Die drei Leben des Maylo - Erika Kuhn - E-Book

Die drei Leben des Maylo E-Book

Erika Kühn

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Beschreibung

Maylo, ein außergewöhnlich intelligenter Hund, erzählt seine Geschichte und die seiner Familie aus seiner eigenen Perspektive. Sehr genau beobachtet er die Welt um sich herum. Er versteht die Menschen, fühlt mit ihnen, kommentiert ihr Verhalten, ihre Vorlieben und Schwächen. Durch die Augen eines weisen Hundes betrachtet er die Höhen und Tiefen des Lebens, die tiefe Verbindung zwischen Mensch und Hund und gelangt zu der Erkenntnis, dass das Leben immer weitergeht. Durch einen schweren Schicksalsschlag findet sein behagliches Familienleben ein abruptes Ende. In der nachfolgenden Zeit des tiefen Schmerzes und der Verzweiflung bedauert Maylo sehr, dass er sich nicht durch Worte mitteilen kann. Gerne würde er seiner Familie sagen, dass die Seele dem Tod entkommt, das Leben nicht mit der Geburt beginnt und nicht mit dem Tod endet.

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Seitenzahl: 143

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

© 2025 Erika Kuhn

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Lektorat: Rüdiger Heins

Korrektorat: Sybille Kuhn, Katrin Grimmbacher

Satz u. Layout / E-Book: Büchermacherei · Gabi Schmid · buechermacherei.de

Covergestaltung: Corina Witte-Pflanz · OOOGRAFIK · ooografik.de

Bildquellen: #967058221, #1192616540, #10735870 | Adobe Stock; Autorin

Druck und Distribution im Auftrag des Autors/der Autorin:tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg

Softcover 978-3-384-64026-0

Hardcover 978-3-384-64027-7

E-Book 978-3-384-64028-4

Ich starb als Gestein und entstand als Pflanze.

Ich starb als Pflanze und wurde ein Tier.

Ich starb als Tier und erwachte als Mensch.

Warum sollte ich mich fürchten?

Hat der Tod mich je vermindert?

Noch einmal werde ich als Mensch sterben,

um unter den seligen Engeln zu schweben.

Doch selbst als Engel muss ich weiterziehen.

Vergehen wird alles, außer Gott.

Wenn ich meine Engelsseele geopferte habe,

werde ich zu dem, was kein Mensch je erdacht hat.

Djalal ad-Din Rumi

(frei nach einer Übersetzung von Friedrich Rückert)

Die Stimme

Zaghaft steckt er seinen Kopf durch das Loch im Gartenzaun und sieht in den vor ihm liegenden Garten. Kinder toben um einen Ball, stoßen sich gegenseitig zu Boden, verknäulen sich ineinander und springen fröhlich lachend wieder auf. Sie schenken ihm keine Beachtung, bis er ein leises Winseln von sich gibt. Das Mädchen in der Gruppe dreht sich herum und betrachtet ihn mit kindlichem Staunen. Zögernd macht sie einen Schritt vorwärts, geht auf ihn zu, bleibt in vorsichtiger Distanz stehen und sagt: „Na du?“

Als er die Stimme vernimmt, aus der eine gewisse Sympathie herauszuhören ist, steckt er seinen Kopf noch etwas weiter durch die Öffnung des Zauns. Sanft streicht sie ihm über den Kopf und er beschnüffelt ihre Füße. Aus dem Duft spricht ebenso viel Freundlichkeit und Zuneigung zum Tier wie aus den Schwingungen ihrer Stimmbänder. Erst mit dem einen, dann mit dem anderen Bein schwingt sie sich über den Zaun, kniet sich neben ihn, und er genießt die Streicheleinheiten. Er legt sich auf den Rücken und bietet seinen unter den weißen Haaren hervorschimmernden, rosigen Bauch zum Liebkosen dar. Sein schlanker Körper ist ohne jegliche Flecken von kurzhaarigem, weißem Fell bedeckt. Nur seine Ohren sind nussbraun mit je einem schwarzen Streifen am Ansatz. Vom linken Ohr zieht sich die braune Zeichnung vorn am Kopf bis zu den Wimpern hinab. Mit seinen großen leuchtenden Augen und dem schwarzen Schnäuzchen, das wie mit Schuhcreme gewichst aussieht, blickt er sie gespannt an. Vertrauensvoll streicht er mit der Zunge über ihre Hand, nach Liebe und Geborgenheit suchend. Geraume Zeit verharren sie so, bis ein Ruf aus dem Haus erklingt. Hastig springt das Mädchen wieder auf die andere Seite des Zauns, läuft mit wehenden Schritten auf das Haus zu und entschwindet seinen Blicken. Gemächlich trottet er dorthin zurück, woher er gekommen war.

Die Verbundenheit des vergangenen Moments, der Blick in ihre Augen und das Gefühl einer unbestrittenen Zugehörigkeit treiben ihn am nächsten Tag zur gleichen Zeit zu dem kleinen Häuschen zurück.

Ausgiebig betrachtet er die drei mächtigen Silberpappeln, die am Rande des Gartens stehen. Schöne, uralte Bäume, die mit ihrem ins Sonnenlicht ragenden Riesenwuchs wie drei langgediente, zuverlässige Hüter der Natur das kleine Haus bewachen. Bewegungslos lauscht er den schwerelosen Schwingungen der grünen Blätter, bis endlich ihre Gestalt auf ihn zukommt. Freudig springt er ihr entgegen. Sie beugt sich hinab, um mit ihren kleinen Händen sanft über sein störrisches Fell zu streichen. Sie fragt nach seinem Namen. Er hat keinen. Alle nennen ihn immer nur „Hund“. Sie winkt ihn in den Garten. Ein vor der Haustür stehender Mann betrachtet ihn mit heiterer Skepsis. „Ein Hund kommt mir nicht ins Haus“, sind seine ersten barschen Worte.

Das flehentliche Bitten des Mädchens bleibt ungehört und er wird wieder auf die andere Seite des Gartens hinausbegleitet. Mit hängendem Kopf und eingezogenem Schwanz schleicht er davon. Behutsam, ohne dass er es bemerkt, folgt ihm das Mädchen.

Drei Tage bleibt er weg, vermeidet es, sich dem Haus zu nähern, um seine Hoffnung auf gütige Menschen nicht weiter zu nähren. Eine magische Kraft zieht ihn jedoch wieder zu dem Haus, und als ihn der Mann und das Mädchen erblicken, sieht er in dem Ausdruck ihrer Augen, dass er vielleicht bleiben dürfe. Die Diskussionen, wem der Hund wohl gehören würde, der Umstand, dass ihm das Mädchen einmal gefolgt war, veranlassen den Vater, in Begleitung seiner Tochter, seinem derzeitigen Besitzer einen Besuch abzustatten.

Dieser Kriegsveteran wäre ihn gerne schon lange losgeworden, hätte ihn nicht die Erinnerung an seinen in Verdun gefallenen Freund davon abgehalten, der ihn einst als Welpen übergeben hatte.

Der Alte windet sich in ausweichenden Erklärungen und schnarrt: „Was wollen Sie mit diesem unnützen Hund?“

Er macht sich kleiner, legt die Ohren an, jedoch nur so weit, dass die Antwort seiner hoffentlich zukünftigen Besitzer noch zu hören ist.

Das Mädchen steht mit gesenktem Kopf, ihre braunen Zöpfe bedecken fast ihr ganzes Gesicht, hinter dem Vater, der leicht die Stirn runzelt, tief Luft holt und zu einer Erwiderung ansetzt: „Wissen Sie, meine Frau ist schwerkrank und verlässt das Bett nur noch selten. Meine älteste Tochter ist zwölf Jahre alt, hilft im Haushalt mit und behütet zudem ihre drei jüngeren Geschwister. Ich möchte ihr mit diesem Tier eine Freude machen. Ihr liegt sehr viel an diesem Hund und ich habe beobachtet, wie sich die beiden mit Liebe und gegenseitigem Vertrauen begegnen.“

Seine Ohren stellen sich auf. Liebe? Gibt es in diesem Hundeleben tatsächlich jemanden, der ihn liebt und den er wiederlieben kann? Zusammengeduckt lauscht er diesen Ausführungen und hofft, so schnell wie möglich den kargen Ort verlassen zu dürfen. Nie schenkt ihm dort ein Mensch auch nur ein wenig Beachtung, und lieblos und nicht zu häufig werden ihm ein paar Brocken Essen hingeworfen.

„Sie können ihn haben, wenn Sie mir die Kosten der letzten Jahre ersetzen“, sagt der Oberst.

Der Vater willigt ein. Das Mädchen und der Hund richten sich fast gleichzeitig auf und ihr Freudenschrei dringt durch den düsteren Raum.

Vom Vater, einem Bootsbauer, wird er meistens ignoriert. Die Geschwister seiner Retterin beschäftigen sich mit anderen Dingen. Manchmal darf er das Zimmer der kranken Mutter betreten und drückt ihr seine kühle, schwarze Schnauze spielerisch ins Gesicht. Damit entlockt er ihr dann zwischen den Hustenanfällen ein leises Lächeln und sein Kopf erfährt ein weiteres Tätscheln.

Die damaligen zugefügten Verletzungen des ersten stiefväterlichen und kommandosüchtigen Besitzers heilen schnell durch die Liebe des Mädchens. Er weiß noch nicht, dass die Liebe nicht nur ein Gewinn, sondern auch eine Bürde für die Seele sein kann. Ungeachtet dessen genießt er den Beginn einer paradiesischen Zeit.

Kommt das Mädchen von der Schule nach Hause, wird es mit einem maßlosen Freudentanz begrüßt. Wedeln und Hecheln, als ob diese nach einjähriger Abwesenheit heimgekehrt wäre. Es dauert oft Minuten, bis er wieder zu sich kommt. Ihre Güte und Zuneigung ohne Zwiespältigkeit lassen ihn schnell seine traurige Vergangenheit vergessen. Sie nennen ihn Flocke, weil er sie an den Tanz einer Schneeflocke erinnert. Hebt sie ein Stöckchen vom Boden auf, springt er mit Geschwindigkeit in die Höhe, wirbelt herum, als wollte er es noch im Flug fangen, dreht sich um seine eigene Achse und läuft dem fliegenden Stock hinterher. Sein Wirklichkeitssinn stört sich nicht daran, dass der Stock keine vier Beine und keinen Hasengeruch besitzt.

Gemeinsam mit dem Mädchen tobt er durch den Garten. Der warme Wind bauscht sein Fell auf und dahinsurrende Libellen werden mit Luftsprüngen verfolgt. Die schönsten Erlebnisse finden auf dem nahegelegenen Fluss statt, der sich meist ruhig und gemächlich durch die Landschaft windet. Die gefährlichen Strömungen sollten ihm erst später zum Verhängnis werden.

An warmen Sommertagen gleiten sie mit dem Boot flussabwärts und genießen das herabhängende Laub der vorbeifliegenden Bäume. Betrachten die windgehetzten, eiligen Wolken, die den Himmel für einen Augenblick verdecken, die Sonne mitunter gänzlich verfinstern und, wenn sie vorbeigezogen sind, die Welt in neuer Herrlichkeit ersteht. Nachts, wenn die Lampen aufleuchten, fängt der Fluss an, seine mondfarbenen Spiegelbilder zu wiegen, während er sich in seiner Ecke im Haus in den Schlaf wiegt.

Ihre Lebensgeister sind so eng verbunden, dass sich ihre Stimmungen angleichen, das Leben in der Gegenwart stattfindet, die sich ohne Grenzen aus der Vergangenheit in die Zukunft dehnt.

Die Verordnungen des Hauses sind leicht zu ertragen. Während der Mahlzeiten nicht betteln und sich weit entfernt vom Esstisch aufhalten. Etwas willkürlich erscheint ihm das Gebot, den umgrenzten Teil der Grünfläche des Gartens nicht zu betreten, um dort seine Notdurft zu verrichten. Auf dem übrigen Gelände darf er tun und lassen, was er will. Am unbegreiflichsten ist die Vorschrift oder sogar der Raub eines Grundrechts, die darin besteht, sich nicht im fauligen tierischen Abfall, im erfrischendsten Duft aller Düfte der Welt, zu wälzen. Dies erweckt heftige Zweifel an der Vernunft seiner Familie. Die Liebe, die sie ihm entgegenbringen, gleicht dies jedoch aus. Mit der Zeit fügt er sich in die Welt der menschlichen Sitten und Gewohnheiten ein und gibt seinen betrübten Zweifeln höchst selten Ausdruck. Wenn, dann setzt er sich vor die Füße der Menschen, schaut sie unentwegt minutenlang an, unbekümmert, ob sie seine Blicke erwidern oder nicht.

Eines Morgens schlendern das Mädchen und er wieder einmal zum Flussufer, schieben eines der Ruderboote ins Wasser und springen hinein. Langsam treiben sie auf dem grünlich schimmernden Fluss dahin, bis sie plötzlich eine Strömung, ein Wirbel erfasst, das Boot gefährlich in Seitenlage bringt und der Hund kopfüber ins Wasser stürzt. Die Dunkelheit, die ihn umschließt, das Umherwerfen, sodass er nicht mehr weiß, was unten und oben ist, lassen ihn mit zunehmender Panik nach oben strampeln, um seinen Kopf wieder aus dem Wasser zu strecken. Im Boot steht laut und verzweifelt rufend, die Arme ruckartig hin- und herwerfend, das Mädchen. In dem Moment, als ihn der nächste Strudel wieder nach unten drückt, springt sie aus dem Boot, taucht unter und versucht, nach ihm zu greifen. Wieder an der Oberfläche, sieht er sie noch auf sich zuschwimmen, bevor ein nächster Sog sie nach unten zieht und sie seinen Blicken entschwindet. Er nimmt all seinen Mut zusammen und taucht immer und immer wieder unter. Kurz bekommt er ein Stück ihres Kleides zu fassen, bevor sie die Kraft des Wassers in die Finsternis zieht. Mit seinem starken Lebenswillen schafft er es, das rettende Ufer zu erreichen. Während er sein nasses Fell schüttelt, sieht er den Vater mit vor Schreck geweiteten Augen, begleitet von mehreren Personen, auf sich zulaufen. Das Boot schwankt leer und einsam auf dem Wasser dahin und von dem Mädchen fehlt jede Spur. Ein Kahn wird zu Wasser gelassen, die Männer springen hinein und rudern in die Richtung, in der sich das verlassene Boot befindet. Kurze Zeit später bringen sie ihren leblosen Körper ans Ufer. Der Hund wird mit barschen Worten und Tritten verscheucht. Sie wissen nicht, dass es ein Hund in Sachen Liebe und Treue ohne Weiteres mit den Menschen aufnehmen kann.

Seinen Anblick können sie nicht mehr ertragen. Sie geben ihm die Schuld und er spürt sehr schnell, dass es ihnen lieber gewesen wäre, wenn er anstelle des Mädchens ertrunken wäre. Auch er hätte dies vorgezogen. Der trauernden Familie kann er sich ohne sprachliches Medium nicht mitteilen. Um ihren Erinnerungen Herr zu werden, überlegen sie, ihn zu töten, können sich jedoch nicht dazu durchringen. Am nächsten Tag wird er zu einem Bauern gebracht. Dieser steckt ihn in eine Hundehütte am Ende des Bauernhofes, legt ihm eine Kette um den Hals und er wird nicht weiter beachtet. Stumm wird er, nicht nur sein Körper, sondern auch seine Zunge und seine Stimmbänder. Schweigend unterwirft er sich seinem Geschick und gleicht in seiner Stummheit einem an Leib und Seele gebrochenen Sträfling. Seine auferstandenen Erinnerungen an die Liebe des Mädchens und das einstige Glück beschleunigen den Prozess der Selbstvergiftung. An einem eiskalten Wintertag träumt er sich in den Tod und – nichtsahnend – in ein neues Leben, wo die Vergangenheit zu seiner Gegenwart wird.

1

Alle sind sie wieder da. Alle? Wir sind im Wohnzimmer. Müde hebe ich meinen Kopf und sehe nur die schattenhaften Gestalten meiner Familie. Trotz meines von den Schmerzmitteln vernebelten Gehirns wird mir bewusst, dass jemand fehlt. Mein Kopf fällt wieder auf das Kissen in meinem Korb. Seit dem Unfall kann ich nicht mehr richtig laufen, meine Gelenke sind geschwollen und auch das beste Hundefutter lasse ich stehen. Sogar die mehrmaligen Besuche beim Tierarzt, das Röntgen, die Spritzen und die Tabletten erbrachten keine Verbesserung meines jämmerlichen Zustandes. Wie aus weiter Ferne höre ich ihre Stimmen, die so gleichförmig klingen, dass ich sie niemandem zuordnen kann. Hängen bleibt das Wort Tierarzt, das mich zusätzlich erschauern lässt.

„Wir sollten Maylo noch einmal zum Tierarzt bringen“, höre ich, und meine Erinnerung macht sich breit wie ungebetene Verwandte, die am Sonntag unaufgefordert hereinplatzen.

„Du weißt doch, dass er jedes Mal mit panischem Schrecken reagiert. Jedes Härchen seines Fells scheint gesondert zu erstarren. Obwohl ich ihn streichle und zu beruhigen versuche, verläuft ein wellenartiges Zucken durch seinen Körper, und aus ihm spricht ein solches Entsetzen, als hätte er hinter einem der Fenster ein übernatürliches Wesen gewittert.“

Wem gehört diese Stimme, die weiß, dass ich ein wahres Wehleidstier und ein Empfindlichkeitsapostel bin, der sich beim leisesten Schmerz tödlich beleidigt fühlt? Mit meinem freiliegenden rechten Ohr höre ich, wie dieser Vortrag weitergeht.

„Wir könnten ihn noch zu einem anderen Tierarzt bringen. Einen, den er nicht kennt, sodass er nicht gleich so viel Angst hat. Außerdem sind zwei Meinungen besser als eine“, dringt es an meine Ohren. Gerne würde ich sie abschalten, was mir aber ebenso wenig gelingt wie die Erinnerung daran, was meiner Familie geschehen ist.

„Er ist ein Hund und ein krankes Tier erregt oft mehr Mitleid als ein kranker Mensch, denn es bittet nicht um Hilfe und möchte auch keine annehmen. Um zu genesen, zieht es sich statt zum Arzt oder in ein Krankenhaus in sich selbst zurück. Also lasst ihn einfach in Ruhe.“

Jemand nähert sich meinem Korb, beugt sich zu mir herab und an dem Geruch glaube ich zu erkennen, wer es ist. Eine Hand streichelt mir sanft über den Kopf und es gelingt meiner Zunge, einen Geschmack von ihr zu bekommen.

„Nein, wir lassen ihn nicht in Ruhe. Maylo ist doch erst neun Jahre alt. Das wären in Menschenjahren gerechnet so ungefähr dreiundsechzig Jahre. Das ist für einen kleinen Mischlingshund zu wenig.“

Wieso werden Hundejahre immer in Menschenjahre umgerechnet? Menschenjahre rechnet man auch nicht in Sternenjahre um. Doch ich bin nicht der Zeit unterworfen, dem Spiel aus Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Selbst wenn die Menschen einem Hund keine Seele zugestehen, so bin ich doch eine unsterbliche Seele, die in einem Hundekörper steckt.

„Wie soll das jetzt weitergehen?“

Diese Frage bläht sich in mir auf wie ein Fesselballon aus tiefschwarzer Seide und lässt mich noch tiefer in die Kissen sinken. In meinem Körbchen schwebe ich nicht weiter über den unterschiedlichen Sorgenfeldern meiner Familie. Ich werde sterben. Nicht heute, vielleicht morgen, vielleicht auch irgendwann. Nicht an Altersschwäche wie Argos, der Hund von Odysseus. Auf meine Besitzer warte ich auch nicht, denn meine Familie ist hier versammelt. Meine Zukunft ist ungewiss, und so gleite ich auf den Wellen der Erinnerung in die Vergangenheit. Im Augenblick komme ich für alles Weitere nicht mehr infrage, schließe meine Augen und lasse in mir die Bilder entstehen, die mich in diese Familie und diese Umgebung brachten. War es die Zeit – meine Zeit –, die endgültig dabei war, den Punkt der Ewigkeit zu erreichen, an dem sich ihre Enden verbinden und zwei Wirklichkeiten zu einer werden?

2

Der Tag, an dem ich aus dem warmen See gehoben wurde, ist mir nur vage im Gedächtnis geblieben. Da lag ich nun, schwer, nicht mehr schwerelos. Bleischwer, mit dem Gefühl, eben noch ganz leicht, federleicht gewesen zu sein. Kriechend bewegte ich mich zwischen all dem Gewusel vorwärts, um an die Zitze meiner Mutter zu gelangen. Ich hörte nichts und sah nichts, schlief den ganzen Tag zwischen den mich wärmenden Körpern und fühlte mich zusehends verdickt.

Mehrmals am Tag strich etwas Warmes und Weiches über meinen Körper. Ich wurde hochgehoben und genoss es, das ständige Gequietsche und Fiepen nur noch aus der Ferne zu bemerken. Mit der Zeit hörte ich immer besser, nahm die Geräusche meiner Umgebung wahr und lernte, die menschlichen Stimmen zu unterscheiden. Das erste Mal, als ich die Augen aufschlug und verschwommen das Gesicht meiner Mutter sah, erschrak ich. Daran erinnere ich mich noch heute. In meinem Welpenschlaf hatte ich ein ganz anderes im Kopf. Das war nicht meine Mutter und auch mit dem Ort stimmte etwas nicht. Das Drängeln um die Zitze, den besten Platz im Korb, und meine Neugierde auf die Welt um mich herum ließen mich dies schnell vergessen.

Heute weiß ich nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, als mich Hände mit einem unbekannten Geruch und einer Stimme, die mir fremd und zugleich vertraut war, aus meinem warmen Welpennest hoben.

„Das ist unser Hund“, hörte ich, beschnupperte jeden Finger und versuchte in das Gesicht der Person zu schauen.