenteuer der modernen Existenz, für Anonymität und Individualität des unbeaufsichtigten Lebens, wie es die Metropole erlaubte.

Balzac und Dickens begannen ihre literarische Karriere als Zeitungsschreiber mit sogenannten Physiologien, Charakterstudien jener Typen von Stadtbewohnern, die sie auf den Straßen antrafen: »Die Passanten«, so befindet Balzac in der 1846 im »Diable à Paris« erschienenen »Geschichte und Physiologie der Boulevards von Paris«, »sind Komödianten, ohne es zu wissen. […] Sie lachen, lieben, leiden und lächeln, sie schneiden Gesichter, in denen Tiefsinn oder Hohlheit steckt. Man kann nicht über zwei Boulevards gehen, ohne einem Freund oder einem Feind zu begegnen, ein Original zu sehen, das zu lachen oder zu denken gibt, einen Armen, der nach einem Sous begehrt, einen Vaudevillier (Kabarettisten), der nach einem Sujet jagt.« Alle diese Erscheinungen erfasst die Physiologie in kleinen Porträts, die durch Humor, Spott, Satire die Bürger mit der ausufernden und daher beängstigenden Masse von Fremdem vertraut machte. Balzac beschreibt den Antiquitätenhändler, den Bouquinisten, den Rentier, den Beamten, andere Schriftsteller skizzierten den Studenten, den Schauspieler, die Kokotte. Auch Orte wurden physiologisch erfasst, wie etwa die »Cafés de Paris«. Franz Hessel, der nach diesem Vorbild Berlin beschrieb, nennt Paris »die Vorschule des Journalismus«. 1826 erschien Brillat-Savarins »Physiologie des Geschmacks«, die, obgleich sie von der Kochkunst handelte, als Beobachtung des alltäglichen Lebens auch die Aufmerksamkeit auf die Stadt anregte. Balzac bewunderte an Savarins Schrift den »saveur du style«, den »Geschmack des Stils«, und versuchte einen ähnlichen für die Stadtbeschreibung zu entwickeln. Ehe die Texte im Buch gesammelt wurden, waren sie meist in Zeitungen erschienen und wurden seither als Feuilletons im engeren Sinne verstanden. Zwischen 1815 und 1840 entstanden über 400 Bände dieser Art. Stadt war, was der physiologue beschrieb. Wo seine Feder stillstand, begann die Peripherie, für Balzac etwa an der Port St. Denis: »L’ennui vous y saisit […] Il n’y a plus rien d’original«, konstatiert er in der »Physiologie der Boulevards von Paris«. Nicht die Mauer, der Literat bestimmte, was als Stadt zu gelten habe.

Wie der aus der Naturwissenschaft entlehnte Begriff andeutet, strebt die Physiologie eine Analyse des Straßenlebens an, sucht ein möglichst exaktes, geradezu wissenschaftliches Ordnungssystem zu entwickeln, nach dem sich jene Unbekannten, die sich dort zeigen, als notwendige Elemente beschreiben ließen für die Lebensweise des Organismus Stadt. Die Physiologien gaben dem Passanten im Chaos der Metropole eine Orientierung an die Hand. Im Unterschied zur Moralistik des 17. Jahrhunderts, der La Rochefoucaulds oder La Bruyères, von denen die Physiologen allerdings die Wachsamkeit auf gesellschaftliche Phänomene gelernt haben, waren die Stadtfeuilletons des 19. Jahrhunderts nicht mehr, wie noch Merciers »Tableau«, moralisch, sondern satirisch, wenn sie nicht überhaupt nur unterhalten wollten. In gespielter Bescheidenheit nennt Balzac den physiologue einen »rienologue«, einen Nichtigkeitensammler, manchmal schätzt er ihn aber auch als Botanisierer, der den »petits faits significatifs«, bezeichnenden Kleinigkeiten, auf der Spur sei, die für die Naturgeschichte der Gesellschaft bedeutsam sein könnten – und falls sie das sind, so steigt der Botanisierer in seiner Achtung sogleich auf zum »dieu de la bourgeoisie actuelle«.

Durch Stadtfeuilleton und Physiologie erhielt das Straßenleben eine bis dahin unbekannte Wichtigkeit. Selbst im französischen Roman wird die Straße zum Hauptakteur. Der geschulte – phantasievolle – Blick des Romanciers vermochte aus Gang und Miene das Geheimnis des Passanten zu erschließen und in eine Geschichte zu verwandeln. Ehe dieser literarische Beobachter seine Fähigkeiten entwickelt hatte, war die Straße nichts gewesen als eine Schneise zur Fortbewegung; erst das 19. Jahrhundert entdeckte sie als exotischen Ort, an dem sich Wesen aufhalten, deren Rätsel es zu entschlüsseln gilt. Die Straße wird zum optischen Ereignis. Georges-Eugène Haussmann, der Paris zur Bühne für dieses Schauspiel umbaute, begründet die Breite und Länge der neu angelegten Boulevards damit, dass sich die einander begegnenden Menschen möglichst lange im Blick behalten konnten, »voir trop longtemps le même visage dans le même cadre«. Eine »perspektivische Aufhellung der Stadt« nennt dies Walter Benjamin. Die Glasvitrinen der Cafés, die Haussmann am Straßenrand vorsah, dienten dem Habitué als Stützpunkte seiner Beobachtungskunst. Der müßige Städter bezog dort seinen Posten als Ethnologe.

Die Literatur also war es, die Paris in den Rang der Stadt erhob, wie er zuvor nur Rom, dem antiken wie dem päpstlichen, zugekommen war. Rom und Paris galten, jede auf eigene Weise, dem kulturellen Europa als die Städte schlechthin und sind es bis heute geblieben. Die Gelehrten haben Rom in diesen Stand erhoben, die Schriftsteller Paris. Beide Metropolen erfüllen im Bewusstsein der Nachwelt unterschiedliche Funktionen von Stadt. Rom wird als Architektur gesehen, in der sich die sichtbaren Zeichen staatlicher Macht repräsentieren; in ihnen bewegt sich der Bürger als öffentliche Person. In Paris tritt der Mensch als Privatmann in der Öffentlichkeit auf. Schloss, Kirche, Justizpalast repräsentieren zwar auch hier den Staat, doch die leidenschaftlichere Aufmerksamkeit derer, die die Stadt in Worte fassten, richtete sich auf die Vergnügungsarchitektur des Bürgertums, seine Theater, Cafés, Kaufhäuser, Boulevards, Passagen. Diese Einrichtungen aber wären, anders als repräsentative Gebäude, des Interesses nicht wert, wären sie nicht belebt. Architektur und Mensch waren die Pole, zwischen denen sich die Reflexion über das soziale Muster Stadt bewegte (und auch in diesem Buch bewegen wird). In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschraken die Intellektuellen, die letzten Verfasser von Stadtmemoiren, vor der Kälte der neuen Architektur und der Stillosigkeit des Lebens, das diese hervorbrachte. Immerhin wagten sie es noch, ihre Klage über Wohnsilos und Konsumhöllen laut werden zu lassen – auch diese Klage ist inzwischen verstummt. Nur in Zeitungen wird manchmal, wie etwa im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen«, Missmut über den Verlust der bürgerlichen Stadt vernehmlich.

Die Diskussion der sechziger und siebziger Jahre ging von Erfahrungen und Fehlentscheidungen beim Wiederaufbau der deutschen Städte aus, von Visionen einer neuen Ökonomie, neuer Verkehrsbewegungen und Arbeitsbedingungen. Auch die Kritik jener Jahre beobachtete den Menschen in der Stadt – diesmal aber einen anderen als das 19. Jahrhundert; sie interessierte sich nicht mehr für die Phänomenologie des Individuums, sondern für das soziale Subjekt und für die Gesamtheit der Stadtbewohner. Der Impressionismus des 19. Jahrhunderts, der Straßenszene an Straßenszene reihte und Original für Original beschrieb, wurde durch städteplanerisches Denken ersetzt, das sich auf soziale Ideen berief.

Einer der letzten Proteste gegen die moderne Stadt war Alexander Mitscherlichs Buch »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« (1965), eine Mahnung an die Städtebauer der Nachkriegszeit. Auch Mitscherlich hielt am idealisierten Bild fest, welches Dichter und Journalisten von der Stadt des 19. Jahrhunderts gezeichnet hatten. Nicht zufällig entdeckte die Studentenbewegung, die sich an dieser Stadtkritik beteiligte, Walter Benjamin, dessen Studien den Traum in die schönsten Worte gefasst hatte. Benjamin, dieser Retter der Vergangenheit, ist das Komplement zu Mitscherlich, dem Kritiker der Gegenwart. Benjamins »Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, seine Notizen zum »Passagenwerk« und Mitscherlichs Buch, zu verschiedenen Zeiten entstanden, doch gleichzeitig gelesen, verhalten sich wie Traum und Wirklichkeit. Die Metropole des 19. Jahrhunderts lieferte das Ideal, die geplante und planlos wieder aufgebaute Nachkriegsstadt, die Mitscherlich im Blick hatte, verfehlte es gründlich – das war der Schluss, den man aus beiden Schriften ziehen konnte.

Heute begegnen sich beide Positionen in dem guten Willen, eine bürgergerechte Stadt zu bauen. Zumindest behauptet jede Architekturplanung, das Glück der Menschen im Auge zu haben, und sie demonstriert dies auf jeder Computersimulation, die wieder ein neues City-Center, ein Bürohaus, eine »hochwertige« Wohnanlage anpreist. Die Visionen, mit denen die Stadtplanung wirbt, zehren noch immer vom Ideal der stadtkritischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Architektursimulationen zaubern Menschen zwischen die neuen Bauten hinein und orientieren sich dabei an der Vielfalt der Typen, die sie aus der Stadtliteratur des 19. Jahrhunderts kennen. Die Figurinen sind ein bisschen modernisiert, eigentlich aber doch so wie sie Dumas’ Mohican oder Benjamins Flaneur auch hätten begegnen können: markante Individuen mit starkem Auftritt. Wo Urbanität und Leben in der Innenstadt entworfen wird, schwebt immer ein Hauch Paris über dem Entwurf.

Diese Information für Bürger aber, die Stadtplaner sich zur Pflicht gemacht haben, läuft ins Leere. Die Planung obliegt nicht mehr, wie einst, der Stadt und ihren Verwaltern. Sie wird von Investoren dirigiert, die überregional agieren und sich nicht um die Individualität von Stadt und Stadtbewohnern kümmern. So kann es nicht verwundern, wenn alle Städte gleich aussehen und alle sich dort gleich zu verhalten haben. »Meine Stadt« wird so leicht kein Bürger mehr sagen, und er soll es auch nicht tun. Bewohner, die anssässig sind, stören Investoren nur. Das heutige Stadtzentrum ist ein Knoten, in dem sich die Lebens- und Einkaufskraft des gesamten Umlandes bündelt, das mit der Stadt im übrigen wenig zu tun hat. Dieser Knoten, eben die City, ist bislang als eigenes stilbildendes Ensemble kaum wahrgenommen und bedacht worden.

Nicht nur in Deutschland, in der gesamten westlichen Welt setzt sich ein einheitlicher Stadtplan durch. Städtische Individualität und Tradition werden hinweggeplant, Denkmalpflege wird, wo sie sich dem angeblich guten Willen der Stadtplaner entgegenstellt, übergangen. Der »opulente Schein bei gleichzeitiger gewinnsteigernder Reduktion auf universelle Raster«, so bemerkt Dieter Bartetzko 2012 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, »ist die aktuelle Variante des › International Style ‹ von Stockholm bis Melbourne.« Die Metropolen zerfallen immer deutlicher in zwei Zonen: ein Zentrum – das im folgenden »City« genannt werden soll – und die umgebenden Vororte samt dem Umland. Zu allen Zeiten hatte die Stadt mit Kirche, Rathaus und Markt die Funktion eines Mittelpunkts, die Einwohner selbst aber waren auf dieses Zentrum bezogen und prägten seinen Charakter, ganz anders also als heute, wo die Umlandbevölkerung der Agent des Straßenlebens ist. Die Stadtkritik der Nachkriegszeit spezialisierte sich deshalb gar nicht erst auf die Innenstadt, deren Charakter durch Jahrhunderte hindurch unverändert, unwandelbar und unzerstörbar geblieben zu sein schien. Die Unwirtlichkeit der Städte war immer die der Wohngebiete, und mit ihnen schien die Stadt als Ganzes ausreichend kritisiert. Die sich neu gestaltende Innenstadt blieb unbeachtet. Auch Wolf Jobst Siedlers Buch über »Die gemordete Stadt« bemerkt die Trennung zwischen City und Randzonen noch nicht und hofft, mit der Kritik des Wohnungsbaus eine Analyse der Stadt an sich geleistet zu haben. Das Verhältnis Zentrum – städtisches Umland aber ist ein strukturbildendes Merkmal der gesellschaftlichen Öffentlichkeit von heute.

Die City ist zum Tummelplatz mit Großstadtgefühl für den Großraum der Region geworden. City – das ist ein Energiezentrum, das kein Leben außer sich duldet und jedes Umfeld auszehrt. Vororte und Kleinstädte im Umkreis werden zu Zonen der Regeneration heruntergebracht, auch wenn Investoren dort »Nebenzentren« anlegen, die sie als »Stadtteilzentren«, »Ladengruppen« oder »Nachbarschaftszentren« in alte Ortsteile einpassen, und vorgeben, damit etwas für die Lebendigkeit des Viertels getan zu haben. Lebenslust, wo sie sich regt, muss sich von Vorstadt und Umland hinwegbegeben: entweder, imaginär, ins Internet, oder, in der Wirklichkeit, auf Reisen, deren alltäglichste Variante die Fahrt in die City ist. Diese Reise ist zu einem der notwendigen gesellschaftlichen Rituale geworden, denn es hält, das wird sich zeigen, die City in Gang.

Dabei macht sich die Gesellschaft angeblich ernste Sorgen um die Gestaltung der Innenstadt. Stadtverwalter und Architekten pochen auf die soziale Verantwortung, die sie bei ihrer Planung leite. Alle Stadtplanung bemüht sich um den Menschen und sein Dasein in der Stadt. Der Soziologe Hartmut Häußermann etwa bezeichnete 1997 Urbanität als »eine Lebensweise, eine Geisteshaltung, eine zivile Kultur mit entsprechenden Verhaltensstandards«, und Ingo H. Warnke verpflichtete in »Die Stadt als Kommunikationsraum und linguistische Landschaft« (2011) die Planer dazu, eine »gesellschaftliche Praxis der Relationierung von Raum und Körper« zu ermöglichen. Über das Ergebnis allerdings, über die gebaute und genutzte Stadt und den Körper in ihr verlieren Stadtplaner kein Wort mehr. Die Straßen der Innenstadt sind belebt, das genügt ihnen zur Rechtfertigung, denn, so bemerkt Dieter Frick zufrieden in seiner »Theorie des Städtebaus« (2011), »je mehr Leute auf der Straße sind und je länger, umso mehr Begegnungen und Kontakte (› soziale ‹ Aktivitäten) kommen zustande«, desto gelungener also sei die Planung. »Kommunikation« gilt für die Planer als »Daseinsgrundfunktion«, die sich mit dieser Forderung gegen Le Corbusiers Charta von Athen und die kalte Hochhausplanung wenden. Unterdessen bleiben die Straßen der Vororte dennoch tot; das kümmert keinen Investor und nicht einmal die Bewohner selbst. Auch der intellektuelle Kritiker von einst entzieht sich der Verantwortung und entschließt sich, das Stadtzentrum zu ignorieren. Er sieht nur die Quartiere und Kieze, in die er sich zurückzieht. Sie stattet er mit den Restposten des alten Stadttraums aus. Allerdings holt auch ihn dort die Wahrheit der gegenwärtigen Stadtplanung ein: Schnell spüren Touristen seine Zuflucht auf und jagen ihn von einem Asyl zum nächsten.

Die traditionelle Stadtbeschreibung ist untergegangen, Stadtbild und Stadtleben sind uninteressant geworden für Leute, die schreiben, und so findet die Stadt keinen Weg mehr in die Sprache. Erlebnisberichte von Schriftstellern aus der Großstadt, aus Berlin etwa, die die Stadt als persönliche Stimmung erfahren, gehören nicht mehr dem analytischen Genre des traditionellen Stadtfeuilletons an. Nur sehr blass erscheint in diesen Erzählungen die Stadt als soziales Muster hinter dem persönlichen Erlebnis: Die Fahrt mit der S-Bahn, das Herzklopfen beim Besuch der Freundin, das Streitgespräch mit ihr im Bistro übersehen die Physiognomie anderer Stadtbesucher und können nicht als Analyse des Stadtlebens angesehen werden.

Überhaupt sind Geist und Geld aus der Stadt ausgezogen. Es gehört zum Image der gesellschaftlich Bevorzugten, die Innenstadt zu verachten. Laut verkünden sie dies und mit Stolz. Angeblich treffen sie dort nur auf Proletarier, Touristen, Migranten, Gammler und Hässlichkeit. Der soziale Hochmut entstammt gerade der Funktion, die sie einst in der Stadt hatten: Sie waren jene markanten und namhaften Persönlichkeiten gewesen, über die geredet wurde. Die Erzählung von persönlichen Begegnungen und Erlebnissen in der Stadt waren der Humus, auf dem die Stadtbeschreibung gedieh. Heute gibt es nur eine Ausnahme unter den sonst von der Elite verschmähten Städten: München. Die Bevölkerung liebt ihre Stadt in den lokalen Stars, sie hat Straßen, auf denen Bekannte einander begegnen, so dass der Einzelne erzählbare Erfahrungen nach Hause und zu seinen Freunden mitbringt. Nicht zufällig ist die Münchner Maximilianstraße die letzte Bastion, gegen die sich auch der neueste, reichlich verspätete intellektuelle Tadel richtet: Elfriede Jelineks Theaterstück »Die Straße. die Stadt. der Überfall« über diese Straße, auf der selbst der Hund des ermordeten Lokalheiligen Moshammer noch eine Rolle spielte.

In anderen Städten bewegt sich der Besucher in einer ihm unbekannten Menge von Leuten, über die es wenig zu sagen gibt. Diese Menge, die aus den Vororten kommt und die Stadt offensichtlich gerne besucht, weiß, dass jeder sich vorher um seine Begleitung selbst zu kümmern hat, damit er sich nicht vereinsamt fühlt. In die City reist man mit Freunden oder in Trupps. Für Andrang und Überfüllung ist daher gesorgt, und dies lässt, trotz der Verachtung, die die geistige und finanzielle Oberschicht ihrer Stadt entgegenbringt, auf eine euphorische Begeisterung für das schließen, was neu als City erdacht und geplant wird.

Gerade aber kündigt sich ein neues Verhältnis zur City an. Die Euphorie, die so viele in die Stadt lockt, wird in jüngster Zeit gedämpft durch die Angst vor dem Untergang: Auf einmal taucht das Internet als Feind der City auf. Die Möglichkeiten des Online-Handels, das Outsourcing von Dienstleistungen ziehen, so fürchten Investoren und Stadtväter, die Aufmerksamkeit von der City ab, technisch erzeugte Bilder auf dem Handy, dem PC, dem E-Book lenken den Blick von der Wirklichkeit der Straße weg. Da ist es wichtig, dass die Stadt nicht nur architektonisch überarbeitet wird. Wenn, wie es sich seit Jahrtausenden bestätigt, die Stadt ein wesentliches Organisationsmuster der menschlichen Gesellschaft ist, dann kann dies Biotop nicht aufgegeben werden. Noch immer verschafft die Stadt jedem Unternehmen, das sich dort niederlässt, einen Namen, jedem Bewohner einen Rang, jedem Besucher einen Traum. Zur Stadtplanung gehört deshalb nicht nur die Architektur, sondern auch der gute Ruf. Er entsteht heutzutage nicht durch Geschichte und spontane Lebensenergie, wie einst der von Paris. Eine künstlich hergestellte Attraktivität ist eines der wichtigen Mittel, eine Stadt am Leben zu erhalten, und diese ist es wert, analysiert zu werden.

Über die Planung von Gebäuden und Straßenführungen muss nicht mehr geredet werden. Das heutige Straßenleben vielmehr soll Aufschluss geben über Strategien und Taktiken, die die City steuern. Ein Blick auf die Menschen, die sich in ihr bewegen, erkennt die Symptome des Zeitgeistes, der diese neue Stadt entstehen ließ. Unter der architektonischen Planung einer Stadt läuft eine zweite Stadtplanung einher, nicht unabhängig zwar von dieser ersten und gut sichtbaren, aber mit anderen Taktiken. Durch sie werden Verhaltensweisen, Gefühle, Sinnesreize derer, die sich in der Stadt aufhalten, mehr gelenkt als durch jede architektonische Planung. Ursprung und Absicht dieser anderen Stadtplanung bleiben ungesagt, Beobachtung und Kritik müssten sie erst ausfindig machen. So kann die Art, wie Menschen mit Waren umgehen, wie sie auf den Straßen sitzen, mehr über ihr Verhältnis zu Stadt und Gesellschaft aussagen als alle gutwilligen Versprechungen von Architekten und Investoren. Um diese andere, diese zweite Art von Stadtplanung, um die geheime Steuerung von alltäglichen Verhaltensweisen, soll es im folgenden gehen.

Der Flaneur, einst Ethnologe, hat deshalb auch zugleich Soziologe zu sein. Die Beschreibung und Analyse der Symptome erfasst zunächst die Verabschiedung traditioneller Lebensstile (was der Beschreibung einen Zug von missmutiger Nostalgie verleihen mag), dann die Entstehung neuer Möglichkeiten des Glücks für eine große und auf gleiche Weise behandelte Menge von Menschen. Das Subjekt des Stadtfeuilletons war der einzelne Passant, nun muss sich die Frage nach der anderen Stadtplanung auf die Menge der Stadtbesucher richten. Diese Menge allerdings war und ist es auch, die dem Intellektuellen das Wort aus dem Mund, die Feder aus der Hand genommen hat, denn er interessierte sich nur für Einzelfälle. Die Menge ist kein poetischer Gegenstand, sie ist ein soziologisches Phänomen. Anders aber als die Masse des 19. Jahrhunderts ist sie der Garant dafür, dass die City funktioniert. Mit der vergleichenden Analyse der Masse des 19. Jahrhunderts und der Menge des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts endet daher die Symptomatik der neuen City.

City – was ist das?

Noch nie wurde über Stadtplanung so viel geschrieben und gesprochen wie heutzutage. Jedes neue Bauprojekt der Innenstadt muss durch einen Wettbewerb entschieden werden, die Jury, die ihr Urteil im Sinne der Auftraggeber fällt, soll dafür sorgen, dass die Stadt zu einer architektonischen Ausnahme an Schönheit und Annehmlichkeit werde. Die preisgekrönten Objekte, der Öffentlichkeit durch Modelle und Computersimulationen vorgestellt, erwecken denn auch den Eindruck, dass sie dieses Ziel voll und ganz erreichen werden.

Der Entwurf steht auf der Simulation da als luftiges Gebilde in himmlischem Licht, seine Farben sind, ob es sich nun um ein gemauertes Gebäude oder einen Büroturm mit gläserner Curtain Wall handelt, in die milden Töne des Frühlings getaucht; lindgrün ist bevorzugt und wird durchsetzt von zartgelb, hellgrau und himmelblau – alles hat den Schimmer von Jungfräulichkeit. In der Umgebung des Gebäudes halten sich nur schöne Menschen auf, die von seinem Leuchten angezogen sind und in der Luft baden, in der es schwebt. Diese Figurinen lassen sich in der Aura der Architektur nieder auf filigranen Stühlchen, sie flanieren über einen geräumigen Platz vor der Fassade; die elegante Erscheinung einer schwarzhaarigen jungen Frau ist unverzichtbar in diesem imaginären Ambiente, auch der Geschäftsmann im Herrenanzug fehlt nie, ansonsten braucht es noch einige wohlgestalte Passanten, ein paar Kinder, einen kleinen Hund. Sie alle bewegen sich in freiem Spiel umeinander, scheinen einander zu sehen, zu kennen, zu schätzen, nie aber zu belästigen; sie haben zu tun, aber es strengt sie nicht an; sie haben Geld und müssen es sich nicht verdienen. Die Zeitungen der Stadt stellen diese Entwürfe vor, und sie finden allgemeine Anerkennung bei der Bevölkerung, da ihr die Simulation unter all den sonstigen Katastrophenmeldungen so hoffnungsvoll erscheint wie der aufgehende Tag.

Sehen so unsere Städte wirklich aus? Was wird aus der Verführung, die sich Modell nennt, was aus dem schönen Schein, sobald die Architektur errichtet ist und die Menschen sie in Besitz genommen haben? Nicht nur die wasserfarbenen Gebäudefronten der Simulation sehen anders aus, wenn sie nun fest gemauert auf der Erde stehen. Auch die wenigen schwebenden Menschen haben sich vermehrt und erscheinen als die Menge, derer es bedarf, damit die neue Anlage jene höchste Auszeichnung erhält, die Stadtväter zu vergeben haben: »Akzeptanz«. Bei jeder Stadtplanung ist dies die erste Forderung; ihre Erfüllung wird aber fast immer nur quantitativ gemessen, und in diesem Sinne ist Akzeptanz in allen überfüllten Großstädten Deutschlands garantiert.

Das Architekturmodell mit großem, freiem Raum um sich herum und seine gelebte, erlebte Überfüllung durch Menschen, der schöne Schein und die große Zahl verschaffen Baumeistern und Stadtvätern den Eindruck, ein gutes Werk getan zu haben – und sie wiegen sich in keinem Irrtum. Stadt muss heute hergestellt werden, konstatiert Hartmut Häußermann, »von selbst stellt sich Stadt nicht mehr her«. (»Amerikanisierung der deutschen Städte?«) Der tägliche Zustrom zu den Großstädten bestätigt die Planer. Das Straßenleben dort, die vielen Cafés, Bistros, die Waren hinter glänzenden Fassaden, das unentwegte Ein und Aus durch die von Geisterhand geöffneten Türen der Warenhäuser, sommerliche Szenen mit Faulenzern in den Parks, die nächtliche Bummelei der Jugend, herumschlurfende Reisetruppen, Freunde, die sich in Kneipen vor dem Fernsehapparat treffen, und das Public Viewing der Menge auf zentralen Plätzen, die legere Kleidung aller an allen Tagen und vor allem an den Abenden zeigen einen Bürger, der sich in seiner Stadt so bequem und so nachlässig eingerichtet hat wie in seinem Wohnzimmer.

Die Stadt der Gegenwart ist, anders als die des Mittelalters, eine fabrizierte Stadt. Ihre Gestalt geht nicht aus der Organisation und den Bedürfnissen der Bewohner hervor. Vielmehr ist sie von Unternehmern geplant, die in den meisten Fällen nicht an die Stadt gebunden sind und wenig mit ihren Einwohnern zu tun haben. Die Gebäude der überregionalen Firmen sind nach einem Modell entworfen, das jedem beliebigen Ort leicht anverwandelt werden kann. Das beschränkt die Phantasie dieser Architektur, löscht das individuelle Stadtbild aus und ersetzt einmalige historische Gebäude durch genormte Blöcke.

Den Simulationen der Architekten stehen, wenn die Entwürfe Wirklichkeit geworden sind, selten Fotos vom Leben gegenüber, das dort stattfindet. Vollkommenes Glück braucht offensichtlich kein Abbild. Als Pendant zur Simulation des Modells entsteht statt einer Aufnahme des Straßenlebens ein Architekturfoto für Prospekte und Bildbände. Auf ihm stellt sich das Werk dar in monumentaler Pracht. Moderne Architektur ist fotogen. Selbst Zement belebt sich auf Hochglanzpapier, um wie viel mehr die Glasfassaden, die hohen Hallen der City-Center oder Hotels mit den gegeneinander laufenden Rolltreppen, den Palmen, die, da nicht pflegeleicht, auch nicht lange darin stehen werden, und den Wasserbecken, die, da schwer zu reinigen, nach wenigen Wochen trocken bleiben. Die Beweglichkeit des Fotoapparats, der sich von allen Seiten und aus jeder Höhe auf das Gebäude richten lässt, macht auch das langweiligste noch zu einem verwinkelten Geheimnis, zur fröhlichen Variante von Piranesis Carceri. Der spektakuläre Anblick des Gebäudes ist für die Selbstdarstellung der Investoren und Stadtväter in Wahrheit wichtiger als die Akzeptanz durch die Bürger. Architekten legen – auch wenn Klaus Humpert in einem Gespräch mit Eike Becker zugibt, dass man »als Stadtplaner [wohl auch ob der Sparsamkeit der Kommunen] mit Mittelmaß rechnen« muss – nicht selten ihre Bauwerke auf Fotografierbarkeit an – mit gutem Grund, denn Bekanntheit bei reiselustigen Touristen erreicht Architektur vor allem durch ihre fotografische Reproduktion.

Im Bildband, der das fertige Gebäude zeigt, gibt es, anders als auf seiner Simulation, kaum mehr wirkliche Menschen; diese scheinen nicht fotogen zu sein. Wenn der Bau steht, geht es nur noch um seine eindrucksvolle Erscheinung. Stadtplaner und Bauherren scheinen es mit Kaiser Augustus zu halten, der sich zufrieden über sein Lebenswerk Rom äußerte: »Ich habe eine Stadt aus Ziegelsteinen vorgefunden und eine aus Marmor hinterlassen«. Auch wenn es heute eher Glas ist, was blendet, so ist es doch die gebaute Stadt, nicht der Mensch darin, die den Planer erfreut. Eine Aufnahme dessen, was um den Bau herum geschieht, würde dessen Attraktivität herabsetzen. Fotografien von Szenen des realen Alltags gehören einem anderen Genre an: der Romantik des Unvorhergesehenen, wie bei Cartier-Bresson, oder der Satire des törichten Daseins, wie sie Martin Parr wagt.

Die Bildbände mit architektonischen Glanzleistungen sollen in diesem Buch durch Erfahrungsberichte ergänzt, ja widerlegt, das Stadtleben gegen die Stadtplanung verteidigt werden. Bilder des Straßenlebens sollen die utopischen Träume von Schönheit und freier Bewegung in Frage stellen, die Planung und Theorie für die Stadt versprechen. Im Unterschied zur Architekturfotografie, die den Bau nach seiner Fertigstellung von vorne, von hinten, oben und unten aufnimmt, bewegt sich das Stativ des schreibenden Beobachters nur auf Straßenniveau, auf einer Ebene mit den Passanten und von Angesicht zu Angesicht mit ihnen. So entsteht das wahre Gesicht der Stadt in einer Architektur, die nichts im Sinn hat, als ihr Gesicht zu wahren.

Innerhalb der architektonischen Solitäre, die sich in Simulation und Fotografie so gut ausnehmen, entsteht ein neuer Lebensraum, der den Namen »City« trägt. Dies ist kein modischer Anglizismus für das, was früher Innenstadt oder Altstadt hieß. City bezeichnet eine Novität, ein so noch nie dagewesenes Ensemble aus Architektur, Verkehr und Menschenansammlung. In Deutschland liegt die City meist noch immer am Ort der alten Innenstadt, doch wurde diese bis zur Unkenntlichkeit überformt durch das neue City-Leben, das in ihr stattfindet, durch die Architektur, die hinzukam, und durch die neuen Arten der Nutzung von Straße und Platz. Die moderne City hat zudem Auswirkungen auf alle Lebensräume, auch wenn sie, wie die Vororte und Städte des Umlandes, nur locker mit ihr verbunden sind. Die geographische Definition als »Zentrum«, als »City« ist von Bedeutung für Gestik und Lebensgefühl derer, die sich, und sei dies nur gelegentlich, in ihr aufhalten.

Was hier als City beschrieben werden soll, ist vorwiegend ein deutsches Phänomen, wenngleich sich zögernd der City-Charakter europaweit entwickelt. Die Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg hat die deutschen Städte dazu prädestiniert, das Phänomen deutlicher und früher spürbar zu machen als andernorts. Die Zerstörung zwang zu neuen Bauten, die Bauten erzwangen neue Verhaltensweisen. Die alten Gebäude und Straßen von Paris hingegen bewahren bis heute ein Leben, das an frühere Jahrhunderte erinnert, zumal der touristische Gewinn, den die Kulisse abwirft, zu einer künstlichen Konservierung überholter Einrichtungen und Lebensstile führt. In Paris bröckeln die Fassaden, Fensterscheiben klirren im vierspurigen Autoverkehr der Boulevards. In Deutschland würde man sich, hätten solch altertümliche Mietpaläste den Krieg überstanden, längst zum Abriss entschlossen haben. Der Charme aber, der die Fremden nach Paris lockt, stärkt das Selbstbewusstsein der Einwohnerschaft, die, wie am wackelnden Fensterrahmen, an der klappernden Fensterscheibe, auch am alten Straßenleben festhält. Um Paris zu einer Stadt zu machen, die »hergestellt« ist, bräuchte es einiges an zerstörerischer Energie. Die voranschreitende Moderne und ihre geplante Stadt hat man deshalb zum alten Paris hinzuaddiert, in eigenen Vierteln am Rande der feudalen und bürgerlichen Metropole, im futuristischen Ambiente etwa von La Défense.

Verwaltungszonen wie La Défense wären den Financial Districts der amerikanischen Metropolen zu vergleichen. Diese sind Bürostädte, die Leben, Freizeit, Müßiggang nicht vorsehen. Solche Viertel liegen in Europa meist, wie eben La Défense oder der Verwaltungsbezirk von St. Pölten, an dem die bedeutendsten Architekten gebaut haben, am Rande des alten Zentrums. In der deutschen und europäischen City aber, die sich am Ort der alten Innenstadt entwickelt, gibt es ebenso viel Straßenleben wie Büroarbeit, ebenso viel Geschäftigkeit wie Geschäft. Man schlendert nicht an der Wall Street, wohl aber in Fleet Street oder in Leadenhall Market in der Nähe der Bank of England. In außereuropäischen Financial Districts hingegen wird alles Straßenleben von Malls und Plazas einkassiert, die sich im Sockel, oft gar im Souterrain der Hochhäuser einquartiert haben. Die Nase auf dem Boulevard in die Sonne zu strecken oder dort bei Minusgraden in Decken gehüllt zu sitzen, wäre im Financial District außereuropäischer Metropolen undenkbar. Warenhaus und Plaza bestimmen zwar mittlerweile, umstrukturiert und zusammengefasst zum City-Center, auch die europäische Stadt, doch laufen durch diese Center die Straßen und das Straßenleben hindurch. Die europäische Stadt bestimmt sich aus ihrem Charakter als Arbeitsplatz und Freizeitraum, als globaler Standort und Tummelplatz der einheimischen Bevölkerung. Das Leben ist hier noch ein wenig mehr als nur die Verschnaufpause gehetzter Geschäftsleute.

Es wäre aber falsch, die »hergestellte« deutsche Stadt als reine Kriegsfolge anzusehen. »Collage-Städte«, solche, in denen alte und neue Viertel, alte und neue Gebäude nebeneinander stehen, gibt es in allen Ländern. New York wurde nach dem Krieg gern als Beispiel für das Nebeneinander einer neugotischen Kirche und eines Wolkenkratzers zitiert, und dies sollte die deutsche Nachkriegszeit über die erzwungene Stilmischung, die beim Wiederaufbau entstand, hinwegtrösten. Das moderne Hochhaus vor allem entpuppte sich beim Wiederaufbau in Deutschland als Notwendigkeit und Leitbild, zugleich aber auch als eines der großen Probleme der Stadtplanung. Die alte deutsche Stadt hatte eine einheitliche Trauflinie. Durch die Hochhäuser wurde diese sprunghaft. Das Problem, wie weit die Unruhe im Stadtbild gehen dürfe, entwickelte sich zum Streitfall zwischen alten Einwohnern und neuen Nutzern. Außer in Frankfurt entschieden sich die Städte meist für eine moderate Lösung, um zwischen Bürgerstadt und Bürostadt, zwischen alter Trauflinie und dem Höhenflug neuer Verwaltungs- und Konsumgebäude zu vermitteln.

Das Leben, das sich heute durch die City bewegt, spielt sich auf einem Kampfplatz ab. Die Landnahme auf dem teuren Boden der Innenstadt hat keine blutigen Folgen, tobt aber dennoch als heftiger Territorialkrieg. Wer heute ein Stück Boden in der Innenstadt erobert hat, besetzt es sofort mit einem möglichst großen Heer von Angestellten und schichtet diese Stockwerk für Stockwerk übereinander. Die Höhendimension zeichnet die Innenstadt als City aus, die Silhouette ist ihr Statussymbol; Frankfurt mit seinen Hochhäusern wird in Deutschland als das Paradebeispiel einer stolzen Selbstdarstellung bewundert. Für die moderate Lösung mit halbhoher und halbgeschlossener Trauflinie haben sich Berlin, München, Stuttgart, Hamburg entschieden. Hier sind vor der Innenstadt eigene Bürostädte mit hohen Verwaltungsbauten und einem Gran Privatleben in einem prozentual exakt errechneten Anteil von Wohnungen entstanden. Was in New York in der City selbst geschieht, das sprunghafte Nebeneinander von niedrigen alten und neuen hohen Häusern in der sogenannten »Collage-Stadt« und was Frankfurt übernommen hat, liegt in den anderen deutschen Großstädten meist in zwei Zonen nebeneinander. Die spitzwegische Altstadt war höchstens aus der Vogelperspektive ganz zu überblicken gewesen; die City hingegen, sofern sie das Ideal einer belebten Konsum- und Bürostadt erfüllt, rückt sich schon von weitem in den Blick, und jeder Grundbesitzer dort reckt sich mit einer anderen architektonischen Merkwürdigkeit aus der Umgebung seiner Konkurrenten empor. Die Silhouette ist das erste und markanteste architektonische Merkmal der City.

Diese Silhouette aber spiegelt sich noch einmal nach unten und durchbricht den harten Asphalt, auf dem sie errichtet ist: Je höher die Häuser über der Erde, desto tiefer reichen die Substruktionen des Verkehrs, der sie verbindet, in den Untergrund hinab. Anders als bei der Trauflinie beteiligen sich alle großen deutschen Städte an diesem unterirdischen Stadtausbau. Immer häufiger speisen unterirdische Bahnen das System Innenstadt. Die Menschen, die die Stadt bevölkern, leben – von einem geringen Prozentsatz abgesehen – nicht in ihr; sie werden herangefahren. In der alten europäischen Stadt und auch noch in den Metropolen des 19. Jahrhunderts bestimmten die Einwohner das Straßenbild. Sie gaben der Stadt ihren Charakter, den zu studieren wenige, privilegierte Bildungsbürger angereist kamen. In der heutigen City ist die Zahl der Besucher höher als die der Bewohner, denn Stadtbahnen und Autos schaffen alltäglich die Bevölkerung aus dem Umland heran. Die Wege und Plätze sind voll von Menschen, die von außen in die Stadt hereinkommen – von Berufstätigen am Morgen und tagsüber von Konsumenten und Touristen. Dem neugierigen Reisenden begegnet in der City eine Region, keine Stadt.

Die mittelalterliche Stadt war ein »Haus«, dessen geschlossene Gestalt von innen her erdacht und entworfen war, die Stadt des 19. Jahrhunderts eine festliche Anlage, die sich wenigen Gästen öffnete. Demgegenüber ist die City ein offener Raum, der täglich neu gefüllt werden muss und die Tendenz hat, täglich weiter ins Umland auszugreifen. Diese Entwicklung zur besuchten Stadt, in der gearbeitet, eingekauft, aber nicht gewohnt und gelebt wird, bereitete sich in der Nachkriegszeit vor durch die Planungen für eine autogerechte Stadt. Auch damals schon wurden die Straßen von außen nach innen gelenkt und Besucher aus dem Umland ins Zentrum gelockt. Der Ausbau des S-Bahn-Systems ist eine der wichtigsten Aufgaben der Stadt- und Regionalverwaltung – und bindet nicht nur Vororte, sondern auch kleinere selbständige Kommunen an die City an. Innenstadt ist diese Organisation eigentlich nicht mehr zu nennen. Eine City entsteht als Sammelbecken einer Region, eigentlich ist sie nichts als ein riesiger Bahnhof; die alte Stadt leiht diesem nur ihren Namen. Investoren fragen nicht mehr nach der Einwohnerzahl der Stadt, sondern nach der ihres Einzugsgebietes. So gelten kleinere Großstädte gleichviel wie Millionenstädte, wenn sie ein dichtbesiedeltes Umland haben, Stuttgart etwa so viel wie Hamburg und München. Die Anreisenden tauchen – da auch immer mehr Parkhäuser unter die Erde verlegt werden – aus dem Untergrund empor, bevölkern die Straße oder verschwinden als Angestellte in den Hochhäusern. Man möchte sagen: City, das ist ein Prachtbau mit S-Bahn-Souterrain, Straßen-Parterre und vielen Stockwerken Büro-Beletage. Die City hat, im Unterschied zur traditionellen europäischen Stadt, die die Menschen horizontal auf Plätze und Straßen hinlenkte, eine vertikale Ausrichtung. Die Rolltreppe charakterisiert sie mehr als Straße und Platz. Frankfurts Stolz ist die längste Rolltreppe Europas: 48 Meter steigt sie im Einkaufscenter »MyZeil« empor und verteilt die Besucher in übereinander geschichtete Läden, Fitness-Centers, Cafés und Bistros. In der City schaut man den Menschen mehr auf den Scheitel als ins Gesicht.

Die Vertikalstadt, die City eben, hat dennoch eine genau bestimmbare horizontale Grenze. Auch sie wird durch das, was unter der Erde geschieht, festgelegt. Die Besucher legen den Radius der modernen Innenstadt fest, sie bestimmen, wie groß ihre Ausdehnung sein soll. Die Grenzen der City liegen in genau jenem Bereich, in dem die höchste Zahl an Fahrgästen aus den Bahnen aus- und in die Stadt emporsteigt. In jeder City gibt es eine Stammstrecke, auf der sämtliche U- und S-Bahnen zusammen- und eine längere Zeit hinter- oder nebeneinander her fahren. Diese Stammstrecke bezeichnet die Ausdehnung der City, denn hier steigen Fahrgäste aus allen Orten des Umlandes aus. Der Hauptbahnhof stellt im allgemeinen das eine Ende dieses Areals dar; hier beginnen Stammstrecke und Konsumstadt: Sie dehnt sich einige Kilometer weit mitten in der Stadt aus, in München bis zum Marienplatz, in Stuttgart bis zur Station Rotebühlplatz, in Frankfurt bis zur Konstablerwache. Millionenstädte freilich können mehrere Zentren mit City-Charakter haben. Deshalb ist Berlin nicht eindeutig in der Definition »City ist gleich Stammstrecke der S-Bahn« unterzubringen. Vom Potsdamer Platz dehnt sich eine City bis zur Friedrichstraße aus, eine andere liegt am Bahnhof Zoo und reicht den Kurfürstendamm hinauf, eine dritte hat sich um den Alexanderplatz herum entwickelt. Metropolen haben mehrere Viertel und Quartiere mit eigenen Zentren, die zum Teil noch einen alten Lebensstil bewahrt haben. Je altertümlicher er ist, desto schneller wird er vom Tourismus überschwemmt. Kulturvermittler und Reiseunternehmen entdecken schnell noch erhaltene Lebensräume und zerstören sie durch die Fremden, die sie massenhaft dorthin lenken. Auch in Paris entwickelte sich so auf der Strecke der Metrolinie 1 zwischen Hôtel de Ville und Louvre eine Zone mit Citycharakter, die im oberen Teil mit den Billigkaufhäusern der einheimischen Bevölkerung, im unteren Teil vor dem Louvre den Touristen gehört.

Was früher Stadttore waren, sind heute U-Bahnhöfe, durch die man nicht von außen, sondern von unten in die Stadt eindringt. Sie gibt es, anders als die Tore, nicht nur an vier Punkten der Stadtmauer. Vielmehr ist die City von Haltestellen übersät, denn die Menschen sollen in ihr gut verteilt werden. Die Bahnhofausgänge kümmern sich daher nicht um schöne alte Gebäude oder stille Plätze. Sie können ihre Fahrstühle und Fahrplananzeigen vor dem Stephansdom aufstellen, vor dem Königsbau in Stuttgart und an der Rückseite des Kölner Doms. U-Bahnhöfe unterscheiden sich allerdings wesentlich vom Parkhaus, und dieser Unterschied macht eine Veränderung deutlich, die die städtische Kommunikation seit den fünfziger und sechziger Jahren, diesen Dekaden der autogerechten Stadt, erfahren hat. Im Parkhaus wird das Auto abgestellt, sein Fahrer war und ist noch ganz auf die Angebote in der Stadt angewiesen. Die zentralen U-Bahnhöfe hingegen haben, wie Fernbahnhöfe, selbst einen Konsumbereich. Die City stimmt den dort Ankommenden auf einen angenehmen Aufenthalt ein. Hier kann er Schals, Jacken, Zeitungen kaufen, Passfotos herstellen und private Fotos entwickeln lassen. Hier nimmt er die erste Ration zu sich, ehe er den Arbeitstag oder die Konsumwanderung durch die Stadt beginnt, und er stärkt sich noch einmal, ehe er nach Hause zurückkehrt. Der typische Geruch der Metros und Subways vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die den Innenbezirk einer Stadt und die dort ansässigen Einwohner miteinander verbanden, war der des Metallabriebs der Räder. Der Sieg der Technik stieg in die Nase. Heute gehört der Geruch der Wegzehrung derer, die einen Arbeits- oder Konsumtag lang von zu Hause weg sind, zum Odeur der Untergrundbahnen – sowohl in ihnen wie im Umkreis der Bahnhöfe. Selbst technische Einrichtungen müssen durch sinnliche Genüsse um »Akzeptanz« beim Fahrgast buhlen.

Parallel zur Stammstrecke der Bahnen unter der Erde verläuft überirdisch eine Stammstraße des Konsums. Im Unterschied zur traditionellen europäischen Metropole bestimmt die Straße fast ausschließlich das Gesicht der Stadt. Die Funktion des Platzes als Mittelpunkt des städtischen Lebens übernimmt nun die Stammstraße. Sie lenkt die Menschen in der Fußgängerzone von Kaufhaus zu Kaufhaus. Seitenstraßen spielen in der City kaum eine Rolle, sie verbinden höchstens parallel verlaufende Einkaufsstraßen oder stellen sich als verlängerte Zugänge zu U-Bahn-Stationen heraus. Gässchen, in denen sich ein einheimisches Leben niedergelassen hätte, fehlen ganz. Auch Plätze werden in der City in Straßen verwandelt. Der Platz einer Stadt mag noch so groß und schön sein, er wird an Cafés und Restaurants verkauft, die ihn so dicht bestuhlen, dass zwischen den Sitzplätzen nur noch eine schmale Passage für Fußgänger übrigbleibt. Bestimmt die Silhouette den Fernblick der City, so ist auf ihrem Parterre alles nur noch Straße und lineare Fortbewegung.

Wie Stadttore und Plätze, die Kennzeichen der traditionellen Stadt, an Bedeutung verloren haben, so auch die auratischen Gebäude der Vergangenheit, die einer Stadt ihr individuelles Gepräge gaben, Kirchen, Schlösser, Rathäuser, Theater. Sie sind durch Parkplätze verstellt, mit Reklamen behängt, wenn sie nicht von den Buden der zahlreichen Stadtfeste gänzlich zum Verschwinden gebracht werden. Die City respektiert keine Aura. Die Andachtsorte der alten Stadt, vor und in denen man stumm, still und staunend verharren konnte, sind abgelöst durch den Lustort Einkaufscenter. Die ursprüngliche Mall, das amerikanische Vorbild des deutschen Einkaufszentrums, lag weit außerhalb der Ansiedlung. In den achtziger Jahren erst zog sie auch in den USA vom Umland ins Stadtzentrum hinein und wandelte sich zum Vergnügungsort mit Cafés, Bistros, Fast Food-Ketten, Kinos und Fitnessstudios, wurde also, wie in Europa, gleichzeitig Lebensraum, Freizeitort und Mittelpunkt eines genussfreudigen Citytreibens. In Deutschland entstand sie mitten in der Stadt als deren eigentliches Zentrum. Das historische Gewicht der deutschen Innenstadt hat immerhin, so scheint es, soviel Anziehungskraft, dass es diese Moderne absorbieren und umgestalten kann. Ein erster Vorläufer des City- oder Einkaufscenters entstand 1930 in Berlin am Potsdamer Platz. Martin Wagner, der Stadtbaurat, wollte das verwirklichen, was man heute Global-City nennen würde, ein Zentrum, an dem wirtschaftliche Beziehungen mit der weiten Welt und lokale Zugehörigkeit der Ansässigen sich verbanden. Der Potsdamer Platz sollte ein »Weltstadtplatz« werden. Um die Welt zu erobern und in Berlin anzusiedeln, baute Erich Mendelsohn das »Columbus-Haus«, das mit Büros, Cafés, einem Reisebüro, Fahrstühlen und viel Reklame ein erstes City-Center genannt werden darf, das die Moderne als chicen Lebensstil anpries. Der heutige Potsdamer Platz setzt Wagners Idee nur fort. Im Unterschied zur ehemaligen amerikanischen Mall ist das deutsche City-Center nie eine reine Einkaufsmeile. Sichtbar und zugänglich für alle ist zwar der Konsum, doch staffeln sich, der hohen Immobilienpreise wegen, darüber die Büros, es entsteht eine Mischung aus Verwaltung und Verkauf, Arbeit und Konsum, wie sie auch schon das »Columbus-Haus« vorgesehen hatte.

Die eigentliche Aura der heutigen City ist die Höhendimension des City-Centers. Durch die Straße, die als Passage durch dieses Center hindurchführt, ist es an die Stadt, auch an ihren historischen Teil, angebunden. Doch endlich muss im Innern die Straße, der Vertikalität der neuen City entsprechend, nach oben führen. In den City-Centers steigt der Besucher direkt aus der U-Bahn oder dem Parkhaus in Geschäfte hinauf. Ist er in einer so geschickt eingerichteten Anlage wie im Frankfurter »MyZeil« angekommen, so trägt ihn die Rolltreppe zu Bistros auf höchstem Niveau. Hier eröffnet sich ihm ein Blick über die Stadt, der ihn die Struktur der modernen City leicht begreifen lehrt. Auge in Auge sieht er sich mit der Kirchturmuhr und etwa auf Taillenhöhe der Bürohochhäuser, er schwebt zwischen dem roten Sandstein alter Bauten und den Glasfassaden der Büros, die den hohen Himmel reflektieren, und umfasst mit einem Blick das Weichbild der Stadt. Hier thront er über dem Schlachtfeld der Immobilienmakler, die auch seine Lustorte – Läden, Fitnesscenter, Kinos, Spielsäle, Restaurants – übereinander gestaffelt haben, um ihn emporzuheben, und er triumphiert über den Reichtum »seiner« Collage-Stadt, die sich vor ihm ausbreitet. Von der Straße aus vermag der Besucher den Charakter der City so nicht zu erfassen wie von oben. Erst das Einkaufscenter verwirklicht die Idee City und konzentriert sie auf einen einzigen architektonischen Punkt – und wie jede realisierte Idee verschafft auch diese gebaute ein Gefühl der Erhebung.

Je höher aber der Ehrgeiz einer Stadt greift, je weiter die globalen Kontakte der dort ansässigen Unternehmen reichen, desto provinzieller wird ihr Straßenleben. Die Stadt, falls sie sich mit dem Titel Global-City schmücken darf, bekennt damit nur ihre Abhängigkeit von der Provinz. Ob die Unternehmen nun wegen hoher Immobilienpreise in die Randlage ausweichen oder ihre Hauptfiliale im Zentrum ansiedeln – die City wird zum Umschlagplatz des Personals aller dort angesiedelten Unternehmen, und dieses wohnt im allgemeinen im Umland der Großstadt. Nicht mehr die Händler und Reisenden aus der großen weiten Welt treffen hier ein; die Bevölkerung aus der Region vielmehr, die hier arbeitet, einkauft und konsumiert, verscheucht alles, was einmal weltstädtische Atmosphäre war. Der Weg der Mitarbeiter vom Wohnplatz zum Arbeitsplatz umkreist die Innenstadt, sofern er nicht direkt durch sie hindurchführt. Die City stellt sich jedem in den Weg, und sei es nur allmorgendlich und allabendlich als Verkehrshindernis. Gerade das aber macht ihre Attraktivität aus: Jederzeit ist sie jedermann gegenwärtig. Auch wer nicht in ihr, sondern nur an ihrer Peripherie arbeitet, muss sie immer wieder als Konsument, Tourist oder Berufstätiger durchqueren. Auf dem Weg zur Arbeit ist sie ein beliebter Stopover.

Die Konzentration des privaten Vergnügens auf die City ist auch ein Versuch, die Abwanderung von Industrie und Arbeitsplätzen an den Rand der Städte zu kompensieren. Was man als Standortbedingung bezeichnet, ist nichts anderes als die Integrationskraft der City für suburbane Geschäftspartner. Diese Integrationskraft bemisst sich zum großen Teil nach dem, was die Stadt über die städtische und wirtschaftliche Organisation hinaus jenen zu bieten hat, die, in hohen oder niederen Positionen beschäftigt, gerade einmal nicht arbeiten. Die City vermittelt zwischen Wirtschaft und privatem Interesse, Arbeit und Vergnügen. Vernetzt zu sein, dies ist die Auszeichnung, die Unternehmen für sich in Anspruch nehmen, und die deshalb Privatpersonen bei ihrem Besuch der City nachahmen – und dies verbindet Umland und Stadt: Was über den Köpfen der Menschen stattfindet, die weltweite Kommunikation der Firmen, spielt sich noch einmal auf den Straßen in jeder freien Hand ab, die ein Mobiltelefon bedient, oder im Internet-Café.

Die City, scheinbar Knotenpunkt der Weltwirtschaft, ist gleichwohl keine Weltstadt. City – das ist eine Provinzstadt, die global vernetzt ist. Immerhin muss, damit sie den Charakter einer Metropole des Weltmarktes zu Recht trägt, alles in ihr weltstädtische Namen erhalten. Wenn man früher von Boulevard, Promenade, Boutique, Magazin, Restaurant, Café sprach, so sagt man heute Shopping, Business, Fast Food, Coffee-Shop, Cinema, Streetwear, Sale – und eben nicht Alt- oder Innenstadt, sondern City.

Die alte Opposition Metropole – Provinz besteht nicht mehr. Berlin bewahrt zwar für Künstler und Intellektuelle noch den Schein einer Metropole, doch haben längst Teile der Innenstadt den Charakter der Global-City angenommen und Berlin zum Zentrum einer Großregion Deutschland gemacht. Büros wie Läden und Restaurants am Potsdamer Platz beschäftigen und ernähren Menschen aus dem Umland und sind zudem noch von Touristen aus dem »Umland Deutschland« übersät. Die Zufluchtsorte der Intellektuellen und manch alteingesessener Bewohner werden auch in dieser Stadt binnen kurzem von Touristen aus der »Region« Deutschland besetzt sein, die, wie es zum heutigen Reisenden gehört, nach originalen Szenen des Lebens suchen und sie dabei zum Verschwinden bringen.

Die Straßen der City pulsieren vor Leben, und sie haben dies dem Umland zu danken. Ohne dieses wären sie leer, denn Menschen wohnen in ihr kaum mehr. Von einer Belebung durch anwohnende Bürger, von der man sich bei jedem Projekt viel verspricht, kann nicht die Rede sein. Die entstehenden Wohnungen, meist in den obersten Stockwerken, sind Luxusappartements zu horrenden Preisen. Das Leben der Mieter oder Besitzer spielt sich, der Höhendimenison der City entsprechend, zwischen Loft und Tiefgarage ab, von wo aus es aus der City hinaus und zum nächsten Standort des Geschäfts geht.

Was also ist der Impuls, der die City antreibt, der die Straßen mit Menschen füllt? Welches sind die Taktiken, mit denen so viele Menschen in die Innenstadt gelenkt werden, und wie sieht das Leben dieser Menschen in der »hergestellten« Stadt aus?

2013

zu Klampen Verlag

Röse 21 · D-31832 Springe

[email protected] · www.zuklampen.de

Reihenentwurf: Martin Z. Schröder, Berlin

Satz: textformart, Göttingen

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783866743007

Bibliographische Information der

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Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der

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