Die DNA der USA - Sandra Navidi - E-Book
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Sandra Navidi

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Beschreibung

Amerika durchlebt ein epochales Gesellschaftsbeben. Mit faschistischen Methoden versuchen die Republikaner, die Demokratie zu kapern und eine autokratische Herrschaft zu etablieren: Sie befeuern die militante Spaltung der Gesellschaft, fördern einen Führerkult, rufen zu Gewalt auf und erschaffen mittels Propaganda eine fiktive Realität. Dabei kooperieren sie mit verschiedenen radikalen Gruppierungen wie extremistischen Christen, Verschwörungstheoretikern und Milizen. Ihr nächster Putschversuch läuft bereits auf Hochtouren. Zahlreiche demokratische Kontrollmechanismen haben sie bereits sabotiert – wie den Supreme Court, den sie de facto »übernommen« haben. Wie es so weit kommen konnte, erläutert Sandra Navidi, die seit über einem Vierteljahrhundert in den USA lebt und auf höchster Ebene vernetzt ist. Höchst aufschlussreich benennt und analysiert sie genau die Aspekte der amerikanischen Geschichte, Kultur und Weltanschauung, die dazu geführt haben, dass viele Amerikaner so anfällig für Desinformation, Propaganda und Extremismus sind. Aus ihrer transatlantischen Perspektive erläutert sie die Hintergründe und Zusammenhänge des Kulturkrieges, des Erstarkens der Rechtsradikalen, des religiösen Fundamentalismus und des Waffenkults. Wie groß die Gefahr eines Bürgerkriegs ist und ob Amerika in den Faschismus taumelt, das erfahren Sie in diesem Buch. *** Amerika – die Supermacht, die sich als außergewöhnlich und unverzichtbar erachtet, ist immer noch das beliebteste Einwanderungsland und die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt. Wie ist es möglich, dass eine Nation trotz des großen Potenzials seiner Menschen und seiner vielfältigen Stärken so nah an den gesellschaftlichen und politischen Abgrund geraten ist? Besser als jeder andere analysiert und erklärt die in New York ansässige Juristin und Wirtschaftsexpertin aus ihrer Insiderperspektive die Stellschrauben des Systems, die der Grund dafür sind, dass Amerika in eine existenzielle Krise gestürzt ist. Die DNA der USA ist ein tiefgründiges Porträt einer komplexen Nation.

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Sandra Navidi

DIE DNA DER USA

Wie tickt Amerika?

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Wichtiger Hinweis:

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe, 1. Auflage 2022

© 2022 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Daniel Bussenius

Korrektorat: Manuela Kahle

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München

Umschlagabbildung: Hintergrundbild: Shutterstock.com/JamesAHarkness; Flagge: Shutterstock.com/STILLFX; Autorenfoto: photo credit MG RTL DSpreitzenbarth

Satz: ZeroSoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-631-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-204-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-200-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

www.finanzbuchverlag.de

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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Amerika – Die wohlmeinende Führungsmacht

Kapitel 2 Die amerikanische Ideologie

Exzeptionalismus: Die einzigartige Ausnahmenation

Kultur: Das amerikanische Wertefundament

Die Meritokratie: Das amerikanische Erfolgsprinzip

Kapitel 3 USA: Die Realitäts-Manufaktur

Kollektive Illusionen: Verschmelzung von Illusion und Realität

Historie: Das Land des stetig Neuen

Vorstellungskraft: Grenzenlos

Hollywood: Traumfabrik

TV: Infotainment

Journalismus: Fake News

Marketingindustrie: Suggestion von Illusion

Psychopharmaka: Käufliches »Glück«

Vergnügungsindustrie: Das hedonistische Hamsterrad

Magisches Denken: Effektive Selbsttäuschung

Silicon Valley: Virtuelle Realität

Social Media: Wahrnehmungsfilter

Self-Made: Jeder ist sein eigener Schöpfer

Der Selbstoptimierungskult: »Das Geheimnis«

Der Persönlichkeitskult: Strahlkraft

Der Beautykult: Kunstgeschöpfe

Der Celebritykult: Schein ist Sein

»Alternative Fakten«: Attentat auf die Wirklichkeit

Trumps Sabotage der Wahrheit

Warum Amerikaner so anfällig für Fake News sind

Kapitel 4 Der amerikanische Traum: Ausgeträumt?

Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Wohlstand

Die Mär: Vom Tellerwäscher zum Millionär?

Der ungezügelte Kapitalismus

Der Sozialdarwinismus

Die Friedman-Doktrin

Sozialismus für Reiche

Erfüllung

Finanzielle Impotenz

Nomadenland

Erwerbstätig obdachlos

Die Maulwurf-Menschen

Der Verzweiflungstod

Ein neuer Traum

Freiheit

Die Freiheit des Einzelnen

Das Kapern des Supreme Courts durch die Republikaner

Grundrechtsentzug: Die Signalwirkung der Aufhebung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch

Umweltschutz

Waffenrecht

Wahlrecht

Kulturkampf der »Originalisten«

Gleichheit

Nicht alle sind vor dem Gesetz gleich und frei

Der ganz alltägliche Rassismus

Die wirtschaftlichen Konsequenzen von Diskriminierung

Kapitel 5 Polarisierung: Der Kulturkampf

Tektonische Spaltung: Das Epochale Gesellschaftsbeben

Der Turm von Babel

Krieg der Stämme

Ausblick

Die gekaufte Politik: Wie Reiche Amerika regieren

Legalisierte Bestechung

Der Supreme Court lässt die Kassen klingeln

Polarisierung im Turbogang

Republikaner: Die Kulturkrieger

Die republikanische Mobilisierung

Freie Marktwirtschaft: Mythos

Konservative Familienwerte: Die Schein-Heiligen

Das »Ende der Männer«: Die Testosteronkrise

Meinungsfreiheit: Der Kampf um die kulturelle Hegemonie

Schusswaffen: Die terrorisierte Gesellschaft

Radikale Christen: Der Kreuzzug

Kapitel 6 Endgame: Die Feindliche Übernahme der Demokratie

Dystopie: »Komischer Scheiß«

Republikaner: Radikal rechts

Die Russland-Connection

Milizen

Bürgerkrieg

Putsch

Trumps Putschversuch: Eine Pleite

Der nächste Putsch

Der juristische Putsch

Der wahltechnische Putsch

Der politische Putsch

Der gewaltsame Putsch

Kapitel 7 Die Zukunft der Außergewöhnlichen Nation

Ein Experiment namens Amerika

Mit Vollspaß in die Idiokratie

Die Unverzichtbare Nation

Anmerkungen

Bibliographie

Vorwort

Ich liebe Amerika. Seit insgesamt über einem Vierteljahrhundert sind die USA meine Wahlheimat, in der ich studiert, gearbeitet und geheiratet habe. Ich lebe in der Metropole Manhattan, habe beträchtliche Zeit in der Provinz verbracht und das Land kreuz und quer bereist, beruflich wie privat. Seit ich denken kann, war Amerika mein Traumland, das ich lange Zeit durch eine rosarote Brille betrachtet habe.

Auf den ersten Blick mag die amerikanische Kultur oberflächlich erscheinen, aber sie ist komplex und voller Widersprüche. Viele Aspekte des Lebens sind in Amerika besser als in anderen Teilen der Welt und Vieles ist einfach anders. Zahlreiche kulturelle Besonderheiten und Nuancen habe ich erst mit der Zeit realisiert. Auch Missstände, Schwachstellen und Nachteile des Landes sind mir nach und nach immer bewusster geworden.

Die größten Stärken Amerikas sind gleichzeitig auch seine größten Schwächen. Die Selbstwahrnehmung als außergewöhnliche Nation, der ausgeprägte Individualismus und die wettbewerbsorientierte Leistungsgesellschaft verleihen Selbstbewusstsein, setzen ungeahnte Kräfte frei und ermöglichen es dem Einzelnen, über sich hinaus zu wachsen. Aber ein übersteigertes Selbstbewusstsein kann eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit verhindern. Der ungezügelte Individualismus kann zu Egoismus und Narzissmus führen und die Leistungsgesellschaft hat de facto einen Sozialdarwinismus zur Folge, bei dem viele Menschen auf der Strecke bleiben und der die Ungleichheit drastisch vergrößert.

Die amerikanische Wirtschaft und die Kultur haben viele Errungenschaften hervorgebracht, die das Land bereichert haben und zu Exportschlagern geworden sind. Aber eine Welt, in der Hollywood, die Medien, die Vergnügungsindustrie, das Silicon Valley und die sozialen Medien regieren und jeder sich selbst und seine Welt so gestalten kann wie er möchte, führt dazu, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Realität immer mehr verschwimmen. In dieser alles-ist-möglich Kultur kann sich der einzelne immer weiter von der Realität abkoppeln und in eine imaginäre Welt begeben, in der er alles wahrnehmen, glauben und machen kann, was er möchte.

Auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen sowie tiefgehender Recherche werde ich in diesem Buch das amerikanische Menschenbild, die Weltanschauung und den nationalen Charakter erläutern. Das Schreiben habe ich in Teilen als emotional herausfordernd empfunden, weil ich dieses Land und seine Menschen schätze und es mir in der Seele weh tut, mit anzusehen wie nahe es an den gesellschaftlichen und politischen Abgrund getaumelt ist.

Wie kann es sein, dass sich Amerika, scheinbar im Zeitraffer auf eine Autokratie zubewegt hat? Dass rund ein Drittel der Amerikaner einer totalitären Herrschaftsform aufgeschlossen sind? Dass 74 Millionen Wähler 2020 für Donald Trump gestimmt haben? Dass Schätzungen zufolge zehn Millionen Menschen sogar gewaltsam unter Einsatz von Waffen für ein weißes, christliches und autoritäres Regime kämpfen würden? Jahrhunderte weißer Vorherrschaft, das Trauma des 11. Septembers, die zunehmende Komplexität unserer Welt und die daraus folgende Ungewissheit, waren ideale Bedingungen für die Radikalisierung weiter Teile der Bevölkerung und den Versuch Donald Trumps und der Republikaner, die Demokratie mit faschistischen Mitteln zu kapern.

Meine Sozialisierung im Nachkriegsdeutschland und die Erfahrungen meiner iranischen Familie mit dem Wandel Irans in eine autoritäre Theokratie sowie meine transatlantische Perspektive, haben mich für die Formierung extremistischer politischer Tendenzen und den daraus resultierenden Gefahren sensibilisiert. In meiner Arbeit als Rechtsanwältin und Wirtschaftsexpertin auf beiden Seiten des Atlantiks, habe ich viel über die menschliche Natur gelernt. Und vielleicht am wichtigsten: Ich habe miterlebt, dass das Unmögliche möglich ist und wir nicht die Augen davor verschließen dürfen, auch wenn wir es nicht glauben möchten.

Die Entwicklung Amerikas ist auch für Europa und Deutschland richtungsweisend, weil Ultranationalisten zunehmend internationale Koalitionen gegen die liberale Werteordnung bilden und die Unterminierung westlicher Allianzen und Institutionen vorantreiben. Die Gegenwart ist die Geschichte von morgen und jetzt ist die Zeit für jeden einzelnen gekommen, sich zu entscheiden, auf welcher Seite der Geschichte er oder sie stehen möchte.

Auch wenn ich in diesem Buch viele Aspekte der amerikanischen Kultur kritisch beleuchtete, möchte ich diese Abfassung nicht als Generalkritik verstanden wissen. Das Land hat schon viele Krisen bewältigt und der überwiegende Teil der Amerikaner ist humanistischen Werten verpflichtet. Amerika ist ein fantastisches Land und ich glaube, hoffe und erwarte, dass die demokratische Mehrheit der Bevölkerung gegen die tyrannische Minderheit obsiegen wird.

New York, September 2022

Kapitel 1

Amerika – Die wohlmeinende Führungsmacht

In meiner Kindheit pflegte meine Großmutter zu sagen: »Gott sei Dank wohnen wir auf der richtigen Seite des Rheins, falls die Russen kommen.« Wir wohnten in Mönchengladbach, das in der britischen Besatzungszone lag. Kurz nach dem Krieg lebten meine Großeltern in München, das von den Amerikanern besetzt war. Dort hatten sie gute Beziehungen zu den Besatzern gepflegt und beste Erfahrungen mit ihnen gemacht.

1945 war der Zweite Weltkrieg beendet. Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren und Deutschland lag in Schutt und Asche. Die amerikanische Siegermacht begegnete der deutschen Bevölkerung unerwartet freundlich. Vorbehalte auf beiden Seiten schlugen rasch in Sympathie um. Die New York Times berichtete im März 1945 über die Erfahrungen des amerikanischen Unteroffiziers Francis W. Mitchell. Er erzählte, wie erschöpfte Menschen in Köln aus ihren Kellern krochen, erleichtert, dass die Besatzungssoldaten nicht vorhatten, sie zu töten. »Wir sollen diese Menschen hassen und hart mit ihnen umgehen«, sagte er. »Aber wenn die Kämpfe vorbei sind, dann empfinden wir nur noch Mitgefühl. Es ist schwer, Menschen gegenüber reserviert zu sein, die einem so freundlich begegnen.«1

Primäres Ziel der Amerikaner war die Wiederherstellung von Recht und Gesetz und der Aufbau einer Demokratie. Das Brachliegen der Wirtschaft bereitete der US-Regierung besonderes Kopfzerbrechen, denn die Infrastruktur und die Lieferketten waren in weiten Teilen zerstört, und es fehlten Arbeitskräfte, vor allem in der Landwirtschaft. Und so mangelte es an allem – an Nahrungsmitteln, Unterkünften und Heizmöglichkeiten. Im Winter 1946/47, einem der kältesten des Jahrhunderts, starben noch einmal Hunderttausende Menschen einen qualvollen Kälte- und Hungertod. Ganz Europa taumelte in eine wirtschaftliche und politische Abwärtsspirale. Derweil baute Josef Stalin seine Macht im Osten immer weiter aus. Um dem wirtschaftlichen Verfall und Stalins Machtstreben etwas entgegenzusetzen, verkündete US-Außenminister Georg C. Marshall 1947 ein Wirtschaftsförderungsprogramm für den Wiederaufbau Europas, das European Recovery Program (ERP), das nachfolgend als Marshall-Plan in die Geschichte einging. Aufgrund des im April 1948 von Präsident Truman unterzeichneten entsprechenden Gesetzes gewährten die USA europäischen Staaten in den Jahren 1948 bis 1951 Investitionskredite und lieferten Lebensmittel, Rohstoffe und Waren im Wert von fast 13 Milliarden US-Dollar. Die Bundesrepublik erhielt davon Kredite und Lieferungen im Wert von 1,4 Milliarden Dollar.

Als die Sowjetregierung im Juni 1948 die westlichen Sektoren Berlins abriegeln ließ und so zwei Millionen Menschen von der Lebensmittel- und Energieversorgung abschnitt, etablierte der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay eine Luftbrücke zur Versorgung der Bevölkerung mit allem Lebensnotwendigen. »Rosinenbomber« warfen über West-Berlin zusätzlich Tonnen von Süßigkeiten und Spielzeugen ab, um den Kindern eine Freude zu bereiten. Auch amerikanische Familien und Wohlfahrtsorganisationen halfen. Sie schlossen sich zur »Cooperative for American Remittances to Europe«, kurz CARE, zusammen, um die gebeutelten Europäer direkt mit dem Wichtigsten, wie Nahrung, Kleidung, Genussmittel, Werkzeugen, Nähutensilien und Heizmaterialien, zu versorgen.

Das Wiederaufbauprogramm der Amerikaner war ein voller Erfolg und resultierte im deutschen Wirtschaftswunder. Mithilfe von Jugend- und Kulturorganisationen, die kostenlose Veranstaltungen und Sportmöglichkeiten boten, ebneten die Besatzer den Weg für den interkulturellen Austausch und zwischenmenschliche Begegnungen.

Der psychologische Effekt der amerikanischen Initiativen war enorm, denn sie überzeugten einen großen Teil der westdeutschen Bevölkerung vom guten Willen der Amerikaner. Ihre Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Unterstützung haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingeprägt und die Symbolkraft ihrer Gesten strahlt bis heute aus. Sie sind Teil der Versöhnung und der Grundstein der transatlantischen Partnerschaft. Mit der Zeit wurden die amerikanischen Streitkräfte nicht mehr als Besatzungs-, sondern als »Befreiungs-Macht« wahrgenommen. Während des Kalten Krieges wurden die USA zur Schutzmacht gegen den Ostblock und später zu einem wirtschaftlichen und politischen Partner. Das gemeinsame Wertesystem, die wirtschaftliche Kooperation und die gemeinsame Front in der NATO gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion vereinten die beiden Nationen.

Auch kulturell befanden sich die Amerikaner in den nachfolgenden Jahrzehnten auf Eroberungskurs. In den 1950er- und 1960er-Jahren prägte der American Way of Life den Zeitgeist und Deutschland erlebte einen Kulturwandel, transportiert vor allem durch Funk, Fernsehen und das Kino. Elvis Presley, Rock ’n’ Roll und Petticoats vermittelten Lebenslust und Fröhlichkeit. Noch Jahrzehnte später beklagte meine Großmutter die in dieser Zeit durchgetanzten Teppiche im Haus. Der von der amerikanischen Militärverwaltung in West-Berlin gegründete Radiosender RIAS war so beliebt, dass die DDR-Führung versuchte, dessen Empfang mit Störsendern zu unterbinden. Auch das amerikanische Konsumfieber ergriff die Westdeutschen. Amerikanische Produkte wie Bluejeans und Coca-Cola wurden zum Symbol eines Lebensgefühls.

Mit der Zeit bekam die positive Wahrnehmung der USA durch die Deutschen allerdings Risse. Die 68er-Bewegung, die in den USA als Bürgerrechtsprotest gegen ethnische, soziale und wirtschaftliche Diskriminierung begonnen hatte, griff schnell auf andere Teile der Welt über, auch auf Deutschland. Der brutale Vietnamkrieg mit dem Einsatz von Napalmbomben sorgte für Entsetzen. In den 1980er- und 1990er-Jahren manifestierte sich ein zunehmender Antiamerikanismus, zunächst insbesondere in den Protesten gegen die Stationierung von atomaren US-Mittelstreckenraketen in Deutschland. Gleichzeitig griff der entfesselte US-Kapitalismus auf Deutschland über. Die Deregulierung und Liberalisierung des Finanzsektors gaben der amerikanischen Wirtschaft nach einer langwährenden Stagflation, zumindest vordergründig, eine Initialzündung. Profitstreben und Konsum bestimmten den Zeitgeist. Fernsehserien wie Dallas und Denver Clan sowie Hollywood-Filme wie Wall Street mit der Botschaft »Gier ist gut« begeisterten die Deutschen. Erst viel später sollten sich die während dieser Zeit getroffenen neoliberalen Wirtschaftsmaßnahmen als Ursprung tiefer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Spaltung herausstellen.

Im Rahmen der Wiedervereinigung erfuhr Deutschland noch einmal besondere Unterstützung durch die USA unter Führung von Präsident George H. W. Bush. Das Ende des Kalten Krieges veränderte das transatlantische Verhältnis allerdings nachhaltig. Die Interessenlagen der beiden Nationen verschoben sich und der Zusammenhalt wurde poröser. Während die USA ihr Augenmerk sowohl sicherheitspolitisch als auch wirtschaftlich auf andere Teile der Welt, wie Asien, richteten, fokussierte sich Deutschland auf die europäische Integration.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 sollten eine Zäsur in den Beziehungen der beiden Nationen darstellen. Die Bundesregierung und die deutsche Bevölkerung drückten den Amerikanern angesichts der schrecklichen Ereignisse ihre aufrichtige Solidarität aus. Diese Solidarität hatte allerdings Grenzen. Als Präsident Bush aufgrund unzutreffender Informationen der US-Nachrichtendienste in den Krieg mit dem Irak zog, verweigerte Deutschland aus Überzeugung seine Unterstützung. Diese Entscheidung verärgerte die USA und führte aufseiten der Deutschen zu einem Erstarken des Antiamerikanismus. Eine nachhaltige Entfremdung der beiden Partner war die Folge.

Unter Präsident Barak Obama, der auf Deutschland zuging und einen großen Teil des unter der Bush-Regierung verloren gegangenen Vertrauens und der Glaubwürdigkeit wieder aufbaute, lebten die Beziehungen zunächst wieder auf. Aber die Wahl Donald Trumps zu Obamas Nachfolger 2016 verpasste den wieder aufkeimenden Beziehungen einen deutlichen Dämpfer. Während Präsident Trump Autokraten wie Wladimir Putin, Kim Jong-un und Rodrigo Duterte hofierte, düpierte er seine Verbündeten, allen voran seine deutschen Partner. 2017 äußerte er bei einem Treffen mit der EU-Spitze in Brüssel: »Die Deutschen sind übel, absolut übel … Schauen Sie sich die Millionen von Autos an, die sie in den USA verkaufen. Schrecklich. Wir werden das unterbinden.«2 Schon Jahrzehnte zuvor hatte er gegen deutsche Produkte gewettert und geschimpft, dass er »bald keinen Mercedes-Stern mehr auf der Fifth Avenue sehen möchte«. Nunmehr Präsident, knöpfte er sich den Handel mit Deutschland und Europa vor. »Wir haben keinen freien Handel. Ich glaube an freien Handel. Aber wir haben unfairen Handel.«3 Kanzlerin Angela Merkel war für ihn ein rotes Tuch. Michael Wolff, langjähriger Trump-Kenner und Autor des Bestsellers Feuer und Zorn, beschrieb Trumps Reaktion auf die Kanzlerin: »Merkel – wenn er schon ihren Namen hört, schneidet er eine Grimasse und tut so, als ob ihm schlecht wird.«

Trumps Gebaren veranlasste die Kanzlerin festzustellen, dass »die Zeiten, in denen wir uns auf andere verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei«.4

Als Joe Biden 2020 die Präsidentschaftswahl gewann, stellte sich aufgrund seiner versöhnlicheren Töne und Kooperationsbereitschaft große Erleichterung ein. Allerdings wurde die anfängliche Hoffnung auf eine Rückkehr zu den Beziehungen, die vor Trump geherrscht hatten, enttäuscht. Die protektionistische Stimmung in den USA ließ Biden wenig Spielraum, von der »Amerika First«-Politik abzurücken. Und so propagiert auch er »Buy American« und praktiziert »Bidenomics«, eine wirtschaftliche Strategie, zu der die Rückholung von Lieferketten, Produktion und Innovation in die USA gehört. Auf deutscher Seite herrschte Desillusionierung. Aber auch bei den Amerikanern machte sich Ernüchterung über die Beziehungen breit. Deutschlands zögerliche Reaktion auf den im Februar 2022 von Russland begonnenen Krieg gegen die Ukraine, legten sie als mangelnde Loyalität und fehlendes Verantwortungsbewusstsein aus. Es sei scheinheilig von Deutschland, sich auf militärische Zurückhaltung und Menschenrechte zu berufen, aber nur dann, wenn es nicht die eigenen finanziellen Interessen betreffe. Beispielsweise hätten die Deutschen im Hinblick auf die Gaspipeline Nord Stream 2, den Handel mit China und bezüglich ihrer Waffenexporte augenscheinlich weit weniger Bedenken.

Festzuhalten bleibt, dass sich die einstmals eng verbundenen Nationen über die Jahrzehnte auseinandergelebt und entfremdet haben, nicht nur auf politischer, sondern auch auf menschlicher Ebene. Lange hatten viele Deutschen sehnsüchtig auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten geblickt. Mittlerweile hat ihre Begeisterung für Amerika deutlich nachgelassen. War die positive Wahrnehmung von Amerika eine Illusion, oder hat sich das Land tatsächlich so nachhaltig verändert?

Kapitel 2

Die amerikanische Ideologie

Exzeptionalismus: Die einzigartige Ausnahmenation

Das Gefühl der transatlantischen Entfremdung deckt sich auch mit meiner eigenen Erfahrung. Vor über zwei Jahrzehnten bin ich voller Begeisterung in die USA ausgewandert. Diese Begeisterung hat sich mittlerweile allerdings etwas relativiert.

Meine Wahrnehmung des Landes ist durch die Aufenthalte in meiner Jugend nachhaltig geprägt worden. Meine erste Reise in die USA empfand ich wie eine Zeitreise in die Zukunft. Ich hatte schon Menschen aus verschiedensten Kulturen kennengelernt, aber die Amerikaner kamen mir vor wie eine völlig andere Spezies. Ich war begeistert von ihrer Offenheit, Freundlichkeit und kindlichen Begeisterungsfähigkeit. Auch ihr Patriotismus, den ich aus Deutschland so nicht kannte, beeindruckte mich. In den Vorgärten meiner Freunde wehten US-Flaggen, die Nationalhymne erklang bei jeder Gelegenheit, und bei einem Schulbesuch sprach ich den morgendlichen nationalen Treueeid »Pledge of Allegiance« mit, ohne genau zu verstehen, was er bedeutete. Die Menschen waren stolz auf ihr Land und ihre Geschichte. Das gemeinsame Zelebrieren von Traditionen vermittelten ein Gefühl des Zusammenhalts und das Bewusstsein, Teil einer ganz besonderen Gemeinschaft zu sein, einer außergewöhnlichen Nation, die allen anderen überlegen und unverzichtbar ist.

Die Ideologie des »American Exceptionalism«, des amerikanischen Exzeptionalismus, reicht zurück in die Anfänge der Besiedlung Nordamerikas durch Europäer, bevor es überhaupt eine amerikanische Nation gab. Anfangs handelte es sich lediglich um eine Idee, die noch keinen Namen trug. Später übernahmen die Amerikaner den Begriff des Exzeptionalismus ausgerechnet von Josef Stalin, nachdem der 1929 den »American Exceptionalism« kritisiert hatte. Das Konzept basiert auf der Prämisse, dass die Werte, Ideale und Institutionen des Landes einzigartig in der Welt sind. Aufgrund schicksalhafter Vorsehung komme Amerika die Rolle eines tugendhaften Vorbilds und einer moralischen Führungsmacht in einer schlechten Welt zu. Schon Alexis de Tocqueville beobachtete 1835, dass »Amerikaner … eine sehr hohe Meinung von sich haben. Sie wähnen sich so überlegen, dass sie sich beinahe für die Krönung der Menschheit halten.«5 In den letzten zwei Jahrhunderten haben historische Persönlichkeiten Begriffe zur Umschreibung Amerikas geprägt wie das »Imperium der Freiheit«, die »strahlende Stadt auf dem Hügel«, der »größte Hoffnungsträger dieser Erde«, die »Führungsmacht der freien Welt« und die »unverzichtbare Nation«.6 Teilweise resultierte diese Wahrnehmung aus der puritanischen Theologie, gemäß derer Amerika auserwählt war, um eine göttliche Mission zu erfüllen. Aber auch darüber hinaus herrschte allgemein die Auffassung, dass Amerika eine bessere Version der alten Welt sei, einzigartig im Hinblick auf seine Menschen, Wirtschaft und Politik. 1893 konstatierte der Historiker Frederick Jackson Turner, dass die Menschen mit dem Überwinden der amerikanischen Grenze die Fesseln ihrer Vergangenheit, ihre Herkunft und ihre Tradition hinter sich ließen und den Status der Gleichheit erlangten, um gemeinsam in dem neuen Land zu bestehen und eine Heimat in der Demokratie zu finden.7 Und tatsächlich sollte es den Einwanderern aus den verschiedensten Ländern, mit unterschiedlichen ethnischen Zugehörigkeiten, Sprachen, Kulturen, Religionen und politischen Überzeugungen, gelingen, die Nation letztendlich zur stärksten Wirtschafts- und Militärmacht der Welt zu machen. Darüber hinaus waren die frühen Verfechter des Exzeptionalismus der Auffassung, dass das Land gegen soziale, wirtschaftliche, politische und militärische Konflikte, die in anderen Ländern und Weltregionen herrschten, wie beispielsweise in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, gefeit sei. Sie betrachteten Amerika als eine friedliche Macht, die mit gutem Beispiel voranging, sich aber nicht in die Angelegenheiten anderer Länder einmischte. Das war natürlich ein Mythos, denn im 17. und 18. Jahrhundert vertrieben die Pioniere bei ihrem Vordringen in den Westen gewaltsam die indigenen Amerikaner und eroberten Land gen Süden, ein Vorgehen, das durchaus mit der europäischen Kolonialisierung im 19. Jahrhundert vergleichbar ist. Die Pioniere rechtfertigten ihr Vorgehen mit der Pflicht des weißen Mannes, »rückständige und unterlegene Rassen zu zivilisieren«, und debattierten, inwieweit Nicht-Weiße überhaupt Teil Amerikas sein konnten.

Entgegen der von ihnen propagierten Zurückhaltung, griffen die Amerikaner in den Ersten Weltkrieg ein, was im Nachhinein politisch sehr kritisch betrachtet wurde. Deswegen und weil die USA in den 1930er-Jahren mit der Bewältigung der Großen Depression beschäftigt waren, war die Motivation gering, sich in die politischen Angelegenheiten Europas, geschweige denn in einen zweiten Weltkrieg, einzumischen. Dementsprechend reagierten die USA auf das Erstarken Nazideutschlands erst sehr spät. Nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg herrschte dann allerdings ein überparteilicher Konsens in den USA darüber, dass amerikanische Führung zur Erhaltung der Demokratie in der Welt notwendig sei. Zum Schutz ihrer nationalen Interessen und der liberalen Weltordnung schufen die USA ein System von multilateralen Institutionen und Sicherheitsbündnissen.8 Aus amerikanischer Sicht funktionierte die Pax Americana: Der Kalte Krieg wurde gewonnen, und nach dem Nationalsozialismus war auch der Kommunismus besiegt.

Barak Obama war der erste Präsident, der die Prämisse der Exzeptionalität und Amerikas Rolle in der Welt 2009 vorsichtig zu hinterfragen wagte. Auf einer Pressekonferenz sagte er: »Ich glaube an den amerikanischen Exzeptionalismus, genauso wie ich vermute, dass die Briten an den britischen Exzeptionalismus glauben und die Griechen an den griechischen Exzeptionalismus.« Diese Relativierung interpretierten die Republikaner als Verrat an Amerika. Obamas Nationale Sicherheitsstrategie, die auf Kooperation mit Verbündeten und militärische Zurückhaltung setzte, legten sie als Verachtung für die Führungsrolle ihres Landes aus. Fortan erklärten sie, dass jemand, der nicht an die Einzigartigkeit der USA glaube, das Land nicht liebe und nicht amerikanischer Präsident sein könne.9 Letztendlich sah Obama sich genötigt, diesen Angriffen mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zum amerikanischen Exzeptionalismus entgegenzutreten.

Mittlerweile stellten jedoch auch zunehmend mehr Menschen in der US-Bevölkerung die Außergewöhnlichkeit Amerikas in Frage, insbesondere angesichts des gescheiterten Krieges gegen den Terror, der großen Finanzkrise von 2007/08 und der wachsenden Ungleichheit im Land. Nach ihrer Meinung sollte sich ihre Regierung erst einmal um ihre eigenen Bürger kümmern und die heimischen Missstände beheben, bevor sie sich politisch, militärisch und finanziell im Ausland engagiert.

Diesen Stimmungswandel griff Donald Trump 2015/16 instinktiv auf. Während die anderen republikanischen Präsidentschaftskandidaten unbeirrt auf der Wir-sind-die-Besten-Welle ritten, stellte Trump diese Prämisse nicht nur in Frage, sondern lehnte sie sogar ausdrücklich ab. In einem Interview äußerte Trump 2015, dass er kein Fan der Idee des amerikanischen Exzeptionalismus sei.10,11 Kein anderer republikanischer Präsidentschaftskandidat hätte einen solchen Tabubruch gewagt. Aber Trump lehnte nicht nur die Idee der Ausnahmestellung der USA ab, sondern die gesamte liberale Weltordnung der Nachkriegszeit. Er verwandte mit »America First« einen Slogan, der einer Bewegung mit faschistischen Zügen aus den 1930er-Jahren entstammt. Diese hatte sich vehement gegen ein Eingreifen der USA in den Zweiten Weltkrieg und für wirtschaftlichen und kulturellen Protektionismus eingesetzt. »America First« beruht auf dem Gedankengut des ethnischen Nationalismus. Demnach liegt die Besonderheit des »wahren«, christlichen Amerikas in der ethnischen und kulturellen Homogenität, materiellem Wohlstand und militärischer Überlegenheit, nicht in Diversität und liberalen Werten. Indem Trump den amerikanischen Exzeptionalismus ablehnte, entzog er der US-Außenpolitik auch die Basis, sich für freiheitliche Ideale in der Welt einzusetzen. Stattdessen verfolgte Trumps Außenpolitik lediglich einseitig eng definierte nationale Interessen, wobei Ideale, Institutionen und Verbündete nur hinderlich waren, während die Kooperation mit Feinden und menschenverachtenden Regimes durchaus opportun sein konnte. Allerdings verfolgte Trump nicht den damit typischerweise einhergehenden Isolationismus, da er als Militarist mit interventionistischen Ambitionen durchaus militärischen Eingriffen zugeneigt war, wenn auch lediglich willkürlich nach Gutdünken, ohne eine kohärente Strategie.12

Die Vereinigten Staaten sind immer noch die wohlhabendste Nation der Welt. Sie verfügen über die größte Volkswirtschaft, halten die meisten Patente und haben die größte Anzahl an Nobelpreisträgern vorzuweisen. Der Einfluss der amerikanischen Exzeptionalismus-Idee auf die Eigenwahrnehmung der Amerikaner ist nicht zu unterschätzen. Das Selbstbild der Einzigartigkeit und Überlegenheit verleiht den Menschen von klein auf ein Selbstbewusstsein, das ungeahnte Kräfte freisetzen kann. Aber es erschwert auch ein kritisches Hinterfragen des eigenen Handelns und eine ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit hatte zahlreiche außenpolitische Fehleinschätzungen zur Folge. Dass ihre Selbstwahrnehmung als außergewöhnliche Nation zum Teil von anderen Ländern als arrogant, selbstgerecht und heuchlerisch aufgefasst wird, erschließt sich den meisten Amerikanern nicht. Das stete Mantra der »Außergewöhnlichkeit« hat mit der Zeit einen gewissen Narzissmus und eine zumindest graduelle Abkopplung von der Realität hervorgebracht.13 Zu diesen Phänomenen werden wir später noch kommen, weil sie zur Erhellung zahlreicher geschichtlicher Entwicklungen, der Trump-Ära und des zukünftigen Kurses der USA beitragen.

Kultur: Das amerikanische Wertefundament

Was mich anfangs am meisten an den Amerikanern beeindruckt hat, war ihr ausgeprägter Individualismus, der sich vor allem in ihrer schier grenzenlosen Kreativität manifestiert. Auf sie gingen Trends zurück, die die Welt erobert hatten. Als Kind war ich in Deutschland mit der Sesamstraße aufgewachsen, hatte mit Barbies gespielt, war Disco-Roller gefahren, hatte Aerobic gemacht, die amerikanischen Vorabendserien verfolgt und Hollywood-Filme gesehen. Bei meinen USA-Besuchen spürte ich auf einmal den kreativen Ursprung all dieser Trends und das damit verbundene Lebensgefühl. Auch der Ausdruck der eigenen Individualität der Menschen imponierte mir. Ich staunte, wie mutig sie sich stylten, und dass Menschen es wagten, im Pyjama zum Kiosk zu gehen oder mit Lockenwicklern im Haar zur Arbeit zu fahren. In Deutschland herrschte zu diesem Zeitpunkt eine wesentlich angepasstere Kultur. Als Tochter eines iranischen Vaters und einer deutschen Mutter hatte ich dort immer das unterschwellige Gefühl, »etwas anders« zu sein. Im Gegensatz dazu fühlte ich mich in den USA sofort zugehörig.

Um Amerika zu verstehen, ist es wichtig, die Werte zu verstehen, die die Amerikaner prägen, denn diese sind die Grundlage ihres Verhaltens, ihrer Beziehungen und der Gesellschaft.

Ganz oben im amerikanischen Wertesystem rangiert der Individualismus. Demgemäß steht die individuelle Freiheit des Einzelnen über dem Wohl der Gemeinschaft. Jeder Mensch wird als ein autarkes Individuum betrachtet, das alles denken, sagen, tun und erreichen kann, soweit es nicht die Freiheit anderer Menschen verletzt. Die Einmischung der Gesellschaft oder Regierung in das Leben des Einzelnen ist verpönt. Die Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben, Stärke, Durchsetzungsfähigkeit und Selbstständigkeit werden als Tugenden erachtet. Demgegenüber signalisiert Abhängigkeit von anderen Schwäche. Niederlagen werden toleriert, aber nur, wenn man sich aus eigener Kraft wieder aus ihnen befreit, indem man sich »an den Schnürsenkeln wieder hochzieht«. Erstrebenswert ist es, sich von anderen abzuheben und einzigartig zu sein. Erfolg, der auf der Eigeninitiative und der harten Arbeit des Einzelnen beruht, stellt die größtmögliche persönliche Errungenschaft dar.

Demgegenüber definieren sich Menschen in kollektivistischen Kulturen wie beispielsweise im lateinamerikanischen oder südostasiatischen Raum als Teil ihrer Gemeinschaft. Deren Wohl steht über dem des Einzelnen. Sie pflegen enge Beziehungen mit anderen in ihrer Gruppe und Herausforderungen begegnen sie gemeinsam. Als Tugenden gelten in diesen Kulturen Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit.

Natürlich gibt es im Hinblick auf den amerikanischen Individualismus Schattierungen und Nuancen, insbesondere je nach kulturellem Hintergrund und Region. So zeichnen sich beispielsweise Einwanderer mit lateinamerikanischem und asiatischem Hintergrund typischerweise durch eine größere Loyalität zu ihrer sozialen und familiären Gruppe aus. Ländlichere Gebiete mit geringerer Bevölkerungsdichte sind eher individualistisch geprägt, weil die Menschen dort mehr auf sich selbst gestellt sind. In Städten wiederum sind kollektivistische Tendenzen weiter verbreitet. Auch die Politik spielt hierbei eine Rolle. Für politisch Liberale hat das Gemeinwohl üblicherweise einen höheren Stellenwert als für politisch Konservative. So befürworten Demokraten eine allgemeine Krankenversicherung, Sozialprogramme und Gesetze zum Umweltschutz. Für politisch Konservative ist das Individuum wichtiger. Sie setzen sich für eine Verkleinerung der Regierung, eine Beschneidung gesetzlicher Vorschriften und geringere Steuern ein.

Michele J. Gelfand, Professorin für Kulturpsychologie an der Stanford University, hat im Rahmen ihrer Forschung festgestellt, dass engmaschige Kulturen, die einen größeren sozialen Zusammenhalt pflegen, über starke soziale Normen verfügen und eine geringe Toleranz für Menschen haben, die davon abweichen. Demgegenüber haben Kulturen mit lockererem Zusammenhalt schwächere soziale Normen und sind freizügiger. Während in engmaschigen Kulturen die Regeln eher eingehalten werden, werden sie in solchen mit lockererem Zusammenhalt eher gebrochen.14 Kulturen, die mit wenigen Bedrohungen von außen konfrontiert sind, wie die USA, sind typischerweise lockerer und freizügiger.15 Die Tendenzen zu schwächeren sozialen Normen und eine Tendenz zum Regelbruch haben sich auch während der Coronapandemie gezeigt.

Des Weiteren ist ein zunehmender Hang zum Narzissmus beim Einzelnen, aber auch der Gesellschaft als Ganzem zu beobachten. Zum Thema Narzissmus merkt Dennis Shen im Blog der London School of Economics an, dass Menschen in Zeiten von Wirtschaftswachstum und Stabilität generell narzisstischer werden. Jean Twenge und W. Keith Campbell beschreiben in ihrem Buch The Narcissism Epidemic16 die Verschiebung kultureller Normen hin zur Selbstbewunderung. Dies habe negative Auswirkungen auf die amerikanische Gesellschaft, weil es den Zusammenhalt schwäche. Demgegenüber führe wirtschaftliche Not zu einem größeren Zusammenhalt der Gemeinschaft. Im Extremfall könne Narzissmus sogar Institutionen, die die Gesellschaftsstruktur tragen, unterminieren. Der Zweite Weltkrieg habe einen stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt zur Folge gehabt. In einer Zeit, in der die USA die Hegemonialmacht waren, verband die Amerikaner das Bewusstsein, die »Greatest Generation« zu sein. Soziale Unterschiede wurden durch den notwendigen Zusammenhalt während der Weltwirtschaftskrise und den gemeinsamen Kampf im Zweiten Weltkrieg nivelliert. Dieser Zusammenhalt bewirkte gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität. Die Babyboomer waren die erste Generation, die in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen aufwuchs. Sie verfolgten vor allem ihre individualistische Selbstverwirklichung auf Kosten der Gemeinschaft.17 Seither hat sich diese Tendenz immer weiter verstärkt, in den letzten beiden Jahrzehnten vor allem auch noch einmal aufgrund des Internets. Diese kollektive Persönlichkeitsveränderung hat weitreichende gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Folgen, wie sich am Verhalten rücksichtsloser Politiker, verantwortungsloser Banker und egoistischer Verbraucher zeigt.

Die Berufung der Republikaner auf die Freiheitsrechte des Einzelnen während der Covid-19-Pandemie hat den Wirtschaftsnobelpreisträger und Kolumnisten Paul Krugman dazu veranlasst, die Republikaner eines regelrechten Kults des Egoismus zu beschuldigen. Selbstsucht werde auf den Altar gestellt und soziale Verantwortung der Allgemeinheit gegenüber abgelehnt.18 Über den von vielen Republikanern vertretenen Sozialdarwinismus werden wir später noch mehr erfahren.19

Die Meritokratie: Das amerikanische Erfolgsprinzip

Während ich als Teenager ein Sommersemester an der Berkeley-Universität bei San Francisco absolvierte, lebte ich in einem Wohnheim für Mädchen. Eine meiner Zimmernachbarinnen war eine Afroamerikanerin, die Anfang 20 war und Erfolg als Modedesignerin anstrebte. Stolz zeigte sie mir ihre Zeichnungen und einige ihrer Kreationen. Für ein Kleid hatte sie mühselig unzählige dreidimensionale Blumenblüten genäht. Einige Kunden hielten ihr schon die Treue, aber es waren noch nicht genug, um ihren Lebensunterhalt damit zu bestreiten. Deshalb hatte sie nebenbei noch zwei weitere Jobs. Erfolg, so versicherte sie mir, würde denen zuteil, die an sich glaubten und hart dafür arbeiteten. Mit Nachdruck brachte sie mir bei: »Du musst Deine Ziele visualisieren! Dann werden sie Wirklichkeit.« Das war meine erste Bekanntschaft mit dem Thema »Visualisieren«, das seither Mainstream geworden ist. Grundsätzlich finde ich die Vorstellung, dass man im Leben alles erreichen kann, was man sich in den Kopf setzt, sehr attraktiv, denn dadurch, dass man sich anstrengt, kann man das Beste aus dem machen, was in einem steckt und über sich hinauswachsen. Dieses Konzept motiviert und verleiht Kraft.

Auf der Grundlage des Individualismus betrachten die Amerikaner ihre Nation als eine Leistungsgesellschaft, die auf Wettbewerb basiert. Dieses System wird als Meritokratie bezeichnet. Geprägt wurde der Begriff von dem britischen Labour-Abgeordneten und Sozialkritiker Michael Young in seinem 1958 erschienenen Buch The Rise of the Meritocracy.20 Demnach ist eine Meritokratie eine egalitäre Leistungsgesellschaft, die auf Können, harter Arbeit, Unternehmertum und Wettbewerb basiert. Erfolg wird – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht – denjenigen zuteil, die am härtesten dafür arbeiten.

In unserer technologiebasierten Wissensökonomie bedeutet dies, dass Erfolg in erster Linie durch Intelligenz und Bildung bestimmt wird. Hierauf ist auch das gesamte US-Ausbildungssystem ausgerichtet, was zur Bildung einer neuen gesellschaftlichen Hierarchie geführt hat. Und der Grundstein für diese Hierarchiebildung wird sehr früh im Leben des Einzelnen gelegt.

Die erste Stufe auf der Treppe des Sozialdarwinismus ist bereits der Kindergarten. Zu Beginn meines Jurastudiums an der Fordham University in New York wohnte ich vorübergehend in einer Unterkunft des »The 92nd Street Y«, einer kulturellen Organisation auf der Upper East Side von Manhattan. Mit Verwunderung beobachtete ich die lange Schlange an Luxuslimousinen, die sich jeden Morgen vor dem Gebäude bildete. Wie ich nachher erfuhr, wurden damit die Sprösslinge der Reichen und Mächtigen zu dem noblen, zum 92nd Y gehörenden Kindergarten chauffiert. Wie gnadenlos bereits das Auswahlverfahren ist, um überhaupt Zugang zu einem Elite-Kindergarten zu bekommen, ahnte ich damals noch nicht.

Für Eltern, die es sich leisten können, beginnt die Planung des Karrierewegs des Nachwuchses schon mit der Geburt. Sie ziehen alle Register, um ihre Kinder in den exklusivsten Kindergärten und Vorschulen unterzubringen, denn der Kindergarten stellt die Weichen für den Rest des Lebens und ist der Wegbereiter zu Eliteuniversitäten wie Harvard, Princeton und Yale.

Die erste Hürde, die es zu nehmen gilt, ist finanzieller Natur, denn die jährliche Gebühr beträgt bis zu 60 000 Dollar pro Kind. Dafür entsprechen die Einrichtungen höchsten Standards. Sie sind in jeder Hinsicht bestens ausgestattet, ihr Personal ist hochqualifiziert und die Auswahl an Lernprogrammen und kulturellen Angeboten sucht ihresgleichen. Für zahllose Familien sind solch horrende Kosten aber Peanuts. Viele spenden zusätzlich noch Millionen, um so ihren Einfluss auf den Kindergartenvorstand zu vergrößern. Eltern, die diese Gebühren nicht aufbringen können, haben die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung zu beantragen, die im Schnitt gute 10 Prozent der Bewerber erhalten. Viele Familien fallen jedoch durchs Raster, weil sie zu viel verdienen, um finanzielle Unterstützung zu erhalten, aber nicht genug, um die hohen Kosten zu tragen.

Die nächste Hürde stellt das Auswahlverfahren dar, denn es herrscht großer Andrang und es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Plätzen. Die Prozedur der Bewerbungen kostet Eltern Monate an Stress und Mühen. Sie müssen sich mit endlosen, komplizierten Antragsformularen herumschlagen, in denen sie ihre Erziehungsphilosophie sowie die Stärken und Schwächen ihrer Sprösslinge darlegen sollen. Als Nächstes müssen die Dreijährigen Tests absolvieren, um ihre kognitiven Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Anschließend dürfen sie im Rahmen von Gruppenspielen ihre soziale Kompetenz und Kultiviertheit demonstrieren.

Um die Erfolgschancen ihrer Kinder zu steigern, beschäftigen Eltern Heerscharen von Vorschulberatern, die pro Kind bis zu 35 000 Dollar kosten. Diese sollen die Sprösslinge auf die Tests vorbereiten und sie für das Bewerbungsgespräch coachen, damit sie einen möglichst positiven Eindruck hinterlassen. Und natürlich übertreiben die Eltern die Begabungen ihrer Kinder schamlos. Gerne verkaufen sie ihre Kleinen als Mini-Mozarts, Baby-Einsteins und andere Genies, wobei diese ihnen dann beim Test oder im Vorstellungsgespräch häufig einen Strich durch die Rechnung machen.

Eltern greifen zu allen Mitteln, um sich im Wettbewerb einen Vorteil zu verschaffen. Sie wechseln kurzfristig die Konfession, berufen sich zum Teil auf sehr weit hergeholte Zugehörigkeiten zu ethnischen Minderheiten und lassen nichts unversucht, um Empfehlungen beizubringen. Welchen einflussreichen CEO kennen wir? Hat jemand aus unserem Bekanntenkreis Millionen gestiftet und kann seinen Einfluss spielen lassen? Wenn es sich um einen katholischen Kindergarten handelt: Kennen wir jemanden im Vatikan?

Da auf ein Dutzend Kindergartenplätze jeweils Hunderte von persönlichen Empfehlungen kommen, müssen diese von höchstem Kaliber sein. Empfehlungen vom ehemaligen Präsidenten Bill Clinton bringen schon nichts mehr, weil davon bereits zu viele im Umlauf sind. Andere Staatsoberhäupter, der Papst und sogar der Dalai Lama werden allerdings immer noch gerne angefragt. Aber auch andere Würdenträger stehen hoch im Kurs. So hat beispielsweise einmal William Rehnquist, ehemals Richter am Supreme Court, in einer Empfehlung für einen Vierjährigen geschwärmt, dass dieser das Zeug zum Richter am Obersten Gerichtshof hätte. Auch ich bin schon gelegentlich auf Empfehlungen angesprochen worden für Kinder, die ich gar nicht kannte.

Zusätzlich müssen sich die Eltern in einem separaten Vorstellungsgespräch bewähren. Die Kindergarten-Kaderschmieden küren dann 10 Prozent der vielversprechendsten Bewerber zu den Auserwählten. Ein befreundetes Ehepaar berichtete mir frustriert, dass sie – die beide Eliteuniversitäten besucht hatten – noch nie irgendwo durchgefallen seien … außer bei der Kindergartenbewerbung ihres Kindes. Natürlich geht der Stress des ganzen Prozedere auch an den Sprösslingen nicht spurlos vorbei, aber das ist schon einmal ein Vorgeschmack auf das, was ihnen noch bevorsteht: der lange, beschwerliche Weg an die Eliteuniversitäten.

Als ich erstmals eine solche Eliteuniversität mit eigenen Augen sah, verstand ich sofort, warum dort jeder hinwollte. An der naturwissenschaftlich geprägten, staatlichen Berkeley-Universität, die die Geburtsstätte der 68er-Bewegung war und die zahllose Nobelpreisträger und berühmte Silicon-Valley-Gründer hervorgebracht hatte, hatte ich als Teenager einen Sommerkurs in englischer Sprache und amerikanischer Kultur belegt. Von ihr war ich bereits schwer beeindruckt. Aber die Stanford University verschlug mir gänzlich den Atem.

An einem Wochenende beschloss ich, mir die in der San Francisco Bay Area liegende, 1885 gegründete private Stiftungsuniversität anzuschauen, von der ich schon so viel gehört hatte. Sie zählt zu den besten Universitäten der USA und ist führend auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung und Innovation. An der Entwicklung des Silicon Valleys war sie entscheidend beteiligt. Zu ihren Absolventen gehören 85 Nobelpreisträger, der ehemalige US-Präsident Herbert Hoover, die Gründer von Hewlett-Packard, Cisco, Yahoo, Google, LinkedIn, Instagram und von zahlreichen weiteren erfolgreichen Weltkonzernen. Als ich nach einstündiger Zugfahrt in Richtung Palo Alto mein Ziel erreichte, traute ich meinen Augen kaum. Das war eine Universität? Mir erschien sie eher wie ein Luxusresort. Eingebettet in weitläufige, manikürte Grünanlagen lag ein herrschaftliches Sandsteingebäude mit rotem Ziegeldach im spanischen Kolonialstil. Fasziniert schlenderte ich durch die säulengetragenen offenen Rundbogengänge und staunte über die architektonisch beeindruckende Bibliothek mit ihren vier Millionen Büchern. Die exklusive Ausstattung Stanfords ist typisch für amerikanische Eliteuniversitäten. Nicht umsonst blättern deren Studenten für einen Collegeabschluss eine Viertelmillion Dollar hin. Neben der Zahlung dieser horrenden Gebühren gilt es zunächst, ein aufwendiges Bewerbungsverfahren zu meistern. Aufgrund des Andrangs hat sich eine ganze Beratungsindustrie darauf spezialisiert, Studenten auf die anspruchsvollen, leistungsorientierten Tests, Aufgaben und Gespräche gegen hohe Gebühren vorzubereiten.

Der elterliche Ehrgeiz nimmt zum Teil groteske Formen an, wie ein Betrugsskandal enormen Ausmaßes im Jahr 2019 zeigte. Die Verwicklung der beiden Hollywood-Stars Felicity Huffman und Lori Loughlin sowie zahlreicher prominenter Geschäftsleute löste ein internationales Medienspektakel aus. FBI-Ermittlungen mit dem Codenamen »Varsity Blues« hatten ergeben, dass Rick Singer, der Gründer einer College- und Karriereberatungsfirma mit angegliederter »Stiftung«, eine unerwartet große Marktlücke aufgetan hatte. Er hatte sich darauf spezialisiert, Schüler mit unzureichenden schulischen Leistungen an Spitzenuniversitäten wie Yale, der University of California, Los Angeles (UCLA), und der University of Southern California (USC) zu platzieren, mittels Betrug und Bestechung unter Einbeziehung Dutzender Komplizen. Hierfür mussten Eltern ihren Kindern zunächst Atteste über Lernschwäche ausstellen lassen, damit diese ihre Prüfungen in Testzentren unter erleichterten Bedingungen ablegen durften. In diesen Testzentren bestach Singer Mitglieder des Aufsichtspersonals, damit diese es zuließen, dass andere Personen die Tests für die Kinder entweder in Gänze ablegten oder diese zumindest korrigierten. Alternativ nutzte Singer die Tatsache, dass Universitäten jedes Jahr einer gewissen Anzahl von Nachwuchs-Spitzensportlern Studienplätze gewähren. Bei einer solchen Zulassung sind schulische Leistungen sekundär. Im Rahmen dieses Verfahrens verfasste Singer fiktive Lebensläufe, brachte gefälschte Referenzschreiben bei und manipulierte Fotos, indem er die Köpfe der Jugendlichen auf Fotos von Leistungssportlern setzte. Hierfür zahlten Eltern bis zu 1,2 Millionen Dollar pro Kind. Im Laufe der Ermittlungen kooperierte Singer mit den Behörden und trug dazu bei, 33 Eltern zu überführen. Dies dürfte allerdings nur die Spitze des Eisbergs gewesen sein, da Singer einräumte, insgesamt 761 Aufträge ausgeführt zu haben. Der größte Betrugsskandal dieser Art in der Geschichte der USA zeigt, wie weit privilegierte Eltern zu gehen bereit sind.

Aus meiner damaligen Perspektive erschien mir das Leben meiner amerikanischen Freunde als äußerst erstrebenswert. Sie fuhren bereits im Alter von 16 Jahren Auto und hatten einen coolen Sommerjob, um Geld für die Bestreitung der Universitätsgebühren zu verdienen. Das College kostete zwar viel Geld und bedeutete, selbst bei finanzieller Unterstützung durch die Eltern, den Berufsweg mit einem großen Schuldenberg zu beginnen. Aber die Verschuldung schien kein Problem zu sein, weil die Studenten nach dem Abschluss ihres Studiums praktisch eine Garantie auf Jobs mit hohen Gehältern zu haben schienen, mit denen sie die Schulden gut abtragen konnten. Die Schwächen dieses Systems habe ich erst sehr viel später realisiert.

Laut der OECD geben die USA mehr für Bildung aus als jedes andere entwickelte Land auf der Erde. Im letzten Jahrzehnt haben sich die Gebühren privater sowie öffentlicher Schulen und Universitäten inflationsbereinigt weit mehr als verdoppelt. Das liegt vor allem daran, dass Universitäten wie Unternehmen betrieben werden und nicht wie im Dienste der Allgemeinheit stehende öffentliche Versorgungsbetriebe. Die durchschnittliche Schulgebühr für eine private Highschool beträgt circa 30 000 Dollar pro Jahr, für die teuerste in New York müssen Eltern sogar fast 100 000 Dollar berappen. Das ist insofern eine gute Investition, als dass die Schulabschlüsse die Weichen für das Lebenseinkommen stellen. Das Manhattan Institute hat in einer Studie festgestellt, dass Collegeabsolventen im Laufe ihrer Karriere 1 Million Dollar mehr als diejenigen verdienen, die nur einen Highschool-Abschluss vorweisen können. Bei der Erlangung eines akademischen Grades wie beispielsweise dem eines Arztes, eines Rechtsanwalts oder eines Betriebswirts ist das Einkommen statistisch gesehen sogar deutlich höher. Das Verdienstpotenzial der Absolventen von Eliteuniversitäten liegt noch einmal 30 Prozent höher als das der Absolventen gewöhnlicher Universitäten. Insgesamt geben Eltern für eine Eliteausbildung 1,7 Millionen Dollar pro Kind aus.21

Bei den Ausbildungskosten sind auch noch die Gebühren der Berater zu berücksichtigen, die die Bewerber auf die standardisierten Tests vorbereiten, beeindruckende Bewerbungsunterlagen formulieren und insgesamt die Persönlichkeit der Bewerber als möglichst einzigartig herausstellen. Für diejenigen, die die astronomischen Studiengebühren nicht aufbringen können, sind zwar Stipendien verfügbar, aber um sich überhaupt auf diese bewerben zu können, muss man die Expertise und die Zeit besitzen, die bürokratischen Hürden zu überwinden. Für viele ärmere Eltern und deren Kinder ist dies ein kaum gangbarer Weg.

Wie sehr die Hürden auf dem Weg zu einer Collegeausbildung die Amerikaner beschäftigen, zeigt der Verkaufserfolg von Tara Westovers Buch Educated22 und der nachfolgende gesellschaftliche Diskurs. In ihrem Memoir beschreibt Westover ihr mühsames Collegestudium. Aus armen Verhältnissen stammend, musste sie nebenbei gleich mehrere Jobs übernehmen, um sich über Wasser zu halten. Aufgrund des Stresses und der Erschöpfung konnte sie sich kaum auf ihr Studium konzentrieren. Zwei Empfindungen bestimmten ihr Leben: ständige Existenzangst und unglaubliche Erschöpfung. Als sie kurz davor war aufzugeben, bewarb sie sich dank eines persönlichen Hinweises auf ein bescheidenes Stipendium. Sie schreibt: »Der Tag, als ich den Scheck eingelöste, war der Tag, als ich Studentin wurde.« Endlich konnte sie sich auf ihr Studium konzentrieren, ohne dass ihre Gedanken ständig um Geld kreisten. Ein überschaubarer Betrag von 4000 Dollar hat ihr einen erfolgreichen Lebensweg eröffnet, der ihr ansonsten verwehrt geblieben wäre.

Zu Westovers Überraschung wurde ihr Buch zwar mit Begeisterung aufgenommen, aber ganz anders als von ihr beabsichtigt, nämlich als Manifestation des amerikanischen Traums. Trotz aller Widrigkeiten sei es ihr gelungen, ihren Lebenstraum zu verwirklichen, weil sie hart an sich gearbeitet und nicht aufgegeben habe, etwas, das jedem Menschen in den USA möglich sei. Dieser Wahrnehmung widerspricht Westover entschieden und gibt zu bedenken, dass zu ihrer Zeit ganz andere Verhältnisse geherrscht hätten und ein Fortkommen leichter möglich gewesen wäre. Heute sei dies aufgrund der dramatisch gestiegenen Studienkosten nicht mehr realistisch. Es sei schlichtweg unmöglich, dass Kinder armer Eltern selbst unter Inanspruchnahme aller verfügbaren Beihilfen imstande seien, die mindestens notwendigen 80 000 Dollar aufzubringen. Außerdem habe sich die Wirtschaft nachhaltig verändert. Man könne nicht mehr wie selbstverständlich davon ausgehen, dass man als Berufseinsteiger ein Gehalt beziehe, mit dem man einen großen Schuldenberg abtragen könne. Um allen Bevölkerungsschichten einen gerechteren Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten zu gewähren, schlägt Westover vor, Universitäten nicht mehr wie gewinnorientierte Unternehmen zu führen, mehr öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen und Stipendien einer breiteren Studentenschaft verfügbar zu machen. Darüber hinaus sollte das Studentenkreditwesen reformiert werden. Denn nicht alle Menschen könnten stets Resilienz beweisen, aber eine Nation als Ganzes könne dies.23

Die Tatsache, dass wir in einer Wissensökonomie leben, in der manuelle und zunehmend auch hochqualifizierte Jobs von Maschinen übernommen werden, führt dazu, dass kognitive Intelligenz und akademische Begabung zu ausschlaggebenden Kriterien für beruflichen und finanziellen Erfolg werden. In hochkomplexen Bereichen wie Finanzen und Technologie ist dieser Trend am stärksten ausgeprägt. Faktoren wie soziale Kompetenz, Empathie und menschliches Urteilsvermögen finden weit weniger Wertschätzung, obwohl sie nachweislich für eine produktive Arbeitsleistung mindestens genauso wichtig sind wie kognitive Intelligenz.

Die Fetischisierung von Brainpower hat die Bildung einer IQ-Elite zur Folge. Die Forschung hat gezeigt, dass höhere kognitive Fähigkeiten und Bildung mit einer höheren Vergütung und einem größeren Vermögen korrelieren. Beispiele von Milliardären im Investment- und Technologiesektor, Fortune-500-CEOs, Richtern und Kongressabgeordneten untermauern diese Tatsache. Fast alle von ihnen verfügen über einen College- und die meisten über einen Hochschulabschluss, was in Deutschland in etwa vergleichbar mit einem Bachelor- und einem Masterabschluss ist. Smartness dominiert den öffentlichen Diskurs, und wer intelligent, erfolgreich und vermögend ist, hat die Meinungshoheit, ob gerechtfertigt oder nicht.

Elon Musk hat sich beispielsweise mittels geschickter PR erfolgreich zu einer Marke stilisiert und gilt nun als »öffentlicher Intellektueller«. Allein auf Twitter hat er über 100 Millionen Follower und wenn er zu einem Thema eine Meinung vertritt, gleichgültig wie abwegig, macht seine Anhängerschaft diese schnell zur »herrschende Meinung«. Kritiker werden mit dem Argument mundtot gemacht, dass Musk es schließlich besser wissen müsse, weil er so erfolgreich und reich sei.

Noch vor ein paar Jahrzehnten war kognitive Intelligenz in der Bevölkerung gesellschaftlich, geographisch und quer über Berufsgruppen relativ gleichmäßig verteilt. Mit steigenden Studentenzahlen veränderte sich dies. Zunehmend mehr junge Menschen verließen ihre Heimatsstädte, die zu einem nicht unerheblichen Teil in ländlicheren Gebieten lagen, um das College zu besuchen. Nachfolgend ließen sie sich bevorzugt in Städten nieder, um hochdotierte Jobs anzunehmen. Hinzu kam, dass sich die Akademiker vorzugsweise mit ähnlich Gebildeten, die sie an Universitäten oder in akademischen Berufen kennenlernten, zusammentaten. Die Eheschließungen von Paaren mit unterschiedlichem Bildungshintergrund nahmen dementsprechend ab. Dies hat zu einem Phänomen geführt, das in der Wissenschaft als »Assortative Paarung« bezeichnet wird. Demnach tun sich mehr und mehr Menschen mit gleicher Bildung und ähnlichem Einkommen zusammen. Ihre Kinder haben dann wiederum aufgrund ihres privilegierten Elternhauses von Geburt an einen Start- und Wettbewerbsvorteil.

Daniel Markovits, Professor der Rechtswissenschaften an der Yale-Universität und Autor des Buches The Meritocracy Trap24 vergleicht die gesellschaftlichen Auswirkungen der vermeintlichen Leistungsgesellschaft mit einem Kastensystem. Die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit beruhe vor allem auf dem Lohngefälle zwischen manueller und hochqualifizierter Arbeit. Aber nicht nur die weniger privilegierten Schichten seien benachteiligt, auch Menschen der Mittelschicht würden immer mehr um ihre Chancen gebracht. Selbst wenn sie alle Regeln befolgten, kämen sie gegen die etablierte Oberschicht nicht an. Sogar Menschen, die es bis ganz nach oben schafften, würden Opfer dieses Systems. Sie müssten sich zu Tode arbeiten, damit sich ihre teure Ausbildung amortisiere und sie ihren Kindern wiederum eine solche ermöglichen könnten. Sie seien in einem erbarmungslosen lebenslangen Wettstreit gefangen, um ihr Einkommen und ihren Status zu sichern.

Robert B. Reich, Professor für öffentliche Politik an der Berkeley-Universität und ehemaliger US-Arbeitsminister, äußert sich in seinem Buch The System ähnlich. Er warnt, dass seine Leser nicht auf die Behauptung hereinfallen sollten, dass die USA eine egalitäre Leistungsgesellschaft seien, in der Können und harte Arbeit belohnt würden. Die zuverlässigsten Indikatoren für das Einkommen und Vermögen von Menschen seien das Einkommen und Vermögen der Familien, in die sie hineingeboren wurden.25

Kapitel 3

USA: Die Realitäts-Manufaktur

Kollektive Illusionen: Verschmelzung von Illusion und Realität

Heutzutage in den USA zu leben ist im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich. Jeden Tag passieren dort Dinge, von denen man kaum fassen kann, dass sie sich tatsächlich zugetragen haben. Die Zunahme dieser Phänomene ist schier überwältigend. Ob eine Horde wild gewordener Trump-Anhänger das Kapitol erstürmt, gewählte Volksvertreter die abstrusesten QAnon-Verschwörungstheorien kundtun oder der Präsidentschaftskandidat Trump einen Reporter mit Behinderung nachahmt – die Grenzen des Anstands, des Akzeptablen, des Machbaren sind aufgehoben. Ein Jahr nach der Wahl Joe Bidens glaubten lediglich 21 Prozent der Republikaner, dass Biden der legitime Präsident der Vereinigten Staaten ist.26

Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität scheinen immer mehr zu verschwimmen. Fiktives wird zunehmend realer und die Realität zunehmend fiktiver. Oft sind die beiden Sphären kaum noch voneinander unterscheidbar. Zwar sind diese Trends überall auf der Welt zu beobachten, aber viele dieser Entwicklungen haben ihren Ursprung in Amerika und sind dort aufgrund kultureller Gegebenheiten am ausgeprägtesten.

Aber warum legen so viele Menschen in den USA solch extreme Auffassungen und Handlungsweisen an den Tag? Und warum sind gerade sie so anfällig für den Glauben an »alternative Fakten«? Die Gründe hierfür sind vielfältig.

Historie: Das Land des stetig Neuen

Einer der Gründe ist, dass Amerika seit jeher eine bestimmte Art von Mensch angezogen hat.

Insbesondere in den ersten Jahrhunderten der Besiedlung nahmen Menschen eine beschwerliche Reise ins Ungewisse auf sich, um nach Nordamerika zu gelangen. Die Bereitschaft, ein solches existenzielles Risiko einzugehen, erforderte Mut, Motivation, eine grundlegende Zuversicht, den Glauben an sich selbst und Vorstellungskraft. Die Siedler wollten ihr altes Leben, Konventionen, Traditionen und Vorurteile hinter sich lassen. Sie strebten nach dem Neuen. In Amerika konnten sie sich neu erfinden und eine komplett neue Realität erschaffen. Sie konnten ihre Religion frei ausüben, ihren Beruf wählen und sozial aufsteigen.

Bereits Alexis de Tocqueville bemerkte, dass der amerikanische Charakter auf einem Selbstverständnis beruhe, »neu« zu sein und Veränderung und Innovation mit Begeisterung zu begegnen.27 Kurt Andersen beleuchtet in seinem Buch Fantasyland eindrücklich die historischen Ursprünge der amerikanischen Kultur und formuliert etwas überspitzt, dass Amerika geschaffen sei, um großartige Fantasien umzusetzen, von begeisterungsfähigen Flüchtlingen (und Gaunern), die sich erfolgreich der Realität verwehrten, überzeugt davon, dass sie den Schlüssel zur Wahrheit besäßen, und getrieben, ihre Wahrheiten zu verbreiten. Und diese Ursprünge definierten das Land.28

Das Leben in dem neuen Land ohne gewachsene Strukturen bedeutete vor allem auch Überlebenskampf. Hierbei waren mentale Konstrukte nützlich, die Halt und Orientierung gaben, wie beispielsweise Religion. Religionen machen das Unmögliche plausibel und legitimieren den Glauben daran. Glaube spendet Kraft und hält als Kitt soziale Gemeinschaften zusammen.

Seit ihren Anfängen haben die USA zum Teil haarsträubende Auswüchse zahlloser religiöser Sekten gesehen. Zu Beginn prägten insbesondere die Puritaner und Protestanten das Land, später kamen unzählige andere, zum Teil »frei erfundene« Religionsgemeinschaften hinzu.

Während in der alten Welt die Aufklärung Einzug hielt, folgten viele Amerikaner religiösen Kulten, gaben sich dem Aberglauben hin, besuchten Wahrsager und konsultierten Quacksalber. Zu den bekannteren neueren Religionen zählen das Mormonentum und Scientology.

Die Einwanderer gaben ihre Eigenschaften, ihre charakterliche Prägung und ihre Werte an ihre Nachfahren weiter. So entstand ein nationaler Charakter, der die amerikanische Kultur geprägt hat.

Vorstellungskraft: Grenzenlos

Die Kreativität der Amerikaner ist schier unbegrenzt. Sie hat bedeutende Innovationen hervorgebracht, die die Welt erobert haben. Silicon Valley, Hollywood, die wissenschaftliche Forschung oder Lifestyle-Trends sind universal und begeistern die Menschen.

Risikofreude und Innovation liegen buchstäblich in der amerikanischen DNA, denn diese musste man besitzen, um sich eine neue Existenz in einem gänzlich fremden Land aufzubauen. Die Einwanderer benötigten den Mut und das Interesse, Unbekanntes zu erforschen. Mit Vorstellungskraft und Einfallsreichtum gestalteten sie aus dem, was sie vorfanden, eine bessere Zukunft.

Der Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten des Einzelnen und die geringere Verankerung in konventionellen kulturellen Normen haben eine größere intellektuelle Freiheit zur Folge. Während Menschen in anderen Kulturen innerhalb der vorgegebenen Normen denken, sind Amerikaner stets bemüht, Denkgrenzen zu sprengen und in großen Dimensionen zu denken, »to think big«, wie es dort heißt. Die Tatsache, dass Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen und mit verschiedensten sozioökonomischen Hintergründen zusammentreffen, stimuliert die Kreativität. Der ungezügelte Wettbewerb verleiht den Antrieb, sich »etwas einfallen zu lassen«.

Hollywood: Traumfabrik

Ein weiteres Phänomen, das die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion verwischt hat, ist Hollywood. Zelluloid erlaubte es den Menschen, ihrer Realität für kurze Zeit zu entfliehen und in eine Fantasiewelt einzutreten. Ob Zeitreise, Zeitraffer, »Beamen« an ferne Orte, Abenteuer, Romanze – all das konnte man täuschend echt miterleben. Selbst alte Spielfilme wie Cleopatra beeindrucken durch aufwendige Kulissen und Kostüme. Stuntdoubles meistern atemberaubende physische Herausforderungen, Spezialeffekte wurden im Laufe der technologischen Entwicklungen immer überzeugender und selbst Zeichentrickfilme wirken mittels Künstlicher Intelligenz immer echter.

Die milliardenschwere Filmindustrie hat die amerikanische Kultur geprägt wie kaum ein anderer Einfluss. Seit jeher ist sie einer der größten Exportschlager Amerikas gewesen.

Meine eigene Wahrnehmung war bereits vor meinem ersten Aufenthalt in den USA durch Film und Fernsehen positiv konditioniert. Der Mythos Amerika hatte das gewisse Etwas, einen anziehenden Coolnessfaktor. Über die Jahre habe ich zahlreiche Expats, also andere Einwanderer, getroffen, deren Eindruck von den USA ebenfalls durch die Medien positiv geprägt war und die es nicht zuletzt deshalb dorthin verschlagen hat.

TV: Infotainment

Auch die Fernseh- und Entertainmentindustrie hat die amerikanische Kultur geprägt. Insbesondere das Reality-TV zieht die Menschen in seinen Bann. Ob Big Brother, Dschungelcamp, Survivor oder The Real Housewives, was ist real und was ist produziert? Die suggestive Macht des Reality-TVs ist enorm. Die 14 Jahre, in denen Donald Trump mit der Show The Apprentice regelmäßiger Gast in den Wohnzimmern Amerikas war, haben entscheidend zu seiner erfolgreichen Präsidentschaftskandidatur beigetragen. Überzeugend mimte er den sympathischen, erfolgreichen Geschäftsmann und gewann so das Vertrauen der Zuschauer. Trump ist sich der Macht des Fernsehens durchaus bewusst, wie aus seiner Affinität zu TV-Prominenz deutlich wird. Bei der republikanischen Primary 2022 für eine Senatskandidatur in Pennsylvania hat er seine Unterstützung für den prominenten Fernseharzt Dr. Mehmet Oz ausgesprochen mit dem Argument, dass er seit langer Zeit aus dem Fernsehen vertraut und immer beliebt gewesen sei. Frauen fühlten sich zu ihm hingezogen.29 Der prominente Arzt ist selbst in der republikanischen Partei umstritten, weil er zweifelhafte medizinische Ratschläge erteilt und für unwirksame Diätpillen geworben hat. Diese Tatsache inspirierte die Zeitschrift Rolling Stone zu der findigen Überschrift »Betrüger unterstützt Quacksalber«.30

Neil Postman hat die wirklichkeitsverzerrende Wirkung des Fernsehens geradezu prophetisch in seinem 1985 erstmals erschienenen Buch Amusing Ourselves to Death illustriert. Vor nunmehr fast 40 Jahren prognostizierte er bereits, dass die Nachrichten zu Unterhaltungsprogrammen mutieren würden, banalisiert durch Begleitmusik und Werbeunterbrechungen. Komplexe Wahrheiten würden auf Soundbytes reduziert, was Desinformation zur Folge habe. Schleichend und fast unbemerkt hätten sich Politik, Religion, Nachrichten, Sport, Bildung und Wirtschaft in Ausprägungen des Showbusiness verwandelt. Das Resultat sei ein Volk, das dabei sei, sich sprichwörtlich zu Tode zu amüsieren.31 Fernsehen kommuniziere in Bildern und erst sekundär durch Worte. Der beste Weg, eine Kultur zu verstehen sei die Betrachtung ihrer Art zu kommunizieren.32 Im 18. und 19. Jahrhundert habe das geschriebene Wort die Aufmerksamkeit und den Intellekt von Menschen monopolisiert, da es neben der wörtlichen Übermittlung die einzige Möglichkeit war, Wissen weiterzugeben.33