Die Details - Ia Genberg - E-Book

Die Details E-Book

Ia Genberg

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Beschreibung

Ein Roman über die Freundschaften unseres Lebens, queere Liebe und die Beziehungen, die uns prägen - von Ia Genberg, Augustpreisträgerin und eine der markantesten Stimmen der skandinavischen Gegenwartsliteratur. Was wären wir ohne einander? Welche Begegnungen machen uns zu denen, die wir sind? Und was bleibt, wenn wir einander verlieren? Eine Frau liegt mit hohem Fieber im Bett und denkt an vier Menschen zurück, die ihr Leben geprägt haben: Johanna,mit der sie eine stürmische Beziehung hatte. Niki, die irgendwann spurlos verschwand. Alejandro, eine leidenschaftliche Liebe ohne Zukunft. Und Birgitte, ihre Mutter, die ein schmerzhaftes Geheimnis mit sich trug. Ein funkelnder Roman über die Details, die unser Leben ausmachen. Ausgezeichnet mit dem renomierten schwedischen Literaturpreis Augustpris und nominiert für den International Booker Prize 2024. «Dieser bewegende Roman entfaltet sich in vier Einzelporträts, die zusammen ein scharfes, ergreifendes Bild der Hauptfigur ergeben. Ia Genberg verwischt die Grenzen zwischen Autofiktion und Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zwischen dem Ich und dem Anderen. Genau die wundersame Art von Roman, der mit unseren persönlichen Erinnerungen verschmilzt und Teil von uns wird.» Hernan Díaz

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 160

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ia Genberg

Die Details

Roman

 

 

Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat

 

Über dieses Buch

«Wir leben so viele Leben in unserem Leben, kleinere Leben mit Menschen, die kommen und gehen, Freundinnen und Freunden, die verschwinden, Kindern, die groß werden, und ich weiß nie, welches meiner Leben den eigentlichen Rahmen bildet.»

 

Eine Frau liegt mit hohem Fieber im Bett. Plötzlich verspürt sie den Drang, einen bestimmten Roman wiederzulesen. Darin: ein Gute-Besserungs-Wunsch von vor langer Zeit, geschrieben von Johanna, ihrer Ex-Freundin. Während sie das Buch durchblättert, werden Szenen aus ihrer Vergangenheit lebendig, Ereignisse und Menschen, die sie nicht vergessen kann. Johanna, inzwischen eine berühmte Fernsehmoderatorin, mit der sie einst die Literatur entdeckte. Niki, die irgendwann spurlos verschwand. Alejandro, der ein Kind mit ihr wollte, obwohl ihre Liebe nie eine Zukunft hatte. Und Brigitte, so schwer zu fassen und mit einem schmerzhaften Geheimnis. Aus den Erinnerungs- und Erlebnisfragmenten entsteht ein ganzes Leben.

Vita

Ia Genberg, geb. 1967, lebt in Stockholm und arbeitet als Journalistin, Autorin und Krankenschwester. Sie war Lektorin und hat kreatives Schreiben unterrichtet. Die Details ist ihr vierter Roman, der in 25 Ländern erscheint und mit dem Augustpris, dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde.

 

Stefan Pluschkat, geb. 1982 in Essen, studierte Komparatistik und Philosophie in Bochum und Göteborg. Er übersetzt Romane, Kinder- und Sachbücher aus dem Schwedischen und Norwegischen und erhielt 2018 den Hamburger Förderpreis für Übersetzung.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Detaljerna im Weyler förlag, Stockholm.

 

Der Verlag dankt dem Swedish Arts Council für die Förderung der Übersetzung.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Detaljerna» Copyright © 2022 by Ia Genberg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München,

nach dem Original von Weyler Förlag; Design: Sara Acedo

Coverabbildung unsplash

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01543-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

IJohanna

Nach einigen Tagen mit dem Virus im Körper bekomme ich Fieber und verspüre das plötzliche Bedürfnis, einen bestimmten Roman wieder zu lesen, und erst als ich mich im Bett aufsetze und das Buch aufschlage, begreife ich, warum. Auf dem Vorsatzblatt steht mit blauem Kugelschreiber in unverkennbarer Handschrift geschrieben:

29. Mai 1996

Werd schnell gesund.

Im Fyra Knop gibt’s Crêpes und Cidre.

Ich warte, bis wir wieder zusammen hinkönnen.

Küsse (die lieber auf deinen Lippen wären),

Johanna

Damals war es Malaria, übertragen von einer ostafrikanischen Mücke ein paar Wochen zuvor in einem Zelt am Rand der Serengeti, ausgebrochen kurz nach unserer Heimkehr und behandelt im Städtischen Krankenhaus Hudiksvall, wo niemand aus meinen Werten schlau wurde; als die Diagnose endlich feststand, eilte die gesamte ärztliche Belegschaft herbei, um die Frau mit dem exotischen Leiden zu begaffen. Hinter meiner Stirn loderte ein Feuer, und jeden Morgen in der Klinik weckten mich in der Dämmerung mein eigenes Keuchen und Kopfschmerzen, wie ich sie nicht kannte. Nach unserer Rückkehr aus Ostafrika war ich nach Hälsingland gefahren, um meinen todkranken Großvater zu besuchen, und dann selbst erkrankt und dem Tod mit knapper Not entwischt. Gut eine Woche war ich im Krankenhaus, und als Johanna mir das Buch schenkte, lag ich in unserem Schlafzimmer in Hägersten, nachdem ein Krankentransport mich nach Hause gebracht hatte, mit Zwischenstopp in Uppsala zwecks Leberbiopsie. Was die Untersuchung ergab, weiß ich nicht mehr, überhaupt habe ich nur wenige Erinnerungen an jenen Frühsommer, doch unsere Wohnung werde ich nie vergessen, und nicht das Buch, und niemals sie. Der Roman verschmolz mit dem Fieber und den Kopfschmerzen, und von damals spannt sich ein Faden bis zu diesem Nachmittag, eine Gefühlsader, durchströmt von Fieber und Gefahr, die mich jetzt ans Bücherregal treibt, um diesen einen Roman zu finden. Das hartnäckige Fieber und die Kopfschmerzen, das Gewimmel ängstlicher Gedanken hinter meinen Lidern, das Wispern einer nahenden Not – ich kenne das, weil ich es bereits erlebt habe, mit all den Schachteln fiebersenkender Tabletten, die mir nicht helfen, auf dem Fußboden neben dem Bett, und den Sprudelwasserflaschen, mit denen ich erfolglos meinen Durst zu stillen versuche. Schließe ich die Augen, ziehen Bilder an mir vorbei: Pferdehufe in einer öden Wüste, feuchtes Kellerdunkel, bevölkert von stummen Gespenstern, konturlose Körper, riesenhafte Vokale, die mich anschreien, sprich das Standardmenü der Albträume seit meiner Kindheit, gewürzt mit einer Prise Tod und Vergehen bei dem Gedanken an die Krankheit.

Die Literatur war Johannas und mein liebstes Spiel, wir stellten einander Autorinnen und Autoren vor, Motive, literarische Epochen und Regionen, einzelne Werke, älteren und neueren Datums, aus allen erdenklichen Genres. Wir hatten ähnliche Vorlieben, unterschieden uns aber genug, sodass unsere Gespräche darüber interessant blieben. In manchen Dingen waren wir uneins (Oates, Bukowski), einiges ließ uns gleichermaßen kalt (Gordimer, Fantasy), anderes liebten wir beide (Östergren, Krilon, Lessing). Ihre Haltung zu einem Buch erkannte ich daran, wie schnell sie las. Beeilte sie sich (Kundera, Krimis), war sie gelangweilt und wollte rasch zum Ende kommen; ging es nur schleppend voran (Die Blechtrommel, Science-Fiction), langweilte sie sich zwar auch, musste jedoch mehr Mühe auf die Lektüre verwenden. Sie fühlte sich verpflichtet, jedes Buch bis zur letzten Zeile zu lesen – so, wie sie auch sämtliche Kurse, Hausarbeiten und Projekte abschloss. Sie trug tief verankerten Gehorsam in sich, Demut gegenüber ihren Aufgaben, so frustrierend sie auch sein mochten. Vermutlich hatte sie das von zu Hause mitbekommen, von ihren kreativen, unerschütterlich zielstrebigen Eltern. Johanna selbst meinte, Dinge zu vollenden sei ein Weg, sich den Rücken freizuhalten, für die Zukunft sich das zu sichern, was sie clean sheets nannte. Für Johanna gab es nur eine Richtung im Leben, vorwärts, immer vorwärts. Darin waren wir grundverschieden, brachte ich doch die wenigsten größeren Projekte zu Ende. Nach einem Jahr als Kassiererin im Pressbyrån hatte ich einige Studiengänge begonnen, sie jedoch abgebrochen oder für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt, ehe ich mich ernsthaft dem Schreiben zugewandt hatte. Doch auch nach dem Entschluss, mich an einem Leben als Vollzeitschriftstellerin zu versuchen, geriet ich auf der eigenhändig abgesteckten Bahn ins Schlingern und streifte ganze Tage durch Aspudden, Mälarhöjden, Midsommarkransen und Axelsberg. Damals haftete den Vierteln nicht weit von der Stockholmer Innenstadt noch etwas Raues an, es gab Motorradclubs, Tätowierläden und kellerschwarze Videotheken mit Sonnenbank. Die U-Bahn-Stationen waren düster, dreckig. Alle möglichen Menschen lebten dicht an dicht, Geschäftsleute, die mit ihren Aktentaschen ins Büro eilten, Kunstschaffende, die für wenig Geld Ateliers in Industriegebieten mieteten, Drogensüchtige in Wohnblocks, die alle naselang von der Polizei durchkämmt wurden, alte Zausel mit Bierflaschen und sonnenverbrannten Nasen auf dem Marktplatz; sie alle lebten Tür an Tür in den dreistöckigen Mehrfamilienhäusern entlang der gewundenen Hauptstraßen, im Erdgeschoss Geschäfte mit niedrigen Decken und exotischen Gewürzen oder einfache, in Brauntönen eingerichtete Restaurants mit Mittagstisch, wo ich oft frühnachmittags an einem Ecktisch saß, vor mir ein leerer Teller auf einem Plastiktablett, den letzten Schluck Leichtbier trank und die Leute beobachtete. Außerdem auf dem Tisch: ein Notizbuch und ein sorgsam ausgewählter Stift, den ich nur selten zur Hand nahm. Vielleicht erweckte ich den Anschein, mit Leidenschaft bei der Sache zu sein, aber das war ich nicht, auf meinem Nachttischstapel lagen immer ein, zwei Bücher, bei denen ich in der Mitte feststeckte. Am liebsten waren mir Geschichten, von denen ein unwiderstehlicher Sog ausging. Das traf auch auf die meisten anderen Dinge zu, und deshalb gab es kaum Verpflichtungen in meinem Leben, womöglich zu wenige. Streng genommen wehrte ich fast jede Verpflichtung sofort ab. Eine wenig förderliche Strategie, um sich clean sheets zu schaffen, doch für Johanna stellte meine Trägheit vor allem eine Herausforderung dar, glaube ich. Ihr Tempo und ihr Enthusiasmus spornten mich an, brachten Dinge ins Rollen. Vielleicht war ich mir unserer Beziehung deshalb so sicher. Johanna hatte mich angefangen und dachte nicht daran, mich aufzugeben. Sie würde nicht gehen, sich niemals dem Impuls beugen, mich verlassen zu wollen. Ich machte mich locker, gab mich ihr hin. Johanna war so gewissenhaft, so leidenschaftlich, so loyal. Könnte sie je erwägen, mit mir Schluss zu machen? Nein, dachte ich. Nein, niemals.

Und jetzt halte ich Die New-York-Trilogie in der Hand, Auster, klaustrophobisch, aber geschmeidig, simpel und bizarr, paranoid und nüchtern, zwischen den Wörtern ein offener Himmel. In dem Punkt waren Johanna und ich einer Meinung, und als das Fieber ein paar Wochen später sank, las ich das Buch noch mal und suchte nach Unzulänglichkeiten, wollte sehen, ob ich den Text durchschauen oder mich langweilen würde, doch ich entdeckte nicht eine Schwachstelle, und als ich kurz darauf Mond über Manhattan las, war ich ebenso hingerissen. Von dem Augenblick an war Auster eine Art Himmelsrichtung für mich, lesend wie schreibend – auch wenn ich ihn mit der Zeit aus den Augen verlor und mir nicht mehr jedes neue Buch gleich nach Erscheinen besorgte. Seine Schnörkellosigkeit wurde ein Ideal, das erst an seinen Namen geknüpft war und dann ohne ihn weiterlebte. Manche Bücher stecken einem in den Knochen, obwohl man die Details und Namen längst vergessen hat, und als ich Jahre später das erste Mal in Brooklyn war, suchte ich sofort nach Austers Adresse, als wäre es das Natürlichste der Welt. Das neue Jahrtausend war jung, und Johanna hatte mich vor langer Zeit verlassen, für eine andere, ohne Vorwarnung, brutal und eiskalt. Damals, als ich in Brooklyn die Eingangstreppe des Brownstones anstarrte, in dem Paul Auster und Siri Hustvedt lebten und schrieben, war ich mit einem Mann zusammen, der in einem Café in der Nähe mit meiner Tochter Pancakes aß. Ausgelöst durch die verwickelte Natur der Zeit, überkam mich dort in Park Slope das Gefühl, Johanna stünde dicht neben mir, als hörte ich sie eine Bemerkung über den Zufall äußern, die ich erst sehr viel später verstehen würde, als nähmen wir beide, Schulter an Schulter, eine Bewegung hinter einem der Vorhänge im ersten Stock wahr.

So wie das Fieber jetzt installierte auch die Malaria eine Art Unendlichkeit in meinem Körper, als würde die Krankheit nie enden. Wir hatten zwei Freundinnen von ihr besucht, beide in der sogenannten «Entwicklungshilfe» aktiv, was offenbar alles Mögliche bedeuten konnte. Selbst nach zwei gemeinsamen Wochen konnte ich nicht sagen, worin ihr Auftrag bestand; eine drehte einen Film für eine Organisation, der eventuell auf einer Konferenz gezeigt werden würde, falls die Konferenz stattfand und der Film rechtzeitig fertig wurde, die andere schien in erster Linie dabei zu sein, um das Kamerastativ zu schleppen. Sie würden drei Monate bleiben und danach weiter in Richtung Süden reisen. Die Nacht im Zelt am Rand der Serengeti war unsere letzte im Land, und obwohl Johanna und ich uns ein Moskitonetz teilten, bekamen wir beide nichts von der Mücke mit, die mich stach, erst auf dem Rückflug entdeckte ich drei juckende Stiche in der Armbeuge. Johanna war mit heiler Haut davongekommen. Das Fieber hielt sich nur zwei, drei Wochen, vielleicht vier, doch es kam mir vor, als wäre ich monatelang ans Bett gefesselt. Johanna kühlte meine Stirn und brachte mir Gebäck aus der Konditorei am Markt, winzige Teilchen, meinem mäßigen Appetit entsprechend. Meine Beckenknochen zeichneten sich unter der Haut ab, und Johanna sagte, sie sei besorgt, doch insgeheim schien sie fasziniert von dem Anblick. Sie kochte Suppen mit Sahne und röstete Brotscheiben im Ofen, die später vor Butter troffen. Ich war ihr dankbar, für das Essen, die Geschenke und die Taschenbücher, die sie mit poetischen Widmungen versah. Sie kam aus Täby, aus einer fürsorglichen Familie, obere Mittelschicht, in der solche Geschenke gang und gäbe waren, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, elegant verpackt, ein hübsches Kärtchen unter die Schleife gesteckt. Die Übergabe hatte jedes Mal etwas Feierliches an sich, ganz gleich, wie klein das Geschenk war, selbst wenn sie es nur beim Mittagessen über den Tisch schob. In Johannas Welt ging es bei Geschenken nicht allein um den Inhalt und die Verpackung, sondern auch um die Überraschung und den richtigen Zeitpunkt, um das Verhältnis zur Vergangenheit und zu einer potenziellen Zukunft. Jedes Geschenk war Teil eines Geflechts aus Referenzen, Augenzwinkern und Informationen zwischen den Zeilen. Mit der Zeit wurde die angehäufte Geschenkemenge zu einer Last, da ich hoffnungslos hinterherhinkte. Johannas Geschenke waren zu zahlreich, zu teuer, zu verheißungsvoll, anders als ich besaß sie ein Auge fürs Schöne, stöberte in einem Museumsshop die perfekte Uhr auf, in einem Kino, dem die Schließung drohte, ein auf Blech gezogenes Filmplakat. Beide Geschenke habe ich aufbewahrt, und früher haben meine Kinder gefragt, wer diese Monika sei und mit wem sie diese Zeit in Schwarz-Weiß verlebt habe, die Uhr liegt in einem Kulturbeutel, kaputt und ohne Armband, aber eine auch nur annähernd so schöne habe ich bis heute nicht gefunden. Angestachelt von Johannas brutalem Abschied, entsorgte ich damals einen Teil der Geschenke und verstaute andere auf dem Dachboden, bis sich meine Gefühle beruhigt hätten. Um Geld ging es Johanna bei den Geschenken nie. Für sie war Geld kein Thema. Im Gegensatz zu uns anderen musste sie keinen Studienkredit aufnehmen (wir lernten uns in einem Journalismus-Seminar an der Uni kennen), sondern besaß eine Visakarte für ein Konto, das ihre Eltern immer wieder auffüllten. Für mich, die mit sechzehn von zu Hause ausgezogen war und seitdem auf eigenen Beinen stand, ging jede Ausgabe mit einem Opfer an anderer Stelle einher. Von den Büchern abgesehen, bezweifle ich, dass Johanna auch nur eins meiner Geschenke aufgehoben hat: die Pocketkamera, den Morgenmantel aus künstlicher Seide, die eingerahmten Illustrationen eines Comickünstlers, der damals hoch im Kurs stand und mittlerweile vergessen ist. Mir flößten die Geschenke und der Akt des Schenkens ein Gefühl von Minderwertigkeit ein, da ich ständig darüber nachgrübelte, wie günstig und spärlich sie im Verhältnis zu ihren Geschenken ausfielen. Verglichen mit Johanna fühlte ich mich plump und wurde mir plötzlich der Bedeutung von Geld und den Folgen eines angeborenen Mangels an gutem Geschmack bewusst. Sonst existierten diese Themen nur im Unterholz unseres Zusammenlebens, wir redeten nicht darüber. Vielleicht trugen Johannas Geschenke auch eine gewisse Gewalt in sich, eine triumphierende Überlegenheit, die sie jedes Mal zur Schau stellte, wenn sie mir eine Schachtel über den Tisch zuschob (eine Kette mit tropfenförmigem Silberanhänger), ein riesiges Paket im Wohnzimmer platzierte (Skier mit den dazugehörigen Skischuhen und ein Eisdorn), ein in Geschenkpapier eingeschlagenes, fast druckfrisches Buch aufs Kopfkissen legte (Tranströmers Trauergondel) oder einen Karton aus der Konditorei Gunnarsons kurz vor meinem Gesicht schwenkte und dann zwischen unsere Teetassen auf den Tisch stellte. Ihre Großzügigkeit kostete sie nichts, doch das Wissen, dass ich nicht mithalten konnte, ermöglichte ihr ein Gefühl von Macht. War ich blank, füllte sie den Kühlschrank und die Regale auf, mit Käse aus der Markthalle, frisch gepressten Säften und frisch gemahlenem Kaffee in braunen Papiertüten aus der Rösterei in der Linnégatan. Einmal, vermutlich kurz nach der Trennung, kam mir der Gedanke: Ist das strukturelle Gewalt – jemanden unterschwellig zu belehren, was ein Geschenk ist, wo man es zu besorgen und wie zu überreichen hat? Dass man unter keinen Umständen die billigste Hose, das billigste Pesto, den billigsten Computer oder die billigste Pfanne kauft, wie ich es immer getan hatte, sondern stets das Beste vom Besten? Erst Jahre später begriff ich, dass meine Theorien über die latente Gewalt der Geschenke nichts als Hirngespinste waren, entsprungen der Erfahrung des Verlassenwerdens, nachträglich konstruiert von einem grollvernebelten Bewusstsein. Johanna hatte mir Die New-York-Trilogie mit den besten Absichten geschenkt, und die beschriebenen Küsse (die lieber auf meinen Lippen wären) waren so echt, wie blaue Kugelschreiberküsse auf einem Vorsatzblatt nur sein können.

Mit Fieber zu lesen ist ein Glücksspiel, der Inhalt kann sich augenblicklich in Luft auflösen oder tief in jene Bewusstseinslücken einsickern, die die erhöhte Körpertemperatur bloßlegt. Das ist der Grund, warum Die New-York-Trilogie mich damals auf eine Weise erschüttert hat, die mir bis heute Rätsel aufgibt, und warum ich sie jetzt aus dem Regal ziehe, fast ein Vierteljahrhundert später, mit einem anderen Fieber wie Feuer hinter den Augen. Ein anderes Fieber, schreibe ich, dabei ist doch jedes Fieber gleich. Die gleichen Albträume, die gleiche Not. Fieber verwirbelt die Zeit, und plötzlich stehe ich neben meinem vierundzwanzig Jahre jüngeren Ich. Die Grenze zum Wahnsinn liegt bei 39 Grad, aber kurz davor, bei etwa 38 Grad, ist eine klar erkennbare Senke, wo ich meine Tage durchaus gern verbringe. Man lässt dort die Deckung fallen, und Gestalten aus der Vergangenheit müssen sich nicht als Gespenster verkleiden. Bei 38 Grad ist die Überlebensfähigkeit des menschlichen Körpers noch immer intakt, aber der Instinkt, ein umsichtiges, stets informiertes Mitglied der Gesellschaft zu sein, wird schachmatt gesetzt, und wer es aushält, das Vergangene um sich zu haben wie ein um die Beine tollendes Hunderudel, den erwartet in der Senke eine wohlige Mattheit. Ich erinnere mich gut an meine Kindheitsfieber, vor der Zeit der schnellen Thermometer, als jede Messung mit Vaseline und langem Warten einherging, wie meine Mutter die blaue Quecksilberlinie betrachtete und schließlich aussprach, was mein Körper längst wusste: 38 Grad, ein Tag in müßiger Auflösung, mit hauchdünnen Wänden zwischen mir und der Welt. Bei 38 Grad flüstert keine Stimme in mir «vorwärts». Obwohl diese Devise der Welt zugrunde liegt und alles antreibt, oder nicht? Vorwärts, vorwärts.

Das Seminar, das uns zusammenbrachte, gab ich noch vor Semesterende auf. Bestärkt von Johannas Zuspruch und Tatendrang beschloss ich, dem Schreiben eine Chance zu geben und machte mich an ein Projekt, das mir schon seit geraumer Zeit vorschwebte. Eine Sammlung thematisch verflochtener Erzählungen, aus der vielleicht etwas geworden wäre, hätte ich mehr von ihnen fertig geschrieben. Bei jedem Text kam ich bis zur Mitte, manchmal ein Stückchen weiter, doch dann verließ mich der Mut. Vorwärts ist eine Richtung für Menschen mit Rückenwind, aber ich feilte ganze Tage an einzelnen Sätzen, um sie am Ende doch zu verwerfen. Johanna schloss ihr Studium erfolgreich ab, was auch sonst, und bekam, dank der Beziehungen ihres Vaters, einen Job beim Lokalradio. Wenn sie abends gegen sechs, sieben Uhr nach Hause kam, stellte sie sich hinter mich an meinen großen Schreibtisch, schaute auf den Bildschirm, falls ich es zuließ, was ich meistens tat, und nickte und lächelte. Auch dann, wenn auf dem Bildschirm fast dieselben Sätze zu lesen waren wie am Vortag. Noch nie hatte ich jemandem meine Texte gezeigt, doch mit Johanna geschah es ganz natürlich – vielleicht, weil sie alles, was ich aus mir herauswrang, mit größtmöglicher Aufmerksamkeit analysierte. Mir war bewusst, dass Johannas Küsse auf meinen Lippen und ihre Beurteilung meiner Texte zusammengehörten, doch ihr Zuspruch ermutigte mich zum